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Der Strom des Lebens: Band VII der Kashmir-Saga
Der Strom des Lebens: Band VII der Kashmir-Saga
Der Strom des Lebens: Band VII der Kashmir-Saga
eBook908 Seiten12 Stunden

Der Strom des Lebens: Band VII der Kashmir-Saga

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Über dieses E-Book

Ex-Agent Vikram Sandeep hat die Leitung seines Waisenhauses Dar-as-Salam bei Srinagar in die Hände seines ehemaligen Zöglings Yussuf Sadaq gelegt. Nun genießt er seinen Lebensabend, zusammen mit seiner Frau Sameera und seinem besten Freund Raja Sharma. Natürlich stehen alle drei ihren Kindern, Enkeln und Freunden auch weiterhin mit Rat und Tat zur Seite, wenn ihre Hilfe gebraucht wird. Das ist in der Unruheprovinz Kashmir öfter der Fall, als ihnen lieb sein kann - und zudem haben sie noch immer Feinde, die ihnen nach dem Leben trachten...

In der Kashmir-Saga erzählen Simone Dorra und Ingrid Zellner in sieben Bänden die Geschichte zweier in Freundschaft eng verbundener Familien in Indien und Kashmir. Sie erstreckt sich über vier Jahrzehnte und berichtet von großen Gefühlen, von spannenden Abenteuern, von Terror und Liebe in einem durch anhaltende Konflikte geschundenen Land.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum27. Apr. 2022
ISBN9783347627291
Der Strom des Lebens: Band VII der Kashmir-Saga

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    Buchvorschau

    Der Strom des Lebens - Simone Dorra

    Kapitel 1

    Der neue Heimleiter

    Yussuf Sadaq verließ den Generatorschuppen, schloss die Tür und blieb einen Moment lang stehen, den Blick auf das Gebäude gerichtet, das im Licht der warmen Sommersonne vor ihm lag. Ein altes, langgestrecktes Holzhaus mit geschwungenem, schindelgedecktem Dach; mehrere reichgeschnitzte Säulen trugen einen Balkon, der sich über die gesamte Vorderfront der oberen Etage erstreckte. Das Dar-as-Salam, idyllisch in einem Himalaya-Seitental in der Nähe von Srinagar gelegen, das sein Zuhause gewesen war, solange Yussuf sich erinnern konnte. Und das er von nun an selbst leiten würde – als Nachfolger seiner beiden geliebten Zieheltern Vikram und Sameera Sandeep.

    Noch immer kam ihm diese Vorstellung ein wenig unwirklich vor – und das, obwohl der Anstoß zu dieser Wachablösung von ihm selbst gekommen war. Er hatte schon seit Jahren immer wieder überall mit angepackt und dabei festgestellt, dass diese Arbeit ihm Freude machte. Gleichzeitig hatte er sich mehr als einmal den Kopf darüber zerbrochen, wie es mit dem Haus des Friedens wohl weitergehen würde, wenn Vikram baba – der mittlerweile immerhin siebzig war – irgendwann in den Ruhestand ging. Die Vorstellung, dass dann womöglich ein empathieloser Paragraphenhengst hier das Sagen haben und das Dar-as-Salam seiner Seele berauben könnte, hatte in ihm schließlich den Wunsch heranreifen lassen, selbst derjenige zu sein, der eines Tages die Leitung dieses Waisenhauses übernahm – um es ganz und gar im Sinne seines Gründers weiterzuführen.

    Zugegeben: Er hätte niemals gedacht, dass diese Idee bei Vikram baba und Sameera ammi derart großen Anklang finden würde, dass sie ihm – nach einigen Monaten Einarbeitung und Probezeit – den Staffelstab jetzt schon übergaben. Aber andererseits verstand er sehr gut, dass sie allmählich gerne ein wenig kürzertreten wollten. Um mehr Zeit für ihren Sohn Mohan zu haben, der inzwischen dreizehn war, seinem Vater vom Aussehen her immer ähnlicher wurde und seiner Mitwelt genauso gern Streiche spielte, wie Yussuf es in dem Alter ständig getan hatte. Und für ihren besten Freund Raja, der seit knapp einem Jahr dauerhaft im Dar-as-Salam lebte und von den Kindern als ihr Raja daada heiß und innig geliebt wurde.

