Luft holen: Briefe in Zeiten von Corona
Von Gabriele Freytag
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Über dieses E-Book
Sie erzählt von Abenteuern vor der Haustür (mitten im Wald), Zweifeln und Lösungen und dem freiwilligen Rückzug mit ihrer Freundin. Ihr Blick richtet sich immer wieder nach Italien, wo Freundinnen mit dem dortigen Pandemiemanagement und dem harten Lock-Down eine schwere Zeit erleben. Ihre Informationen von dort sind spannend und gehen über das, was üblicherweise in Deutschland ankommt, hinaus. Wie auch in ihren vorherigen Publikationen, verbindet Dr. Gabriele Freytag Psychologie mit Politik. Ihre Erzählweise inspiriert zum Durchdringen eigener Positionen und ermöglicht den LeserInnen eine Vertiefung ihrer Erfahrung.
Gerade jetzt, so Freytags Anliegen, lohnt sich ein Blick zurück auf die "Coronazeit", um für die Zukunft zu begreifen.
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Buchvorschau
Luft holen - Gabriele Freytag
Betreff: täglich Post?
Liebe Alle,
Vor vier Wochen war ich noch in Lissabon am Tejo, Ihr seht mich oben vor der berühmten Brücke. Die Reise kommt mir jetzt vor wie eine rare und exquisite Köstlichkeit.
Durch meine engen Verbindungen nach Italien fühle ich mich grade der Entwicklung hier ein Stück voraus. Was auch dazu geführt hat, dass Sigrid und ich seit einigen Tagen bereits im Rückzug leben, wir nennen es Retreat.
In unserer Lebenssituation – sie in Rente, ich mit viel Schreiben und einer Praxis im Haus mit nur wenigen Patientinnen – ist das gut machbar.
Mich überkommt ein starkes Bedürfnis über die äußere und innere Lage zu schreiben. Vielleicht auszutauschen? Sehe eine Gruppe vor mir, die häufig kurze oder längere Texte per Mail bekommt.
Ich hänge mal meine ersten beiden Coronabriefe an. Weitere verschicke ich dann nur nach Aufforderung.
Würde mich sehr freuen Dich zu den AbonnentInnen zu zählen – und Auskunft über Dein Befinden zu erhalten.
Ganz herzlich und mit allerbesten Wünschen aus dem Retreat Gabriele
ZEITSCHLEIFE
16.3.2020
Heute hat es angefangen. Im Halbschlaf warte ich am Morgen das Rattern eines vorbeifahrenden Traktors zu hören oder die fürchterlichen Motorsägen aus dem Wald, wobei ich seit Tagen hoffe, für letztere wäre die Saison endlich vorbei. Als es dann ruhig bleibt bin ich verstört. Normalerweise ist mir Stille am liebsten – wenn andere sich nicht bemerkbar machen umso besser. Doch an diesem Montag soll die Woche unbedingt krachend losgehen, soll es möglichst geräuschvoll weiterlaufen und wir nicht feststecken, als würde von nun an das Wochenende täglich wiederkehren wie in einer Zeitschleife.
Man hatte es uns am Vorabend bei Anne Will noch einmal erklärt: Die große Hoffnung ist jetzt, durch einen partiellen Lock-Down die Kurve flach zu halten. Sigrid und ich waren erleichtert, dass wir in der Sendung nichts Neues erfuhren, uns also trotz physischer Isolation auf der Höhe der Zeit befanden. Im Gegensatz zu sonst blieben wir nach dem Tatort noch vor dem Bildschirm sitzen. Eine Teilnahme am sonntäglichen Talk-Show-Ritual schien uns geeignet, unsere aufgewühlten Gemüter zu beruhigen. Die Politiker (es waren nur Männer) kamen uns überraschend sympathisch vor. Bei der Intensivmedizinerin der Charité ging uns sofort das Herz auf: so engagiert und klug, ihr wollte man sich gerne anvertrauen. Wir suchten nach Zeichen. Alle Gäste wirkten müde auf uns, Gesichter und Augen machten einen traurigen Eindruck. Sie taten, das sah man doch, unter großer Belastung ihre Arbeit, versicherten wir uns. Der Finanzminister allerdings hustete oft und fasste sich noch öfter ins Gesicht. Man kam nicht umhin zu befürchten er könne demnächst erkranken.
Seit über fünfzehn Jahren genieße ich die Vorteile von zwei Wohnsitzen, zwei Häusern, zwei Freundeskreisen, zwei Landschaften und zwei Sprachen. In den letzten Wochen war mir, als trüge ich auch die Belastungen von zwei Ländern. Die Not Italiens geht mir nahe. Wenn ich auf twitter und facebook Fotos von unzureichend versorgten PatientInnen auf Krankenhausfluren, überfordertem medizinischen Personal und verzweifelten Angehörigen sehe hoffe ich immer noch, dass es so schlimm wie es wirkt nicht ist. In unserem auf Sicherheit und Risikoreduktion ausgerichteten westeuropäischen Denken sind solche Bilder nicht vorgesehen.
