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Schöpfung Plan B: Fünfzehn Kurzgeschichten
Schöpfung Plan B: Fünfzehn Kurzgeschichten
Schöpfung Plan B: Fünfzehn Kurzgeschichten
eBook317 Seiten4 Stunden

Schöpfung Plan B: Fünfzehn Kurzgeschichten

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Über dieses E-Book

Diese Kurzgeschichten speisen sich aus dreierlei Quellen: Zum Ersten aus der Gattung der Science-Fiction (hier geht es natürlich um die Begegnung mit anderem Leben in anderen Welten), zum Zweiten aus der fantastischen Erzählung (die sich zum Beispiel im vorgestellten Reich der Azteken abspielen mag) und zum Dritten in der sogenannten »Wirklichkeit« - doch in dieser geschehen ebenfalls ungewöhnliche Dinge: Die taktile Wahrnehmung einer jungen Frau spielt verrückt, der Präsident einer Pazifikinsel nimmt die Bibel eindeutig zu ernst oder ein Amokschütze erhält bei seiner Tätigkeit ungewöhnlichen Beistand.
Kurzgeschichten haben mich schon immer fasziniert: Sie führen eine zentrale Idee konzise und vollständig aus, sind sprachlich aus einem Guss, lassen mit wenigen Requisiten und unmittelbar Ort und Zeit der Handlung erstehen, münden in eine unerwartete Pointe und lassen sich in einem Rutsch lesen, weil sie ein steiles Gefälle haben, das nicht von überflüssigen Ausschmückungen gebremst wird. - Ich hoffe, zumindest einiges davon ist mir gelungen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum23. Juni 2021
ISBN9783347350380
Schöpfung Plan B: Fünfzehn Kurzgeschichten

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    Buchvorschau

    Schöpfung Plan B - Reinhard Febel

    Schöpfung Plan B

    Der Zöllner, ein Berg von einem Mann, hatte mein mühsam erkämpftes Einreisevisum kaum eines Blickes gewürdigt, seinen Stempel in den Pass geklopft, wie man eine Fliege totschlägt, dabei »Welcome in Paradise« gerufen, aus vollem Hals gelacht und mich durchgewinkt. Als Erstes hatte ich im Hotel eingecheckt, dem einzigen der Insel und gleich am Hafen gelegen wie fast alle Gebäude der, nun ja, Hauptstadt des Eilands und zugleich des kleinsten Staates der Welt, mit einem Moped in zwei Stunden zu umrunden auf der einzigen befestigten Straße, der Corniche, die sich nie mehr als ein paar Meter vom Strand entfernt, einem wunderbaren Palmenstrand übrigens.

    Die Corniche nannte man offensichtlich auch Route nationale I – in der Tat war mir ein solches Schild aus blauer Emaille aufgefallen, als ich ebendiese Straße zum Hotel überquerte, und zwar auf einem von zwei Ampeln gesäumten Zebrastreifen. Die Ampeln waren außer Betrieb, ihre Leuchten ausgeschlagen: zwei dreistöckige Vogelhäuser, aber unbewohnt.

    An den Laternenpfählen, die hie und da herumstanden, hingen Trauben von Briefkästen: Scheinfirmen, die im Steuerparadies der Insel bestens gediehen; ich hatte davon gelesen. Es dunkelte; in den Tropen ist die Dämmerung kurz. Die Lampen wurden eingeschaltet und gaben gelbes Licht.

    Viel Gepäck hatte ich nicht dabei. In diesem Klima braucht man wenig. Meinen Rucksack aus wasserdichter Plane deponierte ich bei der Rezeption. Den Fotokoffer, den ich nie aus den Augen lasse, nahm ich mit und schlenderte wieder zurück zum Pier.

    Der eiserne Rumpf des Dampfers ragte vor mir auf wie eine Kulisse, zum Greifen nahe, bis auf etwa Mannshöhe über dem Pier, rot gestrichen wie ein rotes Meer, darüber schwarz wie ein schwarzer Himmel. Die Trennlinie der Farben lief über Rillen und Erhebungen der grob miteinander verschweißten Metallplatten gleich einer ohne Rücksicht auf die Topologie gezogenen Landesgrenze.