    Deshalb hatte er auch ohne zu zögern Ja gesagt. Von nun an würde er Yussuf baba sein für die achtundzwanzig Kinder, die das Dar-as-Salam beherbergen konnte, seit vor ein paar Jahren zwei Seitenflügel errichtet worden waren; sie bildeten zusammen mit dem alten Haupthaus ein U und rahmten den Innenhof mit dem großen, alten Chenarbaum und der allseits beliebten Feuerstelle ein.

    Es war eine gewaltige Aufgabe, die ihn erwartete, aber er war sicher, dass er sie bewältigen würde. Schließlich hatte er ein großartiges Team: die liebe alte Köchin Zobeida Mafous (mitsamt ihrem Mann Hamid, der, wann immer er gebraucht wurde, als Busfahrer und Heimwerker zur Verfügung stand), die Wirtschafterin Safa Muhseni, die beiden Erzieherinnen Chaima Khan und Salma Desouli, den zuverlässigen Wachmann Himal Hussein und den gewissenhaften Buchhalter Mesud Khan. Nicht zu vergessen seine Zieheltern und Raja, bei denen er sich jederzeit Rat und Hilfe holen konnte.

    Er atmete tief die warme, würzig nach Kiefern duftende Luft ein und lächelte. Das Dar-as-Salam würde auch weiterhin bleiben, was es war: ein liebevolles Zuhause für Kinder, die hier eine neue Familie finden konnten mit vielen Geschwistern, einem Vater – und mit Vikram daada, Sameera daadi und Raja daada sogar drei wundervollen Großeltern.

    Er war bereit.

    ***

    Zwei Wochen später summte das gesamte Dar-as-Salam wie ein Bienenstock. Vikram und Sameera Sandeep hatten beschlossen, dass ein so epochales Ereignis wie der Wechsel an der Spitze der Heimleitung nach einem Fest verlangte, und Yussufs frühere Pflegegeschwister waren ebenso dazu eingeladen wie Rajas Angehörige aus Shivapur.

    »Nicht alle werden kommen können«, meinte Raja, als sie ein paar Tage vor dem Fest abends zusammensaßen. »Aber Rajil und Premal wollen es sich auf keinen Fall nehmen lassen, das Trio infernale wiederzuvereinen. Surya und Tara haben auch zugesagt. Und vorhin hab ich mit Vishal telefoniert: Rajata will jetzt doch mitkommen.«

    »Oh nein!«, stöhnte Yussuf. »Und ich dachte schon, die bleibt mir erspart.«

    Er verdrehte die Augen. Vishal Nath war Rajas bester Freund aus ihren gemeinsamen Gefängniszeiten und ein ausgesprochen sympathischer Mensch, gegen den Yussuf nicht das Geringste hatte. Umso mehr allerdings stand er mit Vishals temperamentvoller Tochter Rajata auf Kriegsfuß, und das schon seit ihrer ersten Begegnung, als sie beide noch Kinder gewesen waren.

    »Beruhige dich«, schmunzelte Raja. »Sie wird mit ihren Eltern bei Moussa und Rani logieren, also hast du hier weitgehend deine Ruhe vor ihr. Mit etwas Glück musst du außer einem halbwegs höflichen Salaam kein Wort mit ihr wechseln.«

    »Mehr hab ich auch nicht vor«, knurrte Yussuf. »Wieso kommt sie überhaupt mit, die will doch bestimmt bloß wieder Ärger machen!«

    »Na komm«, gluckste Sameera belustigt. »Sie ist jetzt achtzehn. Ich denke, über alberne Kinderstreiche ist sie mittlerweile ebenso hinaus wie du.«

    »Das glaub ich erst, wenn ich es sehe«, versetzte Yussuf. »Und wenn nicht, dann kann sie sich schon mal warm anziehen.«

