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Angostura
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eBook737 Seiten8 Stunden

Angostura

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Über dieses E-Book

Die Familiensaga rund um die Weltmarke Angostura Bitters Zu Beginn des 19. Jahrhunderts fegt Napoleon Bonaparte durch Europa, Alexander von Humboldt bereist die Welt und Simon Bolívar kämpft für die Unabhängigkeit Lateinamerikas. In dieses Umfeld wird Johann Gottlieb Benjamin Siegert - kurz Ben Siegert - hineingeboren. Er dient als blutjunger Arzt im Krieg gegen Napoleon und wird dann von Bolívar für dessen Soldaten als Heeresmedicus in Venezuela rekrutiert. Auf der Überfahrt trifft er auf Achaz v. Bismarck (1786-1856), der Enkel des Finanzministers Friedrichs des Großen, aber auch das "schwarze Schaf" der berühmten preußischen Adelsfamilie. Reichskanzler Otto von Bismarck bezeichnete ihn einmal als "ganz schamlosen Lump". Als Ben den Boden Südamerikas betritt, sieht sich der junge Deutsche einer völlig neuen Welt gegenüber: rassige Frauen, wilde Tiere, faszinierende Pflanzen - Ben lässt sich in Angostura (heute Cuidad Bolívar) nieder, gehört bald zu den VIPs der Stadt und wird zum Schöpfer des weltbekannten und hochprämierten Tonikums, das er nach seiner neuen Heimatstadt benennt: "Angostura Bitters". Aus zwei Ehen gehen zehn (lebende) Kinder hervor, die wie ihr Vater herausstechende Unternehmerpersönlichkeiten werden - die Nachfahren führen das Unternehmen bis heute erfolgreich durch alle Wechselfälle des Lebens!
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum1. Dez. 2021
ISBN9783347358379
Angostura
Autor

Rolf Walter

Rolf Walter, Prof. Dr. rer. pol., geboren 1953 in Kirchheim/Teck (Baden-Württemberg), studierte Wirtschaftswissenschaften an der Universität Erlangen-Nürnberg, wo er 1982 promovierte und 1988 habilitierte. Seit 1991 ist er ordentlicher Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf den Gebieten Geschichte der Weltwirtschaft und Globalisierung, Unternehmensgeschichte, Banken- und Börsengeschichte, internationale Handels- und Konsumgeschichte, History Marketing, Inventions- und Innovationsgeschichte, Evolutorische Wirtschaftsgeschichte, Didaktik und Methodik der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, historische Regionalforschung sowie Wirtschafts- und Sozialgeschichte Lateinamerikas.

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    Buchvorschau

    Angostura - Rolf Walter

    Rolf Walter

    ANGOSTURA

    © 2021 Dr. Rolf Walter

    Umschlag-Gestaltung: Jasmin Grünau unter Verwendung des Gemäldes von Anne Walter, Flasche „Angostura® aromatic bitters", 2015

    Fotobearbeitung: Christoph von Haussen Werbeseiten: Kristof Schmit

    Lektorat und Buchsatz: Susanne S. Junge

    Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

    Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

    Für Lou, Jahrgang 2021

    Inhaltsverzeichnis

    Vorwort

    Prolog

    Teil I

    Alte Welt und Westindien Humboldt und Bolívar Bismarck und Siegert

    Alexander von Humboldts „Natur"

    Simón Bolívar und die Idee der Freiheit und Unabhängigkeit

    Das „Schwarze Schaf" – Heinrich F.W. Achaz von Bismarck

    Johann Gottlieb Benjamin Siegert: Kindheit und Jugend in Schlesien. Oder: Als er noch ein kleiner Junge war

    Aufwachsen in der Geborgenheit der Verwandtschaft in seiner schlesischen Heimat

    Beginn des Medizinstudiums in Berlin und Wundarzt im preußischen Heer in der Schlacht bei Waterloo

    Ein außergewöhnliches Kontrastprogramm: Einmal Waterloo und zweimal Paris!

    Ende der napoleonischen Kriege, Wiener Kongress und Studienabschluss in Berlin

    Alexander von Humboldt – der Beginn seiner Forschungsreisen

    Simón Bolívar und Europa

    Johann Gottlieb Benjamin Siegert: Das Zerwürfnis zwischen Ben und seinem ältesten Bruder Johann

    Simón Bolívar: Anwerbung in London und Hamburg, Rekrutierung für den Freiheitskampf

    Achaz von Bismarck – Unter Haudegen und Heroen

    Die Transatlantik-Tour in der Retrospektive. Oder: Bismarcks temporärer Aufbruch in die Neue Welt

    Achaz von Bismarck: „Ein ganz schamloser Lump" (Otto v. Bismarck)

    Ben Siegerts Reaktion auf seine Weise: Eine Überseereise!

    Achaz von Bismarck – Die Brigg „Vesta" sticht in Hamburg in See

    Die Atlantik-Passage aus der Sicht Ben Siegerts

    Achaz von Bismarck

    Die dänische Insel St. Thomas in der Karibik: Zwischenstation deutscher Freiheitskämpfer

    Ungeduld und Abschied mit Rast im westindischen Paradies

    Im Vorgriff: Achaz‘ letzte Jahre und Memoiren

    Teil II

    Neue Welt und Angostura

    Simón Bolívar und die fortdauernden Kämpfe um die Unabhängigkeit

    Siegerts Familie und schöpferische Kreation

    Ben Siegerts Überfahrt von St. Thomas nach Angostura, Zentralort am Orinoco

    Alexander von Humboldts „Lieblingsland" – Angostura in venezolanisch Guayana: „Ungeheurer Naturgarten" und „wahre Affenherberge"

    Ben Siegert und die „Märchenwelt" Angostura

    Heiße Nächte in den Tropen. Benjamins Anfänge in Angostura 1820 mit María, seiner ersten Ehefrau

    Der „Familienmensch" Ben Siegert

    Der reich gedeckte Tisch Venezuelas

    Wie helfe ich mir selbst? Ben Siegert als Arzt und Pharmazeut in eigener Sache

    Kompetenz als Arzt in Person – Ben Siegert

    Amargo de Angostura oder „Angostura (Aromatic) Bitters": Ben Siegerts kreative Schöpfung von 1824

    Gründung der Fa. Amargo de Angostura (Angostura Bitters)

    Die politische Entwicklung Groß-Kolumbiens unter der Führung Simón Bolívars

    Deutsches Leben in der Ferne

    Landsleute in Angostura

    Europäische Kaufleute: Pioniere im tropischen Angostura und auf Trinidad

    Heimweh Ben Siegerts beim Gedanken an das ferne Schlesien

    Die lange Wanderung durchs „Tränenthal", wieder Licht am Horizont und Briefverkehr ab 1832

    Vielseitigkeit als wertvolle Marke Siegerts und der Kulturlandschaft

    Ben und Bonifacia: Eine neue Partnerschaft erblüht

    Ben begehrt Boni – die Liebe und die Wildnis

    Siegerts zweite Vermählung 1830

    Bens neue Schwiegerfamilie und deren Verbindung zu Alexander von Humboldt

    Persönliche Wohlfahrt: Bens Einkommens- und Vermögenslage, nominal und real

    Teil III

    Das kulturelle Ganze: Leben und Sterben in der tropischen Natur

    Städtisches Ambiente und Lebensmittelpunkt am Orinoco

    Töchter und Söhne von Ben und Boni

    Elternfreuden im Zweijahresrhythmus

    „Leider völlig tot…" – Säuglingssterben und Kindstod als tragische Begleiter der Zeit

    Vom tragischen Tod der Mütter („Kindbettfieber")

    Frühreife Frauen, „vollkommene Frauenzimmer", Venusjäger und eine 36-jährige Urgroßmutter. Ben, Carl Geldner und Eberhard Graf zu Erbach erzählen

    „Ich konnte mich nicht satt an ihr sehen" (Friedrich Gerstäcker)

    Ben Siegert, der Autodidakt in Botanik und Heilpflanzenkunde

    „Farmer" Ben Siegert

    Musik liegt in der Luft

    „Komponist und „Pianist Ben Siegert sowie der „comercio noble". Materielle und ideelle Kultur

    Bunte Vielfalt und hochwertige neue Mode in der tropischen Welt

    Cholera, „gelbes Fieber und „schwarzes Erbrechen: Das Malheur der Epidemien

    Facharzt und Universalmediziner für „Steinreiche" und Bettelarme

    Alkoholsucht, Alkoholophilie, Trunksucht: Unarten geistiger Getränke

    Vom feste Feiern und Feste feiern. Oder: Angostura 1866 live!