    Am verbeulten Bug des Schiffes, hoch oben, knapp unterhalb der Reling, stand Jesaja, mit dicker weißer Ölfarbe gemalt, so dick, dass man einzelne erstarrte Tropfen ausmachen konnte. Darunter, in erhabenen Lettern aufgeschweißt, doch inzwischen schwarz übermalt, war noch der ursprüngliche Name des Schiffes zu erkennen: Panthère. Warum man den Dampfer wohl umbenannt hatte? »Eine Laune des Präsidenten«, hatte der Kapitän auf meine Frage geantwortet, mürrisch, die Brauen hoch- und die Mundwinkel herabgezogen.

    Die Jesaja war das einzige Schiff des Zwergstaates und auch dessen einzige Verbindung zur Außenwelt, denn für einen Flughafen gab es auf diesem vulkanischen felsigen Flecken im Pazifik keinen Platz.

    Auch ich war mit dem Dampfer gekommen und saß nun in der Bar du Port, der einzigen Kneipe an der Hafenpromenade, direkt am Pier und vor dem gewaltigen, schrundigen Rumpf, der mir die Sicht auf das Hafenbecken verstellte. Der Martini war nicht schlecht. Irgendwann hatte ich es mir angewöhnt, nach der Ankunft erst einmal einen Martini zu trinken, sozusagen auf das Wohl meiner Helden – Conrad, Poe, Somerset Maugham, Traven –, mit denen ich Grünschnabel mich dann verbunden fühlte; und nun kam ich nicht mehr davon los.

    Ich betrachtete das Schiff. Das Entladen war noch im Gang. Am Heck, einen Steinwurf von mir entfernt, hatte sich eine Tür in des Dampfers Kruste geöffnet und eine Gangway spannte sich mit ziemlichem Gefälle abwärts zum Pier. Ich sah, wie ein Dutzend Rinder, durch Seile miteinander verbunden, an Land geführt wurde. Dieses Bild, an einen Almabtrieb in meinem Heimatland erinnernd, verwunderte mich. Wo sollte sich hier auf dieser Urwaldinsel Weideland finden?

    Auch auf dem Tau, das zwischen dem Bug des Dampfers und einem Poller auf dem Pier gespannt war, entdeckte ich Bewegung: Eine Ratte krabbelte aufs Schiff. Das Tau war aus mehreren Einzelsträngen gedreht; die Ratte nahm den einfachsten Weg und arbeitete sich spiralförmig nach oben, kam dabei abwechselnd außer Sicht und erschien wieder. An Land sah ich ein zweites Tier Männchen machen, den Poller beschnuppern und ebenfalls auf das Seil klettern, dann ein drittes und viertes.

    Inzwischen hatte die erste Ratte die Mitte des Taues erreicht, und ich traute zunächst meinen Augen nicht, denn ich sah, wie ihr von oben, vom Deck des Schiffes, ein anderes Tier entgegenkam. Als die Ratten auf gleicher Höhe waren, verharrten sie, jede auf ihrem Strang, berochen einander und ringelten sich dann aneinander vorbei. – Als ob die Besatzung des Dampfers abgelöst würde!

    Auch mein Nachbar, ein weiß gekleideter Herr am Nebentisch, hatte die seltsame Begegnung beobachtet. »Auf den Dampfer, das ist gut«, murmelte er, »landeinwärts hingegen, das ist schlecht. Für die Ratten, versteht sich …« Er verstummte, grinste und schüttelte den Kopf.

    »Wie meinen Sie das?«, fragte ich.

    »Nun«, antwortete er, »für jede Ratte gibt es hier zehn Dollar. Tot, versteht sich.«

    »Eine Rattenplage?«

    »Wie man’s nimmt.« Er nippte an seinem Whisky und schien über etwas Wichtiges nachzudenken. »Was die auswärts reisenden Ratten betrifft«, murmelte er, »könnte man sagen: Sie verlassen das sinkende Land. In Abwandlung der bekannten Redensart. Doch es kommt wohl darauf an, wie man die Angelegenheit betrachtet.«

    »Welche Angelegenheit?«

    »Das können Sie noch nicht verstehen. Was treibt Sie denn hierher?«

    »Ich mache Fotos«, erklärte ich, »suche mir interessante und wenig bekannte Orte aus, fotografiere, was es zu sehen gibt, und verkaufe die Bildserien dann an Zeitschriften, Verlage und so weiter.«

    »Interessant. Und davon kann man leben?«

    »Nun ja. Mehr schlecht als recht. Aber es ist spannend und macht Spaß.« Ich lachte.