    Vikram grinste breit. »Vergiss nicht, dass du jetzt ein würdiger Heimleiter bist, mein Lieber. Keine Frösche, Schlangen, Chilischoten oder andere verdächtige Utensilien in Rajatas Nähe, ist das klar?«

    »Ich wusste, die Sache mit dem Heimleiter hat einen Haken«, seufzte Yussuf. »Na gut, ich werde versuchen, mich zusammenzureißen.«

    »Du schaffst das schon«, versicherte Sameera tröstend und mit einem unverkennbaren heiteren Funkeln in den Augen. –––

    Der große Tag war da; das ganze Haus war festlich geschmückt und durchzogen von Duftschwaden, aus denen man die geballten Kochkünste von Zobeida, Sameera und Raja herausriechen konnte. Die meisten Gäste waren bereits eingetroffen, und auf einem Tisch stapelten sich ihre Geschenke für Yussuf und das Heim, darunter ein Netz mit mehreren Fußbällen und einer Karte daran, die die mit zwei Smileys versehenen Unterschriften von Rajil und Premal Sharma trug.

    »Hallo, Yussuf!«

    Yussuf wirbelte herum; Vishal bahnte sich einen Weg auf ihn zu und schloss ihn stürmisch in die Arme. »Mubarak ho, Junge! Ganz, ganz tolle Sache, dass du jetzt hier das Heft in die Hand nimmst. Das ist bestimmt auch für Vikram eine große Erleichterung; bei dir kann er sich sicher sein, dass du das Heim in seinem Sinne weiterführst.«

    »Das habe ich jedenfalls vor«, erwiderte Yussuf. »Danke, Vishal. Schön, dass du da bist. Wo sind denn Pooja und… und Rajata?«

    »Die kommen gleich«, antwortete Vishal. »Unser Flieger nach Srinagar hatte Verspätung, und Rani hat vorgeschlagen, dass wir direkt hierherfahren und uns in Rajas Zimmer ein bisschen frisch machen, damit ihr nicht noch länger auf uns warten müsst. Bei mir ging das eben etwas schneller als bei meinen beiden Damen.«

    Er zwinkerte ihm zu, und Yussuf grinste schräg. Als ob Rajata eine halbe Stunde brauchte, um von einem T-Shirt in das andere zu schlüpfen – und in eine andere Jeans, sofern sie überhaupt eine zweite dabeihatte.

    »Da sind sie ja!«, stellte Vishal plötzlich erfreut fest. »Pooja! Hier sind wir!«

    Yussuf wandte den Kopf und sah Vishals Frau in einem eleganten lilafarbenen Sari auf sich zukommen. Er begrüßte sie respektvoll, nahm ihren Glückwunsch entgegen und wappnete sich innerlich für das Wiedersehen mit seiner jahrelangen Intimfeindin.

    Und dann erstarrte er und spürte, wie sein Unterkiefer langsam nach unten sackte.

    In der Tür war eine anmutige junge Dame erschienen. Ein Sari in leuchtenden Gold- und Orangetönen zierte ihre schlanke Gestalt, dezenter Goldschmuck ihren Hals, ihre Ohrläppchen und ihre Handgelenke. Langes dunkelbraunes Haar fiel ihr offen und üppig glänzend über die Schultern. Er musste tatsächlich zweimal hinsehen, um zu begreifen, dass er Rajata Nath vor sich hatte.

    Auf ihrem Gesicht machte sich ein Lächeln breit, als sie nun auf ihn zuging.

    »Namaste, Heimleiter sahab«, sagte sie, und ihre Augen blitzten. »Schön, dich wiederzusehen!«

    Yussuf war noch immer zu verblüfft, um zu reagieren. Er tat das einzig Sinnvolle, was ihm in diesem Moment einfiel, und klappte den Mund wieder zu.

    »Ich höre, hier ziehen jetzt neue Sitten ein«, fuhr sie unbekümmert fort. »Ich meine, wenn du hier das Sagen hast, dann wird der Frosch- und Schlangenverbrauch des Hauses rapide in die Höhe schnellen. Ich hatte Papa ja eigentlich vorgeschlagen, dir zum Amtsantritt ein Terrarium zu schenken.« Sie warf ihre Haare in den Nacken und lachte ihn vergnügt an.