    Kein Festmahl ohne „Wässerchen oder „Verdauerli

    Bens Berufsleben als Kuriosum und „Bühne der Leidenschaften"

    Unfreiwillige Betätigung als „Kieferchirurg"

    Gefährlicher Wolfsbarsch

    Erste Hilfe im fachfremden Milieu

    Teil IV

    Die zweite Generation – Kinder von Angostura/Ciudad Bolívar

    Leben in der Ökumene: Religiöse Toleranz und Sepulkral-Kultur

    Mischehen: Willkommene Vielheit

    Lebendiges Wachsen und Gedeihen

    Wachsen heißt, sich harmonisch zu organisieren: Einige Beteiligte

    Rosa, die wertvollste „Perle" im Haushalt der Familie Siegert

    Carolina, erste Siegert-Tochter, und Hermann Wätjen, ihr Verehrer

    Carlota und ihr „Mönch"

    Was „Juanito nicht lernt, lernt „Juan nimmermehr

    Anna, Hausmädchen der Contastis

    Ben Siegerts Jüngste aus erster Ehe: „Carmelita" Lorenzen

    Carlos Damaso Siegert – Kaufmann und Abenteurer

    Carlos und sein Freund Pedro bei den Guaraunos

    Unter Indios: Pedro und die frühreife Luna

    Herzhaftes Frühstück und ein gekrächztes Adiós

    Sexuelle Freiheit und Nacktheit à la Angostura in venezolanisch Guayana

    Humboldts Sicht auf Lebensmodelle und Lebensstile in den venezolanischen Tropen

    Der „elektrische Fisch". Das Faszinosum Zitteraal

    Die 1848er Revolution in Deutschland und ihre Wirkungen auf das deutsch-venezolanische Handelsgeschäft

    Carlos Damaso Siegert, der Zuckerhacendado, begegnet Carl Geldner

    „Don Quijote de la Guayana und „Sancho Panza aus Meiningen

    Reisender Hobbymaler und Unternehmer: Carl Geldner besucht Ben Siegert

    Otto Bürger und Eberhard Graf zu Erbach berichten zeitgenössisch über Siegerts „Angostura"

    María Bonifacia – leider chronisch krank und behindert

    Ein Sohn – aber er wird nur vier Jahre alt

    Petronila, die Tierfreundin französischer Herkunft

    Eine bewährte Lösung nach tiefer Trauer: Die Ehe mit der Schwester Ana Apolonia

    Gebrüder Rafael und Tomás Machado

    Trini und Rafi: Buntspecht im Märchenwald

    Die schöne Flamencotänzerin Ana Isabel

    Isabel und Tomás: Unternehmungslustige Naturfreunde und Hobbyreiter

    „Jetzt heiraten wir, denn wir sind vier!" Doppelte Doppelhochzeit 1855

    Abenteuer-Ausflüge als Mini-Urlaub im eigenen Land – warum in die Ferne schweifen?

    Schlemmerei bei María Bonifacia de la Trinidad

    Rafael heiratet zum zweiten Mal in die Siegert-Familie ein

    Nesthäkchen Cecilia Siegert – Trauer nach Julios tödlichem Schlangenbiss

    Alfredo Cornelio Siegert. Der ehrbare Kaufmann und weitsichtige Firmenchef

    Luis Benjamin Siegert und Camille Cheesechess

    Teil V

    Venezuelas Wild East. Leben in Angostura und Ciudad Bolívar

    Kampf mit Caimánen

    „Tiger", Pumas und andere tierischen Freunde

    Ein lateinamerikanisch-europäisches bzw. venezolanisch-deutsches Bürgertum in Angostura/Ciudad Bolívar. Siegert und die Philanthropie

    „Liberale Friedhöfe" – mehr als nur die letzte Ruhestätte, vielmehr ein Zeichen von Toleranz und Menschlichkeit

    „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied": Das Beispiel Carl Friedrich Ziegert (oder Carlos Federico Siegert)

    Heinrich Franzius Sr., Kaufmann in Angostura und Trinidad (1851-1864) und sein gleichnamiger Sohn

    Kriminalfälle im aggressiven Mikrokosmos. Mord und Totschlag im goldreichen El Callao

    Hato Pilar: Gepflegte Hacienda und köstlicher „Jaguar gebraten"

    Zuckerrohrschnaps, Kaffee, Kakao und frisch gepresster Fruchtsaft: Unverzichtbare Edeltropfen der tropischen Natur

    Mosquitos und Plagen aller Art in den Tropen Venezuelas: „Lebendige Nadelkissen"

    Abschied Carl Geldners aus Venezuelas Wild East

    Otto von Bismarck und Deutschland im Strukturwandel

    Die Blauen und die Gelben: Revolution in Venezuela

    Dem „Libertador" zu Ehren: Eine Bolívar-Statue in Ciudad Bolívar

    Großvater Ben Siegert: Begeisterter Familienmensch, Tierfreund und Philanthrop par excellence!

    Die fatale Dialektik von Leben und Tod

    Umstrukturierung in der Firma – Rückzug ins Privatleben

    Ben Siegerts Tod und Nachlass

    Teil VI

    „Ausgezeichneter" Angostura Bitters, glänzende Geschäfte und der große Umzug nach Trinidad

    Migration zwischen Venezuela und Trinidad

    Herrschaftswechsel in mehrfacher Hinsicht

    Streit ums Markenrecht

    Der Abschied des Unternehmens Angostura Bitters aus Venezuela und was im Lande blieb

    Die Unternehmensführung von Bens Söhnen Carlos Damaso, Alfredo und Luis

    „Ausgezeichneter" Bitter: Weltmarke aus gutem Hause mit Goldmedaille

    Exkurs: Perspektive durch Retrospektive: Das History Marketing des Unternehmens Angostura Bitters. Profil und Kontinuität der Marke „Angostura"

    „Angostura" on stage! Ein Poetry-Slam

    Die Verlegung des Firmensitzes nach Port of Spain, Trinidad

    The Hall: Gesellschaftlicher und privater Mittelpunkt der Familie (Carlos) Siegert 1886-1920

    Luis Siegert: Pokerface und Vielfraß

    Alfredo Cornelio, der bescheidene, hochintelligente Kopf und gute Geist des Bitters-Unternehmens

    Vermögenszuwachs und Großgrundbesitz: Das Immobiliengeschäft und die Freizeitkultur der Siegerts

    Soziales Engagement und ausgeprägtes Mäzenatentum

    Der Tod Alfredo Siegerts und sein Begräbnis auf dem stattlichen Familiengrab des Lapeyrose-Friedhofs

    Die Enkel- und Urenkel-Generation

    „Alfreditos" Humanvermögen und spannende Zeiten des internationalen Angostura-Bitters-Unternehmens

    „Alfredito" und Nina (Henderson)