Seit einer Woche befinden sich die ItalienerInnen im Lock-Down. Die drastischen Ausgangsbeschränkungen wurden verordnet, weil man damit jetzt hofft, die rasante Ausbreitung des Virus und den Kollaps der Krankenhäuser noch eindämmen zu können. In Mails und am Telefon wähle ich sorgfältig meine Worte. Ich möchte meinen italienischen FreundInnen beistehen und ihren Schmerz teilen („Mi dispiace cosi tanto). Ich möchte Hoffnung vermitteln, allerdings nicht zu platt („Wird schon
). Und auf keinen Fall will ich den Eindruck erwecken, dass in Deutschland alles besser bewältigt wird. Doch unweigerlich wird mir irgendwann die Frage gestellt „Und wie läuft es bei euch?. Dann antworte ich schlingernd zwischen „Wir sind besorgt
und „Noch ist nicht viel zu merken" und fühle mich wie ein geretteter Passagier auf sicherem Grund, während andere Schiffbrüchige gegen die Wellen kämpfen. Auch sie werden, so beruhige ich mich, das rettende Ufer erreichen.
Sigrid und ich tauschen seit drei Tagen nur noch Viren untereinander aus. Gegen die Angst vor Ansteckung scheint uns das am besten. Sigrid war am Nachmittag noch ein letztes Mal auf dem Markt im Dorf gewesen. Die Menschen standen dicht wie immer in den Schlangen vor den Verkaufsständen. Am Morgen hatten wir noch eine Freundin zum Frühstück besucht. Das, so hatten wir beschlossen, waren unsere letzten Ausgänge. Ab jetzt würden wir die Biokiste aufstocken, unsere Vorräte aufbrauchen und Aktivitäten auf den Nahbereich beschränken.
Glücklicherweise leben wir in einem Naturschutzgebiet mitten im Wald mit dem See vor der Haustür und puzzeln beide gern alleine vor uns hin. Die ersten Knospen zeigen sich an den Bäumen, der Frühling, so versichern wir uns, wird den Gemütern helfen mit seiner verschwenderischen Fülle.
Auf dem beschaulichen Gut mit seinen ungefähr vierzig Bewohnerinnen sind die Bedingungen für Rückzug ideal. Wenn man sich zufällig trifft, was gar nicht selten geschieht, dann draußen auf dem Hof. Und da kann man sich nach wie vor sicher auf Distanz unterhalten. Mit Birgit, meiner Freundin und Nachbarin auf der Etage, war ich bereits dazu übergegangen, dass sie bei Gesprächen in ihrer Wohnungstür steht und ich drei Meter entfernt am Treppengeländer lehne.
In Birgits Schule war vor nicht einmal zwei Wochen der erste Corona-Fall im Landkreis bemerkt worden. Ein Kollege hatte das Virus auf nie geklärtem Wege mitgebracht und inzwischen andere Menschen in zweistelliger Zahl infiziert. Überraschenderweise war das Gymnasium nicht geschlossen worden. Das Gesundheitsamt erklärte, ein Infizierter begänne erst in den letzten beiden Tagen vor dem Ausbruch von Symptomen anstekkend zu werden. Da der Kollege die Symptome am Montag bemerkt hatte und am Freitagmorgen zum letzten Mal in der Schule gewesen war, konzentrierte man sich nur auf die Menschen, die er am Wochenende privat getroffen hatte. Sie alle wurden vom Gesundheitsamt kontaktiert, mussten in Quarantäne und werden bei Beschwerden getestet.
Weder Birgit noch ich noch sonst jemand, den wir kannten, hatten je von dieser Theorie gehört, auch im Netz fand man sie nicht. Doch alle Ansteckungen passierten wie vorausgesagt im Privatleben. Auf diesem Wege war auch M., eine enge Kollegin von Birgit, in Quarantäne geschickt worden. Wenn sie positiv getestet worden wäre, hätte Birgit zwei Wochen in ihrer Wohnung bleiben müssen. Ich versorge dich dann, beeilte ich mich zu sagen. Zwei Tage später fand ich einen Zettel vor der Tür „M. ist negativ". Die Umsicht des Gesundheitsamtes wirkte beruhigend auf uns. Mir wurde klar, dass meine übliche Skepsis gegenüber dem schulmedizinisch orientierten Gesundheitswesen gerade Platz machte für Respekt und Vertrauen. Darüber war ich heilfroh. Alle mit denen ich sprach hatten den Eindruck, die Behörden reagierten prompt und behielten Infektionsketten gut im Blick. Allerdings wissen wir auch, dass die Dunkelziffer hoch ist und nur ein Bruchteil der Infizierten, nämlich die mit Symptomen, die sich zudem auch noch melden, getestet wird. Viele Menschen haben begonnen – meist mithilfe bunter Grafiken und Kurven – zu begreifen, was exponentielles Wachstum im Gegensatz zu linearem bedeutet.