    Unwillkürlich gab Yussuf ein amüsiertes Prusten von sich.

    »Dem Himmel sei Dank«, sagte er. »Ich wollte dich schon fragen, wer du bist und was du mit Rajata angestellt hast. Aber offenbar kenne ich dich doch von früher.«

    »Aber sicher doch!« Sie hob ein schmales Päckchen hoch. »Herzlichen Glückwunsch zum neuen Job!«

    »Danke.« Yussuf nahm das Geschenk entgegen und befingerte es vorsichtig; es fühlte sich weich und geschmeidig an. »Ist es ungefährlich, das aufzumachen?«

    »Seit wann bist du so ängstlich, Heimleiter sahab?«, gab sie augenzwinkernd zurück.

    Yussuf schnaubte leicht. »Für dich immer noch Yussuf«, sagte er und stellte überrascht fest, dass er sie tatsächlich anlächelte. Dann riss er das Geschenkpapier auf. Zum Vorschein kam ein froschgrünes T-Shirt, auf dem mit knallroten Buchstaben Ich bin hier der Chef! stand.

    Er hielt es sich vor, sah auf und grinste.

    »Passt. Das wird meine neue Dienstkleidung. Shukriya.«

    »Gern geschehen«, antwortete Rajata lächelnd.

    »Und das ist von uns«, sagte Vishal und drückte Yussuf einen Umschlag in die Hand. »Eine kleine Spritze dafür, dass du deine Pläne und Ideen für dieses Haus verwirklichen kannst.«

    »Vielen Dank.« Yussuf legte den Umschlag und das T-Shirt auf den Geschenketisch. »Wollt ihr etwas zu trinken?«

    »Ein Glas Lassi wäre schön«, sagte Pooja.

    »Ich würd auch einen nehmen«, ergänzte Vishal.

    »Ich hol euch welchen«, erbot sich Yussuf. »Du auch, Rajata?«

    »Ja, bitte.«

    Yussuf machte sich auf den Weg. Als er mit drei vollen Lassigläsern zurückkam, hörte er schon von weitem Vishals Stimme: »… passt wirklich alles bestens. Der Junge kennt dieses Haus von klein auf, und er hat das Herz am rechten Fleck. Der wird den Laden hier schon schmeißen.«

    Yussuf blieb stehen. Er sah, dass Vikram sich zu den Naths gesellt hatte und nun zustimmend nickte: »Ja, ich bin sehr glücklich, dass es sich so gefügt hat. Ich habe volles Vertrauen zu Yussuf; er hat alles, was es braucht, um das Dar-as-Salam zu leiten.«

    »Nicht ganz«, warf Rajata ein. Yussuf sah, dass ihre Augen übermütig blitzten, und seufzte. Es wäre ja auch zu schön gewesen. Mit Sicherheit kam jetzt gleich wieder eine der typischen kleinen, gemeinen Rajata-Spitzen.

    »So, findest du?« Vikram sah sie interessiert an. »Was fehlt ihm denn noch, deiner Meinung nach?«

    Rajata richtete sich kerzengerade auf und schüttelte ihr dunkles Haar.

    »Der Mann braucht eine Frau.«

    ***

    Das Fest für den frischgebackenen Heimleiter neigte sich seinem Ende entgegen. Die Kinder waren ins Bett geschickt worden, und nur die Erwachsenen saßen noch bei Kaffee, Zitronenwasser und Wein im Aufenthaltsraum zusammen. Als Yussuf zwischendurch ein paar leere Tassen und Gläser abräumte, stellte er fest, dass die Küche einem Schlachtfeld glich. Zobeida hatte bereits mit den Aufräumungsarbeiten begonnen, allerdings war nicht zu übersehen, dass sie am Ende ihrer Kräfte war; ihr Gesicht war zerfurcht vor Müdigkeit, und sie konnte kaum noch die Augen offenhalten. Yussuf überschlug blitzschnell, wie lange die getreue alte Köchin jetzt schon ununterbrochen im Einsatz war, stellte sein Geschirr auf dem Tisch ab und legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter.

