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Morgäne
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eBook542 Seiten7 Stunden

Morgäne

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Über dieses E-Book

Werden Erinnerungen der Vorfahren in den Genen vererbt?

Maria, Angelas verstorbene Großmutter, besetzt den Körper ihrer Enkelin, da ihre eigenen Erinnerungen in den Genen von Angela gespeichert sind. War sie es gewesen, die einen Mord verübt hat? Oder ist Victor Petrik der Mörder? Angela kämpft nicht nur mit der Besetzung durch ihre Großmutter, sondern auch mit ihren Versagensängsten. Gleichzeitig verfällt ihre Freundin Leonie dem Charme des Künstlers Ernesto. Während all dieser Turbulenzen setzen sich die Frauen in dieser Geschichte mit tiefgründigen Themen auseinander, die zum Nachdenken anregen: Was ist das ICH? Haben wir einen freien Willen? Was ist kosmisches Bewusstsein? Was lehrt uns in dieser Beziehung die Quantenphysik? Und welche Rolle spielt dabei Morgäne, die intergalaktische Spinne?
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum8. Feb. 2019
ISBN9783748227366
Morgäne

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    Buchvorschau

    Morgäne - Sylvia Maria Schätzle

    1

    Morgäne

    Leonie, die dritte, von der erzählt wird, ist eine patente Frau - dennoch ist ihre Vorstellung von einem freien Willen, wie bei den meisten Menschen eindimensional.

    Die Art, wie ein Mensch sich und sein Handeln in seiner Umwelt wahrnimmt und empfindet, wird schon sehr früh in seiner Individualentwicklung eingeprägt, wahrscheinlich beginnt dies schon vor der Geburt. Jedenfalls sind Familieneinflüsse, insbesondere der Einfluss der Eltern in der frühen Kindheit, schon lange bekannt. Als eines von vielen dokumentierten Beispielen erwähne ich die Autobiographie des Schriftstellers Albert Camus. Darin wird deutlich, wie sehr der Einfluss der Eltern für die Entwicklung einer Person verantwortlich ist.

    Bis kurz vor seinem Tod, durch einen Autounfall 1960, arbeitete er an einem Roman, der größtenteils autobiographischer Natur war. Dieses Werk beschreibt Camus’ frühe Kindheit als einen Lebensabschnitt, der im Wesentlichen durch den Verlust seines, im Ersten Weltkrieg gefallenen Vaters dominiert wurde.

    Ich sehe es, jetzt seid ihr platt, dass ich darüber Bescheid weiß – unterschätzt niemals eine intergalaktische Spinne!

    Leonie

    Mit einem Schnauben schloss Leonie das Buch über „Bedeutung von negativen Gedankenschwingungen auf den Körper"

    So ein Schwachsinn, überlegte Leonie, was findet Angie nur an diesem esoterischen Quatsch? Dieses Buch war eine Lektüre, die ihre Freundin Angela ihr wärmstens empfohlen hatte, aber sie konnte diesem Gedankengut nichts abgewinnen. Dann doch lieber die positive Schwingung eines schönen Tässchens Schwarztee", dachte sie vergnügt.

    Sie trank einen belebenden Schluck von dem starken, schwarzen Tee, den sie beide so liebten (vier Löffel Zucker, ein Schuss Sahne und das Ganze sehr stark und sehr heiß) Dummerweise war die positive Schwingung des Getränks zwar für ihre Geschmacksnerven außerordentlich belebend, aber leider auch sehr kalorienreich. Leonie betrachtete einen Moment lang nachdenklich ihren Bauch, ihm tat diese Spezialmischung Tee definitiv nicht gut, deutlich wölbte sich ein Kügelchen unter ihrem T-Shirt. Früher war dort wo sich heute die Kugel wölbte, ein Waschbrett gewesen. Gedankenverloren ließ sie ihre Blicke zu ihren über 40jährigen Beinen wandern. Wo war die Zeit geblieben? sinnierte sie. Sie streckte ein Bein nach vorne und betrachtete es von allen Seiten.

    Mmmm, abgesehen von etwas (aber nur etwas) Cellulitis, waren sie noch ganz passabel. Aber was nützen schlanke Beine, wenn der Gesamteindruck eher dem Umriss einer Henne glich. Im Profil war da eine erschreckende Ähnlichkeit: Dünne Beine hatte die auch und einen ähnlich gerundeten Rumpf.

    Keine negativen Gedanken über deinen Körper, schalt sie sich mit einem schnellen Blick auf das Buch, denn eigentlich hatte sie keine so schlechte Figur, dafür, dass sie bereits zwei halbwüchsige Kinder besaß und bald 43 Jahre alt wurde. Für mein Alter sehe ich noch gut aus, sandte sie einen positiven Gedanken an ihren Körper, nur für den Fall, dass er tatsächlich auf sowas reagierte und dann der Form einer Henne noch mehr ähnelte.

    Sie beugte sich zur Teekanne und wollte sich gerade noch ein weiteres Tässchen gönnen, als das Telefon klingelte. „Hier ist das städtische Krankenhaus, sind Sie Frau Arnold?", meldete sich eine unbekannte Stimme.

    Krankenhaus??

    Eine Welle furchtbarer, ganz und gar nicht positiver Vorstellungen überschwemmte auf der Stelle ihren Geist.

    Manfred, ihr Mann war verunglückt, war von einem Auto angefahren worden und lag mit schwerster, innerer Verletzung auf der Intensivstation.

    Oder Jessica, ihrer 16jährigen Tochter war etwas passiert. Sie war noch in der Stadt unterwegs und vielfältige Gefahren bestanden für so ein junges Mädchen: Zum Beispiel im Stadtpark hinter einen Busch gezerrt und auf das Übelste vergewaltigt zu werden. Jessie lief einfach viel zu aufreizend herum. Warum nur hatte sie ihr erlaubt, in die Stadt zu gehen, angezogen nur mit einem bauchfreien Top und diesem Rock, der hinten einen Schlitz bis zum Po hatte?

