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Entenfischer: Bericht über eine Behandlung
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eBook249 Seiten3 Stunden

Entenfischer: Bericht über eine Behandlung

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Über dieses E-Book

Das Leben wirft einen in Situationen, auf die man sich nicht vorbereiten kann. Wie reagiert man, wenn man an einem Sommertag plötzlich damit konfrontiert wird, dass die eigene dreijährige Tochter an Leukämie leidet? Wie wirkt sich die langwierige Behandlung, die Ungewissheit, die Angst auf die Beziehungen innerhalb der Familie aus? Wie kann es gelingen, das Kind zu retten, ohne die Familie dadurch zu zerstören?
Eine Krebserkrankung, so stellt sich bald heraus, ist anders, als in Filmen dargestellt, kein Kampf, sondern ein Erdulden in Konfusion. Kein finales Urteil, sondern ein Hindernislauf, den es zu absolvieren gilt. Ziel ist, zu erreichen, dass am Ende der Therapie alles bleibt, wie es war, obwohl sich alles änderte.
"Entenfischer" erzählt von den Gefühlen und Gedanken einer Mutter, deren Kind an Leukämie erkrankt ist, von der Diagnose bis zum Abschluss der Therapie. Von der Angst und Hilflosigkeit, von der Verunsicherung und Wut, von der Scham und Lähmung. Und zeigt, dass außergewöhnliche Krisen, die das Leben plötzlich völlig auf den Kopf stellen, bewältigbar sind.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum1. Apr. 2014
ISBN9783849578480
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    Buchvorschau

    Entenfischer - Karin Koller

    Krankenwagen

    „Bleibst du da, Mama?"

    Zwanzig Mal hat Katharina das in der letzten Stunde gefragt.

    „Natürlich bleibe ich bei dir. Bis du gesund bist, das verspreche ich."

    Zwanzig Mal habe ich das schon gesagt. Dabei kann ich nur versprechen, dass ich bleibe. Ich weiß nicht, ob ich versprechen kann, dass sie wieder gesund wird.

    Der Arzt sagte, die Heilungschancen lägen bei über 80%. Er sagte das, um mich und Michael zu beruhigen. Eine 20%ige Wahrscheinlichkeit, dass Katharina nicht wieder gesund wird, ist beängstigend. Wie hoch kann die Wahrscheinlichkeit sein, dass ein dreijähriges Kind an Leukämie erkrankt? Das ist sicher nicht in Prozent, möglicherweise nicht einmal in Promille messbar. Und nun hängen riesige zwanzig Prozent über uns wie ein Damoklesschwert.

    „Bleibst du da, Mama?"

    „Ich bleibe bei dir." Ich habe einen Knoten im Bauch. Ganz verdreht muss ich sitzen, sonst wird mir schlecht. Unter normalen Reisebedingungen wird mir schon schlecht, wenn ich nicht vorne im Beifahrersitz sitze, ganz konzentriert, als würde ich das Auto selbst steuern. Nun liegt Katharina auf der Liege im Krankenwagen, ich sitze daneben und weiß nicht, wie ich mich ihr zuwenden kann, um sie zu trösten, und gleichzeitig durch die Abtrennung am Fahrer vorbei auf die Straße schauen, um die aufkommende Übelkeit zu unterdrücken. Schämen könnte man sich für seinen Körper, der sich in dieser akuten Krisenzeit nicht zusammennehmen kann und in egoistischer Weise auf seinem Recht beharrt, das Frühstück wieder abzugeben, wann immer er es für angemessen hält.

    „Bleibst du da, Mama?"

    „Natürlich Schatz, schlaf ein bisschen." Dabei wollten wir heute den Geburtstag von Anna feiern. Nicht mit Pauken und Trompeten oder großem Kinderfest, aber einen schönen siebten Geburtstag sollte sie haben. Statt Badeausflug wollte Michael mit ihr und Lukas einen Stadtbummel durch Villach machen. Ich sollte mit Katharina ins Krankenhaus.