    »Geh schlafen, Zobeida«, sagte er ruhig, aber bestimmt. »Du siehst aus, als ob du gleich vor lauter Erschöpfung ins Spülbecken fällst.«

    Sie betrachtete ihn liebevoll. »Ich muss mich immer noch ein wenig daran gewöhnen, dass du jetzt hier das Sagen hast, chhote«, erwiderte sie, und ihre Augen zwinkerten. »Es kommt mir vor, als ob ich dich erst gestern mit dem Handtuch um den Küchentisch gejagt habe, weil du mir die frische Kokossahne für mein Lamm-Korma durch Flüssigseife ersetzt hast.«

    Yussuf lachte. »Und du hast es erst gemerkt, als du danach das Korma abgeschmeckt hast. Ich hätte nie gedacht, dass du so schöne Seifenblasen spucken kannst!«

    »Dusht!« Zobeida schnappte sich ihren größten Kochlöffel und hielt ihn vielsagend in die Höhe. »Ich hoffe ja nur, dass du dir hier nicht zum Ziel gesetzt hast, lauter kleine Nachfolger für dich heranzuziehen. Es reicht schon, dass Mohan dich zu seinem großen Vorbild auserkoren hat.«

    »Mohan?«, fragte Yussuf mit Unschuldsmiene.

    »Na komm«, erwiderte Zobeida trocken. »Wer hat denn vorige Woche Seifenflocken in die Grießdose geschüttet, als ich Kesari machen wollte? Also wirklich! Von wem der Junge sich das wohl abgeschaut hat?«

    Yussuf grinste und tätschelte ihr die Schulter. »Wenigstens musste anschließend er die Küche wieder saubermachen und nicht du. Und jetzt geh ins Bett, Zobeida, du hast heute wirklich genug gearbeitet. Ich mache hier klar Schiff.«

    »Aber das geht doch nicht!«, protestierte Zobeida.

    »Und wie das geht!«, widersprach Yussuf energisch. »Außerdem: Was wetten wir, dass irgendwann demnächst Raja hier auftaucht und mir bereitwillig zur Hand geht? Du brauchst wirklich keine Angst zu haben, dass ich mich deinetwegen zu Tode schufte. Ab ins Bett mit dir; ich sag Hamid Bescheid, dass du bei uns übernachtest. Gute Nacht!«

    »Gute Nacht, mein lieber Junge.«

    Sie verbarg ein Gähnen hinter vorgehaltener Hand, warf ihm ein so verlegenes wie dankbares kleines Lächeln zu und ging hinaus. Yussuf sah ihr nach; er dachte an die Gästekammer, die Zobeida jederzeit zur Verfügung stand, wenn sie sich während ihres Dienstes mal ausruhen wollte – und während er damit begann, den Rest des köstlichen Rogan Josh in eine Plastikdose zu löffeln, erinnerte er sich plötzlich an jenen Tag vor fünfzehn Jahren, an dem Raja zum ersten Mal ins Dar-as-Salam gekommen war und die Nacht in ebendieser Kammer verbracht hatte. Damals war er, Yussuf, acht Jahre alt und der jüngste von Vikram babas Pflegekindern gewesen. Jetzt war er der Leiter des Heims, und Raja war hier ebenso zuhause wie er. Ohne Frage hatten sie beide ihren Platz im Haus des Friedens gefunden.

    Yussuf lächelte in sich hinein, drückte den Deckel auf die Dose und verstaute sie in dem riesigen Kühlschrank. Dann registrierte er drei weitere, bereits leergekratzte Karahis sowie die zahlreichen Schalen und Schüsseln, die sich auf dem Tisch stapelten, und beschloss, in diesem Fall höchstselbst die Spülbürste zu schwingen.