    Als Leonie vorsichtig zu protestieren gewagt hatte, streifte Jessie sie nur mit einem Blick voller Mitleid, der das ganze Ausmaß ihrer Unwissenheit über die gängige Mode junger Mädchen offenbarte. Gut, sie hatte keine Ahnung über die aktuelle Teenie-Mode und die war ihr auch herzlich egal, aber leider hatte sie auch keine Ahnung mehr, was ihre Tochter so dachte und fühlte.

    War sie tatsächlich dasselbe Wesen, das so winzig und unglaublich süß an ihrer Brust gesaugt hatte? Dasselbe Wesen, das an ihrer Hand freudig erregt in den Kindergarten gehüpft war?

    Oder mit einem bunten, viel zu großen Schulranzen auf dem zarten, kleinen Rücken tapfer zum ersten Schultag marschiert war?

    Inzwischen war das Kind ein Kopf größer als sie und Leonie verstand sie weniger, als ein Wesen von einem anderen Stern. Leonie sah auf ihre Armbanduhr. Es war einundzwanzig Uhr, keine Zeit für Überfälle im Stadtpark. Es war noch nicht dunkel, nur etwas dämmrig, nein, es war sehr unwahrscheinlich, dass Jessie überfallen worden war.

    Vermutlich war doch ihr Mann Manfred verunglückt.

    Er setzte seinen ganzen Ehrgeiz darauf, zu zeigen, dass er nicht zum alten Eisen gehörte, indem er oft risikoreiche Aktionen startete. Mit seinem Mountainbike fuhr er manchmal viel zu schnell den Berg hinunter. Oder er radelte in der Dämmerung über holprige Waldwege, auf denen man leicht eine Vertiefung, einen Stein oder einen quer liegenden Stock übersehen konnte. Denn Manfred hatte sich zum Freizeitausgleich auf Risikosportarten wie das Mountainbike fahren versteift. Für solche Aktionen war er mit seinen 46 Jahren eigentlich zu alt, fand Leonie, aber DAS durfte man ihm keinesfalls sagen.

    Auch an ihm war das Alter nicht spurlos vorbeigegangen. Sein blondes Haar war von silbernen Strähnen durchzogen und seine ehemals kräftige Statur hatte sich deutlich in die Breite verlagert, auch ein höflicher Beobachter musste ihn nun als dick bezeichnen. Aber das war der Lauf der Zeit, oder? Sie selbst sah auch nicht mehr aus wie ein junges Mädchen. Ich denke aber trotzdem sehr positiv über meine, noch passable Figur, schickte sie schnell einen Gedanken in Richtung dieses Esoterikbuchs – für alle Fälle.

    Eine unterkühlte Stimme drängte sich in die Flut ihrer Gedanken. „Frau Arnold, sind sie noch am Apparat?"

    Das Krankenhaus.

    „Ja, ich bin noch dran", Leonie wappnete sich für das Schlimmste. Hoffentlich hatte Manfred kein Schädel-Hirn-Trauma, sondern nur eine harmlose Prellung oder ähnliches.

    „Sind Sie eine Angehörige von Angela Rieth?"

    Angie? Es betraf nicht Manfred oder Jessie! Die Welle der Erleichterung, dass es nur Angie war, die im Krankenhaus lag, wurde sofort von ihrem schlechten Gewissen verdrängt. Sie war vielleicht eine Freundin! Niemanden wünschte man einen Unfall.

    „Frau Arnold?", die kühle Stimme bekam langsam eine eisige Färbung.

    Leonie riss sich zusammen.

    „Nein, ich bin keine Verwandte, ich bin ihre beste Freundin", antwortete sie.

    „Gibt es Angehörige?"

    „Soviel ich weiß, nein."

    „Hatte meine Freundin einen Autounfall?, fragte Leonie besorgt. „Nein, Frau Rieth wurde von der Putzfrau bewusstlos in ihrem Büro aufgefunden. Sie ist nun wieder bei Bewusstsein. Wir konnten leider die Ursache noch nicht feststellen und würden sie gerne zur Beobachtung eine Nacht dabehalten, um sicherzustellen, dass ihr Zustand stabil bleibt. Könnten Sie Waschutensilien, Handtuch und ein Nachthemd vorbeibringen?

    Leonie war erleichtert, dass Angela sich in keinem lebensbedrohlichen Zustand befand und stimmte sofort zu. Bestimmt hatte ihre Freundin wieder zu viel gearbeitet, und hatte deshalb einen Schwächeanfall erlitten. Sie ließ sich von ihrem Chef gnadenlos ausnutzen. Leonie legte Manfred eine Notiz auf den Schreibtisch, schlüpfte in ihre Jeansjacke und fuhr zu Angelas Häuschen. Es war nur eine Straße entfernt.

    Leonie holte den Schlüssel aus dem Versteck im Blumenkasten und ging hinein. Das kleine Häuschen, welches Angela gemietet hatte, war schon alt. Es hatte kleine Fenster und war renovierungsbedürftig, aber es stand allein in einem winzigen Garten ohne direkte Nachbarn. Angie liebte es. Ihr wäre es zu alt, überlegte Leonie, während sie die wichtigsten Utensilien für den Krankenhausaufenthalt zusammensuchte, sie und Manfred hatten mit Hilfe von Leonies Vater ein schönes Reiheneckhaus gekauft. Angela hatte nicht genügend Geld für einen Hauskauf.

    Leonie hatte ihre Freundin vor ungefähr zwanzig Jahren in Böblingen kennengelernt. Angela war auf dem Weg zum Vorstellungsgespräch für ihre neue Arbeitsstelle gewesen und hatte sich in der ihr fremden Kreisstadt heillos verirrt. Angie wirkte immer etwas hilflos, kein Wunder, nach dem was sie alles durchgemacht hatte. Obwohl von Natur aus zurückhaltend, hatte sie Leonie sehr schnell ihre Lebensgeschichte erzählt.

    Morgäne

    Clever, wie ihr seid, habt ihr euch sicher schon gefragt, worin der Zusammenhang zwischen dem freien Willen, Camus und Angela besteht.

    Nun, wie die meisten Menschen denkt auch Leonie sie habe einen freien Willen. Doch der Einfluss der Eltern ist groß und unbewusst handelt man vielfach aus Impulsen heraus, deren Ursprung in der Kindheit liegen. Ebenso wie Camus ist auch Angela durch den Tod ihres Vaters geprägt: Das, meine Lieben, ist der Zusammenhang.