    Gestern war ich mir ihr beim Hausarzt, weil sie seit einer Woche Fieber hatte und nun plötzlich am Bauch lila Pünktchen erschienen waren. Etwas Schlimmeres als eine Kinderkrankheit oder eine Sonnenallergie hätte ich niemals vermutet. Der Hausarzt regte sich nicht sonderlich auf über Katharinas Zustand, eine Gerinnungsstörung, sagte er, könnte es sein. Wenn wir es genau wissen wollten, müssten wir ein Blutbild machen lassen, am besten vor dem Wochenende, weil danach viel los sei im Krankenhaus und die Wartezeit länger.

    Wir gingen deshalb nicht sonderlich beunruhigt ins Krankenhaus. Als der Arzt Katharina das Blut abnahm, sah er uns mit sonderbarem Ernst an. Nein, er könne nicht spekulieren, sagte er, bevor er die Blutwerte habe. Das musste er ja sagen und das ernste Gesicht gab mir nicht zu denken, nicht jeder Kinderarzt konnte ein fröhlicher Spaßvogel sein. Nichts gab mir zu denken. Katharina und ich vertrieben uns die Wartezeit, indem wir unser Kinderliederrepertoire auspackten und uns überlegten, welche Spiele wir bei Annas Feier spielen würden. Wir wollten uns auf keinen Fall die gute Laune verderben lassen.

    Michael rief an, er habe den Stadtbummel mit den Kindern beendet. Sie wären schon im Krankenhaus. Als ich sie holen wollte, kam der Arzt herein. Er sagte, wir sollten in eines der Stationszimmer gehen, bis die endgültigen Ergebnisse einträfen. Zum Glück fand ich Michael und die Kinder gleich und wir gingen gemeinsam zur Kinderstation. Wir wurden in ein Zimmer geführt, die Kinder bekamen Spielsachen und Getränke. Das war nicht der übliche Kinderambulanz-Salbe-drauf-gesund- auf-Wiedersehen-Besuch im Krankenhaus, den wir sonst gewohnt waren. Die Kinder malten in den Malbüchern des Krankenhauses, ich versuchte sie bei Laune zu halten.

    „Da stimmt etwas nicht", sagte ich zu Michael.

    „Es ist bestimmt nichts Schlimmes", sagte Michael.

    Dann kam der Arzt ins Zimmer: „Könnte ich Sie beide sprechen", sagte er.

    Ich wollte die Kinder nicht allein lassen, deshalb ging Michael allein mit dem Arzt mit. Wir mussten ziemlich lange auf ihn warten, meine Beunruhigung wuchs. Eine Krankenpflegerin brachte Mittagessen für die Kinder. Ich versuchte, es abzulehnen, weil wir doch zu Hause essen wollten. Die Pflegerin sagte, sie werde es im Zimmer lassen, falls doch eines der Kinder Hunger bekomme. Sie sagte es, als wüsste sie etwas, das ich noch nicht wusste. Ich hatte nicht den Mut, sie zu fragen.

    Michael kam ins Zimmer, aschfahl im Gesicht.

    „Was ist los? Sag schon." Er schüttelte wortlos den Kopf und hielt mir einen Zettel hin. Auf dem Zettel stand: Akute lymphatische Leukämie.

    „Der Arzt möchte dich sprechen", presste er mühsam heraus. Er nahm die Kinder in den Arm. Ich suchte das Büro des Arztes. Zwei Tränen fielen mir aus den Augen. Dabei war mir nicht nach Weinen zumute, ich war wie betäubt, spürte nur diese zwei Tränen. Das konnte doch nicht wahr sein. Niemand in der Familie war jemals ernstlich krank gewesen. Vielleicht hat Michael den falschen Zettel gebracht, einen Zettel, den ein anderer Vater mit ähnlicher Handschrift für eine andere Frau aufgeschrieben hatte, und alles war nur ein riesiges Missverständnis.

    Der Arzt sah mich an, es war kein Missverständnis. Er erklärte mir die Krankheit in groben Zügen, und dass gute Heilungschancen bestünden. Ich konnte kaum etwas davon aufnehmen. Ich war fassungslos, meine Gedanken rasten sinnlos im Kreis, ohne etwas Produktives zu bewirken, wie eine hässliche graue Wolke, die das gesamte Sein vernebelt. Der Arzt nannte die Schritte, die nun zu unternehmen seien und die er bereits mit Michael besprochen habe. Katharina und ich sollten unverzüglich nach Innsbruck in die Kinderklinik gebracht werden.