    Teil VII

    „Düstere Zeiten" Krieg und Frieden

    Wirtschaftliche Diskriminierung, „Schwarze Listen" und Vertrauensschwund

    Die Große Flaute: Sklerose von Handel und Wandel

    Krieg und Krisenmanagement

    Schwere Zwischenkriegszeit: Der Staat als Unternehmer und die Persistenz des Angostura Aromatic Bitters

    Maximo Lang über das Queens Park Hotel, den Country Club und über das Ehepaar Siegert

    Die „Moderne" in Venezuela und Trinidad bricht an. Der heldenhafte „Cowboy" Maximo Lang im Wild East von San Carlos

    Die Rückgewinnung von Angostura Bitters durch den Siegertschen Familienverbund

    Robert W. C. Siegert und das erfolgreiche Diversifizierungsprogramm

    Ausblick

    Epilog

    Keine Perspektive ohne Retrospektive

    Anhang

    Quellen und Bibliografie

    Register

    Bildnachweis

    Anmerkungen

    Vorwort

    Wie so fast jedes Buch hat das vorliegende eine jahre-, ja sogar jahrzehntelange Vorgeschichte. 1979 ging’s los. Sie begann im Grunde mit meiner Entscheidung, die mannigfaltigen historischen Beziehungen zweier Länder unterschiedlicher Prägungen, Denkweisen und Lebensstile näher unter die Lupe zu nehmen, wobei meine Wahl auf Venezuela und Deutschland fiel. Beide Länder sind durch eine lange und ungeheuer spannende gemeinsame Geschichte miteinander verbunden– sicher dokumentiert spätestens seit den 1520er Jahren durch Geschäftsberichte des Augsburger Kaufmanns- und Handelshauses der Welser, verfestigt durch weitere Handelsbeziehungen zwischen den deutschen Handelskontoren und der spanischen Kolonie, präzisiert durch die geografischen und botanischen Erkenntnisse, die der deutsche Universalgelehrten Alexander von Humboldt nach 1799 auf seinem mehrjährigen „Besuch (der „amerikanischen Reise) ins damals noch so genannte Vizekönigreich Neuspanien dokumentierte, sowie alle weiteren Handels- und Familienbeziehungen der darauffolgenden Jahre. Die Begegnung Humboldts mit Simón Bolívar 1805 in Paris und Italien und schließlich die Beteiligung deutscher Helfer am Unabhängigkeitskampf Venezuelas von Spanien im zweiten und dritten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts eröffnete eine Fülle von Begegnungen, Kontakten, die teilweise bis in die Gegenwart bestehen und kräftige Nachwirkungen entfalten. Die Spannung und Farbigkeit des Beobachtungsfelds steigerte sich zunehmend, je länger ich darüber las, hörte, nachdachte und schließlich diesem unglaublichen Faszinosum „erlag".

    Eines Tages, es war der 30. September 1985, erreichte mich eine briefliche Anfrage des Leiters des Goethe-Instituts in Caracas, das in Venezuela aus naheliegenden Gründen Asociación Cultural Humboldt heißt. Deren damaliger Chef Heinrich Telaak wandte sich an mich mit folgendem Anliegen:

    „Lieber Herr Walter,

    könnten Sie herausfinden, ob Heinrich Friedrich Wilhelm Achaz (sic!) von Bismarck („ein ganz schamloser Lump") sich je in Groß-Kolumbien oder Venezuela aufgehalten hat und ob sein Büchlein irgendwo einzusehen ist?

    Mit herzlichem Dank für Ihre Mühe und freundlichen Grüßen Ihr Heinrich Telaak".

    Als Anlage war ein Artikel des SPIEGEL/ Nr. 36/1985, Seite 177, Fußnote, beigefügt, in dem es um das Buch des DDR-Historikers Ernst Engelberg ging, der darin eine solche Andeutung formuliert hatte, den Ausgang jedoch offenließ.

    Mit der Recherche zu dieser interessanten Frage mit möglicherweise gehöriger Tragweite war in mir die glimmende Forscherglut zu einem heißen Feuer entfacht worden. Viele der folgenden Nächte blieben ohne Schlaf und Ruhe. Die einfache Anfrage war drauf und dran, mich in einer Weise zu vereinnahmen, die man nicht mehr wirklich gesund nennen konnte.

    Um es kurz zu machen: Das erweiterte Ergebnis des nachhaltigen Recherchefiebers liegt vor Ihnen! Trotz bestmöglicher Nachforschungen steht für mich fest: Schreiben ist Freiheit, muss Freiheit sein – sonst ist es kein Schreiben.

    In diesem sequenziellen Buch geht es darum, Puzzle zu spielen und die einzelnen Teilchen zu einem Gesamtbild zu drapieren. Im Grunde sind Wissenschaftler und auch Autoren potentielle Puzzlespieler. Anders ausgedrückt: Sie sind permanent damit beschäftigt, die Atome und Moleküle zu identifizieren, aus denen das Leben – hier wesentlich im napoleon-zeitlichen Europa und in Angostura am Orinoco von 1820 bis 1870 und darüber hinaus – erwuchs. Dieser Mikrokosmos konzentrierte sich auf eine Person und ihren ausgedehnten Familienverband – nämlich Ben Siegert und seine Lieben – und auf sein flüssiges Produkt, seine „Erfindung", den „Angostura (Aromatic) Bitters". Eine wahrhaftige spannungsgeladene Erzählung vom Schöpfer und seiner heilsamen wie aromatischen Kreation, eine Erzählung vom Kontrast zeitweilig überschäumenden Lebens und grausiger Todesereignisse von Mensch und Tier, eben ein buntes Gemälde der Lebewesen am temporär heftig wasserdurchfluteten Rand der Tropen in seiner zeitgenössischen Dialektik. Das Werk sollte ein Schlaglicht werfen auf die animalischen, menschlichen und pflanzlichen Formen, Figuren und Farben in ihrer wechselvollen, sich häufig gegenseitig aufschaukelnden, facettenreichen Lebensgemeinschaft, die fürchterliches herzzerreißendes Leid, aber auch ausgelassene Freude und sagenhafte Glücksmomente mit sich brachte.

    Mit dem Werk ist eine Dankbarkeit verbunden, die vielförmiger und eingehender nicht sein kann. Nicht nur, dass 40 Jahre Lektüre von Akten, Schriften, Büchern und vielfältigen Fachorganen sowie die lebendigen Vorträge und prägenden Geschehnisse zahlreicher Venezuela-Reisen einflossen. Auch viele Glücksfälle, Zufälle, wildeste Kombinatorik, Ahnungen, Vermutungen, Tatsachen und Phantasievorstellungen begannen, den „Wissenstopf zu füllen und alles miteinander zu vermengen. Bevor das „Mahl jedoch die Grenze der Ungenießbarkeit erreichen und gar zu überschreiten drohte, legte ich den Füller aus der Hand und stellte den Laptop in die Ecke, um mit einem Quäntchen Glück und bedingt gerechtfertigter Zuversicht zu wagen, das Pamphlet zu Beginn der 2020er Jahre in die Runde einer kritischen und hoffentlich wohlgesonnenen Leserschaft zu werfen. Dies geschieht in der Absicht, die Freunden historischer Lektüre zu gewinnen bzw. jedermanns geruhsamen Schlaf in einer Weise zu stören, wie es mir seinerzeit 1985 geschah. Die Einsicht: Schlaflosigkeit kann Früchte tragen. Das war mir damals noch nicht so klar. Und ich hatte den Trost und das Heilmittel permanent vor Augen: das Angostura-Bitters-Fläschchen mit dem leuchtend gelben Verschlussdeckelchen samt gegen den Uhrzeigersinn zu drehendem Gewinde zur Bewahrung des kostbaren Inhalts. Dieses Utensil brauchte ich bei wiederholter Durchquerung tiefer mentaler Täler nur vor mir auf den Schreibtisch zu stellen – und mit einem Mal war jegliches Wölkchen leicht depressiver Natur wie verflogen. Welch ein Wunder! Meine Empfehlung: Machen Sie’s doch genauso!