Heute, zwei Wochen nach dem ersten Coronafall in unserer Nähe, sind bereits alle Schulen geschlossen, dazu Theater, Museen, Bibliotheken, Klubs und Grenzen. In Hamburg wurden auch private Zusammenkünfte von über 50 Menschen untersagt und von Treffen mit geringerer TeilnehmerInnenzahl wird abgeraten. Offensichtlich ist eine Verfolgung der Infektionsketten inzwischen nicht mehr ausreichend oder gar nicht mehr möglich. Social Distancing wurde zur besten Reaktion auf die Lage erklärt, flatten the curve ist jetzt unsere große Hoffnung.
NOTEN VERGESSEN
17.3.2020
Heute morgen schien die Sonne und im See läuft nach dem langen Winter endlich wieder das Wasser ein. Ihr wisst ja, er wird wegen der Karpfen im Spätherbst immer abgelassen. Gleich beim Aufstehen stelle ich mich vor mein geöffnetes Schlafzimmerfenster, eingewickelt in eine Decke, atme tief durch und lasse einige Minuten die Schönheit von Himmel, Wasser und Wald auf mich wirken.
Ich wollte das schon lange machen. Jetzt habe ich das Gefühl, erstens genügend Zeit zu haben (die ich selbstverständlich vorher auch hatte) und zweitens alles was möglich ist tun zu müssen für meine psychische und physische Stärkung. Wer weiß, sage ich mir, wie lange die Puste reichen muss, lieber Vorräte anlegen.
Viele Leute antworten zur Zeit auf die Frage wie es ihnen geht mit „Noch gut". Darin steckt wie auch in meinen morgendlichen Atemübungen der Gedanke, dass wir uns auf eine lange Zeit unter Einschränkungen und womöglich mit Krankheit einstellen müssen. Noch ist schwer vorstellbar, dass zwei Drittel der Bevölkerung infiziert sein werden – wie die Kanzlerin neulich verkündete. Noch glaube ich wie wahrscheinlich die meisten, dass es ganz so schlimm nicht werden wird. Doch auch wenn es weniger schlimm ausfällt, wäre das noch heftig genug.
Es ist seltsam. Man lebt in einer von der Ausbreitung des Virus noch relativ unberührten Gegenwart. Persönlich kenne ich niemanden, der oder die wissentlich infiziert ist, ich kenne aber Menschen, in deren Familie es Infizierte gibt – mit denen sie in den letzten Wochen glücklicherweise nicht in engem Kontakt standen. Von Toten im nahen oder weiteren Umfeld habe ich noch nichts gehört. Allerdings beschleicht mich eine Spur Angst, wenn ich an mein bereits mehrmals aufgeschobenes Telefonat mit Maria denke. Ich befürchte zu erfahren, dass in meiner zweiten Heimat Piobbico, einer Gemeinde mit zweitausend EinwohnerInnen in den Bergen der Provinz Pesaro/Urbino, seit Wochen rote Zone, inzwischen Menschen an der Infektion gestorben sind, möglicherweise Menschen die ich kenne. Von meinem Freund Claudio, der fünfzig Kilometer entfernt an der Küste wohnt, habe ich genau das bereits gehört: Zwei seiner Freunde haben den Aufenthalt auf der Intensivstation nicht überlebt, einer kämpft um sein Leben.
Wir in Deutschland erleben die Gegenwart, in der als fühlbare Veränderung das öffentliche Leben und die meisten privaten Treffen fehlen, mit dem Wissen, dass gerade etwas unvergleichlich Schlimmes auf uns zurollt. Es ist als nähere sich ein Zug, den man nicht mehr aufhalten kann, und wir stehen wie festgeklebt auf den Schienen.
Man könnte jetzt einwenden, gerne religiös/philosophisch unterfüttert, dass der Zug unseres Todes sich in jedem Moment des Lebens unaufhaltsam nähert. Im Moment mag ich die Rede vom höheren Sinn aber nicht hören; Pandemie als Schule des Lebens und Sterbens finde ich grade zynisch. Mir ist unwohl beim Versuch, die Coronakrise ideologisch aufzuwerten als Chance zur Läuterung. Wovon ich hingegen viel halte ist: das Beste aus der Situation zu machen, für sich und andere. Doch was ist das Beste? Viele Menschen bevorzugen die Verdrängung. Und für die allseitige Beliebtheit der Verdrängung lege ich als Psychotherapeutin meine Hand ins Feuer.