    Michael kam in das Büro des Arztes. Er legte den Arm um mich. Das tat gut, die Gedanken ordneten sich ein wenig. Aus der grauen Suppe kristallisierte sich immer klarer das Wort „Krebs" heraus, schwer und unausweichlich und das verstärkte die bleierne Lähmung wieder. Langsam erklärten mir Michael und der Arzt noch einmal, dass Katharina sofort nach Innsbruck gebracht werden müsse. Langsam begann diese Information einzusickern. Wie sollte ich mit ihr nach Innsbruck kommen? Ich hatte doch nichts dabei, keine Kleider, keine Toilettensachen, kein Buch, nicht einmal ein Getränk für die Reise.

    Michael wollte uns nach Innsbruck bringen, aber der Arzt sagte, er habe Angst, dass Michael in seinem derzeitigen Zustand einen Unfall verursachen könnte. Zumindest aber bestünde die Wahrscheinlichkeit, dass ein Stau im starken Reiseverkehr die Fahrt unnötig verlängern würde. Ich würde also ganz allein mit Katharina im Krankenwagen nach Innsbruck fahren und dort alles Notwendige allein veranlassen müssen, was auch immer das war. Michael würde die Kinder zu meiner Mutter bringen und versuchen, nachzukommen.

    „Bleibst du da, Mama?"

    „Ja, es wird alles gut." Aber wird es das wirklich? Und wenn es wirklich wieder gut werden kann, werden wir es schaffen durchzuhalten, bis es soweit ist? Ich weiß nicht einmal, ob ich in den nächsten zwei Stunden die Dinge, die erforderlich werden, bewältigen kann. Ich versuche die Tränen zu unterdrücken und drehe mich, um vorne beim Fenster hinaussehen zu können, der Übelkeit wegen, die schon wieder aufwallen will. Das Signalhorn des Krankenwagens ertönt, wir fahren knapp an einen Wagen heran, der die Überholspur nicht freigibt. Endlich fährt er zur Seite, das Signalhorn bleibt an, der Ton ist enervierend. Vorne beginnt der Stau der Reisenden, der Krankenwagen schwenkt auf den Pannenstreifen und fährt mit hoher Geschwindigkeit an den stehenden Autos vorbei. Gewohnt, die Kinder auf alles aufmerksam zu machen, was sich unterwegs ereignet, muss ich den Impuls unterdrücken zu Katharina zu sagen, schau wie toll, wir fahren mit Blaulicht auf dem Pannenstreifen, wo man sonst überhaupt nicht fahren darf. Normalerweise wäre das eine Sensation, die sie glucksen lassen würde vor Aufregung. Das muss ich gleich Anna und Lukas erzählen, die werden Augen machen, würde sie sagen, normalerweise. Heute interessiert sie das nicht. Sie liegt verängstigt auf der Liege und versucht die Augen zu schließen.

    Mir ist heiß, der Schweiß steht mir klebrig auf der Stirn. Es scheint hier keine Klimaanlage zu geben, die Hitze verstärkt das Übelkeitsgefühl noch. Ich versuche wieder, vorne durch die Trennscheibe am Fahrer vorbei auf die Straße zu schauen. Weil der Sitz der Liege zugewandt ist, muss ich mir dabei den Hals verrenken, oder die innere Anspannung verursacht mir eine Muskelverspannung. Den Blick auf den grauen Asphalt geheftet, wird der Kopf plötzlich ganz leer, frei nicht, aber leer oder zumindest statisch, die graue dumpfe Masse hat für einen Augenblick aufgehört zu rotieren und lässt die Alptraumbilder nicht mehr tanzen. Das tut gut, für immer soll das so bleiben, dann muss ich nicht den nächsten Schritt unternehmen und den nächsten und die Ungewissheit wird mich nicht beklemmen und es wird sein, als wäre nichts passiert.

    Ein kurzer Ruck reißt mich aus den Gedanken. Natürlich ist es nicht wahr, jeder Schritt ist zu gehen, das ist das Einzige, das zu tun ist, das Einzige, das man tun kann, um aus dieser Situation herauszukommen. Ich drücke Katharinas Hand, natürlich werden wir das schaffen, wir wissen nur noch nicht wie, alles andere ist undenkbar. Aber sie ist doch noch so klein, sie ist doch erst drei.