    »Sie sind noch jung«, seufzte der Herr. »Wie schön für Sie. Ich dagegen … Wie hat es mich nur hierher verschlagen? Was solls, das Wetter ist ja gut und die Drinks, na ja …«

    Mein Gesprächspartner mochte auf die Sechzig zugehen. Er war braun gebrannt, trug einen weißen Anzug sowie ein weißes Hemd und stellte sich als australischer Honorarkonsul vor.

    »Seit zehn Jahren schon«, sagte er, »halte ich hier die Stellung. Und wofür? Für wen? Viel gibt es nicht zu tun. Tja, Stichwort Export: Es wird Phosphat abgebaut und verschifft, ja, natürlich mit dem Dampfer; ach, sprechen wir es aus: Sie verhökern versteinerte Vogelkacke. Und manchmal kommt ein Tourist hierher, so wie Sie – pardon, Sie sind ja gar kein Tourist –, und mietet den einzigen Toyota der Insel, also gleich die gesamte Leihwagenflotte, und fährt damit zum einzigen Gipfel, dem erloschenen Vulkan, hinauf und wieder hinunter. Rauf und runter. Schafft man in einer halben Stunde. Oder um die Insel – rundherum. Rundherum. Rundherum …« Mit dem Zeigefinger machte er eine rührende Bewegung über seinem Whiskyglas.

    »Anscheinend gibt es auf dieser Insel alles nur einmal: ein Hotel, eine Kneipe, einen Zebrastreifen, einen Toyota, einen Dampfer«, sagte ich.

    Der Honorarkonsul lachte. »Das kann man so sagen. Und schlimmer: Unsere Krankenschwester ist gleichzeitig unsere Nutte sowie Messdienerin. Hahaha … Entschuldigen Sie. Das war natürlich ein Scherz.« Er blickte mich treuherzig an und griff nach seinem Glas. »Teilweise zumindest. Doch Spaß beiseite: Was wollen Sie denn hier so fotografieren?«

    »Alles Mögliche. Land und Leute, Strände, die Passatwolken am Vulkan, die verfallenen Förderbänder …«

    »Jaja, so etwas kommt immer gut …«

    »Natürlich auch die Bewohner, spielende Kinder, alte Mütterchen beim Kochen, Fischer beim Fischen«, zählte ich auf.

    »Flora und Fauna.«

    »Auch. Krebse, Eidechsen, Affen …«

    »Eidechsen gibt es nicht mehr, Affen zur Zeit auch nicht.«

    »Nicht? Zur Zeit? Was auch immer«, fuhr ich ein wenig irritiert fort, »und dann stelle ich ein Portfolio zusammen, schicke es meiner Agentur und dann sehen wir halt mal, wer anbeißt.«

    »Das heißt, Sie werden eine Weile hierbleiben? Schön! Das freut mich. Am meisten fehlt mir hier anregende Gesellschaft. Nun, Sie müssen ja sowieso auf die Rückkehr des Dampfers warten.«

    Ich nickte. »Kein Grund zur Eile. Man hat hier doch Internet?«

    »Oh ja. Das heißt, wenn es Strom gibt, was wiederum bedeutet, wenn der Dampfer genügend Öl herangeschafft hat und wenn dann der Lastwagen – Sie ahnen es schon: der einzige auf der Insel, haha – die Ölfässer zum Generator transportiert und nicht mit einem Motorschaden liegen bleibt, dieser Generator dann auch funktioniert und die Stromleitungen nicht durch einen Sturm zerrissen sind. Dann ja. Darüber hinaus natürlich vorausgesetzt, dass in Ihrem Hotel nicht die Sicherung durchgebrannt ist und es keinen Ersatz gibt. Letzteres wäre allerdings eine Lappalie, denn man könnte den Stromkreis zum Beispiel mit einer Büroklammer kurzschließen. Ist wahrscheinlich sowieso schon der Fall. Sollten aber diese ebenfalls ausgehen …« Er lachte. »Machen Sie sich keine Sorgen. Wir Insulaner übertreiben gern, um unsere Gäste zu erschrecken.«

    Ich lächelte.