    Angelas Geschichte

    Nur meine ganz frühen Kindheitserinnerungen waren voller Lachen, erzählte Angela Leonie.

    Meine stärkste Erinnerung an diese Zeit war ein Ausflug an einen See. Blauschimmernde Libellen flogen über die spiegelnde Oberfläche, mein Vater warf mich in die Luft, wir alberten, plantschen im Wasser und aßen Grillwurst. Aber diese ganz frühe Kindheit war die einzige wunderbare Zeit, an die ich mich erinnern kann.

    Das Glück hielt nicht an, es endete in dem Moment, als mein geliebter Papa, eingezogen wurde im zweiten Weltkrieg. Ich vermisste ihn bitterlich. Er war es gewesen, der mir das Gefühl gegeben hatte, dass ich geliebt werde.

    Mein Vater hatte sich als Junge an einer Kinderlähmung infiziert. Dadurch hinkte er stark und war lange von der Wehrpflicht verschont geblieben. Knapp vor Kriegsende, wurden alle verbliebenen männlichen Reserven, egal ob noch halbe Kinder oder Teilinvalide eingezogen. Er geriet in russische Gefangenschaft und wurde als vermisst gemeldet. Jeden Abend hatten Mama und ich darum gebetet, dass Papa bald wieder heimkommen würde. Nun verlor meine Mutter alle Hoffnung. Sie trauerte tief. Die Verantwortung lastete schwer auf ihren Schultern. Sie hatte keinen Beruf gelernt und musste uns mühsam ernähren. Durch den Krieg gab es in den Fabriken viele vakante Arbeitsplätze, so war es nicht schwer, eine Arbeit am Fließband in der BMW-Fabrik zu finden. Es war eine eintönige Arbeit, ihr Alltag war grau, beschwerlich und langweilig geworden. Als mein Vater zwei Jahre nach Kriegsende unerwarteterweise wiederauftauchte, schien für mich zuerst die Welt unserer kleinen Familie wieder in Ordnung zu sein.

    Aber er war nicht mehr derselbe Mensch. Die grausamen Kriegserlebnisse hatten meinen fröhlichen, lebensbejahenden Vater gezeichnet. Er war hager, ausgezehrt und noch stärker hinkend, mit Augen, die zu viel gesehen hatten.

    Er überwand seine Kriegserlebnisse nie, er sprach nicht darüber, aber das Lachen war aus seinem Gesicht verschwunden. Stundenlang saß er am Küchentisch und starrte vor sich hin. Er verfiel in tiefe Depressionen, die sich wie ein grauer Teppich auch über mich und meine Mutter legten. Ich war zwölf Jahre alt, da sprang er von der Isartalbrücke in den Tod. Der Schock lähmte mich. Warum ließ er mich allein? Lag ihm nichts an mir? Auch aus dem Leben meiner Mutter flüchtete die Freude endgültig.

    Eine dicke Eisschicht umhüllte das Herz von Mutter und Tochter und trennte die Beiden. Nur so konnten sie den Schmerz ertragen. Mehrmals zogen sie in diesen Jahren um, bis sie in Berg am Laim landeten, einem lauten, hässlichen Stadtteil Münchens mit einem fragwürdigen sozialen Milieu. Angelas Mutter begann zu trinken, erst abends eine Flasche Bier, dann steigerte es sich rasch, bis sie morgens bereits betrunken zur Arbeit erschien. Sie wurde gefeuert und musste sich und Angela mit Sozialhilfe durchbringen. Einens Tages torkelte sie betrunken vor den Kühler eines Lastwagens. Sie war sofort tot.

    20 Jahre jung, war Angela Rieth Vollwaise und vollkommen allein.

    Die Polizei erschien an Angelas damaliger Arbeitsstelle und unterrichtete sie vom Tod ihrer Mutter. Angela sah die beiden Polizisten fassungslos an. Ihre Mutter tot? Das konnte, das durfte nicht sein! Was hatte sie getan, dass sie erst ihren Papa, dann ihre Mutter verlieren musste? Sie begriff es nicht, nicht die Worte des Polizisten, nicht die Tatsache, dass sie nun munterseelenallein in dieser großen Stadt war. Der Eispanzer um ihr Herz verdichtete sich weiter. Die Beerdigung, es war ein kläglicher kleiner Haufen, der ihrer Mutter die letzte Ehre erwies, organisierte eine Nachbarin. Angela war dazu nicht in der Lage, sie gehorchte wie eine Puppe. Sie tat alles, was man ihr sagte, stand still und in sich gekehrt am Grab ihrer Mutter und bedankte sich höflich für die Kondolenzbezeugungen der wenigen Trauergäste.

    Danach saß sie tagelang auf dem durchgesessenen, alten Sofa und starrte die hässlichen, orangefarbenen Blüten auf der fleckigen Tapete an. In ihrem Kopf herrschte vollkommene Leere. Sie wusch sich tagelang nicht, aß kaum etwas und sie rief auch nicht bei ihrem Arbeitgeber an, um sich krank zu melden. Nichts konnte durch die eisige Isolierschicht ihres Herzens dringen.

    Sie betrachte apathisch die scheußliche Wohnzimmerwand, bis sich in ihrem Kopf eine vage Idee bildete, die sich nach einiger Zeit zu einem klaren Gedanken verfestigte: ich MUSS RAUS HIER, raus aus dieser Wohnung, raus aus dieser Stadt.

    Nach fast vier Wochen duschte sie sich endlich, trank einen Kaffee und ging an einen Kiosk, um mehrere Zeitungen zu kaufen. Sie strich Stellenangebote für Sekretärinnen in ganz Süddeutschland an und schrieb zahlreiche Bewerbungsschreiben. Nicht lange danach war sie auf dem Weg zu einem Vorstellungsgespräch in Böblingen. Auf der Fahrt zu ihrem neuen Arbeitgeber verirrte sie sich in der Kreisstadt.

