Fritz ist doof: Wer ist schon gerne in die Schule gegangen ... Erinnerungen, Erzählungen, Interviews
Von Gudrun Bernhagen
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Buchvorschau
Fritz ist doof - Gudrun Bernhagen
Abi-Streich
Seit Jahren gibt es die Tradition des Abi-Streichs. Auch schon zu meiner eigenen Schulzeit. Ich kann mich gut daran erinnern, dass wir am Ende der zwölften Klasse einen Musikzug organisiert hatten. Jeder brachte irgendein Instrument mit. Entweder ein richtiges oder einfach nur einen Gegenstand, mit dem sich gut Lärm machen ließ: Kochtöpfe und Kochlöffel zum Beispiel. So zogen wir von Etage zu Etage durchs Schulhaus, treppauf und treppab, durch die Gänge hin und her, machten dabei viel Krach und stimmten ein Lied nach dem anderen an. Lieder haben wir derweil in unserem Musikunterricht viele gelernt. An Unterricht war jedoch für die jüngeren Jahrgänge vor lauter Lärm durch unsere „Musik" nicht zu denken. Der Direktor ließ uns eine ganze Weile gewähren, hat uns dann aber schließlich nach einer Stunde aus der Schule geworfen. Diesen Streich habe ich als durchaus harmlos in Erinnerung.
In den ersten Jahren als Lehrerin am Gymnasium, gab es noch ganz nette andere Ideen für Streiche. Zum Beispiel eine Kaffeetafel auf dem Schulhof mit vielen „fachlich dekorierten Torten. Oder ein Hindernislauf für die Lehrer, mit dem Ziel, das „Abitur
abzulegen. Die Aufgaben waren so angelegt, dass kein Kollege lächerlich gemacht wurde. Es hatte einfach allen Spaß gemacht, natürlich auch den zuschauenden Schülern.
Wenn ich mir aber die Abiturstreiche der folgenden Jahre am Gymnasium vor Augen halte, so muss ich sagen, dass es bis auf wenige Ausnahmen von Jahr zu Jahr schlimmer wurde. War das das Ergebnis unserer Erziehung zur Kreativität? Dann waren wir wirklich erfolgreich. Es war nicht mehr so, dass nur der Unterricht in den einzelnen Klassen für ein oder zwei Stunden gestört wurde, nein, der komplette Schulalltag wurde verhindert. Da wurden sämtliche Treppenzugänge verbarrikadiert. Kämpfte man sich doch irgendwie durch, stellte man fest, dass auch alle Unterrichtsräume ausgeräumt waren. Es gab auch Jahre, da kam man nicht mal mehr in die Schule hinein. Unpassierbar das Eingangstor oder sogar zugemauert. Die Schüler waren dann schon in der Nacht im Gebäude und bereiteten alles vor. Also wirklich kreative Schüler und auch noch mit hoher Einsatzbereitschaft in ihrer Freizeit! Da könnten wir uns doch eigentlich nicht beklagen.
Wenn jegliche Barrikaden abgebaut waren, fand trotzdem kein Unterricht mehr statt. Es gab Schüler, die einfach verschwunden waren, und die, die noch anwesend waren, hatten „keinen Bock auf Unterricht". Oft startete dann noch eine Art Belustigungsprogramm auf dem Schulhof, wo auch mitunter von den Abiturienten heimlich Alkohol konsumiert wurde. Die Lehrer standen dem Ganzen machtlos gegenüber, zumal der Direktor nicht immer willens war einzuschreiten. Um einen drohenden Abbruch der Aktivitäten möglichst im Voraus zu vermeiden, wurde gerne das Schulpersonal in die Programme mit einbezogen. Sportliche Wettkämpfe, singen, tanzen und so weiter standen wiederholt auf dem Programm. Während sich in den ersten Jahren noch alle Lehrer daran beteiligt hatten, waren es in den letzten Jahren vor allem neue oder junge Kollegen, für die das Ganze noch etwas Besonderes war. Viele ältere Kollegen entzogen sich auf unterschiedliche Art und Weise dem Spektakel, weil die geforderten Beiträge im Laufe der Jahre immer unzumutbarer wurden.