    »Treffen wir uns morgen zum Frühstück?«, fragte er. »Allerdings gibt es nur diese Kneipe hier. Aber der Kaffee ist erträglich. Sie werden sehen.«

    »Mit Vergnügen.«

    »Land und Leute, hm«, murmelte der Honorarkonsul und überlegte. »Wenn Sie möchten«, fuhr er dann fort, »kann ich Ihnen das Parlament zeigen. Und wenn wir Glück haben, findet eine Debatte statt. Dann hören wir zu. Es ist sehr interessant.«

    »Das geht?«

    »Das geht. Alle Sitzungen sind öffentlich.«

    Diese Idee gefiel mir. »Ich habe gehört«, sagte ich, »dass hier ein strenges, ja fundamentalistisches Christentum praktiziert wird …«

    »Kann man so sagen.«

    »… und davon würde ich mir gerne ein Bild machen.«

    »Das werden Sie. Oh ja. Oh ja.«

    Ich verabschiedete mich von meinem neuen Freund und machte mich auf den Weg zum Hotel.

    »Schlafen Sie gut!«, rief er mir nach.

    Das Zimmer war in Ordnung. Ich stellte meinen Rucksack und den Fotokoffer in eine Ecke und tastete neben der Tür nach dem Lichtschalter. Über der Kopfseite des Bettes leuchtete eine Lampe auf und ein Deckenventilator setzte sich in Bewegung, langsam und lautlos; ich spürte keinen Hauch. Ohne es zu bemerken, hatte ich zwei nebeneinander montierte Schalter gleichzeitig gedrückt. Den Ventilator schaltete ich wieder aus. Es war nicht allzu heiß. Das nahe Meer sorgte für kühle und feuchte Luft.

    Ich überprüfte die Fliegengitter und ließ sie einrasten, sodass die Fensterscheiben geöffnet bleiben konnten. Dann legte ich mich aufs Bett. Ich blickte zur Lampe über mir: eine nackte Glühbirne unter einem grünen glockenförmigen Glasschirm. Das Übliche. Hotelzimmer konnten mich nicht mehr überraschen.

    Oder doch? Die Anzahl von Insekten an der Lichtquelle war unglaublich. – Obwohl ich die Gitter geschlossen hatte. Unzählige Mücken, Käfer, Nachtfalter und andere, kleinere aber auch größere geflügelte Wesen, die ich noch nie gesehen hatte, schwirrten um die Glühbirne herum.

    Auf dem Boden legten Käfer ihre Bahnen aus, rasten vorwärts, hielten inne, wenn ich mich bewegte, kehrten bei einer zweiten Bewegung um und verschwanden unter dem Bett. Es waren verschiedene Spezies; die Küchenschaben darunter waren mir bekannt und schreckten mich nicht.

    Doch das Schauspiel unter der Zimmerdecke! Es war, als griffe eine Wolke das Licht an. Ständig scherten Hunderte von Punkten aus dem Schwarm aus und regneten von allen Seiten auf den Lampenschirm. Das Knipsen gegen das Glas klang wie Musik auf einer winzigen Harfe. Wirre, wahnsinnige Musik. Flatterte ein Falter mit dem Kopf voraus gegen die Glühbirne, dann zischte es.

    Ich betrachtete das Gewimmel mit Neugier und Entsetzen. Woher kam diese unfassbare Menge an Insekten?

    Ich stand wieder auf und schaltete das Fernsehgerät ein. Es war ein altes Schwarz-weiß-Modell. Eine Fernbedienung konnte ich nicht entdecken. Als die Mattscheibe aufleuchtete, verlegten einige Insekten augenblicklich ihr Revier und klimperten gegen den Bildschirm. Aus dem Lautsprecher rauschte es, und als Bild gab es nur schwarz-weiß flimmernden Grieß wie nach Sendeschluss. Natürlich – die Insel besaß keine Sendestation. Wozu dann das Gerät? Auf einem Regalbrett an der Wand fand ich einen Stapel Videokassetten für den Rekorder unter dem Fernseher. Ich nahm die oberste: Honolulu Babys. Das Hüllenfoto zeigte ein paar Mädchen in Baströckchen und mit blanken schönen Brüsten sowie davor die Rückansicht eines nackten Mannes.

    Nein.

