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Das Haus am Hain
Das Haus am Hain
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eBook519 Seiten6 Stunden

Das Haus am Hain

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Über dieses E-Book

Yannis, erfolgreicher Anwalt aus Athen, wird nach Jahren unerwartet auf den Olivenhof seines Onkels nach Kreta gerufen. Dort beginnen ihn nicht nur Erinnerungen an seine Kindheit einzuholen, er erfährt auch Familiengeheimnisse, die ihm bisher verborgen waren. Während Yannis mit seiner Vergangenheit und der Zukunft kämpft, tritt Clara in sein Leben. Yannis und Clara stehen schon bald vor wichtigen Entscheidungen, die ihrer beider Leben für immer verändern. Doch auf dem Weg zum Glück liegen Trauer, Abschied und
ein Verbrechen…

Ein Roman, so schön und wild wie die Landschaft Kretas und so überwältigend wie die Liebe.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum29. Apr. 2021
ISBN9783734550829
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    Buchvorschau

    Das Haus am Hain - Anja Abdelkader

    1

    Der alte Mann trat langsam aus dem Haus, legte seine schwielige Hand über die Augen und betrachtete die Sonne. Sie stand halbhoch am Himmel, dessen klares Blau keiner einzigen Wolke Platz machen mochte.

    Es war ein milder Morgen, spätsommerlich beinahe, wenngleich der Herbst sich bereits großzügig über den weiten Hängen unterhalb der karstigen Felsen ausgebreitet hatte. Die Hügel glänzten goldbraun, durchbrochen vom Grün einzelner, jeglicher Witterung trotzender Feigenkakteen, die über die mittelhohen Sträucher hinüberwuchsen, so als wollten sie diesen ihren Platz abspenstig machen. Im Sommer trugen die robusten Kakteen herrlich süß-saftige Feigen. Die grünen Blätter der knorrigen Bäume wiegten sich im leichten Wind und dem Alten trat der allzu vertraute Geruch in die Nase. Der Duft nachtfeuchter Erde, die die Sonne noch nicht getrocknet hatte und das würzige Aroma des alten Holzes der Bäume.

    Er atmete schwer und ließ sich auf die Bank neben der Haustür sinken. Er presste eine Hand an die Brust, lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. So verharrte er bis ihm das Atmen wieder leichter wurde, hob dann vorsichtig den Kopf, und öffnete langsam die Augen.

    Die wilde Natur direkt vor sich, dieses reiche Land, dessen stolzer Besitzer er war, das Land seiner Väter, soviel Arbeit und Entbehrung es ihn auch immer wieder gekostet hatte, dieses Land war und blieb sein ganzes Glück. Das Dorf, in dem er geboren und aufgewachsen war, sein Haus und die angrenzenden Felder, nichts erfüllte ihn mehr als all das, dessen Weite seine Augen kaum erblicken konnten.

    Allmählich kehrte die Kraft in seinen Körper zurück. Er hatte wieder einmal schlecht geschlafen, wie so oft in letzter Zeit, war ängstlich, nach Luft ringend aufgewacht, um erneut in unruhigen Schlaf zu fallen.

    «Dimitrios, alter Mann», sagte er nun beinahe tadelnd zu sich selbst, «vielleicht solltest du doch am Abend weniger Wein trinken.» Er schüttelte den Kopf, so als wollte er den törichten Gedanken aus seinem Kopf vertreiben. Nun sprach er schon wie Doktor Ioannou, der ihn bereits des Öfteren mit gestrengem Blick darauf hingewiesen hatte, dass Rotwein zwar bekanntlich dem Herzen zuträglich, jedoch bei täglichem, übermäßigem Verzehr selbigem auch Schaden zufügen könnte.

    Dimitrios räusperte sich umständlich und erhob sich langsam von seinem Platz. Mit wackligen Schritten lief er zurück ins Haus, um sich einen starken Kaffee zu machen. Danach würde es ihm besser gehen, so war es immer. Es wartete viel Arbeit auf ihn, so wie jeden Tag, er konnte es sich nicht erlauben zu kränkeln oder schwach zu sein. Schon in wenigen Wochen stand die Olivenernte an, die Bäume mussten vorbereitet, die Netze für die herabfallenden Früchte ausgelegt werden.

    Er goss das kochende Wasser in die Tasse. Sofort strömte der köstliche Duft frischen Kaffees ihm in die Nase, genüsslich sog er ihn ein. Sofort empfand er eine wohlige Wärme in den Gliedern. Immer wieder erstaunte ihn, wie Gerüche ihm im Bruchteil einer Sekunde Wohlgefallen und das Gefühl von Heimat vermitteln konnten. Der frische, heiße Kaffee gab Dimitrios das Gefühl von Geborgenheit und Zuhause, so wie die Natur vor seiner Tür, die nach Wildheit und Leben roch.

    Er trank einen großen Schluck Kaffee und spürte, wie seine Lebensgeister wiederkehrten. Wenngleich er nicht hungrig war, aß er einige Happen Käse und Oliven. Er lächelte zufrieden, als er die Früchte langsam zerkaute. Die Ernte des letzten Jahres war außergewöhnlich gut gewesen, der Geschmack der grünen Früchte voll und aromatisch. Die Sonne hatte es gut gemeint und die Oliven zärtlich geküsst. Sie schmeckten wunderbar, nicht nur ihm selbst. Die Tavernen und kleineren Restaurants in der Umgebung, die er belieferte, lobten stets Geschmack und Qualität. Er hatte dank der reichen Ernte nicht nur die Gasthöfe versorgen und die Ölmühlen bedienen, sondern auch einige neue Kunden gewinnen können. Zwei Lebensmittelläden in den Dörfern in der Nähe hatten angefragt, denn der Ruf seiner Oliven war ihm vorausgeeilt.