Da wurden die Lehrer stundenlang in Käfige gesperrt, wurden gezwungen, Alkohol zu trinken, mussten Dinge tun, die die Lehrer der Lächerlichkeit preisgaben. Wobei Zwang sicher nicht ganz der richtige Ausdruck ist. Ich glaube schon, dass man sich hätte wehren können, aber es war mehr so ein moralischer Zwang. Man wollte kein Spielverderber sein. Also machte man so manches, auch grenzwertiges, Gaudium mit.
Für die jüngeren Schüler hatten diese Abi-Streiche aber auch einen starken Vorbildcharakter. Das hieß, dass jeder Jahrgang den bereits erlebten Streich im darauffolgenden Jahr qualitativ übertrumpfen wollte.
Zur Anwendung kamen plötzlich Wasserpistolen. Eigentlich eine Art Gewehre mit großen Behältern für ein oder zwei Liter Flüssigkeit. Man kennt diese vielleicht von sommerlichen Strandaufenthalten. Dafür sind sie eigentlich auch gedacht, aber zu einem Abi-Streich sind sie völlig fehl am Platz. Hinzu kam, dass sich die Schüler beim Bespritzen der anderen auch gerne in der Anonymität versteckten und Masken trugen. Es wurde keine Rücksicht genommen. Egal, wer oder was in den Weg kam, jeder und alles wurde klitschnass gespritzt. So hatten auch Kameras und Handys keine Chance, trocken zu bleiben.
Hinzu kamen die technischen Errungenschaften unserer Zeit. So manch ein Lehrer musste auch bei seinen Späßen damit rechnen, gefilmt zu werden, um sich letztendlich auf youtube wiederzufinden. Natürlich ungefragt. Das musste ich am eigenen Leibe erfahren, als ich mich zum Tanzen auf der Bühne hinreißen ließ. Da die Schüler offensichtlich wesentlich besser informiert waren als wir Lehrer, machten mich die Bemerkungen einiger Schüler am darauffolgenden Tag stutzig. Schnell begriff ich, um was es ging.
Nach der Schule wieder zu Hause angekommen, habe ich gleich das Internet bemüht und den Filmbeitrag auch schnell gefunden. Es ist schon ein Unding, dass ich ohne meine Zustimmung mit Namen und Adresse, also der Schulname, ins Internet kam und der Beitrag verbreitet wurde. Die Anzahl der Klicks ließ erahnen, wie schnell sich so ein Video verbreiten konnte. Was ich persönlich auch als sehr unangenehm empfand, war die Anonymität der Kommentare zu dem Film. Neben netten Bemerkungen fanden sich auch solche, in denen die Absender wohl die Möglichkeit genutzt hatten, all ihren Frust ablassen zu können.
Ich ließ mich beraten und bekam die Möglichkeit, den mir unbekannten Autor, wahrscheinlich ein Schüler, anschreiben zu können und ihn zu bitten, den Beitrag wieder unproblematisch aus dem Netz zu nehmen, da ich ansonsten juristische Schritte einleiten müsste. Mit Erfolg, denn am nächsten Tag existierte diese Seite nicht mehr. Letztendlich war ich dem Schüler nicht böse. Er hatte sich bestimmt nichts Schlechtes bei der Veröffentlichung gedacht.
Aber wie schon gesagt, die Streiche wurden von Jahr zu Jahr schlimmer. Und so war unser Gymnasium mit dem von mir letzten miterlebten Abiturstreich in die Schlagzeilen geraten. Wer die Presse informiert hatte, ist mir nicht zu Ohren gekommen, jedenfalls ging es ganz schön haarig zu. Die Schüler hatten die Nacht wieder in der Schule verbracht, um die üblichen (?!) Vorbereitungsarbeiten zu erledigen. Dass sie das ganz ohne Aufsicht und mit einem Generalschlüssel hatten machen dürfen, zeugte von einer gewissen Naivität und einem offensichtlich nicht gerechtfertigten Vertrauen.
Essen und Trinken wurden ausreichend mitgenommen. Aber auch schulfremde Freunde wurden als Helfer eingeschleust. Da es sich bei den Getränken nicht nur um alkoholfreie handelte, war abzusehen, dass etwas schief laufen musste. Im Nachhinein kann man nur sagen, dass sie sich wie die Schweine benommen hatten. In verschiedenen Räumen wurden Urin und Fäkalien hinterlassen. Im Sekretariats- und Lehrerzimmerbereich wurden Schränke aufgebrochen und Kühlschränke geleert. Scheiben sind zu Bruch gegangen, und es wurde ein Feuer gelegt. Zu vermuten war, dass der Ordner mit den Lehrerdaten verbrannt wurde, denn dieser war nicht mehr auffindbar. Vieles ließ sich nicht nachvollziehen, und die Schüler schwiegen und gaben keine Schuldigen an.
