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Die wundersamen Zufälle im Leben des Antiquar Max Braun
Die wundersamen Zufälle im Leben des Antiquar Max Braun
Die wundersamen Zufälle im Leben des Antiquar Max Braun
eBook400 Seiten5 Stunden

Die wundersamen Zufälle im Leben des Antiquar Max Braun

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Über dieses E-Book

Max Braun ist ein unglaublich liebenswürdiger, etwas aus der Zeit gefallener älterer Herr, der in Wien ein Antiquariat für alte und seltene Bücher führt. Er glaubt nicht daran, dass Ereignisse, welcher Art auch immer, plan- und zwecklos in das Leben der Menschen hereinbrechen, sondern ist davon überzeugt, dass hinter allem eine weise Bedeutung liegt, die sich denjenigen Menschen erschließt, die bereit sind, nicht nur die positiven Geschehnisse, sondern auch die Widrigkeiten des Lebens anzunehmen. Der Zufall ist sein guter Freund. Und manchmal muss er diesem Freund zur Hand gehen, vor allem dann, wenn es um die Liebesbeziehungen seines Neffen Konstantin geht.
Dass aber ausgerechnet ihn die Liebe wie ein Blitzschlag trifft, das hat Max nun ganz und gar nicht für möglich gehalten, schließlich hat er sich in seiner selbstgewählten Genügsamkeit ganz gut eingerichtet und muss nun lernen, mit diesem Gefühlskarussell umzugehen, was ihn vor große Herausforderungen stellt.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum15. Juni 2021
ISBN9783347317888
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    Buchvorschau

    Die wundersamen Zufälle im Leben des Antiquar Max Braun - Christa Pridnig

    MAX

    Max Braun’s Buch-Antiquariat lag eher unscheinbar in einer Seitenstraße, nicht weit vom hektischen Verkehr der Ringstraße entfernt. Hier fuhren nur wenige Fahrzeuge vorbei, weil die Straße eng war, aber die Fiaker nutzten sie gerne, und so hörte man immer wieder das Klacken der Pferdehufe auf dem steinernen Pflaster. Menschen, die vorbeischlenderten, blieben aber gerne stehen und freuten sich an dem etwas schrulligen Schaufenster, das aussah, als wäre es seit hundert Jahren nicht verändert worden. Das war wohl darauf zurückzuführen, dass man sehr alte und seltene Bücher sah, von denen manche vergilbt, andere leicht zerschlissen waren und manche, die geöffnet dalagen, eingerissene Seiten hatten. Neben jedem Buch lag, hübsch eigerahmt, eine kurze Beschreibung über Autor, Inhalt, Alter und manchmal ein Hinweis, woher es kam. Ein Text, der an der Scheibe angebracht war, wies darauf hin, dass man bemüht sei, bei der Suche nach speziellen Erstausgaben oder anderen, längst vergriffenen Exemplaren behilflich zu sein. Blickte man in den Verkaufsraum, so konnte man sich in einer alten Bibliothek wähnen. Der große Raum hatte ein Gewölbe und alle Wände waren mit Regalen versehen. Eine verschiebbare Leiter vor jeder der Bücherwände ermöglichte es, auch den höchsten Punkt zu erreichen. Ein Pult, auf dem sich Bücher scheinbar ungeordnet stapelten, stand nahe an der Eingangstüre, die im Übrigen einen Glockenton anschlug, sobald ein Kunde das Geschäft betrat. Schließlich fiel jedem Besucher auch die altmodische Kassa sofort ins Auge. Das schwarze Ungetüm klingelte, sobald Max Braun auf einen Knopf drückte, um die Geldlade aufspringen zu lassen. Was dieses alte Ding betraf, war er noch nicht zu bewegen gewesen, sich umzustellen. Aber in seinem Hinterzimmer stand ein Computer, von dessen Vorzügen er sich durch seinen Neffen Konstantin, wenn auch nur zögernd, überzeugen hatte lassen. Anfangs konnte er sich nicht vorstellen, wieviel leichter es sein würde, bei seinen Nachforschungen das Internet zu befragen, das ihm schier unglaubliche Möglichkeiten und Kontakte bot. Und so saß er oft, lange nachdem das Geschäft durch das Herablassen des Eisengitters gesichert war, vor dem Bildschirm und scrollte sich durch die unglaublichen Weiten des World Wide Web, Konstantin sei Dank!