    Dimitrios hoffte auch in diesem Jahr auf eine ebenso reiche Ernte. Das Wetter war genau richtig gewesen, um gute Früchte reifen zu lassen. Schon bald würden die Helfer, die Jahr für Jahr kamen, zur frühen Morgenstunde in die Olivenhaine ausschwärmen, wie Bienen zu den Blüten, um die vollen Bäume abzuernten, so wie es seit Jahrzehnten immer schon geschah. Er freute sich auf die kommenden Wochen der Ernte, wenn seiner Hände Arbeit Ertrag brachte und sein Land lebendig wurde, bevölkert von den Arbeitern, deren Stimmen sich mit den raschelnden Blättern im Wind mischten.

    Die Saisonkräfte kamen aus umliegenden Orten, aber auch von anderen Inseln, dem Festland, ja es kamen sogar einige junge Menschen aus Nachbarländern, um bei ihm zu arbeiten. Viele von ihnen hatten die heißen Sommermonate an der Küste verbracht und waren nun erholt, um den kühleren Herbst willkommen zu heißen und die Ernte einzubringen. Sie kamen hinauf in die Hügel und brachten Dimitrios einen Hauch des Sommers am Meer mit. Sie lachten und schwatzten stets fröhlich, versprühten Jugend und Leichtigkeit, so dass auch Dimitrios sich nach den heißen Sommermonaten leichter und lebendiger fühlte. Dennoch quälte ihn tief in seinem Inneren eine starke Beklemmung.

    So sehr er die Lebendigkeit der starken Männer und Frauen erwartete, so sehr wurde er sich seiner eigenen Schwäche bewusst. Schleichend hatte das Alter, seinen Leib für sich eingenommen.

    Zuerst kamen die Schmerzen in den Händen, dann trübten sich die Augen mehr und mehr, in diesem Jahr war es die Atemnot, die ihn immer wieder quälte. Er fürchtete sich vor Gebrechlichkeit und dass sein Körper ihm irgendwann nicht mehr zu Diensten sein würde. Ihm war bang zumute, wenn er an die nähere Zukunft dachte. Wie lange noch würde er sein Land bestellen können? Wie viele wertvolle Jahre würde ihm das Leben noch gestatten? Und wenn er selbst nicht mehr in der Lage wäre, sein Land zu erhalten, wer würde es dann tun?

    Die Gedanken, die er immer versuchte, nicht zuzulassen, überkamen ihn in letzter Zeit immer öfter. Wenn er zu grübeln begann, hatte er immer Zerstreuung gesucht, hatte sich dem Tagwerk gewidmet, dass so viele Aufgaben bereithielt. Doch immer seltener schaffte er es, die trüben Gedanken an die Zukunft, an Krankheit und Gebrechlichkeit zu vertreiben. Sie hielten ihn fest im Griff und es fiel ihm immer schwerer, sie abzuschütteln. Seufzend erhob er sich. Er klapperte lauter als nötig mit dem Geschirr, so als könne er mit Tätigkeit und Geräuschen seine trüben Gedanken vertreiben.

    «Was nützt es sich Sorgen zu machen?», sprach er erneut zu sich selbst und stellte die Kaffeetasse lauter als nötig in das Spülbecken. Gleich würde Alexis hier sein. Vieles gab es zu besprechen und zu planen. Als er sich umdrehte, schwankte er, ihm wurde schwindlig und nur mit Mühe konnte er noch die Tischkante greifen. Dimitrios öffnete hastig den obersten Knopf seines Hemdes, atmete heftig und schnell, bekam jedoch kaum Luft. ´Nicht jetzt, nur nicht jetzt`, hämmerte es in seinem Kopf, doch er rang weiterhin nach Luft. Gerade, als ihn Panik ergreifen wollte, war der Anfall vorüber, so plötzlich, wie er gekommen war. Dimitrios blieb kurz stehen, den Tisch fest im Griff, dann lief er vorsichtig nach draußen. Wieder musste er sich am Türrahmen abstützen. Er fühlte sich schwach und benommen, seine Beine schienen entsetzlich schwer, so als könne er sich keinen Zentimeter mehr bewegen. Seine Brust schmerzte, Schweiß trat ihm auf die Stirn. Ihm schwindelte, er krallte sich noch fester am Türstock fest. Sein Blick fiel erneut über die weitläufigen Wiesen voller Olivenbäume, er atmete schwer ein, das Stechen in der Brust wurde stärker, dann wurde ihm schwarz vor Augen…

    Alexis betrat den Hof durch das kleine Gartentor hinter dem Haus. Er hatte sich schon früh auf den Weg gemacht, denn kurz vor der Olivenernte gab es viel zu tun. Die Bäume mussten begutachtet, die Netze ausgelegt werden. Bald würden die Erntehelfer kommen, die untergebracht werden mussten. Katerina würde ihre Köstlichkeiten servieren, um die hungrigen Arbeiter zu verköstigen. Dimitrios wartete wie in jedem Jahr beinahe sehnsüchtig auf die Ernte seiner Oliven und steckte auch ihn mit seiner Nervosität an. Doch es würde eine ähnlich gute Ernte werden, wie im vergangenen Jahr, dessen war sich Alexis sicher. Er musste schmunzeln, wie ihm sein Chef, der alte, hin und wieder etwas sonderbare, zuweilen mürrische, aber gutherzige Mann vorrechnete, wie viele Zentner der begehrten Früchte sie wohl dieses Mal würden ernten können. Dimitrios war dann aufgeregt, voller Vorfreude und seine Augen leuchteten voller leidenschaftlicher Begeisterung für seine Arbeit und die Erträge, die er Jahr um Jahr einbrachte.