Der Direktor hat in seiner Stellungnahme der Presse gegenüber festgelegt, dass er den Abi-Streich zukünftig verbieten wird. Nur weil ihn alle machen, muss es nicht als zwingende Tradition weitergeführt werden. Einige Abiturienten, sicherlich die, die wirklich unschuldig waren, haben sich an den Aufräumarbeiten beteiligt und sich auf dem Abi-Ball öffentlich entschuldigt. Es bleibt abzuwarten, ob der Direktor bei seinem Verbot bleibt.
Im Ethik-Unterricht habe ich mich in vielen Gesprächen mit Schülern der Problematik des Abi-Streichs gestellt, bin aber in den Diskussionen mit meinen Ansichten immer allein geblieben. Zumindest haben sich Schüler, die vielleicht meiner Meinung waren, nicht laut geäußert. Es haben sich immer nur die lautstark geäußert, die das Ganze noch weiter auf die Spitze treiben und das Verbot negieren würden. Ihr Ziel war es, sich diese Möglichkeit, „sich an den Lehrern zu rächen", nicht nehmen zu lassen. Jetzt erst recht nicht! So lautete auch die Aufforderung eines in der Zeitung abgedruckten Schülerkommentars zum Verbot unseres Direktors.
Ich frage mich, was in den zwölf Schuljahren schief gelaufen sein musste, wenn als Endergebnis nicht der Dank an die Lehrer sondern der Rachegedanke überwog. Ich persönlich bin mir keiner Schuld bewusst, da ich glaube, den Schülern genauso respektvoll gegenüber getreten zu sein, wie ich es von ihnen mir gegenüber erwartete. Aber diese Tatsachen nagten natürlich an meinem Berufsethos. Der Sinn unserer Arbeit konnte doch nicht darin enden, dass sich Schüler an uns rächen wollten.
Übrigens habe ich von einem anderen Berliner Gymnasium erfahren, dass zum dortigen Abi-Streich die oben schon erwähnten Wasserpistolen ebenfalls zum Einsatz kamen. Nur mit dem gewaltigen Unterschied: Sie waren nicht mit Wasser gefüllt, sondern …? Mit Urin. War das vielleicht schon der erste Schritt der jungen Generation in Richtung „Fridays for future" und dem geforderten Nachhaltigkeitsprinzip …?
D…, ♀ , *1924, Weimarer Republik, Deutsches Reich
Ja, ich bin gerne zur Schule gegangen. Es fügte sich für mich alles gut zusammen. Mit dem Lernen hatte ich keine Probleme. Auf den Zeugnissen wurden mir immer gute bis sehr gute Leistungen bestätigt, besonders im schriftlichen Ausdruck. Es stand aber auch mal geschrieben, dass ich im Rechnen noch etwas langsam war.
Meine zwei Jahre jüngere Schwester und ich, wir waren beide sogenannte Hauskinder. Bis zur Einschulung wurden wir zuhause betreut. Trotzdem war unsere Mutter viel unterwegs. Sie hatte nach dem ersten Weltkrieg in einem Erziehungsverein bei der Inneren Mission die Erzieherausbildung absolviert. Sie war dann in der Altmark dafür zuständig, sich um „Jungen aus traurigen Verhältnissen" zu kümmern. So wurde es uns immer gesagt. Sie fuhr entweder mit dem Fahrrad oder für längere Strecken mit der Kleinbahn und suchte Familien in ärmlichen Verhältnissen auf. Wenn es für die Kinder zu schlecht aussah, vor allem wenn es nicht genug zu essen gab, brachte sie die Jungen oft auf Bauernhöfen unter, damit sie wenigstens nicht hungern mussten.