    Konstantin war sein Neffe. Er war gerade vierzehn Jahre alt geworden, als seine Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben kamen. Die Mutter war Max jüngere Schwester Helene gewesen, eine lebensfrohe Frau, die gerne und oft lachte und das Leben nur von der schönsten Seite sah. Helene und Horst, ein Student der Mathematik und der Physik, hatten sich kennengelernt und – im wahrsten Sinne des Wortes - Hals über Kopf ineinander verliebt, als Helene mit einer Freundin am Wörthersee Urlaub machte. Horst jobbte in einem Hotel als Kellner, das direkt neben einer kleinen Pension lag, in dem die beiden Freundinnen logierten. Eines Abends, nachdem Horst‘s Schicht vorbei war, sprang er mit einem kühnen Sprung in das herrliche Wasser des Sees, um den Stress des Arbeitstages loszuwerden. Und tauchte mit seinem Kopf fast genau unter dem Hals von Helene auf, die laut aufschrie, weil sie mit einem Seeungeheuer nicht gerechnet hatte. Als Horst merkte, welchen Schrecken er ausgelöst hatte, versuchte er zerknirscht stammelnd, sich zu entschuldigen. Gleichzeitig schüttelte er seinen Kopf so hin und her, um seine Ohren freizukriegen, dass seine Haare um seinen Kopf flogen wie bei einem nassen Hund, der gerade aus dem Wasser kam. „Danke schrie Helene, „Sie können die Dusche jetzt abstellen. Dem armen Kerl war diese Sache derartig peinlich, dass er ihr bis zum Steg nachfolgte. Nachdem beide Boden unter ihren Füßen spürten, fing Helene so herzlich zu lachen an, dass Horst endlich aufatmete. Das war der Beginn ihrer großen Liebe und fortan erzählten sie immer wieder, wie es sei, sich „Hals über Kopf" zu verlieben.

    Horst war ein besonnener und eher zurückhaltender Mensch gewesen. Helene war sein Gegenstück, extrovertiert, immer fröhlich und es gab kein Problem, das nicht zu lösen gewesen wäre. Das Glück wurde mit Konstantin vollkommen, der mit der stillen, aber gütigen Sachlichkeit des Vaters und der überschäumenden Lebensfreude seiner Mutter zu einem aufgeschlossenen und liebenswürdigen Menschen heranwuchs.

    Max, der zum damaligen Zeitpunkt schon den unbeschreiblich schweren Verlust seiner Frau und seiner kleinen Tochter hinter sich bringen musste, konnte den neuerlichen Schmerz, der mit dem Tod der Schwester und des Schwagers über ihn gekommen war, nur bewältigen, weil diese ihm ihren Sohn anvertraut hatten, für den er ab nun nicht nur zu sorgen, sondern den er durch eine der schwierigsten Phasen des menschlichen Lebens, der Zeit der Pubertät, begleiten musste. Mehr als einmal war er am Verzweifeln. Wie niemand sonst konnte er verstehen, was in Konstantin vorging, wusste er doch selbst am besten alles über Schmerz, Trauer und Verlust. Manchmal versuchte er ihm zu erklären, dass zum Leben auch der Tod gehörte, und dass niemand darauf Einfluss habe, wen es wann und vor allem wieso traf, war sich aber im selben Augenblick darüber im Klaren, dass ein Vierzehnjähriger lieber seine Wut und seinen Zorn herausbrüllte, als den geringsten Versuch zu wagen, seinem Onkel zuzuhören. Max hatte ja selbst keine Antworten auf die ewigen Fragen des Warum und Wozu. Dennoch versuchte er, sich jeden Tag dazu zu überwinden, ihm neue Hoffnung zu vermitteln. Er hoffte auf den Faktor Zeit, der von Tag zu Tag in weiterer Ferne zu liegen schien.

    Tatsächlich aber heilte die Zeit die offenen Wunden, wenn auch die Narben blieben. Und manchmal stieß man sich an irgendetwas und sie fingen an, zu bluten. Sie waren Teil der Persönlichkeit geworden, die man mit sich führte wie einen Stempel, der unzerstörbar in die Haut eingebrannt ist und die Fähigkeit besaß, sich zu gegebener Zeit in Erinnerung zu rufen, vor allem dann, wenn es darum ging, sehr sorgsam und behutsam mit dem kostbaren Leben umzugehen.