    Alexis, der einst ebenfalls als Erntehelfer begonnen hatte, war dem alten Dimitrios schnell ans Herz gewachsen, der die gründliche und sorgfältige Arbeit des jungen Mannes sehr schätzte. Überdies verfügte Alexis auch über solide Kenntnisse in Finanzen und Marketing. Schon bald hatte Dimitrios den jungen Mann gefragt, ob er fest auf seinem Hof arbeiten wollte, nicht nur während der Saison. Da Alexis den alten Mann mochte und die Arbeit in der Natur auf den Olivenhainen liebte, musste er nicht lange überlegen und nahm das Angebot an.

    Er hatte erst vor kurzer Zeit mit seiner Frau Katerina das Haus oberhalb von Dimitrios‘ Hof erworben und beide freuten sich über die unerwartete gute Anstellung. Später, als Dimitrios von Katerinas Talent am Herd erfuhr, stellte er auch sie kurzerhand an, um die Saisonarbeiter, die im Herbst mehrere Wochen auf seinem Hof wohnten, zu verpflegen.

    Alexis und Katerina waren Dimitrios mehr als nur Angestellte. Sie halfen dem alten Mann bei der ein oder anderen Arbeit an Haus und Hof oder fuhren ins Dorf, um für ihn einzukaufen. Anfangs hatte Dimitrios die Beiden nur gelegentlich um Besorgungen oder schwerere Arbeiten am Haus gebeten. Doch inzwischen hatte Alexis das Gefühl, der alte Mann, der immer unumstößlich und stark schien, brauchte immer häufiger ihre Hilfe, auch bei alltäglichen Dingen, die ihm noch vor einiger Zeit ganz selbstverständlich selbst von der Hand gegangen waren.

    Alexis spürte, dass Dimitrios' Kräfte nachließen. Doch dieser würde sich das niemals eingestehen. Lieber versteckte er sich immer wieder hinter Ausflüchten oder wurde unwirsch und fuhr Alexis gereizt an, wenn dieser etwas anmerkte, dass dem alten Dickkopf nicht gefiel. Doch der alte Mann meinte es keineswegs böse, versuchte nur seine Schwäche und die Einsamkeit, die ihn auf seinem Hof in den kretischen Hügeln umgab, zu verbergen. Alexis betrat soeben die Terrasse des zweistöckigen Hauses. Er sah die geöffnete Haustür, die Gardine am Küchenfenster, die durch einen leichten Wind bewegt wurde. Er verlangsamte den Schritt und wollte Dimitrios gerade begrüßen, den er im Türrahmen stehen sah. Plötzlich nahm er einen flüchtigen Schatten wahr, eine Bewegung nur.

    Dimitrios, der eben noch in der Tür gestanden hatte, hielt sich die Brust, strauchelte und brach vor Alexis' Augen zusammen.

    2

    Die Besprechung lief seit neun Uhr morgens. Yannis sah verstohlen auf die Uhr, inzwischen war es halb zwölf. Es ging um Zahlen, neue Projekte und deren Finanzierung, den kommenden Jahresabschluss.

    Die Sommerpause war vorbei, die letzten Monate des Jahres mussten noch gewinnbringend geplant, Klienten akquiriert werden. Der erste Geschäftsführer, Herr Galanis, der nicht nur in seiner Person, sondern auch als Mensch eine stattliche Erscheinung war, hochgewachsen und breitschultrig, sprach wie immer, wenn er besonders nachdrücklich wurde, mit dröhnender Stimme, laut und gestikulierend. Er sprach viel, ausschweifend und konnte sich in kleinsten Details verlieren. Auch in dieser Besprechung, der ersten nach dem Sommer, an der alle Mitarbeiter aus allen Bereichen der Kanzlei teilnahmen. «…So kann ich der eben erschienenen Statistik entnehmen, dass Greek Law' in den Quartalen eins und zwei einen Überschuss von 37,5% erwirtschaftet hat. Diese Bilanz ist insofern eine positive, da die Klienten…» Galanis begann erneut, detailversessen Zahlenreihen und Statistiken vorzutragen. Yannis‘ Gedanken schweiften ab. Er kannte den Fortgang einer solchen Konferenz. Alle Kollegen würden nun anmerken, welche Firmen in Athen und darüber hinaus sie jeweils betreuten, wie lukrativ die Gegenseite gewesen war und was es in den kommenden Monaten noch zu verbessern galt.

    Die ‚Greek Law Inc.‘ kümmerte sich um die juristischen Belange großer griechischer Konzerne wie Reedereien, Hotelketten oder Privatbanken. Sie war der Anwalt der Großen und Mächtigen.