Unser Vater war Altsprachler und spickte seine Erzählungen gerne mit für uns unverständlichen Worten, was es so spannend machte, ihm zuzuhören. Unsere Mutter erinnerte ihn dann gelegentlich liebevoll: „Aber Väterchen, deine Töchter haben doch kein Griechisch gelernt." Auch wenn wir nicht alles sofort verstanden, so wurden wir davon auf keinen Fall dümmer.
1930, als ich sechs Jahre alt war, wurde ich in Magdeburg in die Wilhelmsstädter Versuchsschule eingeschult. In einer vorangegangenen Elternversammlung wurden für alle Kinder die Größe, Farbe und der Inhalt der Schultüte festgelegt, die damals bei uns „Ostertüte genannt wurde. Kein Kind sollte sich benachteiligt fühlen. Und so bekam jeder nur eine kleine Tüte in den Farben der Schule, die Mädchen in lila, die Jungen in grün. In der Tütenspitze befanden sich nur ein Triesel, damals auch „Hüppeding
genannt, und darüber ein Ball. Mehr gab es nicht. Dafür standen meine Großeltern später mit einem Riesengeschenk vor der Tür. Ich weiß aber heute nicht mehr, was in diesem Paket steckte. Das Trieseln und Ballspielen machte uns Kindern jedenfalls viel Spaß. Da zur damaligen Zeit die Straßen kaum befahren wurden, waren Triesel und Ball ideale Spielgeräte, um uns stundenlang im Freien zu beschäftigen. Es gab auch andere Spielideen. Kaum vorstellbar, aber wir spielten sogar Autobahnbauer. Überall war die Rede von Hitlers Autobahnbau. Und so schnappten wir uns jeder einen Spaten, trugen ihn über die Schulter gelegt, marschierten vorwärts und riefen wiederholt im Chor: „Schipp, schipp, hurra!"
Da es zu meiner Schulzeit noch keine Schulspeisung gab, waren wir nur während des Unterrichts und damit nur vormittags in der Schule. Ich mochte die Pausen auf dem Schulhof, hielt mich aber ebenso gerne im Klassenraum auf. Wir hatten so schöne Schülertische. Sie waren mit Linoleum belegt und mit einem eingebauten Tintenfass ausgestattet. Zum Schreiben benutzten wir noch richtige Federhalter, an denen die Federn austauschbar waren. Man musste die Feder immer wieder ins Tintenfass tunken, weil die wenige Tinte gerade mal für eine Schreibzeile reichte. Das waren damals Redis- oder Lyfedern. Dass ich diese Namen noch weiß …!
Eigentlich war ich eine freundliche und folgsame Schülerin. Trotzdem hatte ich mich auch einmal blamiert. Ich saß ganz hinten und hatte es in der Vorweihnachtszeit gewagt, heimlich unterm Tisch zu stricken. Die Jungen machten sich mit dem Wollknäul einen Spaß und wickelten den Faden um alle Tische und Stühle. Dadurch flog ich auf. Zum Glück wurde ich nicht bestraft, obwohl es noch die gefürchtete Prügelstrafe gab. Die erhielten aber immer nur die Jungs, wenn sie etwas ausgefressen hatten. Wenn einer von ihnen aufgefordert wurde, mal in den Nebenraum zu gehen, wusste jeder, was Sache war.
Unser Schulweg war etwas länger. Wir fuhren mit dem Fahrrad oder mit der Straßenbahn. Letztere mochte ich besonders gerne. Noch heute höre ich die Ansagen der Schaffnerin: „Noch jemand ohne Fahrschein? Oder: „Nächste Haltestelle … so und so!
Und auf dem Rückweg der gleiche Genuss noch einmal. Dann schon in Erwartung des Mittagessens, das nicht immer meinem Geschmack entsprach. Nach Hause kamen wir wirklich nur gerne, wenn es Eierkuchen gab. Nur mit Eierkuchen war uns unsere Mutter die liebste.
Den Nachhauseweg versüßte mir auch hin und wieder ein kleiner Freund. Er begleitete mich und trug dann meinen Lederschulranzen. Andere Kinder machten sich dann lustig über uns und riefen uns hinterher: „Schatz und Braut gehen nach Haus, popeln sich die Nase aus." Na wie Kinder eben sind! Uns störte das nicht.