    Max erinnerte sich später nicht mehr an seine Bemühungen, wie es ihm gelungen war, Konstantin aus dem tiefen Loch zu helfen. Doch dieser hatte ihm einmal erzählt, es wären bestimmte Sätze gewesen, die ihm geholfen hätten, sich Stück um Stück voranzutasten in das Leben, das vor ihm lag. „Du wirst schon sehen, dass du bei all dem Verlust ein Glückskind bist, hatte er gemeint, „weil deine Eltern dir nicht nur so viel mehr Liebe mitgegeben haben als andere Kinder es in ihrem ganzen Leben jemals erfahren dürfen, sondern auch, weil du klug bist, großartig aussiehst und bei all dem großen Verlust die Gewissheit hast, dass dir das Leben viel mehr rückerstatten wird als du es dir vorzustellen vermagst. Das sind einfach Lebensgesetze, Konstantin. Wem viel genommen wird, dem wird als Ersatz auch viel Weisheit, viel Mut, viel Erkenntnis, viel Reife, und vor allem viel Zufriedenheit gegeben werden, etwas, das du später vielen anderen voraushaben wirst. Da hatte Max sich erinnert, dass er dem jungen Mann diese leeren Worte als eine Einstellung zu vermitteln versucht hatte, die er selbst nicht aufzubringen vermochte, weil er davon überzeugt war, dass diese Weisheit in seinem eigenen Leben nicht zum Tragen gekommen war.

    Inzwischen waren weitere vierzehn Jahre vergangen und die besondere Zuneigung der beiden Männer zueinander hatte sich nicht nur gefestigt, sondern mit zunehmendem Alter auf beiden Seiten verstärkt. Als Mann konnte Max sich auf eine Weise mit dem Jüngeren austauschen, wie es eine Frau vielleicht nicht so imstande gewesen wäre. Das große Wissen seines Onkels und die Fähigkeit, sich mit viel Verständnis mit ihm auseinanderzusetzen, ohne in Streit zu geraten, imponierten Konstantin. Der wiederum, sobald er das Schlimmste hinter sich gelassen hatte und seine jugendliche Fröhlichkeit und Unbekümmertheit zurückkamen, half seinem ernsten, zurückhaltenden Onkel, einen Teil von dessen Leichtigkeit und Heiterkeit zurückzugewinnen, die dieser schon längst begraben glaubte. Natürlich fehlte der weibliche Einfluss und vielleicht war das ja auch mit ein Grund, weshalb Konstantins Umgang mit Frauen jegliche Ernsthaftigkeit oder Zuverlässigkeit vermissen ließ. In dieser Hinsicht gingen die Ansichten zwischen Onkel und Neffen doch ziemlich auseinander, auch wenn Max Konstantins Umtriebigkeit doch einer gewissen jugendlichen Unbekümmertheit zuschreiben konnte.

    Nach der Matura hatte Konstantin beschlossen, Informatik zu studieren. Seine Interessen lagen weniger in den schönen Künsten, sondern im technischen Bereich. Wohl ein Erbe seines Vaters. Heute hatte er eine eigene IT-Firma. Wenn er allerdings versuchte, Max etwas über seine Tätigkeit zu erzählen, verstand dieser nicht das Geringste. Wer sollte Begriffe wie Netzwerk, Server- oder Storagelösungen erfassen, oder begreifen, was ein Backup, eine Cloud, Hosting oder Evaluierung überhaupt bedeuteten. Es sei ganz einfach, versuchte Konstantin seinem Onkel zu erklären, er arbeite an Kommunikationslösungen für Betriebe. Auch gut, dachte Max, auch wenn er sich nicht erklären konnte, wozu Betriebe Lösungen für Kommunikationen brauchten. Aber wenn es ihn glücklich machte!

    Konstantin hatte eine eigene Wohnung, kam jedoch immer wieder, um seinen Onkel zu besuchen und zu versuchen, ihn zu diesen und jenen Vorteilen der digitalen Möglichkeiten zu überreden. Ein ziemlich nutzloses Unterfangen, bis auf die Tatsache, dass er ihn überzeugen konnte, sich mit einem Computer auseinanderzusetzen und darüber hinaus im Geschäft eine Musikbeschallung zu installieren. Max Braun hatte nämlich neben seiner Leidenschaft für Bücher noch eine weitere, nämlich die klassische Musik. Und so konnten seine Besucher den Klaviersonaten Mozarts, Beethovens oder Schuberts zuhören, während sie im Laden stöberten. Die sanften Klänge verliehen dem Raum eine zusätzliche Atmosphäre der Erhabenheit, einer Würde und Exklusivität, ja, man konnte behaupten, sich in solchen Momenten in ein magische Welt versetzt zu spüren. Max hatte erst kürzlich von einer Studie gelesen, wonach Musik, vor allem die jener Klassiker, die auch er bevorzugte, einen ungeahnten Einfluss auf die Psyche und die Gesundheit hatte. Dadurch, dass sie das vegetative Nervensystem und auch das Herz- und Kreislauf-System kontrolliere, habe die Musik indirekten Einfluss auf die Herz- und Atemfrequenz sowie den Blutdruck. Sie beruhige und reduziere Stresshormone, wodurch es nicht nur zu hormonellen, sondern vor allem auch zu emotionalen Veränderungen komme. Klassische Musik besitze eine unglaubliche Heilkraft, wurde behauptet. Soweit die Wissenschaft. Max hatte selbst festgestellt, dass sich seine Besucher, wenn sie sich eine Weile hier aufhielten, veränderten. Sie verharrten länger auf einem Platz, ihre Köpfe drehten sich bedächtiger, die Hände strichen langsamer über Buchrücken und ihre Augen schlossen sich öfter.