    Yannis arbeitete seit fast drei Jahren für die größte Kanzlei des Landes. Er hatte sein Jurastudium summa cum laude abgeschlossen und war dann durch Europa gereist. Zurück in Athen hatte er das Stellenangebot der ‚Greek Law Inc.‘ gesehen. Eher halbherzig hatte er sich beworben, wollte er doch seit dem Studium lieber nah am Menschen arbeiten und nicht für Großkonzerne, die in Korruption, Umweltverschmutzung oder mafiöse Geschäfte verwickelt waren, den Karren aus dem Dreck ziehen. Doch etwas, von dem Yannis nicht einmal mehr sagen konnte, was es genau war, hatte ihn doch an dem Stellenangebot und dem damit verbundenen großen Ganzen gereizt. Karriereaussichten, ein Gehalt weit über dem Durchschnitt eines griechischen Mittelständlers, etwas davon oder alles zusammen… Er hatte nicht lange gezögert und die Stelle angetreten. Schon bald genoss er es doch, Teil dieses Mechanismus zu sein, Einfluss zu nehmen unter den ganz Mächtigen und Reichen. Sein Selbstbewusstsein wuchs mit dem Geld, das er verdiente.

    Er war ein gutaussehender Junggeselle Anfang 30 mit viel Charisma und Statussymbolen, was sich in den Kreisen, in denen er Dank seines Jobs verkehrte, schnell herumsprach.

    So war es auch nicht verwunderlich, dass es zahlreiche Frauen gab, die Yannis, dezent oder auch überdeutlich, für sich zu gewinnen suchten. So wurde aus dem bodenständigen jungen Mann, der er immer gewesen war, ein Lebemann, der, je länger er bei Greek Law arbeitete, mehr und mehr Skrupel, aber auch Bodenhaftung und Aufrichtigkeit verlor. Er genoss das Leben in vollen Zügen, die ein oder andere Affäre inbegriffen. Hin und wieder war eine Frau dabei, die länger blieb, doch etwas Festes hatte sich lange nicht ergeben und Yannis war auch nicht bereit, sein genussvolles Leben durch Heirat, Familie und Spießigkeit aufzugeben. Yannis lebte im Hier und Jetzt und spürte in der Gesellschaft, in der er verkehrte, anfangs nicht, dass all das weniger wert war, als er dachte. Irgendwann aber, er arbeitete bereits gut zwei Jahre in der Firma, beschlich ihn immer wieder und immer häufiger das Gefühl, allein zu sein. Es hatte keinen bestimmten Anlass dafür gegeben, keinen Grund, der ihn an seinem scheinbar so perfekten Leben hätte zweifeln lassen. Doch immer wieder ertappte sich Yannis dabei, wie sich tief in seinem Inneren leise Zweifel regten. Anfangs schaffte er es, diese Gefühle zu ignorieren, doch die Zweifel nahmen zu, wurden lauter und drangen aus seinem Innern hervor.

    Seine Affären, die teuren Partys, all das hinterließ jedes Mal, wenn er davon gekostet hatte, einen fahlen Beigeschmack. Gefühle, die er für die Frauen, die er mit nach Hause nahm, nie ernsthaft gehabt hatte, stumpften noch mehr ab. Am Morgen nach dem Sex mit einer schönen Frau passierte es immer öfter, dass er sich für seine Bettgeschichten selbst verachtete. Hatte er den Champagnerrausch ausgeschlafen, empfand er Leere. All das Vermögen, die Karrierechancen, sein teures Appartement erschienen ihm mit der Zeit unbedeutend und nutzlos. Sein Leben war wie eine Hülle, eine schöne Fassade, hinter der nichts war. Es fehlte ihm an Tiefe, an etwas Bedeutsamen, Bleibendem.

    Auch Delia, die Tochter zypriotischer Eltern, mit der er seit einigen Monaten zusammen war, länger als mit allen Frauen vor ihr, erfreute ihn, machte ihn jedoch nicht völlig glücklich.

    Es schien, als nahmen seine Empfindungen proportional ab, je reicher und angesehener er im Berufsleben wurde. Diese Entwicklung, in die völlig falsche Richtung, machte ihm, als er dieser Wahrheit ins Gesicht sehen musste, Angst. Das war nicht er, der früher so empathisch Menschen gegenüber gewesen war. Es machte ihm Angst, sich neuerdings selbst zu erleben, wie wenig er noch empfand und wie abgestumpft er geworden war, wie wenig ihm Zwischenmenschlichkeit inzwischen bedeutete.

    Um diese Gefühle zu ersticken, stürzte er sich noch mehr in die Arbeit, doch wenn er, was äußerst selten vorkam, am Abend doch einmal allein in seiner Wohnung saß, begann er zu grübeln und verspürte Einsamkeit. Er fragte sich immer öfter, ob der, den er täglich im Spiegel sah, noch immer der war, der er vor Greek Law Inc. gewesen war. Was war noch übrig von dem Yannis, der er einmal gewesen war? Was war geblieben von dem Mann, der etwas bewegen wollte im Leben, dem Geld und Ruhm noch vor wenigen Jahren so wenig bedeutet hatten? Wie tief war er menschlich gesunken, als er so rasant auf der Karriereleiter aufgestiegen war? Es schien ihm, er hatte verlernt, sich an Kleinigkeiten zu erfreuen. Noch vor wenigen Jahren war ihm das ohne Mühe gelungen. Er hatte an zwischenmenschlichen Beziehungen, Musik, einem guten Gespräch Freude und Zufriedenheit empfunden. Hatte ihm der oberflächliche Beruf diese Empfindung genommen?

    Und wenn er ehrlich zu sich selbst war: War er nicht früher zufriedener gewesen mit weniger Vermögen, aber mehr Empfindung für Menschen, die Natur und das Leben als solches?

    «…, dass die Aktiengesellschaft darauf baut, dass Greek Law die angeblichen Machenschaften vor Gericht widerlegen kann. Selbstverständlich würde das Budget bei Erfolg vor Gericht entsprechend erhöht werden.»

