Wenn sich die Seele reinigt: Tagebuch
Von Gudrun Bernhagen
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Über dieses E-Book
In ihrem Tagebuch spricht sie von ihren Höhen und Tiefen während ihres dortigen mehrwöchigen stationären Aufenthaltes. Sie gewährt dabei sehr persönliche und emotionale Einblicke in ihr Privatleben und ihre Psyche. Unterbrochen wird das Tagebuch hin und wieder durch episodenhafte Erzählungen, deren Inhalte nicht immer unmittelbar mit der Rehabilitationsmaßnahme verbunden sind.
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Buchvorschau
Wenn sich die Seele reinigt - Gudrun Bernhagen
Mein
Tagebuch
als Burn-out-Patientin
Erster Tag – Mitte November
Das Aufstehen nach einer wie immer scheinbar schlaflosen Nacht fällt mir schwer. Schule ist nicht angesagt, jedoch die Fahrt zur Reha-Klinik an die Ostsee. Ein Zurück gibt es nicht. Formulare, Bürokratie, Zusagen, alles ist gelaufen. Selbst die „Freistellung" vom Unterricht, also stationäre Reha-Maßnahme nicht in den Ferien, war kein Problem. Und ich muss mir auch keine Sorgen um meine Schüler machen. Drei Wochen sind gut und problemlos über mehr oder weniger fachgerechte Vertretung abzudecken.
Der Grundkurs hat Aufgaben von mir bekommen. Die anstehende Klausur kann auch ein anderer Kollege beaufsichtigen. Das können die Schüler auch ohne mich als Aufpasser! Das Korrigieren erledige ich dann nach meiner Rückkehr. Die Oberstufenschüler bekommen ihre Zeugnisse schon vor Weihnachten. Verrückt! Für die vorgeschriebene Anzahl der anderen Klassenarbeiten, die ich in einem Schuljahr schreiben lassen muss, und deren Vorbereitung bleibt noch genügend Zeit nach meinem Kuraufenthalt.
Ich sitze im Zug und genieße die Fahrt! Das Auto bleibt zu Hause. Den Stress muss ich mir nicht antun. Ich suche ja Ruhe. Wie viele Menschen in der Woche mit Zügen unterwegs sind! Geht überhaupt noch jemand arbeiten? Der Sitzplatz ist nicht sehr bequem, aber drei Mal hin- und hergerückt und der Körper hat sich in den Sitz gekuschelt und eine eingebildete Gemütlichkeit akzeptiert. Ich nehme ein Buch aus dem Rucksack und fange an zu lesen. Es liest sich gut und lässt mich die erste Ablenkung genießen. Ruhe rings herum, nur das monotone gleichmäßige Geräusch der Schienenstöße ist zu hören. Jeder ist mit sich selbst beschäftigt. Keine lästigen Handygespräche oder laute Unterhaltungen.
Doch bald schon hält der Zug an einem anderen Bahnhof wieder an und … Plötzlich, oh nein, das kann doch nicht sein! Nicht heute! Ich bin doch auf dem Weg zur Kur, um mal richtig zur Ruhe zu kommen. Steigt jetzt doch tatsächlich eine Schulklasse ein! Ein Gewuschel und Gerede … Bis so jeder seinen Platz gefunden hat, das dauert schon eine Weile. Aber auch dann ist an Ruhe nicht zu denken. Da piepen plötzlich irgendwelche elektronischen Spiele. Da ertönt Musik. Da wird mitgesungen. Da wird über Lehrer gelästert. Da wird über die Schule und Hausaufgaben geschimpft. Da werden sich gegenseitig Dinge weggenommen und es entstehen Streitereien. Die Kinder beschimpfen sich mit allen unmöglichen Ausdrücken, die mich innerlich zur Weißglut treiben. Für die Mitreisenden ringsherum zeigen sie kein Interesse. Die Jugend kann sich so gut auf sich fokussieren, ohne Rücksicht auf andere zu nehmen.
Wie oft habe ich mich für meine Schüler geschämt, wenn ich mit ihnen unterwegs war. Und es dauerte auch oft nicht lange, bis ein Mann oder eine Frau, meist ältere Leute fragten: „Wo ist denn der Lehrer hier?" Wie ich diese Frage hasse! Alles Reden hilft da nicht. Und wenn die Vernunft, die Bereitschaft auf Rücksichtnahme nicht siegt, womit soll der Lehrer Druck ausüben? Ich kann bei einer Gruppe stehen bleiben und durch meine Anwesenheit Ruhe erzwingen, aber die anderen Gruppen …? Und ist das die Lösung?
„Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu! Kennen die Jugendlichen diese berühmten Worte von Konfuzius? Würden sie sie auch verstehen? Und wenn ja, sich auch dementsprechend verhalten? Man kann diese Goldene Regel auch umdrehen: „Was du willst, das man dir tu, das füge auch den anderen zu!
Offensichtlich wollen sie selbst nicht in Ruhe gelassen werden, und so können sie sich das Recht herausnehmen, auch andere zu stören. Oder nicht?