    In einer Ecke standen zwei alte, bequeme Ledersessel. Dazwischen befand sich ein kleines Tischchen, auf dem sich eine Tischlampe von Max Le Verrier aus den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts befand. Die schlanke, nackte Frau in einer etwas merkwürdigen Pose hielt einen dekorativen Kugelschirm aus Milchglas in ihrer Hand. Max hatte sie von seinem Vater geerbt, der sie auf seinem Schreibtisch stehen hatte und, wie Max sehr wohl beobachten konnte, diese auch immer wieder nachdenklich, wenn nicht sogar manchmal begehrlich betrachtete. Nun also stand jene Dame hier in seinem Buchladen, verbreitete ihr warmes Licht und genoss die lustvollen Blicke, die sie in den heutigen freizügigen Zeiten aber wohl viel eher aus materiellen Gründen auf sich zog.

    Oft kam es vor, dass sich Menschen über einen längeren Zeitraum hier aufhielten, ohne ein Buch zu kaufen. Sie standen ganz still, lauschten oder setzten sich nieder und schienen von der magischen Atmosphäre wie verzaubert. Max Braun genoss es, diese Stimmung mit seinen Besuchern zu teilen. Er freute sich, auch wenn sie nichts zu kaufen gedachten und nicht selten entwickelten sich auch wunderbare Gespräche, von denen er noch länger zehrte.

    Er sah die junge Frau schon des Öfteren. Sie kam, meistens samstags, in seinen Buchladen, um zu stöbern, dieses und jenes Buch in die Hand zu nehmen, ein paar Seiten aufzuschlagen, und es wieder zurückzulegen. Er hatte sie einmal gefragt, ob sie etwas Bestimmtes suche, aber sie hatte verneint und mit sehnsüchtigem Blick gesagt, sie liebe es, diese alten Bücher zu betrachten, sie in Händen zu halten, darin zu blättern. Nein, kaufen wolle sie nicht, sie habe leider nicht so viel Geld, sich eines dieser seltenen Exemplare leisten zu können. Aber, wenn er nichts dagegen habe, würde sie gerne hin und wieder vorbeischauen und sich einfach nur ein wenig umschauen, diese wunderbare Atmosphäre genießen und dem Trubel des Alltags entgehen.

    „Dafür ist mein Geschäft der beste Platz", hatte Max gesagt und gelächelt. Ihre Bewegungen waren wie ihre Stimme leise und sanft. Ihre Begeisterung für Bücher zeigte sich nicht in großen Worten oder Gesten, sondern in ihren glänzenden Augen. Bei jedem ihrer Besuche freute er sich, sie zu sehen und sie plauderten über die Bücher und bald über Gott und die Welt. Sie sei Studentin, erzählte sie, Studentin der Biologie. Diese Studienrichtung biete so viele Möglichkeiten, ein schier unglaubliches Feld, aber sie sei sich noch nicht sicher, wie sie sich entscheiden würde. Sie komme aus Kärnten, in der Nähe von Villach. Hier in Wien wohne sie in einem kleinen Untermietzimmer, kaum 12 Quadratmeter groß, aber es genüge ihr. Ein anderes Domizil würde ihr zu teuer kommen, schließlich müsse sie sich ihr Studium größtenteils selbst finanzieren. Das mache sie, indem sie in den Ferien in Saisonbetrieben als Kellnerin arbeite oder hier manchmal auf kleine Kinder aufpasse. Und auch sonst jede Arbeit annehme, die sie nur kriegen konnte. Zusammen mit einer kleinen Waisenrente käme sie ganz gut über die Runden.

    Julia, sie hatte ihm bei einem ihrer letzten Besuche ihren Namen verraten, hatte ein seltsames Gefühl in ihm ausgelöst. So hätte Eva wohl aussehen können, dachte er bei sich. Oder vielmehr, genauso hätte er sie sich gewünscht. Seine Tochter, die er nicht aufwachsen sehen konnte, weil ein unbarmherziges Schicksal sie ihm entriss, als sie gerade mal vier Jahre alt gewesen war. Und natürlich ginge Eva heute auch schon auf die vierzig zu, so gesehen hätte Julia schon fast seine Enkelin sein können.

