Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Weit reicht die Seele
Weit reicht die Seele
Weit reicht die Seele
eBook609 Seiten8 Stunden

Weit reicht die Seele

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Jane verliert im Alter von acht Jahren ihre Eltern durch einen Autounfall. Ungewöhnlich bewusst erlebt sie die Phase bis zur Identifizierung der Brandopfer. Die Gedanken des befragenden Polizisten scheint sie in dessen Augen zu lesen.
Ihre am Loch Ness lebende Tante übernimmt die Vormundschaft. Das hochmusikalische Mädchen zeigt früh außergewöhnliche Fähigkeiten: Sie versteht Signale aus der Natur und kann nicht nur Gedanken von den Augen ablesen, sondern auch mit den Augen »sprechen«. So kommuniziert sie mit dem taubstummen Nachbarsjungen Angus. Die dadurch entstehende Nähe versteht dieser während der Pubertät fälschlich als Liebe, was zur Katastrophe führt.
Immer deutlicher wird Janes Gabe des Zweiten Gesichts, das sie in Form von Träumen erlebt. Auf einer Konzertreise nach Japan lernt sie einen Zen-Meister kennen, der ihre besondere Fähigkeit als Geschenk bezeichnet. Für ihre Examensarbeit als Biologin führt sie zahlreiche Tauchgänge im Loch Ness durch und fällt nach einem Unfall ins Koma. Ihre lange anhaltende Bewusstlosigkeit wird vom herbeigeeilten Zen-Meister jedoch als »Seelenflug« gedeutet. - Es gelingt ihm, sie zurückzuholen. Jane berichtet danach von einem weitreichenden Nahtoderlebnis.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum11. März 2016
ISBN9783734517235
Weit reicht die Seele

Ähnlich wie Weit reicht die Seele

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Weit reicht die Seele

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Weit reicht die Seele - Bodo Henningsen

    Erstes Buch

    William und Catherine

    Shogo Maruyama, der Zen-Meister und Meditationslehrer, saß nun schon mehr als drei Stunden im Lotussitz auf der kleinen Schildkröteninsel im Teich des Kar-sansui-Gartens seines besten Freundes Tadashi Okamoto. Vor Jahren hatte der berühmte Shakuhachi-Spieler Okamoto sich am Stadtrand von Kyoto ein großes Areal kaufen können und nach dem Vorbild des Isui-en-Gartens gestalten lassen. Die geschaffene Anlage war sorgfältig in die Natur eingebettet. Für das Auge wirkte die in der offenen Perspektive liegende bergige Landschaft wie ein Teil des Gartens. In dieser Umgebung fielen dem Flötisten vielfach bewunderte Kompositionen ein, wenn er nach langen leisen Wanderungen einen seiner Lieblingsplätze einnahm, um zu improvisieren.

    Die beiden Freunde trafen sich hier oft zu umfänglichen Gesprächen oder auch, um still und regungslos Natur wie Architektur auf sich wirken zu lassen. Meistens bat Shogo Maruyama seinen Freund irgendwann, ihm seine neueste Schöpfung vorzuspielen. Er liebte es, eine kurze Meditation anzuschließen und behauptete, dass er sich nach der Shakuhachi-Musik viel leichter von allen äußeren Einflüssen befreien könne.

    Auch heute erfüllte Tadashi Okamoto ihm diesen Wunsch, als sein Freund sich in die Lotusstellung begab. Sein Vorspielen beendete er mit einer spontanen Improvisation, die eher einem Lied glich, in dem ein schwebender Refrain in regelmäßigen Abständen wiederholt wurde.

    Auf Zehenspitzen hatte Tadashi Okamoto sich entfernt, als er sah, dass Shogo Maruyama in tiefe Meditation versunken war. Mit seiner kleinen Gartenschere, die er gerne mit sich führte, machte er sich im entgegengesetzten Teil des Gartens zu schaffen. Es gab immer etwas zu tun und sein Gärtner hatte ihn gut eingewiesen. Von Zeit zu Zeit suchte er einen Punkt des Gartens auf, von dem aus er seinen Freund sehen konnte, allerdings nur, um jedes Mal aufs Neue festzustellen, dass dieser unverändert im Lotussitz verharrte.

    Als es bereits dämmerig war und ein kühler Abendhauch von den nahen Hügeln herab kam, begab Tadashi Okamoto sich leise in die Nähe seines Freundes. Er war besorgt: So lange hatte Shogo Maruyama noch nie in seinem Garten meditiert.

    Tadashi Okamoto sah, wie sich die Atemfrequenz seines Freundes änderte, beschleunigte und in mehrere große, tiefe Atemzüge in kurzer Folge mündete.

    Shogo Maruyama hob den Kopf, sah ihn erstaunt an und stand auf. »Lass uns ein wenig durch deinen wunderbaren Garten gehen«, bat er.

    Schweigend wandelten sie und versuchten, auf dem kiesigen Weg möglichst wenig Geräusche zu machen.

    Shogo Maruyama betrat schließlich wieder den aus streng geometrisch gestalteten Trittsteinen gebildeten Pfad über den Teich und blieb überraschend in der Mitte stehen, sich zu seinem Freund umwendend: »Ich muss dir etwas erzählen: Noch nie war ich so schnell so weit. Meine Seele ist schon wiederholt geflogen, aber erst nach unendlicher Anstrengung. Was wäre gewesen, wenn der kühle Abend mich nicht eingeholt hätte?«

    »Verstehe ich dich richtig? Du warst nicht hier?«

    »Ja, du hast richtig gehört. Ich war in einer fremden Gegend, am hohen Ufer eines fjordartigen Sees. Dorthin kam ich über einen schmalen Weg – über einen Friedhof – ich war einer Melodie gefolgt. Als ich den Friedhof durchschritten hatte, führte der Pfad auf einen moosigen Platz hoch über dem See. Dort saß – in der Nähe eines Obelisken – eine junge Frau und spielte auf einer Shakuhachi … sehr ähnlich dem, was du vor meiner Meditationssitzung gespielt hattest. Lange habe ich ihren wunderbaren Tönen gelauscht. Ich hatte den Eindruck, die Töne würden einen Klangteppich über dem See weben. Das war sehr besonders – einfach unvergesslich! Wenn ich an ihr vorbeiblickte, sah ich in der Tiefe am nahen Ufer eine Fischerhütte, einen Steg und darauf einen jungen Mann, der mehrfach den Steg verließ, ansetzte, den Weg zu uns zu gehen, und wieder umkehrte. Die Melodie brach ab und damit mein Besuch in Schottland. Hier bin ich wieder.«

    »Und woraus schließt du jetzt, dass du in Schottland warst?«

    »Ich bin sicher, denn ich hörte zwei alte Frauen auf dem Friedhof Schottisch sprechen. – Du musst wissen, dass ich einmal einen schottischen Meditationsschüler hatte.«

    »Du hast mir diese Möglichkeiten, die Seele fliegen zu lassen, ja schon wiederholt erklärt. Versteh mich bitte nicht falsch, aber für mich ist das einfach nur fantastisch.«

    »Dieser Ausflug ist für mich nicht völlig ungewöhnlich, wenn auch in seiner heutigen Ausprägung überraschend. – Ich will vorsichtig sein, aber mir scheint, ich war gar nicht im Jetzt, sondern in der Zukunft. Was mich dabei irritiert, ist die Empfindung – und dieses Gefühl ist sehr stark: Ich werde diese Menschen und diesen Ort wiedersehen. Erklären kann ich dir das nicht, aber eine Frage habe ich an dich: Was hast du zuletzt gespielt? Ein Lied? Wie heißt es?«

    »Ich habe improvisiert. Ein mir bekanntes Lied habe ich nicht gespielt. Warum fragst du?«

    »Meine Seele begann ihren Flug unter den Tönen dieses Liedes. Wirst du die Melodie wiederholen können?«

    »Ich denke schon.« Dabei hob er die Shakuhachi an seinen Mund.