    Das war nicht anders zu erwarten gewesen. Auch wenn sie in dem großen München gewohnt hatte, war sie nie aus ihrem Stadtteil mit den vertrauten Straßen herausgekommen. Nun stieg sie aus dem Auto und versuchte sich mit Hilfe der Straßenkarte zu orientieren. Auch das war ein zweckloses Unterfangen. Straßenkarten halfen ihr grundsätzlich nie, ihre miserable Orientierung zu verbessern. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand und in zehn Minuten hätte sie bei ihrem potentiellen, neuen Arbeitgeber sein sollen. Ein bekanntes Gefühl der Hilflosigkeit überkam sie. Da hörte sie eine freundliche Stimme neben sich. Kann ich Ihnen helfen? fragte diese ruhig.

    Das war der Beginn ihrer Freundschaft, erinnerte sich Leonie, während sie zum Krankenhaus fuhr, um nach ihrer chaotischen Freundin zu sehen. Und seit damals empfand sie ihr gegenüber einen starken Beschützerinstinkt.

    2

    Morgäne

    Können Geistwesen unseren freien Willen beeinflussen? Ist es möglich, dass Geister einen Menschenkörper besetzen und uns dadurch kontrollieren können?

    Klar! Genau das ist Angela passiert.

    Auch etwas, dass ihr in der Regel nicht wahrnehmen könnt. Mehr sage ich nicht, sonst geht die Spannung der Geschichte flöten.

    Im Leben

    Die Sonne, ein rot gefärbter Ball zauberte ein zartes Rosa auf den Himmel hinter den bewaldeten Hügeln. Saftig grüne Wiesen malten zusammen mit gelben Rapsfeldern und hellgrünen Weizenäckern ein buntes Schachbrettmuster in die Landschaft. Einzelne Gruppen von Ahornsträuchern, Eichen und Birken ragten wie Spielfiguren daraus empor.

    Aber Leonie hatte keinen Blick für das prächtige Farbenspiel, das die Natur um sie herum entfaltete. Sie fuhr so schnell, wie es ihr kleines Auto zuließ auf der zweispurigen Umgehungsstraße Richtung Krankenhaus. Als der Parkplatz des Krankenhauses in Sicht kam, bog sie zügig hinein und zwängte ihr Auto in eine kleine Parklücke. An der Information fragte sie nach ihrer Freundin.

    Sie lag noch auf der Ambulanz.

    Durch ein Gewirr halb erleuchteter Gänge, die scheußlich nach Desinfektion rochen, fragte Leonie sich bis zur Ambulanz durch. Als sie klopfte und vorsichtig hineinspähte, fiel ihr Blick sofort auf Angela, die in einem Krankenbett lag. Sie trug einen weißen Kittel, ihr Gesicht so bleich, dass es sich maskenhaft von ihrem schwarzen Haar abhob. Seltsam ordentlich lagen ihre Arme rechts und links neben dem Körper auf der Bettdecke und am rechten Handrücken hatte sie eine Kanüle, durch die eine Infusion lief. Angelas Augen waren geschlossen, aber sie atmete ruhig und gleichmäßig. Es waren keine Anzeichen einer Krise zu entdecken, sie schien den Schwächeanfall gut überstanden zu haben.

    Gott sei Dank, dachte Leonie erleichtert und betrachtete einen Moment lang das vertraute Gesicht, dass auch mit vierzig Jahren noch hübsch war. Die alabasterfarbene Haut war glatt, nur um die Augen zog sich ein feines Spinnennetz von Fältchen. Die dunklen Locken lagen wirr verstreut auf dem Kopfkissen.

    „Angie", Leonie flüsterte unwillkürlich.

    Langsam öffnete Angela die Augen und starrte sie so verwirrt an, als hätte sie sie noch nie gesehen. „Leonie, bist du das?"

    „Nein, Angie, hier ist ein Geist, versuchte Leonie zu scherzen, doch statt ihrer Freundin damit ein Lächeln abzuringen, wurde Angela noch bleicher und sah sie völlig verschreckt an. „Meinst du auch, es war ein Geist? flüsterte sie und sah Leonie mit großen, verstörten Augen an.

    „Von was redest du?, fragte Leonie und setzte sich neben ihr Bett. Angela antwortete nicht. Nach einer Weile fragte sie leise „Glaubst du an Geister? und warf einen vorsichtigen Blick auf einen Mann, der auf einer Liege des Notarztwagens lag und augenscheinlich dort wartete, um weiter versorgt zu werden. Der hatte sich zur Wand gedreht, man sah weiter nichts, als einen schwarzen, widerspenstigen Haarschopf.

    „Geister? Vampire oder so was in die Richtung? Nein, daran glaube ich nicht, ich wollte nur einen Scherz machen", antwortete Leonie.

    „Keine Vampire!", Angie schrie fast, dämpfte aber gleich ihre Stimme, als der Fremde auf der Liege sich abrupt umwandte. Er betrachtete Angie mit einem, plötzlich aufglimmenden Funke an Interesse in den kühlen, blauen Augen. Leonie fand es ziemlich unverschämt, dass der Fremde Angela so anstarrte, ihre Gespräche gingen ihn nun wirklich nichts an. Sie sah ihn herausfordernd an. Seine und ihre Blicke verhakten sich für einen kurzen Moment, dann drehte sich der Fremde betont gleichgültig zur Wand.

    Leonie wandte sich wieder ihrer Freundin zu. „Von was hast du gesprochen?"

    „Glaubst du daran, dass ein Geist dich besetzen und von deinem Körper Besitz ergreifen kann?" flüsterte Angela so leise, dass Leonie sich vorbeugen musste, um sie zu verstehen.

    „Du redest Unsinn, meine Liebe. Und du liest zu viel von diesem esoterischen Blödsinn", antwortete Leonie liebevoll, aber resolut. (Man denke nur an dieses albere Buch, dass sie gerade gelesen hatte über negative Gedankenschwingungen)

    „Aber im Büro hatte ich dieses Gefühl, als besetze jemand meinen Körper und dann bin ich ohnmächtig geworden", verteidigte sich Angela.