    Hätte, wäre, könnte! Der Konjunktiv hatte sich in all den Jahren als immerwährender Begleiter in seinen Sprachgebrauch eingenistet. Natürlich war nun nach bald einem halben Jahrhundert der Schmerz längst abgeklungen, aber die Erinnerungen und die Sehnsucht nach allem, was er damals zurücklassen musste, waren geblieben, auch wenn sie sich nur mehr selten zeigten. Aber der Besuch dieser jungen Frau hatte seit längerer Zeit wieder einmal einen Pfad in seine Vergangenheit geschlagen. Er hatte damals nicht nur seine Tochter verloren, sondern knapp ein Jahr später auch seine Frau, der dieser schreckliche Verlust offenbar so zugesetzt hatte, dass sie unheilbar an Krebs erkrankte. Manchmal erinnerte er sich an ihren letzten Ausflug in den Burggarten an jenem wunderbaren Sonntag im Mai. In ganz Wien blühten die Kastanienbäume, die Sonne strahlte von einem tiefblauen Himmel und der leichte Wind war sanft und angenehm. Sie war schon sehr schwach gewesen von den Behandlungen, genoss aber die Wärme und seine Fürsorge. „Max, hatte sie gesagt, „mach dir das Herz nicht so schwer, wenn ich nicht mehr bin. Versprich mir, dass du einem neuen Leben eine Chance gibst, öffne dich einer Frau, die deine wunderbare Art lieben darf und mit der du Kinder haben kannst, auf die du gut aufpassen wirst. Er hatte nach ihren Worten bitterlich geweint und gegen alle Prognosen auf ein Wunder gehofft, das natürlich nicht eintraf. Und so ging innerhalb eines Jahres sein bisheriges Leben in die Brüche.

    Nach dem Verlust hatte er seine Arbeit als Lektor in einem Verlag von heute auf morgen gekündigt, das Haus verkauft, und sich eine Wohnung gemietet, die über einem Hutgeschäft lag, das wohl schon in die Jahre gekommen war, und mehr schlecht als recht dahindümpelte. Und so kam es, dass ihn die alt und müde gewordene Besitzerin, die er bald nach seinem Einzug kennengelernt hatte und die ihm immer, wenn er ihr begegnete, ihr Leid klagte, anbot, das Geschäft zu übernehmen. Er hatte sich ein Jahr Bedenkzeit ausbedungen, war viel herumgereist, aber die Einsamkeit und die Leere waren mit ihm gegangen. Als er merkte, dass sein Kummer und seine Trauer sich erschöpften und sich die Wunden langsam schlossen, da kehrte er zurück, entschied sich zu bleiben und nahm das Angebot an. Bücher waren von jeher seine Passion gewesen und er konnte aus seiner beruflichen Zeit noch auf etliche Kontakte zurückgreifen, die seinem Geschäft nützlich sein konnten. Dennoch blieb er viele Jahre verschlossen und in sich gekehrt. Das Geschäft schien, wie sein Inhaber, originell, aber düster und verschroben, bis sich durch das Zusammenleben mit Konstantin alles langsam, aber stetig öffnete.

    Nach und nach hatte sich Max‘ Buch-Antiquariat zu jener Besonderheit entwickelt, die es bis jetzt auf seine Besucher ausübte: ein verwunschener Fleck inmitten einer Großstadt, ein bisschen aus der Zeit gefallen, beschaulich, liebenswert, pittoresk.

    „Wofür brennt Ihr Herz besonders?" hatte er Julia einmal gefragt.

    „Oh, es gibt so vieles, das ich gerne lesen würde. Wenn ich einmal viel Geld hätte, würde ich mir eine Erstausgabe von Alexander von Humboldt‘s ‚Kosmos‘ kaufen. Ich hatte einmal dieses Werk anlässlich einer Exkursion in einem Museum gesehen. Ich durfte es in die Hand nehmen und darin blättern. Wie Humboldt selbst sagte, sei dieses fünfbändige Werk eine ‚poetische Darstellung von wissenschaftlichen Inhalten‘. Und dann hab ich mich einfach auch so ein wenig intensiver mit seinem Leben beschäftigt, wirklich unglaublich" sagte sie. Ihre Augen leuchteten.

    Max lächelte. „Ja Humboldt war in vielerlei Hinsicht ein bemerkenswerter Mann, sagte er. „Wussten Sie zum Beispiel, dass er in seinem Leben mehrere tausend Briefe geschrieben – und wohl auch erhalten hat? Und dass er mehr als einmal in Lebensgefahr war? Ich denke, neben seiner unglaublichen Forschertätigkeit war er wohl einer der interessantesten und auch mutigsten Menschen, über die ich gelesen habe. Es gibt einige andere Berichte über lebensgefährliche Situationen, aber inzwischen weiß man nicht so genau, wie intensiv seine Abenteuer tatsächlich gewesen waren, weil er ja bekanntermaßen auch eine begnadete Ader zum Dramatisieren besaß.