In der Bedrohung durch ein klitzekleines Virus sind wir aufgefordert, zumindest partiell nicht zu verdrängen, denn sonst würden wir die neuen lebensrettenden Regeln nicht einsehen. Wegen der Beliebtheit der Verdrängung wäre es auch keinen Tag früher möglich gewesen, die Theater zu schließen und Fußballspiele vor leeren Stadien abzuhalten. Die Menschen hätten es nicht akzeptiert. Geschickt fand ich, wie uns der Entscheidungsprozess über die Schulen überdeutlich als schwierig dargestellt wurde. Denn erst Schulschließung bedeutete – mehr noch als leere Stadien und Konzerthäuser –, dass es nun richtig ernst wurde.
Mit der Verdrängung ist es kompliziert. Ein gewisses Maß davon hilft beim guten Schlaf, um auch mal alle Fünfe grade sein zu lassen und für Momente leicht und locker zu werden. Erinnert Ihr Euch an die Augenblicke in den letzten Tagen und Wochen, in denen das Leben so schien wie immer? Die kleinen Auszeiten ohne das Gefühl der Bedrohung sind vermutlich gerade selten und kostbar. Bei mir ereignen sich Momente der Selbstvergessenheit wenn ich mich auf die Natur einlasse. Aber auch beim Essen und Trinken, an einem schön gedeckten Tisch mit etwas Feinem vor mir und in guter Gesellschaft fühle ich mich herrlich unbeschwert, gerne, Ihr kennt mich, mit einem guten Wein. Da fällt mir auf: Ich muss mit Sigrid vereinbaren, dass wir am Esstisch nicht über Corona sprechen.
Außerdem sehe ich gerade gerne Krimis. Es kommt mir vor, als würden sie mich entspannen, obwohl, einer tieferen psychologischen Sondierung hält dieser Effekt nicht stand, denn letztlich lenken sie nur ab. Zumindest bin ich eineinhalb Stunden von etwas ganz anderem gepackt und durchgeschüttelt. Mit Corona habe ich mir sofort den großen Fernsehfreifahrtschein ausgestellt. Normalerweise beschränke ich mich auf ein Mal die Woche, sonntags Tatort oder Polizeiruf reichte bisher.
Zu unserem Glück beschenkt uns die Natur großzügig – nicht nur morgens vor dem Schlafzimmerfenster. Wenn ich auf Vögel lausche, einen Baum umarme oder die sich gerade wieder intensivierenden Düfte erschnuppere geht’s mir prima. Aber auch da: Lieber nicht ständig mit Sigrid auf dem Spaziergang über die Coronalage reden oder alleine darüber nachdenken. Vielleicht am besten dosieren? Hinweg ja, Rückweg nein?
Sobald ich mit Kindern spiele konnte ich immer wunderbar abschalten. Doch mich mit den drei hier lebenden Kleinen zu treffen verbietet sich leider gerade. Physische Distanz bei unseren üblichen quirligen Unternehmungen wäre unmöglich. Sobald sich die Gelegenheit ergibt werde ich erklären, warum wir jetzt nicht näher zusammenkommen dürfen. Vielleicht begreifen sie ja, dass ich ihnen auch aus der Distanz nahe bin, das wäre schön – aber unwahrscheinlich.
Klavierspielen wollte ich wieder anfangen, gute Gelegenheit, steht schon ewig auf dem Zettel. Offensichtlich habe ich jedoch so lange pausiert, dass ich die Noten teilweise nicht mehr lesen konnte. Bei Satie sind sie aber auch besonders schwierig, tröste ich mich. Bisher hatte ich mich auch nach längerer Unterbrechung einfach auf den Hocker gesetzt und los gespielt, erst holprig, dann allmählich besser. Webrecherche hat geholfen. Die Noten sind mir wieder klar. Gespielt habe ich noch nicht. Fragt ruhig nach. Aber nicht so bald.
Lesen könnten wir jetzt alle ganz ausgiebig. Theoretisch. Gestern habe ich „Die Winterbienen" recht zügig, man könnte sagen hektisch, quergelesen. Ein tolles Buch, ich schob meine Aufmerksamkeitsdefizite darauf, dass es für mich nicht ganz das richtige war, vielleicht zu sehr Männerbuch – habe es ja auch für einen Nachbarn zum Geburtstag gekauft. In der Regel lese ich das zu verschenkende Buch vorher