    Zu jederzeitigem und sofortigem Stimmungsumschwung trugen darüber hinaus viele liebe Freundinnen und Freunde, Kolleginnen und Kollegen, Frau und „Töchterle" und zahllose ähnlich Unverdrossene bei, deren Hilfe und Zuspruch gar nicht lobend genug zum Ausdruck gebracht werden kann.

    Schließlich gibt der Autor erleichtert Kunde von seiner zur Gewissheit gewordenen Annahme, nicht von allen guten Geistern verlassen, sondern von solchen umgeben zu sein.

    Jeder, der schon mal ein Buch in Angriff genommen hat, kennt das und fragt sich ständig: Warum werde gerade ich mit so viel Glück und Segen, Gnade und Ungnade überschüttet? Ich kann doch eigentlich gar nichts dafür, dass ich (meistens zur höchsten Freude, zuweilen zum Fluch) diesem irren Thema so verfallen bin, das eine so enorme Expansionskraft und mächtige Einflussnahme an den Tag oder das Jahr legt. So sollten sich nun einige hundert Mitmenschen verschiedenster Couleur und aller Klassen und Schichten innig umarmt und für den Schlussstrich meine feierlich zitternde Hand fühlen: !Muchas, muchísimas gracias! Encantado; mucho gusto! Ich hoffe sehr, es allen angemessen persönlich sagen zu können. Für diesbezüglich recht wahrscheinliche Unmöglichkeiten bitte ich schon jetzt von Herzen und mit der größten Nachhaltigkeit um Verzeihung.

    Hamburg, Jena, Kirchheim/Teck, im Sommer 2021

    Rolf Walter

    Prolog

    Ich weiß: Man braucht einen ersten Satz. Also: Man gewinnt eine Perspektive am besten durch gewissenhafte Retrospektive. Mein Paradies heißt Venezuela, mein Mekka Angostura. Und um auch noch die letzten Menschen zum Weiterlesen zu animieren: Mein Napoleon Bonaparte trägt den Familiennamen Bolívar und ist Simón getauft. Mein Ferdinand Sauerbruch heißt Johann Gottlieb Benjamin Siegert; er ist zugleich mein Robert Koch. Sein Institut, die Klinik, die Labors liegen in der Stadt Angostura am Orinoco. Seine erste Ehefrau María Pilar Araujo erinnert an die Güte und Nächstenliebe der Heiligen Elisabeth von Thüringen. Seine zweite Gattin Bonifacia kannte die tropische Botanik wie ihre Schürzentasche und bewegte sich in einer Art, die bei jedem Schritt an Barbara Campanini, „Barberina", erinnert, die klassische Balletttänzerin des 18. Jahrhunderts, die in Siegerts Heimat Schlesien einen legendären Ruf besaß.

    Der erste Satz fällt derzeit inmitten der Coronakrise besonders leicht, in der die Angst sich ausbreitet. Angst kommt von angus, Enge. Angostura beschreibt eine räumliche Verengung am Fluß Orinoco. Im übertragenen Sinne lässt sich an eine Verengung im Kopf, ein angsterzeugendes Element, denken. Und der Begriff steht für noch so vieles mehr: Einerseits trug die wunderbare ostvenezolanische Metropole in Guayana, gelegen am zweitgrößten Fluss Südamerikas, des Orinoco, jahrelang diesen Namen, tauchte in alten Schriften zuvor als „Santo Tomás de la Nueva Guayana" auf¹ und trägt heute den Namen Ciudad Bolívar – andererseits steht er für ein aromatisches Bittergetränk, das weltweit konsumiert wird: Der Amargo de Angostura oder Angostura Bitters. Der Name Angostura hat‘s also in sich!

    Guayana

    Es ist schon erstaunlich, dass neben den berühmten Personen der Geschichte (Süd-)Amerikas, vor allem Alexander von Humboldt und Simón Bolívar², einige weitere ihrer elementaren Unterstützer und unglaublich agilen Nachfolger bisher recht wenig Beachtung fanden. Dazu gehört allemal und aus vielerlei Gründen der aus Oberschlesien stammende Arzt und Angostura-Bitters-Schöpfer Dr. Johann Gottlieb Benjamin Siegert (1796-1870). Er war einer der drei Deutschen, die dem Venezolaner Simón Bolívar halfen, die Unabhängigkeit von der Kolonialmacht Spanien durchzusetzen. Ben Siegert, wie wir ihn fortan verkürzt nennen wollen, kam im Panteón Nacional, einer Art Heiligtum in Venezuelas Hauptstadt Caracas, zu Ehren. Neben Siegert wurde dort zwei anderen Deutschen, Heinrich von Lützow (Enrique Luzzon) und Johann von Uslar, gedacht.³ Ihre Namen finden sich in dieser Stätte höchster Ehrerbietung zum ewigen Andenken in den Boden gemeißelt wieder.⁴

    Im Gegensatz zu den beiden anderen Deutschen ging Ben Siegert durch seine zwei Ehen mit Südamerikanerinnen – einer Kolumbianerin und einer spanischstämmigen Venezolanerin – und nicht zuletzt durch das lebenslange Wirken seiner Selbst und seiner vielköpfigen Familie in die Geschichte des lateinamerikanischen Teilkontinents ein. Er etablierte sich in Angostura, der bedeutendsten Handelsstadt am Orinoco. Es handelt sich um eine Stadt, die u.a. durch Bolívars Kongress von Angostura 1819 Berühmtheit erlangte. Ben Siegert eröffnete dort nicht nur eine private Praxis und ein Krankenhaus, er wirkte als Mediziner, Stabsarzt, Apotheker und höchst renommierter Bürger sehr zum Segen der Kommune in der ostvenezolanischen Region Guayana. Weltbekannt wurde er durch seine 1824 erstmals auf den Markt gebrachte flüssige Kreation, den Amargo de Angostura, vielleicht global besser bekannt unter der englischsprachigen Bezeichnung „Angostura Bitters". Er kreierte nichts weniger als eine Weltmarke.

    Ben Siegerts Biografie sucht auf der Welt bis heute ihresgleichen. Es ist auf der ganzen Erde kein Beispiel bekannt, das in seiner Entwicklung und Tragweite dem Siegertschen gleichkommt. Die politische, soziale und ökonomische, mithin die gesellschaftliche Bedeutung des Lebenswerkes Ben Siegerts verdient nicht nur breiteste Aufmerksamkeit, sondern erscheint für das Verständnis der Befreiung und Öffnung des nördlichen Südamerikas im 19. Jahrhundert unabdingbar. In der Person Ben Siegerts lässt sich nicht nur ein gravierender Teil der europäischen Geschichte (Preußen, Schlesien, Napoleon, Waterloo, Berlin) exemplifizieren, sondern wesentlichen Einblick in die Motive und Umsetzung der südamerikanischen Unabhängigkeit gewinnen. Siegert war nicht nur Zeitzeuge und aktiver Teilhaber der antinapoleonischen und bolivarianischen Kämpfe, sondern eine der prägenden Figuren der postrevolutionären Friedenszeit. Dass er im Laufe seines ungeheuer spannenden Lebens in Europa und Venezuela persönliche Begegnungen mit bekannten charismatischen Menschen aller Couleur hatte, unterstreicht die Bedeutung seiner Existenz. So zählt die Begegnung mit Heinrich Friedrich Wilhelm Achaz von Bismarck, dem „schwarzen Schaf" der berühmten Bismarck-Familie, bei der Überfahrt von Hamburg nach St. Thomas 1820 sicher zu den kuriosesten Ereignissen im Siegertschen Leben.⁵ Ben Siegerts reichhaltige Biografie öffnet so eine Vielzahl spannender Einblicke in essenzielle Facetten des zeitgenössischen internationalen Daseins im 19. Jahrhundert.