    »Bitte nicht jetzt! Aber könntest du die Melodie notieren?«

    »Sicherlich, gerne … aber glaubst du wirklich, dass sie deinen Ausflug provoziert hat?«

    »Vielleicht. Ich bin dir sehr dankbar für diese Erfahrung. Aber, bitte, darf ich mich jetzt verabschieden? Ich brauche Ruhe. Entschuldige mich bitte bei deiner lieben Frau.«

    ***

    Nacht. Sternenklare Nacht und ein sanfter Wind, der nur gelegentlich die Oberfläche des Wassers kräuselt. Am östlichen Ufer des Loch Ness, in Inverfarigaig, ein einsamer gedrungener Mann, auf einem Felsbrocken kniend, den Blick zu den Sternen gerichtet. Seine Lippen bewegen sich in gleicher, wieder und wieder gleicher Folge: »Herr, oh Herr! Warum hast Du mir das angetan? Herr, oh Herr …« Da, er richtet sich auf, reckt die Hände gen Himmel! Der Mund öffnet sich – öffnet sich weit. »HERR! OH HERR! WARUM HAST DU MIR DAS ANGETAN?«

    William Angus Shields, der verwitwete Töpfermeister, sackt zusammen. Ein Bündel gebrochener Kraft mit wirrem Haar. – Etwas ist geschehen. Kein Windhauch rührt sich mehr. Der Wasserspiegel wie schwarzer polierter Stein. Schwere schmerzhafte Stille. William hält sich die Ohren zu, krümmt sich. Gebrochene Auflehnung. Geschlossene Augen.

    Und wieder: flüsternde Bewegung der Lippen bei halb erhobenem Kopf: »Du bist da? HERR! Wie oft rief ich DICH! Warum nahmst DU mir meine geliebte Frau?

    Sie hat mir nie gehört, sagst Du? Nichts gehört mir?– Alles nur geliehen? Dein erflehtes Wort schmerzt. Wie soll ich leben? Was hast Du mit mir vor? Ich soll demütig sein? Woher kommt mir die Kraft dafür? – Vertrauen soll ich DIR? Dem, der mir alles nahm, der mein Herz gefrieren ließ? Ja, ich will es tun, Herr! – WEIL DU BIST!«

    William liegt still am Boden. Tränen. Ein leichter Wind streicht wieder über den See. Kleine Wellen laufen mit zartem Klickern auf den Kies. Versöhnlich. Leicht. – Ein alt erscheinender Mann, gebeugt, auf dem Weg zu seinem Haus nicht weit vom Ufer.

    ***

    Im wenige Meilen entfernten Dores Inn war nicht viel los an diesem späten Oktoberabend 1983. Als dann zwei Fremde, offenbar reisende Vertreter einer Firma aus England, sich verabschiedet hatten, saß nur noch der alte Joe, ein Rentner aus Dores, am Tresen und hielt sich an seinem Bier fest.

    Die Wirtin Shirley Sims hatte sich gerade mit ihrem Strickzeug in die Ecke hinter dem Tresen gesetzt, als eine junge Frau in einem abgetragenen Regenmantel den Schankraum betrat und sich zu Joe setzte. Sie bestellte sich ein Bier und starrte dann vor sich hin.

    »Nicht viel los hier!«, sagte sie nach einer Weile und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

    »Was erwarten Sie im Oktober und so spät am Abend in Dores?«, entgegnete Shirley mit einem Achselzucken.

    Nach einer längeren Pause und einigen Schlucken Bier sagte die Fremde:

    »Ich suche Arbeit.«

    »Die suchen viele, was können Sie denn?«

    »Vielleicht könnte ich irgendwo im Haushalt helfen – wenn ich nur erst einmal ein Dach über dem Kopf hätte!«

    Shirley riss ihre müden Augen auf. »Woher kommen Sie? Ich meine … einfach so losfahren, keine Arbeit, kein Zuhause …«

    »Ich komme aus Fort William. Man hatte mir geraten, in den Hotels von Inverness nach Arbeit zu fragen. Das habe ich gerade hinter mir. Die Leute waren nicht besonders freundlich. Alle haben nur von schlechter Saison und Winterloch geredet. Ja, stellenweise wurde ich sogar ausgelacht. Irgendwo muss ich nun übernachten. Die Hotels in Inverness sind mir zu teuer. So kam ich auf die Idee, es auf dem Land zu versuchen. Aber Sie nehmen wohl keine Übernachtungsgäste?«

    »Nein, dies ist kein Hotel. Dafür wäre zu wenig Nachfrage. Aber es gibt hier einige Haushalte, die Bed and Breakfast anbieten. Soll ich für Sie telefonieren?«

    Jetzt schaltete sich Joe in die Unterhaltung ein: »Sie können bei mir übernachten. Ich habe ein Zimmer frei, seitdem ich alleine bin. Das Bett müssen Sie allerdings selbst beziehen, aber das werden sie wohl können.«

    »Vielen Dank für das Angebot. Damit konnte ich nicht rechnen. Aber was kostet die Übernachtung?«

    »Als Gegenleistung machen Sie morgen das Frühstück für uns zwei – das hatte ich lange nicht, mich an den gedeckten Tisch setzen zu können! – und anschließend räumen Sie meine Küche gründlich auf. Zu viel?«

    »Nein, Ihr Angebot ist sehr großzügig. Ich muss Ihnen danken! Übrigens: Ich heiße Catherine Crombie.«

    Joe hatte sein Bier ausgetrunken und stand leicht unsicher auf.

    »Ich bin Michael McMahon, aber die Leute hier nennen mich nur Joe. Von mir aus kann es losgehen.« Er zahlte und wartete, dass Catherine aufstand. Sie trank ihr Bier aus und zahlte ebenfalls.

