Frischlufttherapie
Von Gudrun Bernhagen
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Über dieses E-Book
Überlieferte und selbst erlebte Geschichten der Autorin werden hier unterhaltsam und zum Schmunzeln erzählt.
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Buchvorschau
Frischlufttherapie - Gudrun Bernhagen
Aller Anfang
Also wenn man sich fragt, wie alles anfing, bis wohin muss man dann zurückgehen? Reicht es, sich auf das Jahr 1928 zu beschränken oder liegen die eigentlichen Anfänge schon weit davor? Wald- und Wiesenlandschaften gab es schon seit Jahrhunderten. Aber was wäre der Zeltplatz ohne den See? Und der ist vielleicht noch mehr als 10 Jahre älter. Und wäre der See nicht gewesen, hätten sich die ersten Zeltler sicherlich ein anderes schönes Fleckchen Erde gesucht.
Diesen Brandenburger See in der Nähe von Berlin und viele andere in der Umgebung der Hauptstadt verdanken wir der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In jener Zeit entstanden in Berlin viele Großbetriebe. Die dafür notwendigen Arbeiter kamen aus allen Himmelsrichtungen in die damalige Reichshauptstadt. Es mussten Wohnhäuser, Schulen, Krankenhäuser, Bahnhöfe und vieles andere mehr in großer Zahl gebaut werden. Und dazu wiederum benötigte man Ziegelsteine. Unmengen von Ziegelsteinen. Da es dafür rings um Berlin die natürlichen Ressourcen gab, entstanden an die Hundert Ziegeleien und die dafür notwendigen Tongruben in der Umgebung der Stadt. Die dort gebrannten Ziegel wurden mit Schmalspurbahnen oder über Gewässer auf Schiffen nach Berlin transportiert. Um jedoch die Transportzeiten zu verkürzen, wurden später die schon vorhandenen Eisenbahnlinien weiter ausgebaut. Das war zwar teurer aber zeiteffizienter. Nach Beendigung der Abbauarbeiten wurden die Tongruben mit Wasser gefüllt und es entstanden über wenige Jahrzehnte herrliche zusätzliche Badeseen in Berlins Umgebung.
1928 waren somit wichtige Voraussetzungen für einen zukünftigen Zeltplatz gegeben: Wald, Wiesen, Sandflächen und ein Badesee mit sauberem Wasser, das auch viele Jahre als Trinkwasser genutzt wurde. Die schon vorhandenen Eisenbahn- und Buslinien ermöglichten den jungen Leuten die Eroberung der Natur in Brandenburg auch ohne Fahrräder.
Zwischen 15 und 30 Jahre waren die jungen Leute, die als erste 1928 das Gelände an solch einem See für sich entdeckten. Es handelte sich vor allem um Sportler aus der linken Arbeiterbewegung und aus dem Arbeitersportverein „Fichte". Durch die Weltwirtschaftskrise waren viele der Zeltplatzpioniere arbeitslos und hatten somit kein Geld. Einige meldeten sogar den Sommer über Strom und Gas für ihre Wohnungen in Berlin ab und fuhren nur einmal wöchentlich zum Stempeln in die Stadt. Natürlich konnten sie erst recht nicht die Miete für Hallen oder Sportplätze bezahlen. Es war für sie aber kein Problem, sich draußen in der Natur eine Wiese zu suchen, um dort Sport zu treiben. Und so trafen sich die jungen Berliner Sportler regelmäßig, um Handball, Volleyball und später Faustball zu spielen. Dafür wurde mit Hacke und Spaten ein Spielfeld planiert. Der Torf für die Stabilisierung der Sandfläche wurde vom nahen Moor herangeschafft. Schnell wurden auch Zelte aufgestellt, um abends nicht wieder in die Stadt zurückkehren zu müssen. Der Sport, die Lagerfeuerromantik mit Gesang und Gitarrenbegleitung und FKK-Baden sorgten für genügend Spaß und eine gewisse Freiheit in einer schweren Zeit.
Und weil sich dort alle so wohl fühlten, wurde schließlich der Beschluss gefasst, das Stück Wald mit der Wiese zu pachten. Erfolgreich! Der „Grundstein" für den Zeltplatz und für mehrere nachfolgende Generationen war damit gelegt. Schnell entwickelte sich daraus eine große Gemeinschaft, denn es kamen zunehmend auch junge Leute vom Üdersee und aus Nassenheide dazu, die von den Nazis ihres ursprünglichen Geländes verwiesen worden waren.