    Teil I

    Alte Welt und Westindien

    Humboldt und Bolívar

    Bismarck und Siegert

    Alexander von Humboldts „Natur"

    Zu den rahmenbildenden zeitgenössischen Kräften der Erzählung gehören einzelne, in der Weltgeschichte nicht ganz unbekannte Menschen. Am 14. September 1769 erblickte Friedrich Wilhelm Heinrich Alexander von Humboldt das Licht der Welt. Seine Eltern waren Alexander Georg, preußischer Offizier und wegen seiner Verdienste im Siebenjährigen Krieg zum Kammerherrn der Prinzessin von Preußen ernannt; seine Mutter war die Witwe Marie-Elisabeth von Holwede. Sie stammte aus einer teils hugenottischen Familie und brachte aus erster Ehe ein großes Vermögen mit, beispielsweise das Schloss Tegel und ein Berliner Stadthaus. Alexanders großer Bruder Friedrich Wilhelm Christian Carl Ferdinand von Humboldt war damals bereits zwei Jahre alt.

    Durch den Beruf des Vaters als Kammerherr hatte die Familie ein enges Verhältnis zum preußischen Königshaus. Der Kronprinz wurde sogar Alexanders Taufpate. Nach der Ehescheidung des Thronfolgers 1769 konnte sich Vater Humboldt ins Privatleben zurückziehen und kümmerte sich auf Schloss Tegel nun besonders um seine Söhne, zu deren Erziehung und Ausbildung Hauslehrer eingestellt wurden. Während dem großen Bruder das Lernen offensichtlich leicht fiel, schien Alexander seinen Erziehern lange Zeit als eher wenig befähigter, lernunwilliger Kopf. Dennoch fiel schon damals sein besonderes Interesse an Naturgegenständen auf: Er beschäftigte sich gern mit Insekten, Steinen und Pflanzen, ordnete und etikettierte seine Funde in seinem Kinderzimmer und wurde bald „der kleine Apotheker" genannt. Mit bereits zehn Jahren entwarf er Karten zum Planetensystem und von Amerika.

    Auch im Malen und Zeichnen war er talentiert und wurde glücklicherweise in Kupferstechen und Radieren geschult.

    1779, als Wilhelm 12 Jahre und Alexander 10 Jahre alt war, verstarb der Vater. Die zum zweiten Mal verwitwete Mutter führte jedoch die exquisite und kostspielige Ausbildung ihrer Söhne fort. Mit 18 Jahren besucht Alexander zunächst die Brandenburgische Universität Frankfurt (Viadrina) und besuchte Vorlesungen zu Kameralwissenschaft (Staatswirtschaftslehre), Altertumswissenschaften, Medizin, Physik und Mathematik; wechselte dann allerdings nach Berlin, um sich in Botanik ausbilden zu lassen, und 1789 an die Universität in Göttingen. Im Rahmen des Studiums unternahm er im März 1790 zusammen mit einem Studienkollegen eine Reise von Mainz über den Niederrhein nach England und kehrte im Juli 1790 über Paris zurück – der Sturm auf die Bastille, welcher die Französische Revolution ausgelöst hatte, war gerade mal ein Jahr her! Alexander beendete sein Studium schließlich an der Handelsakademie in Hamburg.

    Nun startete Alexander von Humboldt endlich in die Berufstätigkeit! Seinem steten Betätigungsdrang schien der praktische Bergmannsdienst, zu dem er jeden Tag um sechs Uhr mit den anderen Bergleuten in die Gruben einfuhr, zu entsprechen – das dafür nötige Studium des Bergfachs beendete er in acht Monaten. Nachmittags bildete er sich neben der Berufstätigkeit weiter fort. Und seine Arbeit trug reiche Früchte: Aufgrund seiner Ausbildung war es ihm möglich, zunächst den Alaun-Abbau zu revolutionieren, was ihm nach einem halben Jahr die Beförderung zum Oberbergmeister einbrachte. Auch den Abbau von Silber, Nickel, Zinn, Eisen und Alaunschiefergestein reorganisierte er in technischer und ökonomischer Hinsicht und führte Bergwerke zurück in die Gewinnzone. Außerdem setzte er sich für die soziale Situation der Bergleute ein, entwickelte verbesserte Grubenlampen und „Atemschutzmasken", vernachlässigte dabei jedoch nicht seine eigenen Biologie-Studien, indem er Flechten- und Pilzarten sowie die tierische Elektrizität untersuchte.

    Alexander von Humboldt

    Heutzutage würde man seine berufliche Laufbahn schon jetzt als steile Karriere bezeichnen. Ihm wurden hochrangige Posten angeboten – so wurde er beispielweise 1794 zum Bergrat und 1795 zum Oberbergrat befördert – doch den unsteten Alexander von Humboldt konnten weder Amt und Würden, weder Titel noch hohe Gehaltszahlungen zum Bleiben bewegen. Daher bat er beim preußischen König 1795 um die Entlassung aus dem Staatsdienst, und erfüllte seinen Jugendtraum von Forschungsreisen in die Welt.

    Simón Bolívar und die Idee der Freiheit und Unabhängigkeit

    Ein Sprung von Europa nach Amerika. Seit Mitte der 1770er Jahre fand in Nordamerika der Amerikanische Unabhängigkeitskrieg statt, die dreizehn Kolonien kämpften um die Loslösung von der britischen Kolonialmacht und erklärten sich 1776 als unabhängig. Im Jahre 1777 bildete sich die Konföderation, doch erst mit der Unterstützung der Kolonisten durch Frankreich ab 1778 wendete sich das Blatt zu Gunsten der nordamerikanischen Kolonien. Offiziell war der Unabhängigkeitskrieg am 3. September 1783 mit der Unterzeichnung des Friedens von Paris beendet.

    Man kann sich vorstellen, dass diese Unabhängigkeitsbewegungen auch in Südamerika nicht ohne Folgen blieben.

    Bereits 1494 war der Kontinent unter den iberischen Staaten aufgeteilt worden (Vertrag von Tordesillas). Die Europäischen Kolonialmächte entsandten im Laufe der Jahre zahllose Emigranten in die südamerikanischen Kolonien. Zum Teil brachten diese ihre Familien mit und deren Nachkommen, die „Kreolen, heirateten teilweise Menschen anderer Ethnien. Nachkommen aus diesen Mischehen bezeichnete man z.B. als „Mestizen. Spanier und Portugiesen standen gesellschaftlich an der Spitze, während die Mestizen und die Eingeborenen meist nachrangige Positionen begleiteten.

    Die Hauptfigur schlechthin ist ein solcher Kreole: Simón Bolívar. Er wurde am 24. Juli 1783 in Caracas, Neugranada, als Sohn einer wohlhabenden Familie geboren. Sie lebten auf einer weitläufigen Kakao-Plantage, wo er in seiner Kindheit viel Zeit verbrachte und täglich die Sklaverei vor Augen hatte. Die Eltern legten größten Wert auf gute Ausbildung und Erziehung. Zu diesem Zweck engagierten sie Simón Rodríguez als Privatlehrer ihres Sohnes – und Simón Bolívar genoss eine profunde Schulung.