    »Na, für heute scheinen Sie ja versorgt zu sein«, sagte Shirley und versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken. »Wenn Sie morgen noch einmal zu mir kommen wollen, dürfen Sie das gerne tun. Vielleicht fällt mir doch noch etwas für Sie ein.«

    Catherine bedankte sich mit der Anmerkung, dass es zum Glück doch noch freundliche Menschen gäbe. Die Wirtin war mit an die Tür gegangen und sah zu, wie beide in einen angerosteten hellgrünen Renault-Kombi stiegen und Joe die Richtung zeigte, in die Catherine fahren sollte. Als Shirley wieder hineingegangen war, notierte sie sich die Autonummer – das Verhalten der jungen Frau fand sie auffällig. Sie schloss ab und räumte den Schankraum auf. In der daneben liegenden Gaststube hatte ihre Hilfe schon alles erledigt, bevor sie gegangen war.

    Joe dirigierte Catherine zu einem kleinen Einfamilienhaus im höher gelegenen Ortsteil von Dores, das er seit dem Tod seiner Frau vor sechs Jahren alleine bewohnte. Selbst in der Dunkelheit wirkte der Garten ziemlich verwildert.

    Ähnlich sah es im Haus aus. Joe führte seinen Gast in die erste Etage, wo unter dem Dach ein einfaches Gästezimmer eingerichtet war. Immerhin, fließend kaltes Wasser gab es dort. Das Bad lag im Parterre und musste entsprechend gemeinsam benutzt werden. Joe gab lakonisch bekannt, dass er morgens um acht Uhr ins Bad gehen würde und sie gerne vorher hineinkönne. Sie hätte dann ausreichend Zeit, das Frühstück für beide zu bereiten. Entsprechend zeigte er ihr noch die Küche. Dann gab er ihr die notwendige Bettwäsche und erklärte, nun ins Bad und anschließend zu Bett zu gehen. Sie hätte danach freie Bahn im Bad.

    Catherine hatte alles schweigend zur Kenntnis genommen, bedankte sich artig und wünschte ihm eine gute Nacht. In der Küche aber hatte sie sich nur mühsam eine Bemerkung über die dortigen Zustände verkneifen können.

    Leise ging sie in das ihr zugewiesene Zimmer hinauf und riss erst einmal das Fenster sperrangelweit auf, um die herrliche Abendluft hereinzulassen. Am liebsten hätte sie noch das muffig riechende Bettzeug zum Fenster hinausgehängt, begnügte sich aber damit, es mit dem frisch riechenden neuen Bezug zu versehen.

    Als aus dem Parterre keine Geräusche mehr zu hören waren, ging sie hinunter. Die Tür zum Bad stand offen. Joe hatte sogar daran gedacht, ihr ein frisches Handtuch hinzulegen. Zunächst säuberte sie die Dusche, die Joe seit Längerem wohl nur ohne Brille angesehen hatte. Dann genoss sie die Dusche und fragte sich dabei, was einen alten Mann dazu bringen konnte, eine wildfremde Frau ins Haus zu lassen. Vereinsamung, dachte sie, das darf mir nicht passieren. Ich werde ihm morgen ein wunderbares Frühstück machen.

    Joe lag schon, die Zimmertür abgeschlossen, im Bett, als Catherine ins Bad ging. Irgendwie wunderte er sich nachträglich doch über seine Einladung an die Fremde und kam erst zur Ruhe, als die ungewohnten Geräusche im Haus gänzlich aufgehört hatten.

    Einige Stunden später wachte er auf wie meistens, wenn er abends Bier getrunken hatte, und ging zur Toilette, die sich im Bad befand. Dort hing noch der fremde Geruch einer parfümierten Seife im Raum.

    Er musste schmunzeln, als seine Erinnerung in weit entfernte, glücklichere Zeiten zurückging.

    Catherine wachte erst auf, als ihr kleiner Reisewecker um sieben Uhr klingelte. Sie brauchte etwas Zeit, um sich auf die Realität zu besinnen. Im Bad war sie schnell fertig, sodass sie schon vor acht Uhr in der Küche anfing, ein Frühstück für Joe und sich zu bereiten, ein Full Scottish Breakfast, wie sie es selbst so liebte. Beim Zusammensuchen aller Bestandteile, machten ihr die Unordnung und auch Unsauberkeit in der Küche sehr zu schaffen, sodass sie quasi nebenbei mit dem Aufräumen begann.

    Während Joe noch im Bad war, fand sie Zeit, aus dem Garten ein paar Zweige mit Herbstlaub zu holen und in einen Krug zu stellen. Zusammen mit einem sauberen Tischtuch und dem Geruch von frisch geröstetem Brot lud die Frühstücksecke in der Küche zum Sitzen ein.

    Joe kam herein, stutzte und rief: »Habe ich heute Geburtstag?« Sichtlich gerührt setzte er sich an den Tisch. »Haben Sie da oben unter dem Dach gut geschlafen? Oder habe ich Sie heute Nacht gar gestört? Wissen Sie, in meinem Alter muss man nachts meistens einmal raus. Da ist es mit dem Durchschlafen vorbei. Aber was rede ich!«

    »Oh, ich habe ausgezeichnet geschlafen und kann Ihnen nicht genug danken. Wie alt sind Sie eigentlich?«

    »Zweiundachtzig Jahre, aber lassen Sie sich jetzt nicht vom Frühstücken abhalten. Guten Appetit!«

    Eine Weile frühstückten beide schweigsam und mit Genuss. Bald jedoch nahm Joe das Gespräch wieder auf. Zu groß war seine Neugier: »Wie soll das denn nun für Sie weitergehen?«

    »Die Wirtin vom Dores Inn meinte doch, ich soll heute noch mal vorbeikommen. Sie wollte darüber nachdenken, ob ihr nicht doch noch etwas zu einer Arbeit für mich einfällt.«

    »Was haben Sie denn ursprünglich gelernt?«

    »Ich zeichne gerne und habe eine Ausbildung zur Bauzeichnerin absolviert. Lieber hätte ich ja Design gemacht, aber davon hat man mir abgeraten, weil es kaum Arbeitsplätze in diesem Bereich gibt. Leider ist es inzwischen mit den Arbeitsplätzen für Bauzeichner ebenso. Die Architekten haben weniger Aufträge und zeichnen fast alles selbst – mit dem Computer. Vor drei Jahren war es dann so weit: Mein Arbeitsplatz wurde überflüssig. Seitdem jobbe ich und schlage mich irgendwie durch.«

    Joe wusste nicht viel dazu zu sagen, außer: »Sie dürfen den Mut nicht verlieren, so jung wie Sie sind, und außerdem sind Sie jetzt am Loch Ness.

    Das ist nicht irgendeine Gegend. Neue Kräfte werden Ihnen zuwachsen. Ich weiß nicht recht, wie ich das begründen soll, aber hier scheint es besondere Kräfte zu geben.«

    »Ist man mit siebenunddreißig Jahren noch jung? Aus Ihrer Sicht vermutlich schon, aber seit drei Jahren mag ich immer weniger daran glauben.«

    Sie hatten gerade das Frühstück beendet und Catherine steckte schon tief in der Küchen-Aufräumaktion, als im Wohnzimmer das Telefon klingelte.