    Julia lachte. „Ja, das stimmt tatsächlich! Dennoch hat er versucht, und das ist auf jeden Fall erwiesen, einen über 6.000 m hohen Berg in Ecuador zu besteigen"

    „Ja, den Chimborazo".

    „Das muss man sich einmal vorstellen, mit damaligen Mitteln. Und er schaffte es bis ungefähr 400 Meter unter dem Gipfel. Was für die heutige Zeit Reinhold Messner ist, war Humboldt eigentlich schon zweihundert Jahre früher, und das auch ohne zusätzlichen Sauerstoff!"

    Und so unterhielten sie sich noch eine ganze Weile über Humboldt. Dann sagte Max plötzlich: „Ich hatte vor Jahren den fünfbändigen Kosmos angeboten bekommen. Und ihn recht schnell verkauft."

    „Ja, das kann ich mir vorstellen. Wenn ich einmal viel Geld verdiene, komme ich und Sie werden ihn mir besorgen, nicht wahr?"

    „Liebend gerne sagte Max. „Ach, da fällt mir ein, ich hätte vielleicht etwas für Sie. Ich denke, das wäre erschwinglich und auch eine sehr alte Ausgabe. Warten Sie einen Moment. Er verschob die Leiter auf einen bestimmten Platz und stieg hinauf. Zielsicher holte er ein Buch heraus, ein bisschen vergilbt und mit leichten Stockflecken. „Es sind Forschungen und Reisen von Humboldt nach Amerika und Russland. Eine erste deutsche Ausgabe. Da würde ich Ihnen im Preis gerne entgegenkommen."

    Julia strahlte. Sie blätterte ein wenig in dem Buch herum und entschied sich spontan, es zu erstehen. Sie musste sich einfach einmal etwas leisten!

    Max schlug das Buch in Papier ein und nahm das Geld entgegen. In diesem Moment erklang die altmodische Türglocke und Konstantin stürmte in das Geschäft. Sowohl Max als auch Julia wandten ihre Augen zur Eingangstür. Als Konstantin die junge Frau sah, die sich offensichtlich gerade sehr intensiv mit seinem Onkel unterhalten hatte, entschuldigte er sich höflich und machte ein paar Schritte auf den rückwärtigen Raum zu, ehe er abrupt stehen blieb und sich umdrehte. Und da stand er, wie vom Blitz getroffen. Er starrte die junge Frau an und sagte kein Wort. Julia sah zu ihm hinüber und lächelte. Max begann, ob dieser skurrilen Situation zu schmunzeln und sagte dann zu Julia, indem er auf den offenbar festgewurzelten jungen Mann deutete: „Mein Neffe Konstantin. Es scheint, als wäre er zur Salzsäure erstarrt!"

    „Dann wäre es nicht uninteressant zu erfahren, was ihn so erstarren ließ" sagte Julia.

    „Entschuldigen Sie, mein Onkel wird bestätigen, dass es nicht meine Art ist, jemanden so unverhohlen anzustarren. Aber…" Und damit waren seine Ausführungen auch schon zu Ende.

    „Aber?" fragte Julia. Max beobachtete die beiden mit wachsendem Vergnügen.

    „Aber sagte Konstantin, machte zwei Schritte in Julias Richtung, und blieb dann abrupt stehen, „aber ich habe noch niemals so, so.. Und schloss wieder seinen Mund.

    Max wollte die Situation unbedingt ausnutzen und fragte daher bewusst hinterhältig: „So? So was ..? Er wartete einen Augenblick und fuhr dann fort: „Was, Konstantin?

    „Sorry, tut mir Leid! sagte Konstantin und wandte sich wieder um. „Ich habe gestern etwas hier liegen gelassen, das ich holen muss. Und bei deinem Programm muss ich auch noch etwas umzustellen. Fast etwas linkisch drehte er sich um und verschwand im hinteren Raum.

    Max unterdrückte ein heftiges Lachen, das aus seiner Kehle aufstieg, hüstelte daher leicht und meinte dann: „Konstantin, müssen Sie wissen, ist gewöhnlich überaus höflich und charmant. Vor allem zu jungen Damen. Aber irgendetwas muss ihn aus dem Konzept gebracht haben. Julias Gesicht hatte eine leichte Röte überzogen. Auch sie schien plötzlich sehr verlegen zu sein, denn sie sah Max an und fragte: „Habe ich was Falsches gesagt?

    „Aber nein, ganz und gar nicht."