    Simón Bolívar

    Als Simón drei Jahre alt war, verstarb sein Vater, sechs Jahre später verlor er auch seine Mutter. Als Vollwaise reiste er dann 1799 – also im Alter von gerade einmal 16 Jahren – mit seinem Privatlehrer nach Spanien, wo er seine Ausbildung fortsetzte. Dort heiratete er mit 19 Jahren die Spanierin María Teresa Rodríguez del Toro y Alaysa, die er mit nach Venezuela nahm, wo sie leider im darauffolgenden Jahr durch das Gelbfieber dahingerafft wurde.

    Das „Schwarze Schaf" – Heinrich F.W. Achaz von Bismarck

    Otto von Bismarck (oder Fürst von Bismarck) ist wohl jedem ein Begriff, spielt er doch als Politiker in der deutschen Geschichte eine bedeutende Rolle und trug maßgeblich zur Gründung des Deutschen Reiches bei, in dem er selbst als Reichskanzler amtierte.

    Hingegen fast vollkommen unbekannt ist sein Verwandter Heinrich Friedrich Wilhelm Achaz von Bismarck; jener war sein Onkel zweiten Grades. Er erblickte 1786 das Licht der Welt. Achaz von Bismarck war übrigens ein Enkel des Finanzministers Friedrichs des Großen.

    Otto von Bismarck hatte für seinen Onkel wenig schmeichelhafte Bezeichnungen übrig. Sein scharfes Urteil brandmarkte Achaz als eine Art Hallodri. Immerhin war er als ältester lebender Bismarck ausgerechnet das „schwarze Schaf des Verwandtschaftsverbandes, und das, obwohl er der anzuerkennende Senior der Sippe und seines Zeichens der letzte „Erbherr auf Birkholz und Hirschfelde war.

    Gleichwohl war seine Person aus verschiedenen Gründen nicht zu übersehen, auch wenn er freilich nicht die Bedeutung seines Großneffen Otto von Bismarck erlangte. Historisch belegt ist, dass jener von Otto als rüpelhaft eingeschätzter Zeitgenosse aus der eigenen Verwandtschaft als „ganz schamlosen Lump" bezeichnet wurde. Achaz von Bismarck hat in hohem Alter seine Autobiographie verfasst, aus der im vorliegenden Buch zitiert wird. Nach Lektüre derselben scheint verständlich, dass der Verfasser der merkwürdigsten Begebenheiten von der seriösen Biografie- und Historiographie-Forschung nicht gerade hervorgehoben wird, um es einmal vorsichtig auszudrücken.

    Nach seines Vaters Tod wurden testamentarisch die Mutter zu seiner Obervormünderin und der Ritterschaftsdirektor von Bismarck auf Briest, sein Onkel, zum Lehnsvormund bestimmt. Die Mutter sollte bis zu seiner Majorennität die Einkünfte der Güter beziehen. Bei Ernst Engelberg wird er auf Basis von Archivalien aus dem Staatsarchiv Magdeburg (Außenstelle Wernigerode) Achaz (sic!) erwähnt als „der verstorbene Senior, ein leider nur zu bekannter, tief gesunkener, in steter Geldnot befindlicher Mann, der Lehnbriefe in Berlin versetzt haben soll⁶. Die Mutter zog bald nach Magdeburg, wo Achaz von Bismarck die Schule des Klosters „Unserer Lieben Frauen (das ehemalige Benediktinermönchskloster) von November 1796 bis Ostern 1799 (mit 13 Jahren und nach der Obertertia) besuchte⁷. Sein alter Erzieher Gerloff war zu seinem Glück Lehrer am Klostergymnasium in Magdeburg geworden.

    Wie sich die Lebenswege dieses Mannes mit den anderen Hauptfiguren verbindet, werden wir noch sehen.

    Johann Gottlieb Benjamin Siegert: Kindheit und Jugend in Schlesien. Oder: Als er noch ein kleiner Junge war…

    Kommen wir nun wieder zur eigentlichen Hauptperson vorliegender Studie: Johann Gottlieb Benjamin Siegert – wie erwähnt, kurz Ben Siegert genannt.

    Aufwachsen in der Geborgenheit der Verwandtschaft in seiner schlesischen Heimat

    Ursprünglich schrieb sich die Familie nicht Siegert, sondern Ziegert – werfen wir dazu einen Blick auf Bens Vorfahren:

    Sein Großvater Gottfried Ziegert wurde am 4. Mai 1714 in Obermauer bei Lähn/Schlesien geboren und war Revierjäger und Förster bei einem Freiherrn. Er heiratete Anna Rosina Loessmann⁸, die ihm am 25. November 1742 in Obermauer den Sohn Hans Christoph gebar. Nach dem Tod seiner Frau heiratete Gottfried Ziegert noch zweimal: zuerst Christiane Werner und nach deren Ableben schließlich Anna Susanne Nixdorf⁹.

    Bens Vater war also Johann (Hans) Christoph Ziegert. Seit dem 30. Juli 1764 war er mit Christiana Elisabeth Blümel verheiratet, sie starb jedoch bereits am 23. April 1776, die Ehe blieb kinderlos. Im darauffolgenden Jahr, am 11. Februar 1777, schloss er den Bund der Ehe mit der 18jährigen Anna Regina Richter, seiner zweiten Frau.

    Deren Eltern waren Johann Daniel Richter¹⁰, Tischlermeister in Royn, und Anna Rosina Grundmann, miteinander seit 25. Juli 1750 verheiratet.

    Bens Familie lebte in Groß-Walditz (Włodzice), einem schmucken Städtchen der damals noch preußischen Provinz Schlesien. Sein Vater Hans Christoph war Küchenmeister auf der Ritter-Akademie in Liegnitz (heute Legnica). Seine zweite Frau Anna Regina schenkte ihm vier Söhne und fünf Töchter, wobei unser Benjamin mit Jahrgang 1796 der Jüngste des männlichen Nachwuchses war.

    Sein ältester Bruder Johann Christoph wurde 1779 geboren, kurz darauf 1781 sein Bruder Carl Gottfried. Es folgen mit einigem Abstand 1786 Charlotte und 1789 Beate Augustine, die leider vorzeitig verstorben sein soll. 1791 wird Friederike Johanna geboren, 1793 Christiane Johanna und im darauffolgenden Jahr, 1794, dann der dritte Sohn, Carl Gottlob. Johann Gottlieb Benjamin Siegert – unsere Hauptperson – ist am 22. November 1796 auf die Welt gekommen. Schließlich macht Susanna Barbara 1798 die Familie komplett.

    Im Hause Siegert wurde streng erzogen und auf das Kennen und Können äußerster Wert gelegt. Auf gute Bildung wurde ebenso geachtet wie auf eine auskömmliche Berufspraxis der Kinder. Der älteste Sohn, Johann Christoph, wurde beispielsweise Arzt und Sanitätsrat und praktizierte in Halberstadt. Dies spricht sehr für die Absicht der Eltern, den Kindern bestmögliche Voraussetzungen für ein erfolgreiches und herausforderndes Leben zu schaffen. Die Nachkommen lernten sowohl die Landwirtschaft und den Gartenbau von der Pike auf kennen und entwickelten handwerkliche Fertigkeiten und gewöhnten sich an das Leben in der Stadt. Letzteres brachte vor allem das Studium mit sich. Berlin und Magdeburg waren die beiden Orte, an denen man sich orientierte. Dazu kamen kleinere Kommunen wie Halberstadt. Dort war der älteste Bruder von Ben, Johann, Mediziner, und der zweitälteste Bruder, Carl Gottfried, Konditormeister. Gottfried wurde in Liegnitz geboren, wohin im Übrigen das Familienoberhaupt einen besonderen Bezug hatte. Dies sind nur einige ausgewählte Beispiele, die belegen, dass so von einer vielseitigen Form des Erwachsenwerdens in relativ weitläufiger Gemeinschaft und Verwandtschaft gesprochen werden kann.