    Shirley war am Apparat. »Hallo Joe, wie geht es dir? Schon gut gefrühstückt? Was macht die junge Dame? Möchtest sie wohl behalten, alter Knabe, wie?«

    »Lass deine Scherze auf Kosten eines alten Mannes! Aber ich muss dir sagen: Ich habe ausgezeichnet gefrühstückt. Und jetzt räumt sie die Küche auf, dass es nur so raucht, ist mir ja eigentlich peinlich. Sie scheint aber ein Einsehen zu haben … zweiundachtzig Jahre sind vielleicht eine Erklärung.« »Ich habe mich ja gestern sehr gewundert, dass du die wildfremde Frau aufgenommen hast. Ganz geheuer war mir das nicht. Wer weiß schon, was mit ihr los ist. Hast du etwas von ihr erfahren?«

    »Ja, sie ist siebenunddreißig und hat Bauzeichnen gelernt. Seit drei Jahren ist sie arbeitslos und jobbt. Viel Hoffnung scheint sie nicht mehr zu haben. Aber ich habe eine Idee, glaube ich.«

    »Du wirst sie doch nicht etwa selbst behalten wollen!«

    »Nein, natürlich nicht, eine Haushälterin könnte ich mir gar nicht leisten, aber William Angus, unser Töpfermeister, der könnte das. Seit er vor vier Jahren seine Frau beerdigt hat, wird er immer griesgrämiger. Die Muster auf seinen Töpferwaren wirken seitdem auch nicht gerade fröhlich. Er behauptet zwar, dass er mit dem Haushalt zu viel Zeit verlieren würde – du weißt ja, wie peinlich sauber bei ihm alles sein muss –, aber meines Erachtens ist es die Einsamkeit, die ihn runterzieht. Vielleicht können wir das ändern, was meinst du?«

    »Du wirst lachen, aber an William habe ich auch schon gedacht. Nur … woher sollen wir wissen, dass die Frau in Ordnung ist? Vielleicht hat sie etwas ausgefressen und ist in Wirklichkeit auf der Flucht. Ich möchte gerne ausführlicher mit ihr reden. Wenn sie mag, schick sie nachher zu mir.

    Würdest du sie denn noch eine Nacht beherbergen, wenn wir das mit Angus versuchen wollen?«

    »Sicher doch, wann kann ich schon einmal jemandem helfen?«

    Joe ging in die Küche, die inzwischen bereits einen ungewohnt sauberen und geordneten Eindruck machte. Er lobte Catherine und erzählte ihr von dem Anruf. »Wenn Sie möchten, könnten Sie nachher zu Shirley gehen. Mir scheint, dass es eine Chance für Sie gibt. Shirley wird Sie aber sicher kräftig ausfragen.«

    »Natürlich, muss sie wohl, wenn sie mir wirklich weiterhelfen will. Ich bin ziemlich erstaunt und gleichzeitig ratlos, wenn ich sehe, wie Sie beide einer wildfremden Person zu helfen versuchen. In der Stadt habe ich so etwas noch nicht erlebt.«

    »Unser Leben hier auf dem Land ist sicher anders. Menschen und Dinge haben eine andere Bedeutung, wenn man sie in Ruhe betrachtet. Wir lassen es selten beim Anschauen, möchten lieber hineinschauen, aber … ich rede wie ein alter Mann. – Übrigens, Sie sollten ihr Bettzeug vielleicht lieber noch nicht abziehen. Wenn sich tatsächlich eine Chance ergibt, Sie mit Arbeit zu versorgen, werden Sie noch mal hier nächtigen müssen.«

    Catherine hatte während des Gesprächs weiter Geschirr abgetrocknet.

    Joe nahm ihr das Handtuch ab und sagte: »An Ihrer Stelle würde ich jetzt zum Dores Inn hinunterlaufen und Shirley erzählen, was Sie in diese Gegend verschlagen hat. Sie meint es gut mit Ihnen und möchte Ihnen helfen.«

    Catherine sah ihn einen Moment schweigend an. Dann ging sie nach oben ins Gästezimmer. Als sie bald darauf wieder herunterkam, hatte sie sich umgezogen. Sie trug nun einen schlichten dunkelgrünen Pullover zu sauberen Jeans. Mit ihrer schlanken Figur wirkte sie sportlich. In ihrem dunklen, halblangen glatten Haar entdeckte Joe silberne Fäden, die sie zusammen mit dem zu mageren Gesicht älter erscheinen ließen als sie war.

    Sie merkte, dass Joe die Veränderung auffiel und sagte lachend: »So fühle ich mich besser, ich fühle mich überhaupt besser, seitdem ich Menschen getroffen habe!«, und schaute ihn dabei an.

    »Gehen Sie zu Fuß hinunter. Die frische Luft wird Ihnen guttun und trocken ist es auch. Hier, nehmen Sie sicherheitshalber den Schirm mit. Bei uns ist das Wetter stündlich anders.«

    Vom Loch Ness wehte ein kühler Wind herauf. Catherine war froh, dass sie den Pullover angezogen hatte und genoss die Frische.

    Die Wirtin empfing sie hinter ihrem Tresen stehend. »Es ist gut, dass Sie jetzt schon kommen, denn nachher muss ich mich um die Wirtschaft kümmern, auch wenn momentan nicht viel los ist. Übrigens kommt Joe nachher zum Mittagstisch hierher. Er gönnt sich das dreimal in der Woche. Ansonsten schlägt er sich so durch. Na, Sie haben ja seine Küche gesehen. Sie können dann auch hier essen. Wir kochen einfach und preiswert.«

    »Danke, das mache ich gerne. – Mr McMahon deutete an, dass Sie vielleicht wirklich etwas für mich wüssten?«

    »Ja, vielleicht, aber zunächst muss ich Sie bitten, mir mehr über sich zu erzählen. Bitte haben Sie Verständnis dafür. Ich bin nicht neugierig, kann Sie aber an niemanden weiterempfehlen, wenn ich nicht mehr über Sie weiß.«

    Sie gingen in einen kleinen Raum hinter dem Schankraum, und Catherine erzählte alles, was sie schon Joe berichtet hatte.