    Vor wenigen Wochen waren wir im Verkehrsmuseum in Luzern. Es war unser erster Museumsbesuch mit den Kindern. In Planetarium schlief Katharina ein. Nach dem Museum gingen wir noch kurz zum Ufer des Vierwaldstättersees. Zwischen einigen Enten schwamm ein Schwan, im Hintergrund fuhr ein Boot vorbei. Anna und Lukas warfen Steine in den See. Die Enten schwammen ein Stück weit weg, auf das Boot zu. Katharina beobachtete sie und schien intensiv nachzudenken. Dann sagte sie: „Ich weiß jetzt, was ich werden möchte. Ich werde Entenfischer."

    „Entenfischer?" fragte ich.

    „Ja, weißt du, Mama, da fahre ich mit dem Boot auf den See, mit so einem wie diesem da, sie zeigte auf die Mitte des Sees, „und dann werfe ich ein Netz aus und fange die Enten. Dann verkaufe ich sie am Markt. Oder brate sie.

    Zufrieden schaute sie auf den See hinaus. Sie war überzeugt davon, ihre Zukunft gefunden zu haben.

    Was wird nun aus ihr werden?

    Plötzlich steigt mir ein übelkeitserregender Geruch in die Nase, es ist die klebrige, leicht verwesende Süßlichkeit einer überreifen Banane. Noch nie konnte ich diesen Geruch ertragen, aber jetzt, wo ich mich so konzentrieren muss, nicht zusammenzubrechen oder mich zu übergeben, sprengt dieser Geruch die Grenzen des Erträglichen.

    Der junge Zivildiener isst selbstvergessen diese überaromatische Frucht. Er hat, so hat er mir erzählt, seinen Zivildienst fast beendet und will im Herbst in Wien ein Sportstudium beginnen und vielleicht, wenn sich das ergeben sollte, den Helikopterflugschein machen, um später in Kanada Helikopterschilehrer zu werden. Genauso sieht der junge Mann auch aus, sportbegeistert, braungebrannt, nicht unbedingt von tiefschürfendem Intellekt, dafür aber von einer unnatürlich anmutenden Schönheit, einer Schönheit von der Art, wie sie in amerikanischen Filmen gerne für die Rolle des Polterabendstrippers gecastet wird.

    Welche Erleichterung wäre es, wenn er ein kleines Kofferradio hinter seinem Rücken hervorziehen würde und dann so ein Popanz von Versteckter Kamera hervorspringen würde, und ich mich über nichts mehr aufzuregen brauchte als über die Geschmacklosigkeit und das fehlende Taktgefühl von Fernsehproduzenten.

    Aber das passiert nicht, es ist alles echt, der Krankenwagen rast mit uns in eine ungewisse Zukunft und die Bananenschale verbreitet weiter ihr Aroma aus dem offenen Müllkübel direkt vor meinen Füßen. Ich wundere mich, ob es sich überhaupt schickt, sich Gedanken über Stripper zu machen, nicht aus gesellschaftlichen Gründen, sondern ob es nicht ein Indikator eines oberflächlichen Gemüts ist, von zu geringem Bestreben, das Kind wieder gesund zu machen. Was darf ich in dieser Situation überhaupt tun und denken? Werden in den nächsten Wochen, Monaten, Jahren - bisher weiß ich noch nicht einmal, wie lange die Chemotherapie dauern wird - alle Gedanken um die Krankheit kreisen? Werden wir alle nur ernst sein? Im Augenblick kann ich mir nichts anderes vorstellen, die Verzweiflung ist zu groß, und zu stark sind auch die Schuldgefühle wegen dieses einen dummen und seichten Gedankens.

    Ich fasse mir ein Herz und frage den jungen Mann, ob er die Bananenschale geruchssicher entsorgen kann. Dies löst zunächst Ratlosigkeit aus, da kein anderer Müllkübel vorhanden ist. Schließlich übergibt er die Bananenschale dem Fahrer und der legt sie auf den Boden unter dem Beifahrersitz. Der von dem Geruch ausgelöste Schwindel lässt schnell nach. Die Fahrt ist noch weit und ich weiß überhaupt nicht, wie es weitergehen soll. Alles ist so schnell gegangen, wir haben nicht einmal eine Zahnbürste oder eine frische Unterhose dabei. Nur das kleine Stinktier, das Michael Katharina aus der Stadt mitgebracht hat. Ein Stinktier ausgerechnet. Hoffentlich wird Michael an alles denken, aber das ist wohl ziemlich viel verlangt.