    Er ließ heißes Wasser in die Steinspüle laufen, versenkte den Schüsselstapel darin und machte sich an die Arbeit. Dabei pfiff er laut vor sich hin und musste schon wieder lächeln, als er begriff, welche Melodie ihm da gerade durch den Kopf ging: Hum Tere Bin, ein flotter Song aus einem alten Film von 1991, in dem der gutaussehende mutige Held die verschreckte Jungfer erst rettete und dann liebevoll umwarb. Es war unvermeidlich, dass seine Gedanken von der jungen Pooja Bhatt (die besagte Jungfer gespielt hatte und damals erst neunzehn und ausgesprochen niedlich gewesen war) zu einer anderen Jungfer abirrten, die er heute wiedergetroffen – und fast nicht wiedererkannt hätte.

    Wann zum Donnerwetter war Rajata Nath so schön geworden?

    Yussuf kannte die Tochter von Vishal und Pooja Nath, seit er vor dreizehn Jahren zusammen mit seinen Ziehgeschwistern einige Monate lang bei den Sharmas in Shivapur gelebt hatte, als das Dar-as-Salam nach schweren Sturmschäden evakuiert und renoviert werden musste. Damals war sie gerade mal fünf und Yussuf herzlich egal gewesen; er hatte bevorzugt mit Rajas Enkeln Rajil und Premal zusammengesteckt, mit denen man herrlich Fußball spielen und allerhand Unfug anstellen konnte. Das änderte sich anderthalb Jahre später schlagartig, als Rajata zusammen mit ihren Eltern zu einem Weihnachtsbesuch ins Dar-as-Salam kam und als Erstes das Herzlich-willkommen-Schild an dem großen Schneemann, den die Heimkinder gebaut hatten, zu Fall brachte. Yussuf war empört auf sie losgegangen, sie hatte ihm ebenso empört Paroli geboten, der unschuldige Schneemann war ihrem Streit am Ende vollends zum Opfer gefallen, und von da an waren Yussuf und Rajata unversöhnliche Feinde gewesen.

    Dass sie beide mit den Jahren älter wurden, änderte daran überhaupt nichts. Sie spielten einander mit Leidenschaft hinterlistige Streiche, zogen wortreich über den jeweils anderen her und wünschten sich gegenseitig die Pest an den Hals. Yussuf schmuggelte Rajata Heuschrecken und Frösche ins Bett (die Krönung war eine – gottlob ungiftige – Schlange) und nagelte einmal sogar ihre Lieblingsschuhe auf den Dielenboden. Rajata revanchierte sich mit Ohrfeigen, streute Salz in seinen Mangolassi und bemalte die Wand über seinem Bett mit Blümchen und Schweinchen in grellem Pink – eine Farbe, die Yussuf auf den Tod nicht ausstehen konnte.

    Ihr Vater Vishal hatte fast immer nur auf der Straße und im Knast gelebt, bis er erst Raja und dann Pooja begegnet war und mit ihrer Hilfe sein Leben in geordnete Bahnen gebracht hatte. Er pflegte gerne zu sagen, dass sein einziges Kind ganz klar nach ihm geriet, und Yussuf glaubte ihm das sofort: Rajata trug am liebsten Hosen und Schlabberhemden, kletterte schneller und geschickter auf die Bäume als jeder Junge im Dar-as-Salam und scheute vor keiner handfesten Auseinandersetzung zurück. Außerdem besaß sie einen farbigen Wortschatz, der selbst dem vorlauten Tunichtgut Yussuf die Schamröte ins Gesicht trieb, und hatte keine Skrupel, ihn einzusetzen, wenn sie wütend auf Yussuf war – und das war sie praktisch ständig. Irgendwann entschied sie sich, zuhause zu bleiben, wenn ihre Eltern Kashmir besuchten, und so verschwand sie für mehrere Jahre aus Yussufs Blickfeld. Er weinte ihr keine Träne nach.