    Sie spürte, dass das nicht ausreichte, seufzte tief und sagte: »Ich glaube, ich muss Ihnen mehr erzählen, damit Sie meine Lage verstehen können. – Ich bin in Glasgow aufgewachsen. Dort bekam ich auch meine Ausbildung und erste Anstellung. Meine Eltern, denen es nicht besonders gut ging, waren froh, dass ich auf eigene Füße kam. Inzwischen sind sie in Rente. Als ich meine Arbeit verlor, konnten sie mir auch nicht helfen. Verschiedene Freunde besorgten mir Jobs, sodass ich ganz gut zurechtkam. Aber inzwischen weiß ich, dass sie mich eigentlich nur ausgenutzt, mit mir gespielt haben«, sagte sie mit einem bitteren Zug um die Mundwinkel. »Ich bin wahrscheinlich zu impulsiv und gutgläubig. Mein letzter Freund überredete mich, mit ihm nach Fort William zu kommen. Er wollte dort einen Computerladen eröffnen und schilderte mir eine rosige gemeinsame Zukunft. Er hatte tatsächlich einen kleinen Laden mit einer Wohnung darüber gemietet. Ich half ihm beim Einrichten und glaubte an die Zukunft. Das hat zwei Monate gedauert. Im zweiten Monat lernte er ein reiches Mädchen kennen, acht Jahre jünger als ich. Er fing sofort Streit mit mir an. Vorgestern hat er mich einfach vor die Tür gesetzt und drohte, handgreiflich zu werden. – Mehr muss ich wohl nicht erzählen!«

    »Was sagen Ihre Eltern dazu?«

    »Die … haben mir immer schon gesagt, dass ich zu leichtgläubig und leichtsinnig sei. Helfen können sie mir nicht, was sollten sie auch tun? Ich muss selbst wieder neu anfangen.«

    Shirley nickte stumm und sagte nach einer kleinen Pause: »Im Nachbarort gibt es einen Töpfermeister, William Angus Shields, der seit einigen Jahren alleine lebt. Seine Frau ist an Krebs gestorben. Kinder hatten sie nicht. Vielleicht kann er jemanden wie Sie einstellen. Sie können zeichnen – warum nicht Töpferwaren dekorieren? Den Haushalt könnten Sie versorgen, damit er wieder mehr zu seiner Arbeit in der Töpferei kommt.«

    »Wie alt ist er?«

    »Ich glaube, er ist dreiundfünfzig, ein harter Bursche. Er schwimmt noch im Loch Ness, wenn wir denken, dass es bald zufriert. Ich könnte ihn anrufen, wenn Sie wollen?«

    »Es hört sich an, wie eine Chance für einen Neuanfang. Vielleicht kann ich in dieser Landschaft zu mir finden. Bitte, rufen Sie ihn an.«

    »Gut, ich will es probieren. Sie können sich schon mal in die Gaststube setzen oder einen Spaziergang machen. In einer knappen Stunde gibt es Lunch.«

    Catherine machte einen Rundgang durch den kleinen Ort und suchte sich danach am Loch Ness einen Platz. Auf einem umgestürzten Baumstamm, der sicher schon lange dort lag, setzte sie sich nieder. Die Sonne war herausgekommen und wärmte sie. Irgendwie kam ihr alles sehr unwirklich vor. Menschen, die sie gestern noch nicht kannten, bemühten sich darum, ihr weiterzuhelfen. Sie spürte, dass es hier weitergehen würde.

    William Angus war über den Anruf von Shirley sehr verwundert. Das Problem des Alleinseins hatte er durch reichlich Arbeit verdrängt. Der Gedanke an eine Haushälterin und möglicherweise Mitarbeiterin in der Töpferei irritierte ihn sehr. Andererseits war ihm die Hausarbeit, die er sehr ernst nahm, ausgesprochen lästig, stahl sie ihm doch wichtige Zeit in der Töpferei, sodass er immer wieder in Lieferschwierigkeiten geriet. Wohlwollende Stammkunden hatten ihm schon wiederholt gesagt, er brauche eine Hilfe. Vielleicht hatten sie Recht und Shirley bot ihm die Gelegenheit …

    Nach einigem Hin und Her willigte er ein und sagte, Catherine solle am Nachmittag, so gegen vier Uhr kommen. Am besten wäre es, wenn Joe mitkäme. Der könnte ihr den Weg zeigen. Außerdem wolle er mit der fremden Frau nicht alleine sein.

    »Das ist ein guter Vorschlag«, meinte Shirley und fügte hinzu: »Die Einsamkeit hat einen richtigen Sturkopf aus dir gemacht.«

    »Ich kenne die Probleme, die ich habe. Neue will ich nicht!«

    Catherine war inzwischen in die Gaststube gegangen, wo Joe sich bereits eingefunden hatte. An einem anderen Tisch saßen mehrere Wanderer und warteten auf ihren Lunch.

    Shirley erzählte Catherine mit knappen Worten von der Verabredung mit William. Joe erklärte sich gerne bereit, Catherine zu begleiten.

    Nach dem Lunch bezahlte Catherine für sich und Joe, der das allerdings vehement ablehnte, sich schließlich jedoch ihrem Wunsch fügte. Catherine ging mit ihm zu seinem Haus hinauf, wo er sich zum gewohnten Mittagsschlaf hinlegte und sie mit seiner widerstrebend gegebenen Einwilligung das Wohnzimmer einer gründlichen Überholung unterzog.

    Kurz vor 16 Uhr starteten sie nach Inverfarigaig. Das Tor zu dem dicht am Loch Ness versteckt liegenden Anwesen stand offen. Als Catherine neben einem am Haus abgestellten alten Ford Transit eingeparkt hatte, öffnete sich die Haustür, und William begrüßte sie. – Das heißt, er begrüßte Joe und dieser stellte Catherine vor.

    William bemühte sich höflich zu sein, ja, er hatte in der sorgsam aufgeräumten Wohnstube sogar für einen Tee gedeckt und fragte Catherine, ob sie erst Haus und Werkstatt ansehen oder doch lieber gleich einen Tee nehmen wollte. Sie sagte, dass sie besonders neugierig auf die Werkstatt und seine Arbeiten sei, also gingen sie rüber.

    Die Werkstatt wirkte auf Catherine chaotisch, mit ihren Regalen voller fertiger und halb fertiger Waren, unbekannten Werkzeugen, Töpfen mit Engoben und Glasuren. Dazu überall Spuren von Ton in verschiedenen Farben.

    William hatte Überschuhe angezogen, als er von der Wohnung in die Werkstatt getreten war. Catherine und Joe bemühten sich, ihre Schuhe entsprechend zu säubern, als sie die Werkstatt wieder verließen, um durch das Haus zu gehen. Catherine sah die Ordnung und Sauberkeit in den Wohnräumen des Hauses, einschließlich der Küche.