    Ich legte mich wieder aufs Bett, öffnete die Nachttischschublade und fand die übliche erbauliche Lektüre: eine Bibel. Eine einzelne Seite geistlicher Text, auf DIN A4 vergrößert und beidseitig laminiert, lag unter dem Buch. Ich zog sie hervor, lehnte mich zurück und las:

    Jesaja, Kapitel 65, Vers 17-25:

    Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken wird, noch sie zu Herzen nehmen; sondern sie werden sich ewiglich freuen und fröhlich sein über dem, was ich schaffe. Denn siehe, ich will Jerusalem schaffen zur Wonne und ihr Volk zur Freude, und ich will fröhlich sein über Jerusalem und mich freuen über mein Volk; und soll nicht mehr darin gehört werden die Stimme des Weinens noch die Stimme des Klagens. Es sollen nicht mehr dasein Kinder, die nur etliche Tage leben, oder Alte, die ihre Jahre nicht erfüllen; sondern die Knaben sollen hundert Jahre alt sterben und die Sünder hundert Jahre alt verflucht werden. Sie werden Häuser bauen und bewohnen; sie werden Weinberge pflanzen und ihre Früchte essen. Sie sollen nicht bauen, was ein andrer bewohne, und nicht pflanzen, was ein andrer esse. Denn die Tage meines Volkes werden sein wie die Tage eines Baumes; und das Werk ihrer Hände wird alt werden bei meinen Auserwählten. Sie sollen nicht umsonst arbeiten noch unzeitige Geburt gebären; denn sie sind der Same der Gesegneten des HERRN und ihre Nachkommen mit ihnen. Und soll geschehen, ehe sie rufen, will ich antworten, wenn sie noch reden, will ich hören. Wolf und Lamm sollen weiden zugleich, der Löwe wird Stroh essen wie ein Rind, und die Schlange soll Erde essen. Sie werden nicht schaden noch verderben auf meinem ganzen heiligen Berge, spricht der HERR.

    ***

    »Na? Haben Sie gut geschlafen?«, rief der Konsul mir zu, als ich am nächsten Morgen im Bistro auftauchte, schlaftrunken und zerstochen.

    Ich erwähnte das Insektenproblem. Im Dunkeln war das Schwirren und Knacken zwar verstummt, dafür aber hatten mich Moskitos gequält – trotz der geschlossenen Fliegengitter.

    »Tja«, lachte er, »unsere lieben Ratten … Letztendlich wären sie doch zu etwas nutze gewesen, nicht wahr? Ihnen schmeckt alles, was da kreucht und fleucht, von der Made bis zur Fliege. Was solls, zu spät; lassen Sie uns erst mal frühstücken.«

    Ich bestellte Kaffee und zwei Croissants.

    Die Sonne schien. Es war ein herrlicher Tag. Das Schiff war verschwunden. Die Sicht aufs Meer war frei. In der Ferne, jenseits der Atolls, glänzte der offene Pazifik. An der Durchfahrt durch das Riff brachen sich die Wellen. Aus einem Kofferradio auf der Theke plärrte Musik.

    Der Konsul aß ein englisches Frühstück: eine große Portion Rührei, Schinken, sausages und gebackene Bohnen. »Sie sind nicht zufällig Vegetarier?«, fragte er und betrachtete misstrauisch meine Croissants.

    Ich verneinte.

    »Hm«, machte er mit vollen Backen.

    Ich ließ den Blick über den Hafen schweifen. Mit dem Dampfer war auch alle Geschäftigkeit vom Pier verschwunden. Nur ein einzelner Hafenarbeiter trottete die Mole entlang, mit einem einachsigen Wagen auf Gummireifen, den er wie eine Schubkarre vor sich her schob. Er kam näher. Auf der Ladefläche sah ich einen Haufen haariger buckliger Dinge, die ich zunächst für Filzpantoffel hielt, aber dann erkannte ich, dass es tote Ratten waren. Daneben lag ein Gewirr von Seilen, doch schwarz und glänzend, wie mit Fett eingerieben. Die Windungen dieses riesenhaften Knäuels rutschten beim Schaukeln der Karre widerstandslos hin und her.

    »Machen sie also auch den Schlangen den Garaus«, murmelte mein Freund und schüttelte den Kopf.