    Zwei seiner Brüder waren deutlich älter als Benjamin. Als er geboren wurde, waren sein ältester Bruder Johann Christoph bereits 17 Jahre und der zweitgeborene Carl Gottfried 15 Jahre alt. Nur der dritte Bruder Carl Gottlob (Jg. 1794) und die Schwestern dürften als seine „Sandkasten-Kameraden" in Frage gekommen sein. An Spielkameraden aus der eigenen Familie und der Nachbarschaft in Groß-Walditz dürfte es Ben nicht gefehlt haben.

    Die Familie ernährte sich weitgehend aus dem eigenen Garten sowie vom nahegelegenen Feld und Wald. Siegerts lebten subsistent. Die Schule befand sich im benachbarten Liegnitz, wo auch die Ritterakademie lag, in der Vater Siegert, wie gesagt, Küchenchef war. Der Großvater war Handwerker, nämlich Tischlermeister im schönen Örtchen Royn. Insgesamt hatten die Eltern von Ben demzufolge recht handfeste Berufe: So konnte der Vater als Küchenmeister so manches lukullische Mahl auf jenen Tisch zaubern, den sein Schwiegervater kunstfertig hergestellt hatte. Man wird wohl von besten materiellen Voraussetzungen für einen intakten Familienverband sprechen können. Es handelte sich um eine konstruktive und leistungsfähige obere Mittelschicht, die finanziell und sozial relativ unabhängig war und in der jede Jahrgangsstufe einen verantwortungsvollen Platz einnahm

    Kurz zusammengefasst lässt sich über das Leben der sieben lebenden Geschwister Bens folgendes sagen:

    Johann Christoph war der Erstgeborene (1779) und wurde Arzt. Er war seit 10.12.1807 mit Doris Skene verheiratet, die Ehe blieb tragischerweise kinderlos. Vielelicht war dies ein Grund dafür, dass Johann sich später in väterlicher Weise seines Bruders Ben annahm und sich um dessen Ausbildung kümmerte.

    Der Bruder Carl Gottfried (Jg. 1781) heiratete Sophie Siebert (Achtung – mit b), die bekamen zahlreiche Kinder. Er starb 1829 mit nur 48 Jahren. Allgemein lag die Sterblichkeit noch relativ hoch und ist natürlich mit unserer Gegenwart nicht zu vergleichen. Entsprechend alltäglich war das menschliche Leid und gewöhnlich, es ertragen zu müssen. Eine seiner Töchter – Bertha Siegert aus Halberstadt – besuchte später ihren Onkel Ben 1839 in Venezuela.

    Die älteste Schwester war Charlotte, die den Landwirt Scholz im Kreis Bunzlau heiratete. Sie wird, wie die anderen Schwestern, in den späteren Briefen Bens erwähnt. Sie hatte zwei Töchter, für die Ben seinen Briefen oder Päckchen kleinere Geschenke (z.B. Goldstücke) beilegte. Beate Augustine starb vermutlich früh.

    Bens Schwester Frederike Johanna (oder Friederike, wie sie Ben in seinen Briefen anschreibt) (Jg. 1791) heiratete einen Herrn namens Pretzel, der den ehrenwerten Beruf des Försters ausübte, und wohnte in Saabor bei Grünberg. Friederike wurde relativ früh Witwe (um 1831). Sie war die emsige Briefpartnerin Bens. Ihr vertraute er sich an und versuchte später von Angostura aus, Informationen aus der Heimat von ihr zu erhalten und sie gleichermaßen über seine Situation auf dem Laufenden zu halten. Sie hatte zumindest eine Tochter namens Henriette. Die Schwester Christiane Johanna (Jahrgang 1793) war in Breslau mit einem Kaufmann Berthold verheiratet.

    Carl Gottlob, Jahrgang 1794, war nur etwa zwei Jahre älter als Ben. Er war Kanzleidirektor des Königlichen Bergamtes in Tarnowitz/Oberschlesien.

    Seine älteste Tochter, Bens Nichte Emilie, lebte in Tarnowitz und war mit dem Hotelbesitzer Ludwig Böhm verheiratet. Sie wurde am 29. November 1820 geboren, in einer Zeit also, als Ben bereits über ein Vierteljahr in Angostura weilte. Ein weiterer Sohn – Bens Neffe Carl Friedrich Ziegert, der 1823 geboren wurde – entwickelte sich zu einem tüchtigen Hüttenfachmann und emigrierte später nach Venezuela. Dort gelangte er als Grubenbesitzer zu einigem Ansehen, heiratete 1856 dort María Teresa Marco und bekam acht Kinder (sieben Mädchen und einen Sohn). Er starb am 2. November 1898 in Ciudad Bolívar. Über ihn werden wir noch einiges hören.

    Die meisten von Bens Neffen und Nichten wurden geboren, nachdem Ben bereits ausgewandert war (1820). So kannte Ben sie nicht persönlich. Bedeutende Ausnahmen bildeten die oben erwähnte Bertha und der Neffe Carl Friedrich.

    Das Nesthäkchen war die 1798 geborene Susanna Barbara. Sie war in Sassenhoff bei Riga mit einem Gärtner namens Schreiber verheiratet.

    Beginn des Medizinstudiums in Berlin und Wundarzt im preußischen Heer in der Schlacht bei Waterloo

    Benjamin hatte in Groß-Walditz seine Schulausbildung genossen, wohin Jahrzehnte später vom Sohn Carlos Damaso Siegert eine Spende in Höhe von 1.200 Mark gelangte. Nach seinem Abitur, das Benjamin in Liegnitz/Schlesien ablegte, studierte er Medizin in Berlin.

    Anfang 1815 begab er sich zu seiner Schwester Friederike, verheiratete Pretzel in Saabor bei Grünberg/Schlesien. Dann wurde er via Berlin auf einen Posten als Chirurg beim Königlich-Preußischen Haupt-Provinz Hospital in Magdeburg versetzt.

    Nachfolgend fand er Anstellung als Wundarzt im dritten Jäger-Detachement und machte als Chirurg wohl beim zweiten Ostpreußischen Infanterie-Regiment den Feldzug gegen Napoleon I. und die Schlacht bei Waterloo am 18. Juni 1815 mit. Die Schlacht bei Belle-Alliance auf der siegreichen preußisch-englischen Seite von Blücher und Wellington mag ein Schlüsselerlebnis sondergleichen für den jungen Ben Siegert gewesen sein.