    Leonie sah sie stirnrunzelnd an. „Weißt du was ich glaube? Ich glaube, dass du zu viel arbeitest, beantworte sie gleich selbst ihre Frage. „Dein Chef fährt alle paar Wochen zum Golfen oder Segeln oder wohin auch immer und die ganze Arbeit bleibt an dir hängen. Du bist überarbeitet, das ist es, was ich glaube

    „Vermutlich hast du recht", flüsterte Angela und schloss die Augen. Sie war zu müde, um zu diskutieren, aber sie glaubte nicht, dass Überarbeitung der Grund für ihren Ohnmachtsanfall gewesen war.

    Leonie hielt ihr ständig vor, sie ließe sich von ihrem Chef ausnutzen. Aber Angela arbeitete nun schon über zwanzig Jahre als Sekretärin in diesem Büro und sie war noch nie ohnmächtig geworden. Obwohl sie so mache Nacht durchgearbeitet hatte. Überarbeitung konnte es nicht sein, auch wenn Leonie davon fest überzeugt war.

    Sie konnte es nicht näher erklären, aber bevor sie das Bewusstsein verloren hatte, war ETWAS in ihren Körper eingedrungen, das konnte sie ganz klar fühlen. Eine Art Schatten, der sie durchflutete, das Herz, die Leber, jede Zelle überlagerte. Dieses „Ding" war wie ein klebriger, dunkelroter Nebel gewesen. Ein Schatten, der sich in ihren Körper zwängte, als wäre dieser ein dehnbarer Schlafsack, den sie eng zusammengequetscht nun gemeinsam benutzen mussten. Aber wie sollte sie dies ihrer Freundin erklären?

    Die Putzfrau fand sie bewusstlos auf dem Boden liegend, hatte der junge Arzt nur erklärt, bevor er sie zum Röntgen schickte. Dort konnte man nichts Krankhaftes feststellen. Logischerweise auch nichts Übernatürliches, dass sich in ihren Körper breitmachte. Etwas hilflos, weil er nichts fand, hatte der junge, überarbeitete Arzt nur mit den Schultern gezuckt und ihr mitgeteilt, er würde sie gerne eine Nacht zur Beobachtung dabehalten und war davongeeilt. Die Schwester hatte sie wieder in die Ambulanz geschoben, wo inzwischen ein zweiter Patient, dieser Fremde eingeliefert worden war.

    Und hier lag sie nun.

    Angela sah, wie Leonie sie besorgt musterte. „Geht es dir auch wirklich gut?", fragte Leonie.

    Angela nickte mit geschlossenen Augen. Was sollte sie auch anderes sagen?

    Leonie stand auf. „Ich muss gehen, aber ich komme morgen wieder. Soll ich dir etwas mitbringen?"

    Sie schüttelte nur den Kopf, dunkle Ringe unter den Augen ließen ihr Gesicht geisterhaft weiß erscheinen und sie öffnete die Augen auch nicht, als Leonie leise ging.

    Am nächsten Morgen schaute Angela betrübt auf ihren Frühstücksteller.

    Neben einer Tasse schwarzem, dünnem, ungesüßtem Tee stand ein Teller mit einer halben Scheibe Vollkornbrot. Darauf lag ein winziges Häufchen Hüttenkäse und eine schmale Scheibe von einer Tomate auf einem Salatblatt. Keine Butter, kein Käse, keine Wurst, nicht einmal etwas Marmelade. Ein kümmerliches Arrangement, bei dem sich Hüttenkäse und Tomate sehr verloren vorkommen müssen.

    Daran hatte sie leider selbst die Schuld. Gestern Abend hatte eine Krankenschwester mit einem Blick auf ihre Figur gefragt, ob sie Diätkost wolle. Angela hatte nicht zu widersprechen gewagt.

    Zum Frühstück liebte sie frisch duftende Semmeln, dick mit cremiger Butter bestrichen, die gab es nun natürlich nicht. Nur Hüttenkäse. Sie hasste Hüttenkäse. Sie hätte gestern Abend sich doch überwinden und einfach auf Vollkost bestehen sollen, überlegte Angela, denn wenn man schon krank in einer Klinik lag, sollte man doch wenigstens etwas Stärkendes zum Essen bekommen, damit man schnell wieder auf die Beine kam. Und erst recht, wenn man noch immer in dieser ungemütlichen Ambulanz lag, anstatt in einem eigenen Zimmer des Krankenhauses.

    Dieser Raum der Ambulanz, in dem sie die Nacht verbracht hatte, war groß, ein längliches, in einfachem Weiß gehaltenes Zimmer. Im vorderen Teil war die rechte Seite völlig bedeckt von Schränken mit Schubladen, jede fein säuberlich beschriftet mit Verbandsmaterial, Wundbesteck, Medikamente, oder ähnlichen Aufschriften. An der linken Wand standen ein weißer Schreibtisch mit einem Schreibtischsessel und davor eine Untersuchungsliege. Noch steriler ging es nun wirklich nicht mehr, was jedoch durchaus im Sinne eines Krankenhauses war.

    Der hintere Teil war mit einem Vorhang abgeteilt und bestand aus zwei Kabinen. In der kleineren befand sich ein Spiegel über einem Waschbecken. In der größeren Kabine lag sie.

    Leider nicht mehr allein seit heute Morgen.

    Der Fremde, der gleichzeitig mit ihr gestern Abend in die Ambulanz eingeliefert worden war, lag wieder im selben Raum. Die Krankenschwester war heute Morgen in ihre Kabine gekommen und hatte sichtlich verlegen gefragt, ob sie das Bett eines Mannes in ihre Kabine schieben dürfe. Sie hatte sich mehrmals entschuldigt, aber im Moment seien alle Stationen überbelegt und dieser Mann hätte die Nacht auf dem Flur verbringen müssen. Es sind mehrere Notfälle gemeldet und wir brauchen den Platz, hatte sie erklärt. Er würde sicherlich bald entlassen werden, genauso wie sie selbst, hatte sie hinzugefügt. Diese kurze Zeit wäre das doch kein Problem, hatte sie gefragt und sie bittend angesehen.

    Das war ein sehr großes Problem für sie, aber Angela hatte trotzdem eingewilligt. Natürlich. Sie konnte einfach nicht nein sagen. So lag der Mann nun wieder neben ihr, dieser kühle Fremde, der ihr schon gestern ein wohlbekanntes Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit vermittelt hatte, ohne ein einziges Wort zu sagen.