    Der Mann mit seiner Fuhre toter Tiere hatte uns passiert und das Ende des Piers erreicht. Ich sah, wie er seine Karre meerwärts drehte, die Holzgriffe in die Höhe wuchtete, dadurch die Front absenkte und seine Fracht ins Hafenbecken schüttete.

    »Das ist ja widerwärtig!«, rief ich.

    Der Konsul nickte. »Also auch die Schlangen«, wiederholte er.

    Ich bat ihn, seinen Kommentar ein wenig zu erläutern.

    »Woran wird man hier noch alles herumdoktern?«, sagte er, als sei dies eine Antwort, sprang auf und drehte das Radio ab. »Es geht nicht nur um Ratten oder Schlangen. Was hören Sie?«, fragte er und wedelte mit dem erhobenen Zeigefinger durch die Luft.

    »Nichts«, antwortete ich.

    »Sehen Sie. Nichts.«

    »Und?«

    »Keine Vögel.«

    »Ich höre auch keine Löwen. Und keine röhrenden Hirsche«, gab ich zu bedenken.

    »Seien Sie nicht albern, mein Freund. Dies ist ein tropisches Eiland. Es müsste hier von Vögeln nur so wimmeln! Von Papageien, Schwalben, Paradiesvögeln – was weiß ich. Die Luft müsste erzittern vor Gezwitscher, Geschrei und Gesang!«

    Ich zuckte mit den Schultern.

    »Aber hier«, fuhr er fort, »gibt es keine Vögel … mehr.«

    »Mehr?« Ich verstand nicht.

    »Keine Vögel mehr«, wiederholte er seufzend und verstummte.

    Ich lauschte. Es war still.

    »Wovon ernähren sich unsere gefiederten Freunde denn normalerweise?«, knurrte er, wie beleidigt über meine Begriffsstutzigkeit.

    Eine kühle Brise wehte vom Meer über die Hafenmole und das ölige Wasser. Über mir hörte ich Seevögel schreien. Eine Möwe segelte herab und ließ sich auf einem Poller nieder.

    »Und was ist das?«, sagte ich.

    »Das zählt nicht. Dagegen können sie nichts tun«, antwortete der Konsul.

    »Sie? Wer?«

    »Die Möwen kommen und gehen, wie es ihnen passt. Leider aber werden sie wohl kaum unsere Insekten wegputzen. Sie ernähren sich von Fisch, was natürlich ebenso verwerflich ist, aber …«

    »Verwerflich?«, unterbrach ich ihn, »dieses Wort ist hier doch wohl unangebracht?«

    »Keineswegs«, seufzte der Konsul. »Kommen Sie, gehen wir ins Parlament. Hören wir ein wenig zu, dann werden Sie das alles besser verstehen.«

    Wir gingen durch eine Gasse zwischen zwei Lagerhäusern, leicht bergan, und überquerten die Route Nationale

    »Eine Zeit lang hatten die Franzosen die Insel beansprucht, doch dann kamen die Engländer«, erklärte der Konsul mit Blick auf das Straßenschild.

    Dann standen wir auch schon im Regierungsviertel, das aus einigen blechernen Baracken bestand, weiß gestrichen und mit roten, ebenfalls aus Wellblech gefertigten Dächern versehen.

    Der Konsul ging auf den größten der einstöckigen Pavillons zu und zeigte grinsend auf das über dem Eingang angenagelte Blechschild: Parliament. Zwei sehr korpulente, hemdsärmelige Herren hielten vor der Tür Wache.

    »Der Präsident ist schon da«, raunte der Konsul mir zu und deutete auf die Limousine, die vor dem Gebäude parkte: ein dicker schwarzer Mercedes neuester Bauart.

    »Wohin kann man denn hier damit hinfahren?«, wunderte ich mich.

    »Zum Strand beispielsweise. Fünf Minuten gegen den Uhrzeigersinn.« Der Konsul zeigte nach rechts. »Unser Präsident badet gern.«

    »Viele Kilometer werden so nicht zusammenkommen.«

    »Wohl nicht. Wäre auf jeden Fall ein Schnäppchen, der Schlitten.«

    Auf den Kotflügeln der Staatskarosse waren Standarten montiert; ohne Fahrtwind hingen die Wimpel halb eingerollt herab. Ein Chauffeur wienerte die Motorhaube.

    Mein Freund war hier offensichtlich bekannt. Die zwei Sumoringer lächelten ihm zu, traten zur Seite und hielten die Türflügel auf.