    Beim Tee war William zunächst sehr schweigsam, sodass Joe sich veranlasst sah, das Anliegen von Catherine vorzutragen, worauf William sagte: »Suchst du Arbeit und ein Dach über dem Kopf oder die junge Dame hier?«

    Catherine war, obwohl sie sich dagegen zu wehren versuchte, errötet. Sie hob Hilfe suchend die Hände. »Ich weiß nicht, wie viel Mrs Sims Ihnen über meine Lage gesagt hat, deshalb wusste ich nicht so recht, wie ich anfangen sollte, Ihnen meinen Wunsch oder meine Hoffnung vorzutragen.« Sie schilderte ihm mit kurzen Worten ihre augenblickliche Situation, wobei sie allerdings die peinlichen Details ausließ. »Ich wäre in der Lage, Ihnen den gesamten Haushalt abzunehmen, sodass Sie sich ganz auf die Töpferei konzentrieren könnten. Außerdem kann ich zeichnen. Vielleicht lassen sie mich probieren, ob ich Töpferwaren in Ihrem Sinne dekorieren kann?«

    William hatte die Ellenbogen aufgestützt und hob die Hand! »Meinetwegen können wir es versuchen. Über Geld reden wir aber erst, wenn ich sehe, was Sie können. Bis dahin erhalten Sie ein Taschengeld von fünfzig Pfund die Woche, Unterkunft und Verpflegung. Als meine Frau noch lebte, haben wir an Feriengäste vermietet – ein kleines Appartement im Anbau, das ich allerdings erst herrichten müsste. Wir können ja gleich einmal rübergehen.«

    Catherine war sprachlos. Ihr ging alles zu schnell – und doch schien das die Chance zu sein, die sie jetzt brauchte und herbeigesehnt hatte.

    Sie standen auf und gingen, zu dem unter einem Knöterich fast verschwundenen Anbau. Über eine Holztreppe gelangten sie von außen in den ersten Stock des ehemaligen Stallgebäudes.

    Als William öffnete, kam ihnen abgestandene Luft entgegen. Von einem winzigen Vorflur aus gelangten sie auf der einen Seite in einen kojenartigen, vollständig mit Holz vertäfelten Raum, der ein großes Giebelfenster zum Garten aufwies. Auf der anderen Seite des Flures befand sich ein großzügiges Duschbad mit Waschbecken und Toilette.

    »Wenn es sein soll, ist das hier alles bis morgen Nachmittag tipptopp«, erklärte William.

    Joe mischte sich ein: »Also, bis morgen könnte Mrs Crombie noch bei mir wohnen. Übermorgen kommt meine Nichte zu Besuch, William. Du weißt schon, den Alten kontrollieren. Die wird sich sowieso wundern.«

    Sie waren wieder zu Catherines Auto gegangen. William sah seine Besucherin fragend an.

    »Wenn Sie einverstanden sind, möchte ich es versuchen«, sagte Catherine. Er nickte. »Dann erwarte ich Sie morgen Nachmittag etwa um die gleiche Zeit. – Vielen Dank, Joe, dass du an mich gedacht hast und grüß mir Shirley.«

    William hatte sich umgedreht und war ins Haus gegangen, noch bevor Catherine und Joe ins Auto stiegen.

    Sie fuhren zurück nach Dores.

    »Mir ist, als wenn ich einen Strohhalm ergreife. Wird das gut gehen?«

    »Sie gewinnen Zeit, um ihr Leben neu zu ordnen«, antwortete Joe.

    Mehr wurde auf der Rückfahrt nicht gesprochen. Beide hingen ihren Gedanken nach.

    Wieder in Dores angekommen wandte sich Catherine an Joe: »Darf ich Sie heute zum Abendessen einladen? Sie haben sehr viel für mich getan und leisten kann ich es mir auch. Sie haben ja gehört, ab morgen wird mir ein Taschengeld zustehen. Außerdem möchte die Wirtin vom Dores Inn sicher erfahren, wie die Begegnung mit Mr Shields gelaufen ist.«

    Joe presste die Lippen aufeinander und gab einen Brummton von sich.

    Shirley freute sich darüber, dass Catherine sich bei ihr für die Vermittlung bedankte und nutzte die Gelegenheit, durch recht unverblümte Fragen den Ablauf der Begegnung zu erfahren.

    »Das ist typisch William!«, war ihr kurzer Kommentar. »Lassen Sie sich durch seine sture und manchmal recht schroffe Art nicht ins Bockshorn jagen. Er ist im Grunde ein lieber Kerl, der jetzt schon viel zu lange alleine lebt.«

    Am nächsten Morgen bat Catherine Joe um die Erlaubnis, sein Haus einer gründlichen hausfraulichen Reinigung unterziehen zu dürfen.

    Widerstrebend willigte er ein. Ihm war es schon peinlich gewesen, dass sie seine herumstehenden fettigen Töpfe gereinigtt hatte. An sein Schlafzimmer mochte er gar nicht denken. »Was wird nur morgen meine Nichte sagen?«, war sein fast schon besorgter Kommentar.

    Als Gegenleistung holte er aus dem Dores Inn zwei Lunchpakete, um zu verhindern, dass sein Gast auch noch zu kochen anfing.

    Der Nachmittag kam schnell.

    Joe wünschte Catherine einen guten Neuanfang. »Denken Sie immer daran: Dies wird jetzt Ihre Atempause zur Neuorientierung. Lassen Sie sich Zeit für alle Entscheidungen. Und … Sie dürfen mich gerne auch unangemeldet besuchen.«

    ***

    Der Töpfermeister empfing Catherine freundlich und trug ihr das wenige Gepäck in die kleine Ferienwohnung. Sie staunte, in welchen Zustand er die Räume in der kurzen Zeit versetzt hatte: blitzsaubere Fensterscheiben, nirgends Staub … Sie dankte ihm dafür und spürte, dass sie sich in dieser Umgebung wohlfühlen würde.

    »Am besten machen wir jetzt noch einmal einen sehr gründlichen Rundgang durch Haus und Werkstatt, damit Sie sich hier zurechtfinden und Ihre Aufgaben entdecken können. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie das Haus in Ordnung halten, die Wäsche erledigen und die Mahlzeiten bereiten – einschließlich der dafür notwendigen Einkäufe. Werkstatt und Garten betreue ich selbst. Wenn dann noch Zeit bleibt, werden wir versuchen, ob Sie in der Werkstatt helfen können.«

    »Haben Sie feste Zeiten für die Mahlzeiten?«

    »Ja, Frühstück um sieben, Lunch um dreizehn Uhr und Dinner um neunzehn Uhr. Zwischendurch Tee, viel Tee.«

    In der Küche ließ er sie alleine, damit sie sich mit allem vertraut machen konnte. Sie hatte ihn noch nach besonderen Vorlieben in Bezug auf das Essen fragen wollen, aber da war er schon in seiner Werkstatt verschwunden. Plötzlich kam sie sich sehr müde und kraftlos vor. Sie setzte sich an den langen Eichentisch, der gleichzeitig als Arbeits- und Esstisch diente, und stützte den Kopf in beide Hände, während sie aus dem Fenster schaute.

    Eine Weile mochte sie wohl so gesessen haben, als sie William sagen hörte: »Na, doch ein wenig zu viel auf einmal?!« Er stand in der Küchentür und sah sie an. Sein kariertes Hemd spannte über dem Bauch. Ein Knopf war aufgesprungen wodurch sein geripptes Unterhemd sichtbar wurde.

    »Sie brauchen keine Rücksicht auf mich zu nehmen!«, sagte sie und stand auf.