    Und der Gipfel war: Er hatte ein phantastisches Frühstückstablett. Mit zwei frischen Brötchen, Butter, Marmelade, einer Scheibe Käse und einem weichgekochten Ei. Das war einfach ungerecht! Angela kaute lustlos auf ihrem halben Vollkornbrot herum und warf einen begehrlichen Blick auf den Teller ihres Nachbarn. Er hatte gerade mal ein Brötchen und das Ei gegessen. Was für eine Verschwendung. Er hätte die Hüttenkäsevariation bekommen sollen. Das Brötchen duftete einfach himmlisch, bei seinem Anblick knurrte ihr Magen, der über das Diätfrühstück auch nicht erfreut gewesen war.

    Wollen Sie das zweite Brötchen haben, ich esse es nicht mehr, seine Stimme mit einem leichten Akzent schreckte sie auf.

    Angela riss entsetzt die Augen auf, während er sie mit einem leichten, amüsierten Hochziehen seiner Augenbraue musterte. Sie wurde über und über rot. Meine Güte, war das peinlich, er hatte ihre begehrliche Blicke bemerkt, dachte sie.

    Nein, keinesfalls…, ich dachte nur…, ich meine… Angela verhedderte sich rettungslos bei dem Versuch, eine Erklärung zu finden, aber er hatte schon das Interesse an ihr bereits wieder verloren und kramte in seiner Tasche, die auf seinem Bett lag.

    Oh, Gott, dachte Angela, hoffentlich darf ich bald wieder nach Hause und aß hastig ihr karges Frühstück auf.

    3

    Morgäne

    Sind wir Gefangene unserer Kindheit?

    Abhängigkeiten beginnen bereits ab dem ersten Tag in unserem Leben, ja sogar schon im Mutterleib, denn die Eltern sind die ersten Bezugspersonen, an denen sich das Kind orientiert. Von ihnen lernt es Verhaltensweisen, um zu überleben. Die Familie steht im Kern des Daseins und ruft starke Gefühle hervor, die vernichtend sein können.

    Maria - zwischen den Welten

    Maria war verwirrt.

    Sie wusste nicht, wer sie und wo sie war.

    Der Raum spannte sich in einer riesigen, dreidimensionalen

    Krümmung, diese Welt war ihr fremd geworden.

    Unverständliche Bilder wirbelten durcheinander, von feschen, schwarzgelockten Burschen in Lodenjacken und mit rotweißen Strümpfen an den strammen Waden.

    In ihren funkelnden Augen fing sich das Bild der Tänzerinnen, diese Welt war ihr fremd geworden.

    Mädchen, die sich vor dem Walzer heimlich in die Pausbacken gekniffen hatten, um einen rosigen Teint zu bekommen, warfen Blicke unter züchtig gesenkten Wimpern. Die Burschen wirbelten sie klatschend und stampfend im Kreis, bis die Dirndlröcke hochschwangen und die Mädchen juchzten an reinem Spaß an der Freud.

    Diese Welt war ihr fremd geworden.

    Die Bilder vermischte sich mit Impressionen vom bitter schmeckenden Brot der Armut, durchdrängt vom allgegenwärtigen Geruch von Kohlsuppe und

    Schweiß.

    Auch diese Welt war ihr fremd geworden.

    Nur ein Bild war ihr vertraut.

    Das Bild einer glücklichen Familie am See, umtanzt von blauen Libellen und in der Mitte ein kleines

    Mädchen, das lachend in eine Grillwurst biss.

    Ein Mädchen mit blauen Augen, schwarzen Locken und einem

    Alabasterteint und sie war es, die ihr seltsam vertraut erschien, sie zog Maria an einer silbernen Schnur quer durch die Zeit

    magisch an.

    Morgäne

    Familie ist die Bühne, auf der wir mit den großen Lebensthemen konfrontiert werden, denn das Verhalten der Eltern ihm gegenüber prägt das Kleinkind. Sind sie liebevoll und zugewandt, wirkt sich das positiv aus, sein Selbstwertgefühl wird gestärkt. Wenn aber durch die Eltern eine angsteinflößende Konditionierung entsteht, ist das schwer aufzubrechen. Spätfolgen können psychische Erkrankungen oder Traumen sein.

    Eure Entwicklungspsychologen haben das bereits lang und breit erforscht. Ich erwähne es deshalb, weil Maria eines dieser Kinder gewesen war, die unter eben diesen Folgen einer angsteinflößenden Konditionierung fast zerbrochen wäre.

    Marias Geschichte

    Anton, Marias Vater, war der Sohn eines armen Taglöhners aus dem Bayrischen Alpenvorland.

    „Anton, du bist nun mit deinen 14 Jahren alt genug, dein tägliches Brot zu verdienen. Ich muss noch acht weitere, hungrige Mäuler stopfen. Deshalb habe ich mit dem Wiesmüller Großbauern verhandelt. Er dingt dich als Knecht", sagte sein Vater eines Tages zu ihm.

    Anton nickte ergeben. Er wusste, dass er keine Wahl hatte. Am nächsten Morgen, seine Mutter steckte ihm für den Tagesmarsch noch Äpfel und ein Brot zu, machte er sich auf den Weg.

    Die Arbeit war noch härter, als er es sich vorgestellt hatte.

    Um fünf Uhr in der Früh ging er ins Feld, eine Blechbüchse mit der Jause in der Hand und kehrte erst spät abends wieder zurück. Tag um Tag schuftete er, pflügte, säte und erntete die Feldfrüchte. Die Erntezeit war besonders arbeitsreich, auch danach war ihm nur eine kurze Ruhephase vergönnt, in der es viel zu reparieren gab.

    Im Frühjahr begann der Kreislauf auf ein Neues.

    Aber er beklagte sich nicht, bekam er ja außer den Mahlzeiten einen kärglichen Lohn, den er zurücklegen konnte. Er sparte jeden Pfennig, trug seine Kleidung, bis sie so fadenscheinig war, dass die Bäuerin aus Gutmütigkeit ihm ein abgelegtes Kleidungsstück des Bauern gab. Er ging nie auf den Tanz oder zu der Kirmes, wie die anderen Knechte und genehmigte sich auch keine einziges Maß Bier beim Rösslewirt. Nur einen einzigen Genuss gönnte er sich: Hin und wieder Tabak für die Pfeife.