    Endlich, endlich fahren wir in Innsbruck ein. Das Krankenhaus ist gar nicht weit von der Autobahnausfahrt. Der Krankenwagen wird von einem vor der Tür stehenden Sanitäter in eine Tiefgarageneinfahrt gelotst und wir steigen aus. Ich halte die erschöpfte Katharina im Arm. Die Angst vor dem nun folgenden Ungewissen ist ihr anzusehen, sie sagt aber nichts, kuschelt sich nur an mich. An der Anmeldung müssen die Portiere erst mit einem Telefonat herausfinden, wo wir hinmüssen. Die Erklärung bedarf viel Herumgefuchtle mit den Armen. Unser Fahrer und der Zivildiener schauen hilflos drein. Der lokale Sanitäter nimmt sich ein Herz und bietet uns an, mit seinem Wagen vorauszufahren, da die Onkologie auf der gegenüberliegenden Seite des Krankenhauskomplexes liegt und auf dem Weg dahin einige Einbahnen zu beachten sind und einige Fahrverbote den Weg verkomplizieren. Wir steigen wieder in den Krankenwagen ein und fahren etwa fünf Minuten hinter dem hilfsbereiten Sanitäter her. Mir kommt es vor, als wären wir bereits in einem anderen Stadtteil. Vor einem Hochhaus bleiben wir stehen und fahren mit dem Lift in den obersten Stock. Hier wirkt alles sehr neu und kalt und steril.

    „Ja, sagt die Pflegerin im Eingangsbereich, „das ist die Onkologiestation.

    Wir aber müssten in die Kinderonkologie, aber sie weiß leider nicht, wo sich diese befindet. Langsam ungeduldig werdend, bitte ich sie, es doch für uns herauszufinden, mittlerweile wird mir Katharina recht schwer. Nach mehreren Telefonaten gibt die Pflegerin dem Fahrer Anweisungen, diese klingen einfacher als jene, die hierher geführt haben, vielleicht sind wir schon in der Nähe. Tatsächlich müssen wir nur die Straße überqueren und im nächsten Haus in den obersten, den fünften, Stock fahren. Dort sind wir richtig, das ist wenigstens eine Erleichterung.

    Vor der automatischen Tür zur Station ist eine klebrige Matte am Boden befestigt. Sie wirkt, als ob hier Renovierungs- oder Bauarbeiten im Gange sind, erst später merke ich, dass diese Matte den Straßenschmutz von den Schuhen nehmen soll, damit die Station sauberer bleibt. Die Station selbst wirkt neu, aber nicht so unpersönlich wie die Erwachsenenonkologie. Dreiräder, Kindertraktoren und Buggys stehen am Gang, bunte Kinderstühle sind an die Wand gelehnt, einer in Giraffenform, einer sieht aus wie ein Dinosaurier, einer wie ein Bär.

    Eine Pflegerin führt uns in ein Zimmer, ich komme mir hilflos vor, aber immerhin sind wir angekommen und Katharina wird die Hilfe bekommen, die sie braucht. Das Zimmer ist geräumig mit zwei zusammengeschobenen Betten, einem Tisch mit drei Stühlen und einem riesigen Fenster. Auf den Bettbezügen sind Clowns mit Luftballons aufgedruckt. Katharina bemerkt das trotz Müdigkeit sofort, es gefällt ihr. Ein kleines Bad mit Dusche, Waschbecken und Klo befindet sich in einem separaten Raum innerhalb des Zimmers.

    Die Pflegerin zeigt uns die Station. Es gibt etwa zwölf Zimmer, einen Aufenthaltsraum mit Küche und ein Spielzimmer. Auf dem Weg dorthin kommen uns zweimal Eltern mit Kindern, die keine Haare mehr auf dem Kopf haben, entgegen, die so ausgemergelt sind, dass sie nicht mehr selbst laufen können. Die Situation erscheint mir surreal, als wäre ich in einen düsteren Problemfilm hineingeraten. Wird Katharina auch bald so aussehen? Im Moment weiß ich nicht einmal, ob Leukämie eine besonders schlimme Form von Krebs ist. Und was nötig sein wird, um sie zu bekämpfen.