    »Wenn Sie erlauben, helfe ich Ihnen heute und morgen beim Zubereiten der Mahlzeiten. Wie sollen Sie sonst herausfinden, was ich mir vorstelle?! Woher sollen Sie wissen, was ich nicht mag!«

    »Vielleicht machen Sie mir eine Liste?«

    »Ich schreibe nicht gerne!«

    »Dann werden Sie es mir nach und nach sagen. Ich kann ja vorher ankündigen, was ich kochen will, okay?«

    »Ja, für heute habe ich allerdings schon vorgesorgt und von Cameron Cooper, dem Fischer in Foyers, einen ordentlichen Fisch geholt, der gut für uns beide reichen wird. Übrigens ein netter Kerl, der Cameron, redet nicht so viel. Wenn Sie den Fisch braten, wird das sicher ein gutes Abendessen. – Was ich noch sagen wollte: Alkohol ist nicht im Haus und kommt auch nicht ins Haus. Rauchen Sie?«

    »Nein.«

    »Das ist gut, ich auch nicht. Falls Gäste da sind … die schicken wir zum Rauchen in den Garten. So, jetzt habe ich schon viel zu viel geredet. – Bis zum Abendessen.«

    Catherine suchte sich alles zusammen, was sie für die Zubereitung benötigte. Dabei stellte sie fest, dass William offenbar selbst ein guter Koch war. Sie würde sich anstrengen müssen.

    Nachdem alles bereitgestellt war, ging sie durch den Garten in ihr Appartement und räumte ihre wenigen Habseligkeiten ein. Es blieb noch Zeit für einen kleinen Spaziergang in die unmittelbare Umgebung.

    Eine ganze Weile saß sie nachdenklich auf einem verfallenen Bootsanleger am Loch Ness. Von dort konnte sie das Dach des Hauses sehen, in dem sie jetzt leben würde. Still lag es da. Das Plätschern der Wellen, die fast regelmäßig auf den Kies am Ufer liefen und ab und an gegen die morschen Pfähle des Anlegers klatschten, erinnerte sie daran, dass plötzlich alles neu war. Hier werde ich zu mir selbst finden und dann gibt es auch einen neuen Weg für mich.

    Sie war gerade mit der Zubereitung des Abendessens beschäftigt, als William plötzlich neben ihr stand. Dass dieser so schwerfällig wirkende Mann so leise geht, dachte sie. Er wollte offensichtlich helfen, kam aber nicht dazu, weil sie sich gut zurechtfand. Deshalb deckte er schließlich den Tisch für zwei Personen.

    Da beide während des Essens zu sehr mit dem Entfernen der Gräten beschäftigt waren, kam ein Tischgespräch nicht recht in Gang. Catherine erzählte schließlich, dass sie sich in der Nähe des Hauses umgesehen habe und fragte nach dem Zweck des alten Bootsanlegers.

    William berichtete, dass vor Jahren jemand versucht hatte, dort einen Bootsverleih für Touristen und Angler zu betreiben: »Das wurde eine fürchterliche Pleite – hatten wir ihm vorausgesagt, aber die Städter wissen ja alles besser. Touristen gibt es im Sommer reichlich, aber auf der anderen Seeseite, dort wo das Nessie-Zentrum ist. Und die Angler starten in Foyers oder vom Dores Inn. Was nützt es mir, wenn Touristen durch meine Werkstatt laufen und dann doch nichts kaufen. Die stehlen mir nur die Zeit. Sie werden das ja sehen.«

    »Darf ich mir nachher noch einmal Ihre Werkstatt und Ihre laufenden Arbeiten ansehen? Ich möchte mir Gedanken machen über mögliche Dekors. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch – ich muss meinen Kopf mit sinnvollen Überlegungen beschäftigen. Ich kann nicht dauernd über meine Probleme nachdenken!«

    »Klar, kommen Sie nur. Ich bin nach dem Abendessen sowieso immer noch etwa zwei Stunden in der Werkstatt. Das ist die Zeit, in der mich fast nie jemand stört. Sie werden doch nicht dauernd reden?« Ein schwer zu deutender Blick begleitete die letzte Bemerkung.

    Die Mahlzeit war bald beendet. William verschwand in Richtung Werkstatt. Catherine räumte ab, erledigte den Abwasch und begann eine Liste notwendiger Einkäufe aufzustellen. Mit der Frage nach seinen Wünschen für Lunch und Dinner am nächsten Tag betrat sie seine Werkstatt und spürte sofort, dass sie störte. William erklärte aber, sie müsse schließlich seine Wünsche wissen und versuchte so zu tun, als ob er sich nicht gestört fühlte.

    Nachdem die Essensfrage geklärt war, nahm er sich sogar die Zeit, ihr seine laufenden Arbeiten zu zeigen. Dabei gab er ihr zwei unterschiedliche Vasen. »Hierfür könnten Sie eine neue Bemalung entwerfen. Der Großhändler hat neulich gefragt, ob ich nicht ein anderes Dekor anbieten könnte. Also, probieren Sie es einfach aus.« Dann kramte er in einer Schublade und förderte Papier und einen Tuschkasten zutage.

    Catherine war begeistert und dankte ihm. Eine gute Nacht wünschend zog sie sich mit der eben erhaltenen Ausrüstung in ihr Appartement zurück.

    Zunächst zeichnete sie einen Vasenumriss und versuchte mit Bleistift verschiedene Motive, die ihr aber alle nicht gefielen. Sie hatte in der Werkstatt gesehen, dass William zumeist schlichte geometrische Muster verwendete und wollte im gleichen Stil, nur unter Verwendung anderer Farben, an die Aufgabe herangehen.

    Bald wurde ihr klar, dass sie immer wieder bei den in der Werkstatt gesehenen Linien landete. Das wird heute nichts. Ich werde jetzt besser schlafen statt hier herumzuprobieren, beschloss sie.

    Den Wecker stellte sie auf sechs Uhr, um das Frühstück für den Töpfermeister rechtzeitig fertig zu haben.

    Als der Wecker am anderen Morgen klingelte, fand sie sich nur schwer zurecht. Die fremde Umgebung verwirrte sie zunächst. Sie öffnete das Fenster. Ganz nahe aus einem Apfelbaum startete eine erschrockene Elster. Ansonsten rührte sich nichts. Catherine hatte wunderbar geschlafen, fühlte sich frisch und stark. Dieses Gefühl verstärkte sich noch, als sie unter der Dusche stand. Am liebsten hätte sie gesungen, doch dann kam ihr die neue Arbeit in den Sinn – zugleich mit vielen Fragezeichen. Auf ihrem Tisch lagen noch die misslungenen Entwürfe. Ihr seid später dran, dachte sie und eilte in die Küche, wo bald auch William auftauchte.

    Punkt sieben Uhr stand das Frühstück auf dem Tisch. Während sie aßen, besprachen sie die Einkaufsliste. William erklärte ihr, welche Geschäfte in Inverness er bevorzugte und wo sie günstig parken könne. Auch bot er ihr an, mit seinem Ford Transit zum Einkaufen zu fahren, aber sie wollte lieber ihr Auto nehmen. Daraufhin beschrieb er ihr die Tankstelle, wo sie auf seine Rechnung tanken sollte, und rief den Tankwart an, um ihm das zu sagen.