    Mit Ende Dreißig hatte er so viel gespart, dass er sich vom Baron, dem Besitzer des meisten Landes in dieser Gegend, einen kleinen Hof mit etwas Ackerland pachten konnte. Auch für eine Kuh langte sein Geld noch. Er verabschiedete sich vom Wiesmüller Großbauern und begann seinen eigenen, kleinen Hof zu bewirtschaften. Was ihm noch fehlte, war eine Frau, die mit Anpacken und die Hauswirtschaft führen konnte.

    So bürstete er seinen Anzug und ging zum ersten Mal in seinem Leben auf einen Tanz. Anton, dem nichts an dem bunten Treiben der Anderen lag, sah die Resch, Magdalena in der Ecke sitzen und beschloss, sie wäre die Richtige, um seine Hauswirtschaft zu führen. Es gab viele hübsche Mädchen beim Tanz, doch er wählte Magdalena. Sie hatte zwar ein rechtes Pferdegebiss und war vorne platt wie ein Bügelbrett, war aber kräftig und sah so aus, als könnte sie tüchtig zupacken und ihm auch gesunde Buben gebären, die ihm bei der Arbeit helfen konnten.

    Magdalena war trotz ihres robusten Aussehens ein scheues Menschenkind.

    Bei den wenigen Malen, an denen sie zum Dorffest gegangen war, saß sie die meiste Zeit still in der Ecke und sah von dort dem Treiben auf der Tanzfläche zu. Magdalena wurde niemals zum Tanz aufgefordert. Sie hatte sich schon damit abgefunden, eine alte Jungfer zu werden, denn es gab auch keine Mitgift, die sie hätte attraktiver machen können.

    So saß sie auch dieses Mal still auf der Bank und sah den Mädchen in ihren hübschen Dirndln zu. Sie schwenkten ihre Röcke, bis beim Tanz die Waden blitzten und warfen den feschen Bauernburschen unter züchtig gesenkten Wimpern lockende Blicke zu. Diese ließen sich nicht lange bitten, strafften die Schultern und stampften im Takt der Musik mit den Füssen, wirbelten die Dirndl im Kreis, bis ihre Augen blitzten aus Spaß an der Freud.

    Anton ging zu Magdalena hinüber und setzte sich neben sie. Schüchtern senkte sie den Kopf und verschränkte die Hände in ihrem Schoß. Sie hatte gehörigen Respekt vor dem wortkargen Anton mit seinem kantigen Gesicht und den harten, wässrig blauen Augen. Er fackelte nicht lange und sagte ihr, er brauche eine Frau.

    Magdalena, die nicht mehr gewagt hatte, auf eine Heirat zu hoffen, nickte nur stumm. Anderentags ging Anton zu ihren Eltern und bat sie um die Hand ihrer Tochter. Die Eltern stimmten seiner Brautwerbung erfreut zu. Anton drängte auf Eile und so gab es eine stille Vermählung, an der nur der engste Familienkreis teilnahm.

    Nach der Trauung in der Kirche umarmte Magdalena ihre Eltern zum Abschied und hatte große Mühe ihre Tränen zurückzuhalten. Ihr Herz flatterte aus Angst vor der Zukunft mit diesem fremden Mann.

    „Es wird schon werden, Lennerl", hatte ihr Vater ihr beim Abschied zugeflüstert, als er ihr blasses Gesicht bemerkt hatte. Ihre Mutter, froh, dass ihre Tochter doch noch einen Mann abbekommen hatte, nickte ihr nur kurz zu. Magdalena legte den Korb mit der bescheidenen Aussteuer in die Pferdekutsche und fuhr mit bangem Herzen in ihr neues Heim.

    Ihr Vater hatte falsch prophezeit, es wurde nicht gut.

    Das Haus war nicht mehr als eine armselige Holzhütte. Es bestand aus einem einzigen Raum mit einem gusseisernen Holzofenherd, einem Tisch mit zwei Stühlen und einem alten Eisenbett in der Ecke. Auf dem Regal stand ein Krug und eine Schüssel zum Waschen.

    „Da kannst dich g’schwind frisch machen, bevor wir uns niederlegen zur Nacht", meinte der Anton und zeigte auf die Waschschüssel.

    Magdalena nickte, stand aber nur scheu an der Tür. Der Tag war lang, ungewohnt und anstrengend gewesen. Ihre innere Anspannung machte sich bemerkbar, sie fing an zu zittern und getraute sich nicht, sich in seiner Gegenwart zu entkleiden. Niemand, nicht einmal ihr Vater hatte sie bisher in ihrer Unterwäsche gesehen.

    Linkisch zog sie nach einer langen Weile aus ihrem Aussteuerkorb das gute Nachthemd aus Flanell heraus und stülpte es sich über das schlichte Brautgewand. Es war weit genug, dass sie das Kleid darunter ausziehen konnte. Aber das war nicht so einfach. Die vielen Häkchen und Knöpfe des Brautkleides unter dem bauschigen Flanellstoff zu lösen, erwies sich für ihre zittrigen Finger als schwierige Aufgabe.

    Anton, der keinen Sinn für solch ein „Getue hatte, sah ihr einige Zeit mit einem Stirnrunzeln zu, dann verlor er die Geduld und fuhr sie an: „Sakra, Weib, hör auf mit diesem Zirkus und geh zu Bett, ich habe hart.

    Magdalena erbebte innerlich, doch sie wagte nicht, sich ihm zu widersetzen. Noch vollkommen angekleidet, das Brautkleid aufgeknöpft unter dem Nachthemd, schlich sie zum Bett und schlüpfte unter die Decke.

    Anton entkleidete sich, legte sich neben sie, schob mit einem Fluch den voluminösen Wust an Stoff nach oben, zerrte ihre Unterhose herunter und drang ohne ein weiteres Wort in sie ein.