    Yannis hörte seinen Kollegen sprechen, der gerade die Ausführungen zu seinem letzten Klienten beendet hatte. Applaus brandete auf, Antonios, sichtlich mit seinem Bericht zufrieden, grinste süffisant, ein Auge auf Herrn Galanis geheftet. Yannis verdrehte verstohlen die Augen. Antonios war ein aalglatter, schmieriger Kerl, erfolgshungrig und für seine Karriere zu so ziemlich allem bereit. Plötzlich kam Yannis ein Gedanke, der ihn zutiefst erschreckte: war er selbst nicht ebenso versessen auf Ruhm, Geld und Erfolg, wie es ihm an seinem Kollegen so zuwider war?

    Wieder einmal bemerkte er, dass es in seinem Beruf nur um Profit ging, um das große Geld, die besten Möglichkeiten. An erster Stelle stand die Firma, die Priorität – so sagte es sein Chef wieder und wieder – müsse bei der Firma liegen, andere Dinge kamen erst viel später. Yannis fühlte sich unwohl, doch er versuchte, sich zusammen zu reißen. Auch er würde in wenigen Minuten etwas zu seinem letzten, erfolgreich abgeschlossenen Fall sagen müssen. Er begann wie nebenbei die Papiere vor sich zu sortieren, um etwas zu tun zu haben, um den Kollegen, die noch vor ihm sprechen würden, nicht genau zuhören zu müssen. Die Erkenntnis traf ihn eiskalt und lag ihm wie ein schwerer Stein im Magen: er war keinen Deut besser als Antonios.

    Kurz bevor er seinen Vortrag halten sollte, sah er durch die Glastür des Konferenzraums seine Sekretärin. Sie versuchte, seinen Blick aufzufangen, hob dann, als er sie ansah, die Hand mit gespreiztem Daumen und kleinem Finger zum Ohr und deutete an, dass ein Anrufer für ihn in der Leitung war. Yannis schüttelte den Kopf, er konnte die Besprechung jetzt unmöglich verlassen, doch Maria, die hübsche, rotblonde Frau ließ sich nicht abwimmeln, ihre Lippen bewegten sich mit ernster Miene: «Wichtig, jetzt!», konnte Yannis ablesen. Er versuchte, Maria zu ignorieren, doch sie winkte fortwährend mit der Hand, was bedeutete, er solle sofort und unverzüglich ans Telefon kommen. Sie wusste, dass während der Konferenz niemand für Belanglosigkeiten gestört werden sollte, darauf legte Galanis großen Wert. Doch wenn Maria so hartnäckig war, schien der Anruf dringend, zögerlich erhob er sich von seinem Stuhl.

    «Entschuldigen Sie mich», sagte er an Galanis gewandt, «es muss sehr dringend sein, ich muss kurz…» Er sprach den Satz nicht zu Ende, sondern verließ eilig das Konferenzzimmer, verfolgt von den Blicken einiger Anwesender.

    «Maria, was kann denn bitte so wichtig sein, dass Sie mich aus der Besprechung holen?» zischte Yannis die Sekretärin an, insgeheim jedoch erleichtert, der Enge des Konferenzraums entkommen zu sein. Die kleine Frau hatte die Augen weit aufgerissen und lief aufgeregt hinter Yannis her, der mit schnellen Schritten zu seinem Büro hinüberlief. Sie berichtete ihm schnell, wer dort am anderen Ende der Leitung wartete: «Da ist ein Alexis am Apparat», flüsterte sie, «er ruft aus Sitia an, Kreta. Er war ganz aufgeregt und hat sehr schnell gesprochen», fuhr Maria ebenfalls zügig fort, während sie noch immer hinter Yannis herlief. «Alexis?», sagte Yannis verwundert, «ich kenne keinen Alexis! Wer soll das sein und was will er?»

    Er hatte inzwischen sein Büro erreicht und wollte gerade den Hörer in die Hand nehmen, als Maria hinzufügte: «Es ist etwas passiert, mit Ihrem Onkel…». Schon war sie verschwunden und ließ Yannis mit seiner Verwunderung allein.

    Seine Gedanken überschlugen sich. Sein Onkel? Onkel Dimitrios? Der Bruder seines Vaters? Wer war Alexis und warum rief dieser ihn an, hier in Athen, hunderte Kilometer entfernt?

    Yannis griff nach dem Telefonhörer.

    «Papadakis», seine Stimme klang seltsam fremd.

    Ein kurzes Zögern, dann begann die Stimme am anderen Ende zu sprechen:

    «Hallo, guten Tag, Yannis, mein Name ist Alexis, ich arbeite auf dem Hof Ihres Onkels Dimitrios.»

    «Guten Tag, was kann ich für Sie tun?» Yannis‘ Stimme hatte diesen förmlichen Klang, den er für Gespräche mit Klienten angenommen hatte.

    «Entschuldigen Sie, dass ich Sie störe, aber Ihr Onkel… Er hatte gestern einen schweren Herzinfarkt. Ich habe ihn Gott sei Dank rechtzeitig gefunden.»

    Yannis zögerte kurz: «Das ist ja schrecklich, wie geht es ihm?» Er fühlte sich heuchlerisch. Wie lange hatte er seinen Onkel nicht mehr gesehen?

    Die Stimme von Alexis klang nun sicherer: «Er ist im Krankenhaus in Sitia. Es geht ihm den Umständen entsprechend, aber er ist sehr schwach.»