Bei allen Aktionen auf dem Gelände ging es aber nicht nur darum, Spaß zu haben und die Weltwirtschaftskrise „auszusitzen". Sportfreunde, die Mitglieder des Rotfrontkämpferbundes waren, strebten die Entwicklung einer eigenen Ethik an. Sie wollten das vorherrschende Bildungsmonopol bekämpfen, unterrichteten sich gegenseitig und studierten Theaterstücke ein. Die Schaffung einer neuen Gesellschaft aus eigener Kraft mit eigenen Ideen war ihr Ziel, das sie unter anderem in der Natur zu erreichen versuchten.
Da dies offiziell verboten war, gründeten sozialdemokratische Bewegungen Vereine, eigentlich illegale Parteizellen, die ihr eigenes Bildungspotenzial entwickelten: Züchter-, Naturfreunde- und Sportvereine. Es ging nicht nur um eine gemeinsame Freizeitgestaltung schlechthin, sondern ebenso um eine sinnvolle Lebensgestaltung. So wurden auch schon frühzeitig Sportfeste organisiert. Schwimmen, Ballweitwurf, Kugelstoßen und Laufen waren immer wiederkehrende Disziplinen.
Die Jahre des Nationalsozialismus waren eine schwere Zeit, in der Mitglieder der Arbeiterbewegung verfolgt, eingekerkert oder sogar ermordet wurden. Von der Gestapo aus politischen Gründen Gesuchte und Juden waren auf dem Zeltplatz erst einmal in Sicherheit. In diesen Jahren wurden auf dem Gelände illegal Flugblätter gedruckt und von einem der Sportfreunde, genannt der „Rote Radfahrer", nach Berlin geschafft. Darin wurde gegen die verstärkte Aufrüstung und Kriegstreiberei aufgerufen. Leider vergeblich. Unter Hitlers Führung brach der zweite Weltkrieg aus und das Sportgelände wurde Aufenthaltsort und Versteck auch für die Zeltler, die in der Illegalität tätig waren.
Nach dem Krieg ruhte das Zeltplatzleben, da die Überlebenden in der Stadt für den Wiederaufbau gebraucht wurden. Erst im Sommer 1946 nahmen die Zeltler nach und nach wieder ihre angestammten Plätze auf dem gepachteten Gelände ein. Da der Zeltplatzverein mit wechselndem Namen bis heute aktiv ist, kann er auf eine Geschichte durch vier historische Epochen zurückblicken: Weimarer Republik, Nazi-Deutschland, Deutsche Demokratische Republik und Bundesrepublik Deutschland. Von den ursprünglichen Mitstreitern, die den Grundstein legten, lebt inzwischen keiner mehr. Jedoch leben die vielen Geschichten, die immer wieder erzählt, jedoch bis dato nie aufgeschrieben wurden, in den Köpfen der Nachfolgegenerationen weiter. 90 Jahre Zeltplatzgeschichte waren nun Anlass, einen großen Teil davon endlich einmal schriftlich festzuhalten. Die Erzählungen sind in alphabetischer Reihenfolge angeordnet, ohne die zeitliche Abfolge zu berücksichtigen.
Brillantblau-Metallic
Wie kommt man zur Lieblingsfarbe für sein Auto, wenn diese bei dessen Kauf nicht im Angebot ist? Na, in eine Spezialwerkstatt fahren und das Fahrzeug mit der Wunschfarbe lackieren lassen, so einfach! Aber das war Hansi offensichtlich zu einfach. Er liebt es etwas komplizierter.
Hansi hatte eine Anmeldung für einen Trabbi, wie wahrscheinlich jeder DDR-Bürger. Da ihm die Wartezeit von mindestens 10 Jahren zu lang war, entschied er sich Mitte der70er Jahre für einen Saporoshez. Den gab es schon nach drei Jahren Wartezeit, allerdings nur in Weiß.
Der Saporoshez wurde in der Ukraine, in der damaligen Sowjetunion hergestellt. Schelme behaupten, dass er mit drei Goldmedaillen auf der Allunionsaustellung als kleinster, leisester und komfortabelster Traktor ausgezeichnet wurde. Immerhin war er mit einem luftgekühlten Vier-Takt-Zylinder-Motor, einer Sirokko-Heizung und vier luftbereiften Rädern ausgestattet. So originell wie er war, so waren auch seine Spitznamen: Stalins letzte Rache, Chruschtschows Rache, Sabberfrosch oder Zappelfrosch, Kremlwanze, Russenpanzer, Soljankaschüssel oder Kolchosentraktor. „Wer früher einen Ochsen drosch, fährt heute einen Saporoshez., hieß es auch im Volksmund. Ganz so abwegig können die letzten Bemerkungen nicht gewesen sein, denn immerhin hat Hansi die Mazda fahrende Marie mit seinem „Sappo
überholt, indem er über einen abgeernteten Acker an ihr vorbeiraste.