    Jetzt war sie wieder da… und doch wieder nicht. Die geschmackvoll gekleidete und geschmückte junge Frau mit den leuchtenden braunen Augen, dem langen Haar (das Yussuf am liebsten berührt hätte, um festzustellen, ob es wirklich so seidig war, wie es aussah) und den ausgesprochen hübschen Kurven hatte mit der jungenhaften Kratzbürste vergangener Jahre nicht das Geringste gemein. Er erinnerte sich, wie ihm die Knie weichgeworden waren und sein Mund ausgetrocknet war, als sie vorhin den Raum betreten und ihn angelächelt hatte. Dass er in dem Moment überhaupt ein halbwegs geistreiches Gespräch mit ihr zustande gebracht hatte, ohne zu stottern, verblüffte ihn immer noch.

    »Schau an, Heimleiter sahab! Da bist du also abgeblieben!«

    Yussuf fuhr herum. Der Topfdeckel in seiner Hand, glitschig vom Seifenwasser, glitt ihm aus den Fingern und wirbelte quer durch die Küche wie ein Diskus bei den Olympischen Spielen. Er prallte dicht neben Rajatas Kopf an die Wand und landete scheppernd auf dem Boden. Sie schüttelte belustigt den Kopf, bückte sich und hob ihn auf.

    »Ich hatte eigentlich vor, die Friedensverhandlungen zwischen uns endgültig zu einem positiven Abschluss zu bringen«, verkündete sie. »Und dann bewirfst du mich mit Geschirr? Offenbar sind die alten Zeiten doch noch nicht vorbei.«

    Yussuf hätte gern eine schlagfertige Antwort darauf gefunden – aber es hatte ihm einmal mehr die Sprache verschlagen. Sein Mund war genauso trocken wie vorhin, seine Knie fühlten sich an wie Sameera ammis Apfelgelee und sein Herz schlug einen Purzelbaum nach dem anderen.

    »Es… es war doch bloß das blöde Spülmittel«, brachte er endlich heraus. »Und der Schwung, als ich mich zu dir umgedreht hab. Alles Physik, weißt du?«

    »Aber sicher«, sagte sie, eine Augenbraue hochgezogen und ein Grinsen in den Mundwinkeln, das ihn geisterhaft an das kleine Mädchen erinnerte, das einst zusammen mit ihm den großen Schneemann zum Einsturz gebracht hatte. »Wobei ich ja eher auf einen Fall von Chemie getippt hätte.«

    »Ch-chemie?« Jetzt stotterte er doch noch, verflixt noch mal. »Was meinst du denn damit?«

    »Wenn es zwischen zwei Menschen funkt«, erklärte sie in aller Seelenruhe, nahm ein Küchenhandtuch von der Halterung an der Wand und fing an, den Topfdeckel abzutrocknen. »Zwischen Mann und Frau, vor allem. Schaust du denn niemals Filme?«

    »Doch, natürlich«, erwiderte er. »Kinos sind hier in Kashmir zwar immer noch Mangelware, und mit Streamingdiensten ist unser Internet meistens überfordert, aber wir haben immerhin einen Fernseher und einen DVD-Player.«

    »Dann musst du doch wenigstens ein bisschen über Romantik Bescheid wissen!« Rajatas Augen blitzten herausfordernd.

    Hum tere bin kahin reh nahin paate tum nahin aate to hum mar jaate. Der Songtext und die Melodie, die er vorhin vor sich hin gepfiffen hatte, drängten sich ungebeten in Yussufs Kopf. Ohne dich kann ich nicht mehr leben; wäre ich dir nicht begegnet, ich wäre längst gestorben.

    »Ein bisschen«, gab er kurzangebunden zurück und wandte sich hastig von dem hübschen Mädchen ab, das ihn auf so unerwartete Weise durcheinanderbrachte. Ohne einen weiteren Kommentar schrubbte er die angetrockneten Reisreste aus einem Dechki. Dann merkte er, dass sie neben ihn trat. Sie roch sanft und süß, wie ein frisch erblühter Rosenstock.

    Hastig zog er die große Schüssel aus der Spüle und bespritzte sich prompt von oben bis unten mit Seifenwasser. Rajata lachte leise, aber der spöttische Spruch, auf den er gewartet hatte, blieb aus.