    «Das ist gut», sagte Yannis steif. «Sie waren wohl zur rechten Zeit am rechten Ort. Vielen Dank für Ihren Anruf. Wann wird mein Onkel wieder zu Hause sein? Ich würde mich dann erkundigen, wie es ihm geht.»

    Wieder zögerte Alexis. «Nun, genau weiß ich es nicht, aber er wird noch eine Zeit lang stationär bleiben müssen. Er bat mich, Sie zu benachrichtigen. Er sagte, er hätte sonst niemanden. Daher gab er mir Ihre Nummer und ich musste ihm versichern, Sie anzurufen.»

    Yannis starrte auf das dunkle Holz seines Schreibtisches. Wieder drehten sich seine Gedanken: Keine anderen Verwandten? Was redete er? Es gab doch…

    Seine Gedanken wurden von Alexis‘ Stimme unterbrochen: «Wann können Sie kommen?»

    Yannis sagte nichts, er wollte sich vergewissern, dass er sich nicht verhört hatte. Alexis deutete die Stille richtig. «Entschuldigen Sie, aber Dimitrios sagte, er wünscht, dass Sie kommen. Jemand muss sich um die Olivenernte kümmern. Ich habe ihm gesagt, dass ich da bin und alles organisieren kann, auch wenn die Erntehelfer kommen, aber er ließ nicht mit sich reden, er sagte immer wieder, Sie sollten kommen.»

    «Moment mal, …er hat was gesagt?» Yannis hatte die Stimme erhoben und schrie beinahe in den Hörer. «Ich soll zu ihm kommen? Warum ich? Wie stellt er sich das vor? Ich bin in Athen, ich arbeite und bin gerade in einer wichtigen Sitzung.»

    Er schüttelte den Kopf, fast wollte er dem jungen Mann am anderen Ende die Meinung sagen, doch etwas hielt ihn davon ab. Dieser Alexis konnte nichts dafür, er richtete vermutlich nur genau das aus, was der Onkel ihm aufgetragen hatte.

    Wieder ergriff Alexis das Wort. «Es tut mir leid, ich wollte Sie nicht überfallen, aber…», er suchte nach Worten, «…die Ärzte sagen, es steht nicht gut um ihn. Sein Herz ist schwach, er… »

    Yannis hörte, wie Alexis Stimme zitterte, «…vielleicht wäre es das letzte Mal, dass Sie ihn sehen. Es ist nicht nur um seinetwillen, es ist auch… das Land… sein Haus, Sie sind doch der einzige Verwandte.»

    Yannis traute seinen Ohren nicht. «Aber ich bin doch nicht der einzige Verwandte. Es ist doch… »

    Er beendete den Satz nicht, er konnte nicht aussprechen, was ihm in diesen Sekunden durch den Kopf ging. Er zögerte einen Moment, atmete deutlich hörbar aus, sprach dann weiter.

    «Gut, ich werde sehen, was ich machen kann. Ich bin hier sehr eingespannt, aber, ich versuche… Ich notiere mir Ihre Nummer und rufe zurück.» Er griff nach einem Stift und schrieb in schnellen Schwüngen die auf dem Display angezeigte Telefonnummer auf einen Zettel.

    «Richten Sie bitte meinem Onkel die besten Grüße aus und… » seine Stimme klang, als wäre es die eines anderen, als er weitersprach: «…ich werde da sein…, schon bald.»

    Alexis schien erleichtert. «Vielen Dank», hauchte er, «rufen Sie mich einfach an, wenn Sie ankommen, ich kann Sie abholen.»

    «Ich danke Ihnen», gab Yannis zurück, dann legte er auf.

    Das Gesicht in die Hände gestützt saß er da und dachte über das Gespräch nach.

    Onkel Dimitrios, der unerschütterliche, starke Mann, der er immer gewesen war. Die Erinnerungen an die Sommer seiner Kindheit kamen in ihm hoch, verblasst und lang, lang vergangen.

    Fast jedes Jahr war er mit den Eltern bei Dimitrios, dem Bruder seines Vaters gewesen. Seine Tante Elena, Dimitrios‘ Frau, war herzlich und liebevoll gewesen, hatte den kleinen Yanni, wie sie ihn zärtlich nannte, umsorgt und immer zum Essen ermutigt, er der so dünn und schmächtig gewesen war. Sie lebten im Osten Kretas auf dem Land der Eltern, Yannis‘ Großeltern, und bewirtschafteten den Hof. Schier unendlich waren dem kleinen Jungen, der er gewesen war, die Felder voller Olivenbäume erschienen. Dort war er herumgelaufen, hatte mit den wilden, zerzausten Nachbarskindern Verstecken gespielt und war mit ihnen auf die knorrigen Bäume geklettert.

    Es waren unbeschwerte Sommer voller Freiheit und kindlichem Glück gewesen. Irgendwann, so erinnerte er sich, starb Tante Elena und die Besuche bei Onkel Dimitrios endeten jäh, so als wäre das Ableben der Tante der Grund dafür gewesen. Sie waren irgendwann einfach nicht mehr dort gewesen.

    Alexis‘ Worte klangen ihm noch deutlich in den Ohren: Der einzige Verwandte.

    Yannis‘ Vater war vor langer Zeit verstorben, seine Mutter ihm vor wenigen Jahren gefolgt.