    »Business relation of mine«, sagte der Konsul, deutete mit dem Daumen über seine Schulter und trat ein.

    Ich folgte ihm.

    »No fotos. Top secret!«, rief einer der Wächter mir zu, als er meine Kamera bemerkte.

    Ich nickte.

    Wir begaben uns in die Abgeordnetenkammer, den einzigen Raum der Wellblechbude, und setzten uns auf die Zuhörerbank. Dort waren wir das einzige Publikum.

    Vor uns, etwas erhöht, an einem ovalen Holztisch, saß das Parlament: ein halbes Dutzend schwergewichtiger Männer, und in ihrer Mitte, wiederum etwas erhöht, der Präsident. Er war ein dicker teigiger Mann, eine Art große alte Mama, im falschen Geschlecht feststeckend. Sein Mund war wie in Schmerz verzogen, als schmecke er ständig Bitteres oder lächle tapfer durch unstillbares Leid hindurch.

    Ächzend erhob er sich aus seinem Sessel. Die Gespräche verstummten, er schwenkte ein winziges Glöckchen, wobei es schien, als zerdrücke er es zwischen den Fingern, und lehnte sich dann seufzend in seinem Sessel zurück.

    Ein alter Mann – wohl der Vorsitzende – erhob sich, zog ein zerfleddertes abgegriffenes Blatt aus der Innentasche seines Jacketts, entfaltete es, wobei es beinahe auseinanderfiel, und las mit zittriger Stimme: »Und es wird eine Rute aufgehen von dem Stamm Isais …«

    »Jesaja, Kapitel elf, Vers eins bis neun«, flüsterte der Konsul. »Die Sitzungen beginnen immer mit einem Bibelzitat – meistens übrigens mit diesem.«

    Schon wieder Jesaja. Ich dachte an die abendliche Lektüre und den Dampfer.

    »… und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen, auf welchem wird ruhen der Geist des Herrn, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn. Er wird nicht richten, nach dem seine Augen sehen, noch Urteil sprechen, nach dem seine Ohren hören, sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande und wird mit dem Stabe seines Mundes die Erde schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten. Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und der Glaube der Gurt seiner Hüften. Die Wölfe werden bei den Lämmern wohnen …«

    »Jä, jä«, murmelten die Abgeordneten und es klang wie aus einer Debatte des englischen Unterhauses.

    »… und die Parder bei den Böcken liegen. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. Kühe und Bären werden auf der Weide gehen, dass ihre Jungen beieinanderliegen; und Löwen werden Stroh essen wie die Ochsen.«

    »Jä, jä, jä.«

    »Und ein Säugling wird seine Lust haben am Loch der Otter, und ein Entwöhnter wird seine Hand stecken in die Höhle des Basilisken. Man wird niemand Schaden tun noch verderben auf meinem ganzen heiligen Berge …«

    »… ganzen heiligen Berge«, echote der Präsident mit geschlossenen Augen in seinem Sessel, die Arme und Hände entspannt auf den Lehnen ruhend wie bei einem Experiment. »Der Berg ist hier. Es ist unsere Insel.«

    »Jä, jä.«

    »… denn das Land ist voll Erkenntnis des Herrn, wie Wasser das Meer bedeckt.« Der Alte setzte sich wieder.

    Ich sah fragend zum Konsul.

    »Das Motto«, sagte dieser. »Bald, wenn man zur Sache kommt, wird Ihnen alles klar werden. Doch zunächst geht es immer um Alltägliches.«

    Er hatte recht. Unter anderem kamen die defekten Ampeln zur Sprache: Man beschloss, mit dem Dampfer Ersatz für die Spezialbirnen kommen zu lassen, damit das wieder seine Ordnung hätte. Des Weiteren standen einige Straßenreparaturen an, Gewinne aus dem – wie sich der Konsul ausgedrückt hatte – Vogelkackeabbau mussten investiert werden und der Dampfer brauchte einen neuen Anstrich. Nun, Letzteres konnte ich bestätigen. Diverse weitere Anliegen wurden abgewickelt, allesamt Dinge lächerlicher Unwichtigkeit für eine Staatsregierung, so zum Beispiel ein Antrag auf neue Dachpappe für das Außenministerium – gleich um

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