Sie nerven, wo ich doch gerade lernen wollte, abzuschalten und mich auf mich zu besinnen. Etwas zu sagen, erscheint mir zwecklos. Also Buch zugeklappt, lesen ist nicht mehr möglich, und stur aus dem Fenster sehen.
Wälder, Felder, Tiere, Natur pur. Teilweise auch zerfallene Gehöfte … und das zwanzig Jahre nach der Wende. Aber auch nett zurechtgemachte Bahnhöfe, erste Aushängeschilder für Neuankömmlinge, rauschen vorbei. Ah, siehe da. Den Namen kennst du doch. Einst Studienort. Jedes Wochenende ging es hin und her. Die Stadt hatte einer Berliner Göre nicht viel zu bieten. Aber einige Namen sind hängen geblieben. Jugendzeit!
Ach war das eine aufregende Zeit! Aufregend, unruhig, laut! Ja, auch wir waren laut! Was hatten wir für einen Spaß, auch ohne immer Rücksicht auf unsere Umgebung zu nehmen. Ein Generationsproblem?!
Und während ich noch in Erinnerungen schwelge, kommt der Zug am Zielbahnhof an. Aussteigen! Und nun? Ich habe vergessen, den Zubringer vom Bahnhof zur Klinik zu bestellen. Erstaunlicherweise steht er trotzdem davor und nimmt mich auch nach meiner freundlichen Anfrage mit. Um den Weg zur Kurklinik zu finden, könnte ich auch mein neues Smartphone benutzen, ein Geschenk meines Mannes. Obwohl er weiß, dass ich Stadtpläne gut lesen kann, hat er sich doch so viel Mühe mit dem neuen Handy gegeben. Der Navigator ist programmiert und würde mich auch per Fuß sicher zum Ziel leiten. Vielleicht wird es in den drei kommenden Wochen doch noch andere Gelegenheiten geben, um sein Geschenk auf Tauglichkeit im Alltag zu testen.
In der Klinik werde ich an der Rezeption als PATIENT(?!) – Bin ich krank? – von einer Schwester begrüßt und eingewiesen. Irgendwie beschleicht mich dabei das Gefühl, dass mit mir vielleicht doch etwas nicht stimmen könnte. Sie erklärt mir alles sehr deutlich, langsam sprechend und ständig kontrollierend, ob ich sie auch verstanden habe. Denkt sie, ich sei bekloppt?! Sehr irritierend, aber irgendwie trotzdem sehr nett.
Nach der Einweisung wird es mir bei der sich anschließenden ärztlichen Anamnese doch schon etwas mulmig. Auf Anfrage zähle ich die Medikamente auf, die ich so einnehme. Dabei wird mir wieder bewusst, wie viele das eigentlich sind. Und diese nehme ich doch tatsächlich mehr oder weniger täglich ein. Früh, mittags, abends und nachts. Und in meinem Zimmer habe ich eine ganze Tasche voll davon. Ich überlege noch, ob ich wirklich alle nenne. Aber dann würde ich ja nicht die Wahrheit sagen und mich in erster Linie selbst belügen. Da ich hier bin, um Hilfe zu bekommen, muss ich mich diesem Problem „Weg von den Tabletten!" stellen. Fünftes Gebot: Du sollst nicht lügen!
Es schließt sich der Termin beim Arzt an. Vor dem Arztzimmer stehen einige Stühle für Wartende bereit. Ich bin die Einzige dort. Aber nicht lange. Da bin ich gerade mal vor nur wenigen Stunden hier angekommen und schon nähert sich ein vermeintlicher Kurschatten? Ein etwa gleichaltriger Mann kommt lächelnd auf mich zu, setzt sich zu mir und spricht mich an. … Rieche ich nach Frischfleisch?! Hält der hier jeden Tag Ausschau nach Neuankömmlingen, eh … Oder heißt es neudeutschkorrekt Neuankömmlinginnen?! Es bleibt mir keine Zeit, darüber nachzudenken, wie sein Tagesablauf aussehen könnte, denn er fragt ohne Umschweife, ob ich neu angekommen sei und ob ich rauche. … Na, was ist denn das für eine blöde Anmache?! … Ich verneine, was er sehr schade findet, denn sonst könne er mir zeigen, wo die Raucherinsel ist. Wenn ich aber nicht rauche und sie trotzdem sehen möchte, könne ich ebenso auf sein Zimmer kommen. Von dort aus sei die überdachte Stelle auch gut einsehbar. Das war sehr dreist von ihm. Ich muss trotzdem lachen und lehne sein Angebot ab. Er trägt es ebenfalls mit Humor und verschwindet auch sofort mit einem resignierten „Man kann’s ja mal versuchen!".
Im Arztgespräch erfahre ich nichts Besonderes. Eigentlich sei organisch alles in Ordnung! Gut, dann kann ich ja wieder nach Hause fahren und muss in der Schule auch nicht fehlen. Juppi!
Nächste Station: Psychotherapeut. Ich muss einen Fragebogen ausfüllen. Was passiert da gerade mit mir? Die Fragen wühlen mich innerlich total auf. Bloß schnell raus aus dem Zimmer, nachdem ich alle beantwortet habe! Erst mal an die frische Luft! Bewegung! Schnell die Jacke holen, Zimmer abschließen und