    Dimitrios war allein in dem kleinen Dorf, scheinbar nur unterstützt von dem jungen Alexis. Dennoch hielt Yannis sich selbst für den Falschen, um jetzt, nach so vielen Jahren, wieder bei Dimitrios aufzutauchen, so als würde es die jahrelange Trennung nicht geben. Es fühlte sich schlicht falsch an, dass er sich nun plötzlich kümmern sollte. Im Grunde wusste Yannis rein gar nichts über den Bruder seines Vaters. Er hatte ihn als jungen Mann in Erinnerung, doch das Bild in seinem Kopf war alt und verblasst. Es gab keinerlei Berührungspunkte zwischen ihnen. Sie waren Fremde nach all den vergangenen Jahren. Was hatte Dimitrios dazu bewegt, Yannis zu sich zu bitten? Warum ihn? Er fand keine Antwort, so sehr er auch darüber nachgrübelte. Yannis fühlte sich aufgewühlt und nervös.

    Er spürte, dass er Alexis nicht nur hatte vertrösten wollen, sondern dass er wirklich nach Kreta würde fliegen müssen. Ein Gefühl, den Onkel, den er so lange nicht gesehen hatte, besuchen zu müssen, ergriff ihn, ohne dass er einen Grund dafür hätte nennen können. Es war wie eine wiederentdeckte Sehnsucht nach seiner eigenen Vergangenheit, eine Verbindung zu seiner Familie zu einem Menschen, der ihn mit seinen verstorbenen Eltern verband. Bilder jagten durch seinen Kopf, die er nicht zu deuten wusste, doch er war plötzlich überzeugt davon, dass er mit seinem Onkel sprechen musste.

    Die Besprechung war inzwischen zu Ende gegangen, als Yannis zu Galanis trat. «Chef, es gibt ein Problem…», begann er. Galanis, gerade im Gespräch mit einer jungen Kollegin, sah kurz auf. «Welches Problem, Papadakis?», fragte er.

    «Eine Familienangelegenheit. Ich muss dringend nach Kreta, ein schwerer Krankheitsfall.»

    Nun schaute Galanis Yannis an und in seinem Blick lag Skepsis. «Aber was ist mit Ihren Klienten, Papadakis? Die können sicher nicht auf Sie verzichten. Denken Sie an den Fall Minos, der liegt Ihnen bereits vor, die Firma wünscht Sie als Vertreter vor Gericht.»

    Yannis hatte diese Reaktion erwartet. Galanis war nicht in der Lage Empathie für irgendetwas oder irgendwen außer der Arbeit zu empfinden.

    «Antonios könnte übernehmen. Er ist in den Fall involviert und kennt sich aus.»

    Galanis dachte einen kurzen Augenblick nach. Ihm gefiel die Idee, dem jungen, aufstrebenden Kollegen die Möglichkeit eines großen Falles zu bescheren.

    «Gut Papadakis, ich gebe Ihnen fünf Tage. Dann sind Sie wieder da. Vorher arbeiten Sie aber Antonios in den Fall ein.»

    Am Abend hatte Yannis das Nötigste gepackt, sein Flug ging am nächsten Morgen kurz vor zehn Uhr. Delia hatte er nur kurz gesehen, als sie gerade auf dem Weg zu einer ihrer vielen Freundinnen war.

    «Du hast einen Onkel auf Kreta?», fragte sie nur ungläubig, als Yannis ihr berichtete. Doch dann war das Thema für sie erledigt, sie wollte nichts weiter darüber wissen.

    «Gute Reise, wir sehen uns, wenn Du zurück bist, ich bleibe heute Nacht bei Penelope.»

    Sie gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange, dann war sie zur Tür hinaus.

    Yannis schlief schlecht in dieser Nacht. Er war unruhig, wälzte sich hin und her… Er träumte wirr und erwachte schweißgebadet. Seine Träume drehten sich um die Familie, der Onkel erschien ihm, die Tante, die Eltern…

    Plötzlich schreckte er hoch, die Augen weit aufgerissen. Er hatte den Traum so deutlich erlebt.

    Er hatte sich selbst gesehen, als Kind, auf Dimitrios‘ Hof, zwischen dem dichten Geäst der Bäume. Er war hoch hinaufgeklettert und hatte hinuntergesehen. Und dann war da dieser Junge. Er war einige Jahre älter gewesen als Yannis. Er sah ihn vor sich, undeutlich und doch konnte er sich plötzlich erinnern. Dieser junge Mann, er hatte ihn gekannt, damals, als er selbst ein kleiner Junge gewesen war. Er musste zur Familie gehören. Yannis‘ Erinnerungen waren noch immer dunkel, doch der Nebel begann sich ein wenig zu lichten. Was aber hatte es mit dem Gesicht auf sich, dass er mitten in der Nacht vor sich sah? Wer war das? Yannis spürte deutlich, dass es etwas gab, etwas, das nur Dimitrios wusste. Etwas, das damit zusammenhing, dass Yannis und seine Eltern nicht mehr nach Kreta gereist waren. Doch so sehr er sich mühte, er konnte es sich nicht erklären.

    Der Traum hatte das Gefühl zusätzlich verstärkt, dass ihn seit dem Vormittag umtrieb: er war nicht der einzige Verwandte!

    3

    Clara saß nervös an ihrem Schreibtisch, ihre Hände waren schweißnass. Sie klopfte hektisch mit den Fingern auf die Tischplatte. Dann wieder stand sie auf, lief zum Fenster und sah hinaus. Die Luft war klar an diesem Tag und man konnte bis in die Vororte der Stadt sehen, ohne dass Dunst die Sicht trübte. Ihr war übel. Heute sollte die Entscheidung fallen, wahrscheinlich gerade jetzt in diesen Minuten. Gleich würde Herr Meybrinck sie zu sich rufen und ihr mitteilen, ob sie den Zuschlag für das Auslandsprojekt erhalten hatte. Die Zeit verging nur langsam. In diesen Minuten hinter der Tür ihres Vorgesetzten ging es um die Vergabe eines Auftrags. Clara wünschte sich, wie viele andere in der Institution, endlich praktisch arbeiten zu können.