    Und so, als würde sie sich plötzlich besonnen haben, dass dies eine sehr merkwürdige Situation war, der sie sich rasch entziehen sollte, drehte sie sich um und eilte zur Türe. „Entschuldigen Sie bitte, aber ich muss dringend los. Auf Wiedersehen!"

    Als beim Verlassen des Geschäftes die Türglocke anschlug, kam Konstantin zurück und blickte sich suchend im Raum um. „Ist sie schon gegangen?" flüsterte er.

    „Wer?" fragte sein Onkel. Seine Stimme klang eindeutig scheinheilig.

    „Ach, Max!" Konstantin seufzte.

    Max nach einer Weile: „Was war das eben, bitte schön?"

    „Was?"

    „Na, dein merkwürdiges Verhalten."

    „Wer war das, Max? Kennst du sie näher?"

    In diesem Moment brummte sein Handy, das in seiner hinteren Jeanstasche steckte. Er zog es heraus, nicht ohne seinen Onkel weiterhin fragend anzusehen. Dieser aber deutete nur auf das Telefon in Konstantins Hand.

    „Ja, was ist, Emma? Nein, hab ich nicht. Ja, ich bin hier bei Max. OK, ich komme sofort!"

    Er steckte das Handy wieder in seine Hosentasche. „Also Max, wer war das?"

    „Keine Ahnung, sagte Max, „eine nette Kundin.

    „Ja, kennst du sie näher?"

    „Nein, ich weiß nur, dass sie Julia heißt und hier in Wien studiert. Sie kommt mich immer wieder besuchen und sie scheint eine liebenswerte, kluge und reizende junge Dame zu sein. Mehr weiß ich auch nicht".

    „Wann kommt sie gewöhnlich hierher?" fragte Konstantin.

    „Meist samstags, hin und wieder aber auch unter der Woche. Interessierst du dich für sie?" fragte Max mit einem ironischen Unterton.

    „Mal sehen". Konstantin hatte sich wieder gefangen.

    Einmal mehr in seinem Leben spürte Max, dass diese Situation kein Zufall in dem Sinn war, wie ihn die meisten Menschen verstünden. Er war ein Freund dieses merkwürdigen Phänomens, von dem die alten Griechen meinten, dass ein Geschehnis, dass im strengen Sinn nicht wegen etwas eintrat und gewissermaßen ursachenlos stattfand, das Ergebnis also keine kausale Erklärung hat, Zufall genannt wird. Max war ganz und gar nicht dieser Meinung und hielt sich lieber an Marie von Ebner Eschenbach, die gemeint hat, der Zufall sei die in einen Schleier gehüllte Notwendigkeit. Eine Notwendigkeit, dem Menschen aufgrund eines vermeintlich ursachenlosen Ereignisses eine neue Richtung vorzugeben. Er war überzeugt, dass es viel mehr außerhalb der Kausalketten des Lebens gab und der Zufall auf einen absoluten, aber unerkennbaren Willen Gottes zurückzuführen war oder, wer nicht an Gott zu glauben vermochte, eben auf ein kosmisches Gesetz.

    So war er sich sicher, dass diese Situation Folgen haben würde. Die Folgen spürte er bereits Samstag für Samstag. Sein Neffe hielt sich jeweils unter den merkwürdigsten Erklärungen über mehrere Stunden bei ihm auf. Vergeblich, wie sich herausstellen sollte, denn Julia kam nicht mehr.

    Später hatte Konstantin seinem Onkel gestanden, dass ein Blick in deren blaue Augen ihn wie ein Blitz getroffen habe. Er sei so verlegen gewesen, dass er mit dieser Situation überhaupt nicht umgehen konnte, ein Umstand der ihm, wie Max wusste, total fremd war. Schließlich sei er noch nie um ein Wort verlegen gewesen, vor allem nicht bei jungen Damen, aber diese kurze Begegnung habe ihn total aus der Fassung gebracht.

    Nun waren beide enttäuscht. Max machte es traurig, dass sie in sein Leben getreten war, sein Herz berührte, um es aus unerklärlichen Gründen wieder zu verlassen. Und Konstantin wusste mit der vergebenen Chance und der leisen Wehmut, die ihn manchmal beschlich, nicht recht umzugehen. War sie weggezogen? Studierte sie nicht mehr? Was immer die Ursache war, sie würden es wohl nicht erfahren.

    Und Max‘ Freund, der Zufall, trat wenige Tage wieder in sein Leben. Es erreichte ihn der Anruf eines ihm bekannten Händlers, der ihm die „Kosmos-Werke" von Humboldt anbot. Als Erstausgaben. Natürlich griff er zu. Als das Paket eintraf, stellte er die Bücher in seine Auslage. Wie üblich, legte er auf einem gesonderten Blatt die Erklärung zu diesem Werk dazu:

    Erstausgabe!