Das Auto war, wie schon erwähnt, weiß, bis ihm ein anderer Verkehrsteilnehmer hinten auffuhr. Ist da Hansi wohl kurz mal auf die Bremse getreten, um einen Grund für eine neue Lackierung zu haben? Wird aus dem weißen nun endlich sein brillantblaues Auto? Blau schon, aber nur ein schnödes einfaches Blau. Mehr gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Die Traumfarbe gab es erst später und auch nur in einer Basdorfer Werkstatt. Doch wiederum das Auto dann nur einfach neu lackieren zu lassen, dafür war ihm das Geld dann doch zu schade.
Der Zufall eilte ihm jedoch auf dem Zeltplatz zur Hilfe. Oder hatte er wieder nachgeholfen? Jedenfalls wollte er eigentlich zum Ende der Zeltsaison sein Auto vom Parkplatz zum Zelt fahren, überlegte es sich dann anders und ließ es stehen. Kurz danach musste er mit ansehen, wie eine altersschwache Birke sich der Länge nach mittig auf seinem Autodach zur Ruhe legte. Der Saporoshez wurde aber nicht umsonst als Panzer bezeichnet. Er setzte sich tüchtig zur Wehr, um den größtmöglichen Schaden von sich abzuwenden. Da hielt schon mal der Dachgepäckträger einige Last ab. Auch das acht Millimeter dicke Blech ließ sich nicht so ohne weiteres falten. Die Windschutzscheibe war allerdings hinüber. Aber man höre und staune: Sogar die Türen ließen sich noch problemlos öffnen und wieder schließen. Und so konnte Hansi im Auto auf dem Rücken liegend mit beiden Beinen das Dach so weit wieder nach oben drücken, dass er seinen geliebten Saporoshez später aufrecht sitzend noch in die Werkstatt zur Reparatur fahren konnte.
Und was war nach der Reparatur angesagt? Ja, eine neue Lackierung! In Basdorf! Sein Traum vom Brillantblau-Metallic wurde endlich wahr!
Chaotischer Anblick
Die Sport- und Ballspielwiese auf dem Gemeinschaftsgelände wird in den Augen der Zeltler sehr unterschiedlich wahrgenommen. Für die älteste Generation war sie das Ergebnis harter körperlicher Arbeit, indem sie Torf aus dem nahe gelegenen Moor holten und eine Spielfläche für Ballsportarten schufen. Für viele ursprünglich aktive Hand- und Faustballer war sie dann in den Sommermonaten ein Übungs- und Austragungsort für und von Wettkämpfen. Für die weniger aktiven Sportfreunde war und ist sie eine Sonnenoase. Als die Bäume noch nicht so hoch und die Kronen nicht so dicht gewachsen waren, konnte man stundenlang das Zentrum unseres Planetensystems genießen. Für die Kleineren war sie in erster Linie eine Spielwiese, die vor allem zu den Kindertagfesten stark strapaziert wurde.
Bis in die 70er Jahre hat sich der Rasen immer wieder von all diesen sportlichen und spielerischen Strapazen erholt und konnte allen aktiven und weniger aktiven Mitgliedern und Gästen eine stabile Grundlage für ein gemeinschaftliches Leben bieten. Gegen Ende des Jahrzehnts wurde die Fläche zum ersten Mal ruiniert. Die Spuren der Schuldigen sind heute noch zu erkennen. Das genaue Jahr lässt sich allerdings nicht nachvollziehen.
Einige Sportfreunde fuhren gerne außerhalb der Zeltsaison zum Platz, um zu sehen, ob der Wald und der See vom Winter unbeschadet auf uns warteten, oder ob Handlungsbedarf bestand, zum Beispiel ob umgekippte Bäume beseitigt werden mussten. So wollten auch Margrit und Heinrich einmal vor dem Beginn der Zeltsaison nach dem Rechten schauen. Draußen angekommen, waren sie höchsterstaunt darüber, dass das gesamte Gelände abgesperrt war. Auch unser Vereinsschild war durch ein darüber geworfenes Tarnnetz nicht mehr erkennbar. Was war hier los? Es bedurfte einer Erklärung. Die sofortige Nachfrage erreichte den Zeltplatzchef im Dienst. Er machte sich gleich von der Arbeit aus auf den Weg nach draußen, um zu sehen, was dort los war. Nachdem er trotz