    Ihre Organisation Landwirtschaft und ländliche Entwicklung gehörte zur EU-Kommission und kümmerte sich um Agrarbetriebe im Mittelmeerraum und Südosteuropa. Clara und ihre Kollegen waren für die Bearbeitung der Projektanträge zuständig, die von landwirtschaftlichen Betrieben in südeuropäischen Ländern bei der EU gestellt wurden. Diese wurden eingehend geprüft und bei Genehmigung erhielten die Betriebe EU-Subventionen. Mehrmals im Jahr durften Mitarbeiter auf Posten gehen. So nannten sie die Einsätze, bei denen man in die Praxis entsandt wurde. Dann reisten ausgewählte Mitarbeiter in die Region und besuchten die antragstellenden Betriebe. Diese Einsätze in Spanien, Italien oder Griechenland dauerten rund zwei Wochen. Während dieser Zeit nahmen die Mitarbeiter die Betriebe, die Subventionen beantragt hatten, eingehend unter die Lupe. Sie prüften bereits vorhandene finanzielle Mittel, ließen sich Einnahmen und Ausgaben vorlegen und nahmen, wenn nötig, Bodenproben, um Ertragsmengen und Qualität überprüfen zu können. So entstanden detaillierte Übersichten, die die Entscheidung für oder gegen Subventionen bis ins kleinste Detail belegen konnten. Neben der zwar arbeitsreichen, aber abwechslungsreichen Tätigkeit im Ausland, waren diese Aufenthalte, wenn man gute Arbeit leistete, auch der eigenen Karriere durchaus förderlich. Ein Auslandsprojekt dieser Art machte einen guten Eindruck im internen Curriculum.

    Clara liebte ihre Arbeit. Sie war ganz und gar Agrarwissenschaftlerin und ging vollkommen in ihrer Tätigkeit auf. Sie war äußerst wissbegierig, hatte einen wachen und offenen Geist, praktisch-kreative Ideen und dachte dabei immer auch an die Menschen hinter den Landgütern und Höfen, die Gelder beantragt hatten.

    Herr Meybrinck, der Leiter des Büros, hatte sie schon des Öfteren für einen der Posten vorgeschlagen. Doch bisher war Clara nicht ausgewählt worden, immer waren andere bevorzugt worden. Die meisten arbeiteten schon viel länger bei der Organisation. Clara war bisher leer ausgegangen und mit jeder neuen Ausschreibung, auf die sie sich bewarb, wurde sie nervöser. Wann würde endlich ihre Zeit kommen?

    Herr Meybrinck saß noch immer mit dem Auswahlkomitee zusammen. Die Damen und Herren waren extra aus Brüssel von der Kommission nach Berlin geflogen, um die Bewerber einer Prüfung zu unterziehen. Herr Meybrinck musste seine Mitarbeiter empfehlen und der Brüsseler Delegation nahelegen, warum er genau diesen oder jenen Bewerber entsenden wollte. Welche Einsätze geplant waren und wohin es gehen würde, erfuhren die Bewerber im Vorhinein nicht. Erst nachdem die Kollegen aus Brüssel ihre Entscheidung getroffen hatten, wurden die Mitarbeiter über ihre Einsatzorte informiert.

    Claras Kollegin Susanne baute sich vor ihr auf. Sie war eine kleine, rundliche Mitdreißigerin, die Clara an ihrem ersten Arbeitstag unter ihre Fittiche genommen hatte. Die beiden hatten sich sofort gut verstanden und waren bald über ein gutes kollegiales Verhältnis hinaus, Freundinnen geworden. Susanne fieberte mit Clara. Sie selbst war schon auf zwei Posten gewesen und hoffte nun, dass Clara endlich auch einmal in die Praxis geschickt werden würde.

    Susanne verdrehte ihre blauen Augen. «Die sitzen immer noch da drin, oder?», fragte sie und ließ sich auf der Kante von Claras Schreibtisch nieder. «Warum das immer so lange dauern muss. Ist doch klar, wer die beste für diese Aufgabe ist.» Susanne lächelte und kniff Clara freundschaftlich in die Wange.

    Clara sprang auf: «Das sagst du.» Sie seufzte: «Meybrinck hat mir auch wieder versichert, er wird mich empfehlen. Das hat er beim letzten Mal auch getan. Und was hat es gebracht?» Sie beugte sich zu Susanne. «Ich möchte auch endlich mal…»

    Susanne nickte zustimmend. «Du weißt, dass es nicht daran liegt, wie gut du bist. Die Brüsseler kennen dich ja gar nicht und ich glaube schon, dass Meybrinck dich wärmstens empfiehlt. Aber bisher hattest du einfach Pech. Wer weiß, wonach die Leute der Kommission schauen. Ich drücke Dir jedenfalls immer fest die Daumen, das weißt du. Dieses Mal muss es einfach etwas werden.»

    Dabei hob sie ihre Fäuste mit den gedrückten Daumen vor ihr Gesicht und blickte Clara darüber hinweg an.

    Clara musste grinsen: «Ich weiß ja, dass du mich gern eine Weile loswerden möchtest.»

    Sie legte der Freundin den Arm um die Schulter. Dann wurde sie wieder ernst: «Wenn

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