    Er gehörte somit zu jenen jungen Ärzten, die unmittelbar nach ihrem Medizinstudium die Gelegenheit, ja die Pflicht hatten, ihre Berufskenntnisse anzuwenden. Als Jahrgang 1796 war er in einer Zeit aufgewachsen, die Kriegsereignisse aller Art kannte und die tüchtige Chirurgen besonders dringend erforderte. Schon als Kleinkind lauschte er den Gesprächen der Erwachsenen über Schlachten und die möglichen Konsequenzen der Napoleonischen Kriege, und er war zehn Jahre alt, als der französische König sich zum Kaiser krönen ließ. Für viele Zeitgenossen galt Bonaparte als ein allmächtiger Herrscher, der sich Frankreich, Europa und etliche Länder darüber hinaus in Nordafrika, am Mittelmeer, im westasiatischen Bereich und im tiefen Russland zu eigen machen wollte. In der Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806 stand er noch als großer Sieger im Rampenlicht des europäischen Geschehens und so manche Zeitgenossen in Deutschland – in Thüringen und Sachsen ebenso wie in Schlesien – mag die Ahnung beschlichen haben, es mit dem zukünftigen Imperator zu tun zu haben. Doch die Einzelstaaten und ihre Einheiten, so auch das freiwillige Jäger-Detachement aus Magdeburg, sannen auf Revanche und blieben wehrhaft. Dies bekam Napoleon bald zu spüren. Weder die Kontinentalsperre vom November 1806 führte zu den Konsequenzen, die er sich vor allem gegen das erzverfeindete Königreich England erhoffte, noch ließ ihn die Völkerschlacht bei Leipzig von 1812 als allmächtigen Kriegsherrn erscheinen. Vielmehr offenbarten sie seine strategischen Schwächen und militärischen Übereifer¹¹. Dies fand seinen Niederschlag am empfindlichsten im Feldzug gegen Russland 1813, wo ihm in vielerlei Hinsicht wahrlich die Grenzen seines Tuns aufgezeigt wurden. Im Grunde verengte sich die internationale Gemengelage peu à peu zu seinen Ungunsten. Am deutlichsten wurde sein Versagen schließlich in den finalen Waffengängen auf belgischem Boden, wo der französische Kaiser ein ums andere Mal schwerste Niederlagen einstecken und satte Verluste an Menschen, Tieren, Ländern und materieller Kultur hinnehmen musste. Waterloo war so etwas wie der Anfang vom Ende des napoleonischen Irrsinns und der Beginn einer langersehnten völligen Neuordnung Europas. Sowohl im preußischen Heer als auch in den Reihen der Verbündeten, zu denen viele Hannoveraner, Schlesier, Württemberger und Söldner aus anderen europäischen Staaten gehörten, formierte sich ein brachialer Widerstand. Dieser konzentrierte sich in Waterloo abschließend massiv, im Rahmen dessen die Alliierten den Sieg davontrugen.

    In allen Bataillonen waren tüchtige Mediziner tätig, von denen vor allem die Heereschirurgen alle Hände voll zu tun hatten. Zu diesen gehörte auch Ben Siegert, der sich im Alter von gerade mal 19 Jahren rekrutieren ließ und in den Reihen der schlesischen Jäger einen rauen Dienst versah. Kaum 20 Jahre alt, erlebte er die Grausamkeiten und Nöte eines Krieges, der noch keine Panzer, ABC-Waffen oder andere moderne Vernichtungswaffen kannte, sondern noch von Mann zu Mann oder Pferd zu Pferd geführt wurde und unendlich viele Verwundungen durch Säbel, Degen, Spieße, Gewehre und Kanonen kannte. Gebrochene Knochen, innere Blutungen, grässlichste Verstümmelungen und psychische Traumatisierungen traten täglich brutal in Erscheinung. Die Heereschirurgen mussten manches Mal sogar ohne geeignete Instrumente die Wunden versorgen, Brüche kurieren, Amputationen vornehmen. Sie begegneten mitunter Verletzten, die ihre Helfer gar nicht sehen konnten, weil ihnen die Augen ausgestochen worden waren. Benjamin Siegert hatte in sehr jungen Jahren als angehender Wundarzt die Schrecken von Kriegsereignissen kennengelernt. Zudem musste früh lernen, dass Heereschirurgen nicht nur den Soldaten zu dienen hatten, sondern häufig auch als Allgemeinmediziner der Zivilbevölkerung eingesetzt wurden. Für so manche Patienten kam gar jede Hilfe zu spät. Die permanente Begegnung mit dem Tod zermürbte zusehends. Diese Generation, die ausgangs des 18. Jahrhunderts zur Welt kam, bekam quasi das Unheil bereits in die Wiege gelegt. Diese hartgeprüfte Altersgruppe lernte allerdings auch, was Dinge wie Verlässlichkeit, Treue, Loyalität, Hilfsbereitschaft und Freundschaft in Notzeiten bedeuteten, und richteten die Zukunft ihres Lebens entsprechend ein. Ben Siegert scheint ein solcher gefestigter und gleichwohl heiterer Zeitgenosse geworden zu sein. Jedenfalls deuten sehr viele persönliche Charaktereigenschaften ziemlich klar darauf hin.

    Ein außergewöhnliches Kontrastprogramm: Einmal Waterloo und zweimal Paris!

    Neben den denkbar grausamen und blutigen Herausforderungen des Heereschirurgen durchlebte Ben im krassen Gegensatz dazu grandiose Höhepunkte seines jungen Lebens. Dazu gehörten sicher nicht nur die Übung, das Talent und die frühe Erfahrung im Bereich der medizinischen Operation und Heilung, sondern dass selbst im Krieg die Soldaten auch als Individuen, gewissermaßen außerdienstlich, beeindruckende Höhepunkte erleben durften. Ihnen mag die seltene Gunst der Stunde unvergesslich in fabelhafter Erinnerung geblieben sein. So war es Ben vergönnt, in seinen aufregenden Spätjugendjahren zweimal die faszinierende Weltstadt Paris zu besuchen und die schöneren, ja die wunderbaren Seiten des Lebens kennenzulernen. Welch eine phantastische Stadt, in der vor gut einem Vierteljahrhundert die Revolution stattgefunden hatte! Der Vorort immerwährender Träume von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit! Die Stadt als Held! Und mit welchem Vergnügen hatte Benjamin Siegert in der Oberprima Jean-Jacques Rousseau gelesen und dessen Freiheitsbegriff in sich aufgenommen wie der trockene Schwamm das Wasser: „Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern dass er nicht tun muss, was er nicht will!" Wie oft dachte er in seinem späteren Leben an diese Worte des großen französischen Philosophen – immer dann, wenn er über seinen ältesten Bruder nachgrübelte, der mit ihm zuweilen hart ins Gericht ging. Er empfand sein Leben wie seinerzeit Rousseau zu Recht als sehr entbehrungsreich und auch ein bisschen unstet. Aber mit seinem Lieblingsphilosophen hatte er die Tatsache gemein, dass weder dieser noch er die Französische Revolution live erlebten. Rousseau starb bereits 1778 – Ben wurde erst 1796 geboren. Aber Rousseaus Einfluss und seine Gedanken lebten fort und ließen die Ereignisse von 1789 nicht ohne seinen Geist erdenken. Ebenso zehrte Ben bei seinen späteren politischen Aktivitäten in der bolivarianischen Revolution und danach vom Gesellschaftsvertrag in Lateinamerika, wie ihn sich der verehrte Schöpfer des contrat social vorgestellt haben mag. Der Naturmensch Ben Siegert war gewiss ein glühender Anhänger der natürlichen Lebensweise und Erziehung Rousseaus. Andererseits jedoch zehrte er als überwiegendes „Kind des 19. Jahrhunderts" im Gegensatz zu seinem geistigen Vorbild sehr von der Kultur und praktizierte sie vorbildlich. Er sinnierte häufig über des Philosophen und Schriftstellers Kritik („Der Mensch ist gut, aber durch Kultur verdorben"), ohne sie jemals für sich und die Seinen gelten zu lassen. Dass Kultur so etwas wie Bewusstseinserweiterung bedeuten würde, hätten wahrscheinlich beide unterschrieben. Ben Siegert jedenfalls lebte und erzog seine zahlreichen Söhne und Töchter danach.

    Es mögen in Waterloo nicht nur die Pausen und Entspannungsphasen gewesen sein, die Ben genügend Kraft tanken ließen, bevor er sich wieder mit Nadel, Faden, Messer und Knochensäge an die Hilfe schwerverletzter Kameraden machte. Die geschilderten Grausamkeiten des Schlachtfeldes haben ihn die Grenzbereiche des Seins erleben lassen. Für seine aufopferungsvollen Taten und vielen erfolgreichen Operationen erhielt er als Anerkennung die Verdienstmedaille von 1815. Doch wie teuer war diese Ehrung erkauft? Die vielfältigen Traumatisierungen wurden seine lebenslangen Begleiter.

    Am Ende der berühmten Schlacht im belgischen Waterloo war der blutjunge Médicin schon

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