    »Es ist gut, dass sie da sind, jetzt kann ich gleich nach dem Frühstück in die Werkstatt gehen, ohne erst noch aufzuräumen«, meinte William und ließ sie alleine.

    War das jetzt ein Lob, oder was?, hätte Catherine fast laut vor sich hingesagt und machte sich an die Arbeit.

    Der Einkauf in Inverness machte ihr Spaß. Sie spürte das Vertrauen, das William ihr schenkte, und genoss die Selbstständigkeit, die in ihrem Aufgabenbereich begründet lag. Der dicke rothaarige Tankwart, den William scheinbar ganz gut kannte, war ausgesprochen freundlich zu ihr. Catherine merkte wohl, dass er zu gerne Fragen gestellt hätte, als sie die Rechnung gegenzeichnete, aber sie ging nicht auf ihn ein und fuhr fröhlich wieder in Richtung Inverfarigaig.

    Nachdem sie die Einkäufe weggeräumt hatte, setzte sie sich hin und machte einen Plan, wie sie den Hausputz einteilen wollte. Beim Mittagessen besprach sie das mit William. Er wunderte sich, dass man dafür einen Plan brauchte, worauf sie entgegnete, sie würde bei allem am liebsten planvoll vorgehen. Von ihm kam dazu kein besonderer Kommentar. Er merkte nur noch an, dass er sich um sein Schlafzimmer selbst kümmern wolle – bis auf das Fenster, das müsse wohl bald geputzt werden, wie alle Fenster im Haus.

    Als Catherine sich am Nachmittag eine Pause gönnte, erforschte sie den Garten gründlich. Dabei fand sie ein stark verwildertes Beet, auf dem noch einige Küchenkräuter wuchsen, von denen sie für das Abendessen pflückte. William hatte angegeben, sich um den Garten selbst kümmern zu wollen. Trotzdem fragte sie, als er sich über die Kräuter wunderte, die nicht auf der Einkaufsliste gestanden hatten, ob sie das Küchenkräuterbeet wieder herrichten dürfe.

    Er überlegte kurz und stimmte dann zu. Das Beet sei von seiner verstorbenen Frau immer sehr gepflegt worden. Sie habe dort Kräuter gezogen, von denen die meisten Leute geglaubt hätten, dass sie im schottischen Klima nicht gedeihen würden. – Es war das erste Mal, dass er von seiner Frau sprach. – »Ich müsste mich sowieso um den Garten kümmern, bevor der Winter hereinbricht.« Eine lange Pause folgte, in der er – mit versteinertem Gesicht – wie abwesend wirkte. Dann wechselte er das Thema.

    Catherine hatte bei ihren Großeltern auf dem Lande gelernt, wie man einen Kräutergarten anlegt. Sie nahm sich vor, das Beet wieder so herzurichten, wie es einst gewesen sein mochte.

    ***

    Nach etwa drei Wochen hatte sich das häusliche Leben eingespielt, sodass Catherine etwas Freiraum gewann, um sich mit Entwürfen für die Vasen-Dekoration zu befassen. Bei den Arbeiten am Kräuterbeet war ihr die Idee gekommen, Herbstlaub als Vorlage für die Ornamente zu nehmen. Ein ganzes Sortiment lag inzwischen da, sorgsam gepresst und auf Klarsichtfolie gezogen. Damit experimentierte sie geduldig, bis sie glaubte, ein Muster gefunden zu haben, das auf kleineren und auch größeren Gegenständen im Sinne einer Serie Verwendung finden konnte. William fragte gelegentlich, wie weit sie mit ihren Überlegungen zu einem neuen Dekor sei, aber sie verriet nichts und merkte nur kurz an, dass sie daran arbeiten würde. Seine Lieblingsfarben hatte sie natürlich längst herausgefunden. Ihr war klar, dass die neuen Muster zumindest von der Farbpalette in sein bisheriges Sortiment passen mussten.

    Einen Monat später war sie so weit. Mit farbig gestalteten Blättern, die sie aus dünnem Papier ausgeschnitten hatte, beklebte sie eine der Probevasen streng nach dem entworfenen Muster und stellte sie auf ihren Tisch. Ein paar Tage prüfte sie noch die Wirkung bei unterschiedlichem Licht und eines Morgens stand die Vase dann mit Blumen auf dem Frühstückstisch.

    William sah sie sofort. Zuerst ging er nur um den Tisch herum, um sie von allen Seiten anzusehen. Dann nahm er sie in die Hand, drehte sie, ging damit ans Fenster und stellte sie schließlich wieder auf den Tisch. »Sie sind ja richtig gut!« entfuhr es ihm.

    Catherine hatte etwas blass da gestanden und auf sein Urteil gewartet. Als er sie jetzt lobte und dabei fest ansah, wurde sie rot. Verlegen wandte sie sich ab und tat so, als ob sie noch etwas für das Frühstück holen müsse.

    Er holte sie ein und fasste sie am Arm. -- Er hatte sie noch nie angefasst. – »Das Dekor gefällt mir sehr gut. Gleich nach dem Frühstück werden Sie damit beginnen, es mit Engoben zu realisieren. Das wird mühsam, aber ich werde Ihnen helfen.«

    »Danke für das Lob«, war zunächst alles, was sie sagen konnte. Zu groß war die Spannung für sie gewesen.

    William ließ sie los und setzte sich an den Tisch, wohin Catherine dann mit dem Tee kam.

    »Wahrscheinlich werde ich wohl mit den Engoben experimentieren müssen, um die richtige Farbwirkung zu erzielen«, meinte sie und sah ihn fragend an.

    »Das stimmt. Auch wenn ich weiß, wie die Engobenfarben sich durch das Brennen bei unterschiedlichen Temperaturen verändern, werden wir viele Versuche brauchen.«

    »Ich freue mich darauf!« war ihre Antwort.

    Nachdem Catherine das Frühstücksgeschirr abgewaschen und alles weggeräumt hatte, ging sie in die Werkstatt. Dort fand sie einen für sie freigeräumten Arbeitsplatz. Auf dem Tisch standen ein Sortiment von Engoben, verschiedene Pinsel, Gläser zum Anrühren und eine Kladde.

    »Wofür brauche ich denn die?«, wollte Catherine wissen und zeigte auf das Heft.

    »Sie müssen ab sofort unbedingt jeden Arbeitsschritt dokumentieren, jedes Mischungsverhältnis, die Brenntemperatur und noch einiges mehr, sonst können Sie ein Ergebnis, das Ihnen gefällt, nicht wiederholen, und die Arbeit geht von vorne los.«

    Catherine band die bereitgelegte Schürze um und setzte sich an ihren neuen Arbeitsplatz. Eine Weile saß sie so da, ohne etwas zu tun.

    »Was ist? Gibt es ein Problem?«, fragte William.

    »Nein, mir ist gerade bewusst

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1