    „Der Kosmos – Entwurf einer physischen Weltbeschreibung"

    ist ein vierbändiges Werk des deutschen Universalgelehrten Alexander von Humboldt, in welchem er dem Leser eine Gesamtschau der wissenschaftlichen Welterforschung zu vermitteln suchte, „die Erscheinung der körperlichen Dinge in ihrem Zusammenhange, die Natur als durch innere Kräfte bewegtes und belebtes Ganzes". Die Bände erschienen 1845 bis 1862. Der fünfte und letzte Band ist Fragment geblieben und wurde postum veröffentlicht.

    Diese Exemplare sind leider unverkäuflich! Sie sind eine Leihgabe, die mir bis auf Widerruf überlassen wurde.

    Natürlich hatte er die Bücher regulär erstanden. Aber er hatte nicht vor, sie weiterzuverkaufen. Die Gründe lagen vor jenen Wochen, die inzwischen verstrichen waren. Max, du alter Mann, schilt er sich, wie kannst du nur so sentimental sein?

    JULIA

    Julia stieg langsam die 260 Stufen zum Grazer Uhrturm hinauf. Mehrmals wurde sie von Joggern überholt, die schwitzend und keuchend an ihr vorbeihasteten. Sie dachte an ihren Bruder, von dem sie sich gut vorstellen hätte können, er wäre einer von ihnen. Er war, im Gegensatz zu ihr, immer sportlich gewesen, muskulös, immer in Bewegung. Ihr Herz verkrampfte sich. Dann lehnte sie sich an die Brüstung und schaute auf die Stadt unter ihr. Heute war der erste Tag seit über vier Monaten, an dem sie sich frei nahm, um zu versuchen, auch selbst wieder ein wenig Kraft zu tanken. Wenn das so einfach wäre! Ein herrlicher Tag ohne Wolken, dieser kleine Ausflug bei milden Temperaturen und fröhlichen Familien, die ihr begegneten, waren jedoch kein wirklicher Schutz gegen die anrollenden Gedanken und die Sorgen über die Zukunft.

    Sie musste ihr Studium in Wien Hals über Kopf abbrechen, um hier zu sein, wo es um Leben und Tod gegangen war, um das Leben ihres einzigen Bruders, der hier in der Steiermark einen folgenschweren Unfall erlitten hatte. Die Ereignisse hatten sich überschlagen und immer noch fühlte sie sich wie in einem Karussell, das sich immer weiter drehte.

    Der Anruf, den sie damals bekam, stellte ihr bisheriges Leben auf den Kopf. Viktor hatte mit seinem Motorrad einen Unfall gehabt und war hier in die Universitätsklinik eingeliefert worden, von wo aus man sie verständigte. Natürlich setzte sie sich in den nächsten Zug und musste entsetzt erfahren, dass ihr Bruder eine schwere Wirbelsäulenverletzung erlitten hatte und umgehend operiert werden musste, um sein eingeklemmtes Rückenmark zu entlasten und die Wirbelsäule zu fixieren. Wie schwer sich die Verletzungen tatsächlich auswirken würden, konnte man aufgrund des gequetschten Rückenmarks noch nicht absehen. Tatsache war, dass die Rumpfmuskulatur und die unteren Gliedmaßen gelähmt waren. Schlimmer als seine Schmerzen und die Rehabilitation war sein psychischer Zustand. Seinem zornigen Willen, seinem Leben ein Ende zu setzen, standen intensive Bemühungen von Psychotherapeuten entgegen, vor allem aber ihre eigenen, geduldigen Bestrebungen, die liebevollen Gespräche, Worte, Handlungen und Versprechungen, immer für ihn da zu sein. Julia verbrachte die ersten Wochen stets in seiner Nähe, zuerst im Krankenhaus, später in der Reha. Sie half, tröstete und ertrug seine Anklagen, seine Wut und seine Verzweiflung. Tagtäglich erkannte er mehr von den Einschränkungen, die ihm wohl für den Rest seines Lebens bevorstehen würden, seinen Verlust von Empfindungen und Berührungen, die Schmerzen, die eingeschränkten Funktionen von Darm und Blase und auch der Sexualität. Weder ihr Bruder noch sie selbst konnten sich vorstellen, wie lange Körper und Geist an Zeit brauchen würden, um solche unsagbar erlittenen Verluste zu betrauern und sie irgendwann zu akzeptieren. Seine Freunde, allen voran Ian, versuchten über viele Wochen, ergebnislos, ihn zu erreichen. Er drückte alle weg, wenn sie anriefen und auf die Mails

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