Während ich viele Freundinnen hatte, gab es auch ein Mädchen in der Klasse, mit dem niemand so richtig etwas zu tun haben wollte. Sie hieß Hanna Nussbaum. Und obwohl wir keine Freundinnen waren, lud sie ausgerechnet mich zu ihrem Geburtstag ein. Meine Mutter wollte mich nicht dorthin gehen lassen, weil Hannas Eltern keine Christen waren. Unsere Lehrerin bat jedoch meine Mutter nachdrücklich darum, den Besuch zuzulassen, weil sie wusste, wie schwer es Hanna hatte, Anschluss zu finden. Und so erlaubte es mir meine Mutter, dorthin zu gehen. Es war ein netter Nachmittag mit Kuchen und Spielen. Aber Freundinnen wurden wir nicht.
Nach der dritten Klasse wurde ich umgeschult. Ich kam an die staatliche Luisenschule für Mädchen und belegte dort den sprachlichen Zweig. Das war dann schon nach Hitlers Machtübernahme, sodass es für uns auch aus diesem Grunde viel Neues gab. Schon an der Grundschule kamen plötzlich zwei Kinder nicht mehr zur Schule. Und auch an der neuen Schule fehlten von heute auf morgen Kinder. Den Grund für ihr Fernbleiben kannten wir damals nicht wirklich. „Umgezogen!, hieß es. Wahrscheinlich waren es jüdische Schüler, die vom Unterricht ausgeschlossen wurden. Die neuen Lehrer trugen nun das Parteiabzeichen mit dem Hakenkreuz. Zur Begrüßung standen wir neben der Bank und durften uns erst nach dem Hitlergruß und der ausdrücklichen Aufforderung setzen. Danach musste ein Gebet gesprochen werden, in dem Hitler gehuldigt wurde. Wir Schüler waren immer der Reihe nach dran. Ich kann mich aber an keinen Spruch inhaltlich erinnern. Unsere Lehrer waren Doktoren oder Studienräte, trotzdem wurden die Frauen nur mit „Fräulein
angesprochen. Ich glaube, das gibt es heute gar nicht mehr. Und mir ist so, als wenn es damals ein Gesetz gab, das Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen das Heiraten verbot.
Nicht nur für jüdische Schüler wurde es gefährlich, auch für behinderte Kinder und Erwachsene. Ich selbst hatte seit der Geburt einen Gehfehler, einen Hüftgelenkschaden. Meine Mutter wurde deshalb mit mir zu irgendeinem Amt bestellt. Die dortige Mitarbeiterin sprach erst mit meiner Mutter alleine: „Soll ich es ihr sagen, oder sagen Sie es ihr selber?" Meine Mutter war geschockt, sollte ich doch sterilisiert werden. Zum Glück hatte ich einige Fürsprecher, sodass ich aufgrund meiner guten Zeugnisse verschont blieb.
Die Lehrer nahmen trotz ihrer demonstrierten faschistischen Haltung Rücksicht auf mich, was in meinem Zeugnis zu erkennen war. Dort stand unter dem ersten Fach „Leibesübungen der viel sagende Satz: „D… hat alle Übungen, die ihr körperliches Leid zuließ, gemacht.
Beim Weitsprung habe ich zum Beispiel den Sand immer wieder gerade geharkt. Aber so konkret stand es dort nicht geschrieben.
Ich erinnere mich auch an einen Wandertag, an dem ich nicht teilnehmen konnte. Da Fräulein Schmidt, eine Lehrerin, ebenso gehbehindert war, blieben wir zu zweit in der Schule und spielten zusammen. Allerdings von der Klassenfahrt nach Wernigerode und zu Zeltfahrten wurde ich nicht ausgeschlossen. Da ich zwölf Jahre zur Schule ging, um dann 1942 das Abitur zu machen, musste ich auch im Turnen die Prüfung über mich ergehen lassen. Die sogenannte „Kür für den Schwebebalken hatte ich theoretisch vorbereitet, konnte sie jedoch selbst nicht vorführen, was dann der Sportlehrer für mich tat. Das war ein großes Entgegenkommen, wofür ich noch heute dankbar bin. Jemand von der Prüfungskommission fragte nur: „Was macht denn die da?
Und er bekam zur Antwort: „Das ist doch die mit dem Bein!"
1939, als ich in der zehnten Klasse war, begann der zweite Weltkrieg. Familiär waren wir davon nicht betroffen, da mein Vater „kriegsbefreit" war. Er hatte