    Sie schrie auf, als sein Glied grob in ihren jungfräulichen Unterleib stieß und Wellen von stechendem Schmerz ihren Körper überfluteten. Er stieß noch einige Male zu und ergoss sich in ihr, dann zog er sein Glied heraus, drehte sich zur Seite und schlief ein.

    Magdalena lag starr an seiner Seite, lautlos liefen ihr die Tränen aus den weit geöffneten Augen, sie spürte noch immer den Schmerz in ihrem Unterleib, der nicht abklingen wollte.

    Auch wenn ihr Herz von bangem Vorahnen erfüllt gewesen war, so schlimm hatte sie es sich nicht vorgestellt. Es dauerte sehr lange, bis sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf versank.

    Aus diesem ersten Beischlaf entstand Maria, Angelas Großmutter.

    Anton war über die prompte Schwangerschaft seiner Frau erfreut. Als sie jedoch mit einem Mädchen niederkam, verflog seine Freude. Er brauchte kräftige Buben, die ihm bei seiner Arbeit zu Hand gehen konnten. Für ihren Vater war und blieb die kleine Maria nur eine weitere überflüssige Person, die ernährt werden musste.

    Für Magdalena war dieses winzige, rosige Wesen ein Wunder. Nun gab es ein Menschlein, dem sie ihre Liebe schenken konnte. Wann, immer ihr die Zeit blieb - und das war nicht viel - herzte sie ihre kleine Tochter. Anton Lechner war erst zufrieden mit seiner Frau, als sie ihm im Laufe ihrer Ehe zwei Söhne schenkte. Doch das harte Leben auf dem kleinen Hof raubte Magdalena alle Kraft, sie starb im Kindbett bei der Geburt des vierten Kindes - ein Mädchen.

    Maria, inzwischen dreizehn Jahre alt, vermisste ihre Mutter aufs Schmerzlichste.

    Sie sah ihr nicht ähnlich. Sie hatte ein schön geschnittenes Gesicht mit großen, blauen Augen, dunklen Locken und einem blassen Teint, war feingliedrig und für ihr Alter schon recht groß. Im Wesen glich sie ihrer Mutter allerdings sehr, sie war genauso scheu und zurückhaltend wie sie. Mit ihren dreizehn Jahren zeigte sie schon erste Anzeichen von Weiblichkeit, ihre Hüften fingen an sich zu runden, die Brüste hoben in leichten Wölbungen das Mieder ihres Kleides. Innerlich war sie allerdings noch immer sehr kindlich.

    Für ihren Vater war sie, wie jedes Mädchen, nur eine Last, sie mussten ernährt und später unter die Haube gebracht werden. Umso schlimmer traf der Verlust ihrer Mutter die kleine Maria. Ihr Vater ließ sie stets spüren, wie unwillkommen sie unter seinem Dach war. Doch nun fand Anton, war sie wenigstens mal von Nutzen: Nach dem Tod seiner Frau konnte sie die Weiberarbeit im Haus übernehmen und das Baby versorgen, ein weiteres überflüssiges Maul, dass er zu stopfen hatte.

    So fiel ihr die Aufgabe zu, die Hauswirtschaft zu führen. Maria fügte sich widerspruchslos in ihre Aufgabe, sie hatte, genauso wie ihre Mutter Angst vor diesem harten Mann und tat alles, um den Unwillen ihres Vaters nicht zu erregen.

    Sie stand morgens um vier Uhr auf, melkte die Kuh, fütterte die Hühner, sammelte Eier ein und holte Holz, um den Holzofenherd anzufeuern. Pünktlich um fünf Uhr musste der Kaffee für den Vater und die Buben bereitstehen. Dann fütterte sie das Baby, wickelte es, band es mit einem Tuch auf den Rücken und machte sich auf den Weg zur zwei Kilometer entfernten Schule. Sie legte das Baby stets sorgsam in eine Kiste neben ihrem Schulpult ab. Im Unterricht fielen ihr meist die Augen zu, doch der Lehrer, der Mitleid mit dem Mädchen hatte, tat so, als sähe er es nicht.

    Mittags eilte sie den langen Weg so schnell wie möglich zurück nach Hause, denn dort wartete schon Arbeit auf sie. Das Mittagsmahl musste bereitet werden. Sie band das Kind auf einem Stuhl fest, damit es sich nicht verletzen konnte. Dann holte sie Gemüse, das sie hinterm Haus angepflanzt hatte. Sie feuerte den Herd an, schälte flugs die Kartoffeln und putzte das Gemüse. Um die schweren Eisentöpfe auf dem Herd hin und her schieben zu können, musste sie sich einen Schemel an den Herd schieben.

    Am Sonntag gab es manchmal Fleisch, ein großes Stück für den Vater, kleinere Stücke für die beiden Buben. Fleisch benötigt man nur, wenn man schwer arbeitet, meinte der Vater, deshalb fiel für Maria selten etwas ab. Ohnehin war Fleisch nur auf dem Tisch, wenn frisch geschlachtet worden war. Jeden Nachmittag, nach dem Mahl fütterte sie die Kleine, wickelte sie und legte sie schlafen. Die schweren Eisentöpfe mussten geschrubbt werden, im Garten gehakt, die Kuh und die Hühner versorgt und das Haus geputzt werden.

    Es war eine zu schwere Arbeit für ein Kind, aber Maria ertrug alles klaglos. Nur manchmal, wenn die Brüder Schabernack mit ihr trieben, ihren Schulkanister versteckten oder sie an den Zöpfen zogen, schlug sie ihre Kittelschürze über den Kopf und schluchzte auf. Doch das trieb die Buben nur zu weiteren Streichen an.

    Maria wäre schon für ein einziges Wort der Anerkennung ihres Vaters dankbar gewesen, aber sie hoffte vergebens. So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte es ihm nicht recht machen. Im Gegenteil, wenn das Fleisch zu lange gebraten oder die Kartoffeln verkocht waren, holte er seinen Gürtel aus dem Hosenbund und verpasste ihr eine Portion Prügel.

    Ihr einziger Trost war die Kleine.

    Das Baby war inzwischen zu einem fröhlichen Kleinkind herangewachsen, Maria liebte es von Herzen und schmuste

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