    Der Arzt in Villach hat etwas von 80%iger Heilungschance gesagt, das beruhigte mich nicht gerade. Ich habe mich nie mit Krebs beschäftigen müssen, möglicherweise ist das keine große Sache mehr. Dennoch assoziiere ich Krebs unweigerlich mit Todesfällen, ich kann gar nicht anders, aber in diesem Zusammenhang darf ich das nicht. Ich versuche, solche Gedanken zu unterdrücken, da fällt mir ein Buch ein, das ich als Kind gelesen habe, über ein Mädchen, das mit großer Anstrengung und mit viel Leiden gegen den Krebs kämpft und am Ende tapfer stirbt, weil man ihr eingeredet hat, dass sie es schön haben wird beim lieben Gott. Alles sträubt sich in mir, mich mit derartigen Dingen zu beschäftigen, am wenigsten will ich meinem Kind einreden müssen, dass es sich auf einen Gott freuen soll. Aber hoffentlich, hoffentlich ist eine 80%ige Chance genug für uns und wir kommen nie in die Lage, uns auf diese Eventualitäten vorbereiten zu müssen.

    Innsbruck

    Katharina wird untersucht.

    Eine Thrombozyteninfusion wird gebracht. Sie ist orangegelb und wirkt nicht einmal flüssig, muss es aber sein, wenn sie in ihre Adern rinnen soll. Ich nehme alles wie in Trance wahr, hinterfrage nichts, lasse geschehen, bin froh, dass sich jemand um mein Kind kümmert, kann nicht klar denken.

    Michael ruft an, er ist jetzt losgefahren. Als er und die Kinder zu meiner Mutter nach Hause kamen, aßen sie zu Mittag und dann feierten sie Annas Geburtstag. Niemand hatte Spaß. Die Tortencreme, die ich in der Früh schnell vorbereitet habe, bevor wir ins Krankenhaus fuhren, blieb flüssig. Auch das noch, denke ich, zu allem, was heute passiert ist, konnte ich meiner Tochter nicht einmal eine richtige Torte bieten, nur einen Tortenboden, der von der Schokoladenmilch (anstatt intendierter Mousse) langsam matschig wird.

    Ich mache mir Sorgen, ob Michael überhaupt in der Lage sein wird, die weite Fahrt mit dem Auto zu überstehen. Er erkundigt sich, was hier geschieht. Als ich es ihm erzähle, beginnt er zu weinen. Ich habe ihn noch nie weinen gehört, nicht einmal als seine Oma starb. Oder er zeigte es mir damals nicht.

    Die Stunden, bis Michael kommt, werden mir lang. In meinem Magen bildet sich ein Knoten, ich kauere mich zu Katharina ins Bett, halte ihre Hand, starre an die Decke, versuche an nichts zu denken. Was könnte ich auch jetzt schon denken, an so einem Tag? Trotzdem gelingt es nicht. Ich sehe meine enttäuschte ältere Tochter vor mir, ich sehe wie Michael von der Straße abkommt und verunglückt, ich sehe, wie ich das alles nicht schaffe, weil ich doch bisher schon nicht so gut mit Druck fertig geworden bin. Ich schäme mich für meine Gedanken, aber ich habe solche Angst.

    Endlich kommt Michael, ich bin so erleichtert, mir wird wieder ein bisschen übel. Ich springe aus dem Bett und umarme ihn, klammere mich an ihn. Er klammert sich an mich. Ich spüre seine Wärme, seine Kraft, seine Verzweiflung, seine Erschöpfung. Er vergräbt sein Gesicht in meiner Schulter, als könnte er sich vor der Realität verstecken.

    Ich habe das Gefühl, ich selbst bin ein Stück Treibholz, das von der Strömung mitgerissen wurde und nun endlich aufhört zu taumeln. Ich möchte immer so bleiben, es fühlt sich an, als könnte alles wieder gut werden. Diese Illusion versuchen wir, so lange es geht, zu erhalten.

    Es geht aber nicht lange. Katharina möchte ihren Papa auch umarmen. Ich packe in der Zwischenzeit die Tasche aus, die meine Mutter für uns gepackt hat. Sonst ist meine Mutter immer so ordentlich und organisiert. Zumindest eine Reisetasche mit den nötigsten Dingen könnte

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