    Kabhi dekhoon jo main darpan chehra tera nazar aaye, jab jab leti hoon main saansein teri khushboo bikhar jaaye. Da war die Stimme von Manhar Udas schon wieder. Selten finde ich dein Gesicht auf meiner Türschwelle, doch wenn ich Atem hole, spüre ich deinen Duft. Yussuf seufzte. Konnte der alte Knabe in seinem Kopf nicht endlich die Klappe halten?

    »Du solltest heiraten«, sagte Rajata plötzlich; ihr Tonfall war vollkommen unbefangen. »Das hab ich heute auch schon zu Vikram baba gesagt. Für den Job, den du da übernommen hast, brauchst du dringend eine Frau.«

    Sie nahm ihm den blankgeschrubbten Dechki aus der Hand, um ihn abzutrocknen – und Yussuf nutzte die Gelegenheit, um einmal mehr nach Luft zu schnappen.

    »Hast du… vielleicht auch irgendwelche Kandidatinnen in petto?«, fragte er. »Wenn du schon so genau weißt, was ich brauche, d-dann musst du dir darüber doch Gedanken gemacht haben!«

    Er hatte den Satz überlebt, fast ohne zu stottern. Es geschahen noch Zeichen und Wunder.

    »Ja, was denn!« Sie lachte. »Keine ehemaligen Klassenkameradinnen, die schmachtend vor dem Dar-as-Salam Schlange stehen?«

    »Siehst du da draußen welche?« Er errötete, musste nun aber selbst lachen und stellte erleichtert fest, dass er sich entspannte.

    »Um diese Zeit schlafen sie wahrscheinlich«, meinte Rajata, ein ausgesprochen amüsiertes Funkeln in den Augen.

    »Schön wär’s«, versetzte er. »Aber um ehrlich zu sein: Der Andrang ist nicht gerade riesig. Genau genommen ist er gar nicht vorhanden.«

    Rajata legte den Kopf schräg.

    »Ziemlich merkwürdig«, erwiderte sie. »Wenn man bedenkt, was für eine scheußliche Nervensäge du gewesen bist, dann hast du dich ganz ordentlich herausgemacht, finde ich.«

    »Und du erst!«, platzte Yussuf heraus – und verstummte, den Kopf knallrot vor Verlegenheit.

    Sie hängte das Küchenhandtuch über eine Stuhllehne, kam auf ihn zu und lächelte. Y’Allah, wie schön sie war. Seine Knie zitterten schon wieder, und der Herzschlag schwirrte in seinem Brustkorb wie eine nervöse Hummel.

    »Man tut, was man kann«, sagte sie. »Und wenn ich schon an deinem großen Tag endlich mal wieder hier antanze, dann ist es ja wohl selbstverständlich, dass ich mich für dich in Schale werfe. Ich wollte, dass du dich freust.«

    »Ich hab mich gefreut.« Jetzt stand sie dicht vor ihm; er konnte sehen, wie sich sein Gesicht in ihren Augen spiegelte, und seine Stimme war nur noch ein heiseres Krächzen. »Ich… ich freu mich immer noch.«

    »Wenn das so ist, dann freu ich mich auch.«

    Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, und im nächsten Moment spürte er ihre Lippen auf seinem Mund. Kein bloßer Hauch, kein zartes Streifen, sondern ein ausgewachsener Kuss. Wenn Rajata etwas machte, dann machte sie es richtig. Yussuf hielt es für angebracht, ihren Kuss zu erwidern. Und sie in die Arme zu nehmen und an sich zu ziehen. Sie roch nicht nur betörend, sie schmeckte auch noch himmlisch – besser als sämtliche köstlichen Desserts aus der Küche des Dar-as-Salam zusammen.

    Als sie zurücktrat, kämpfte Yussuf mannhaft gegen den heftigen Widerwillen an, sie loslassen zu müssen. Das Haus war vollkommen still; alles, was er hörte, war sein eigener rascher Atem und der dieser hübschen jungen Frau, die er am liebsten für immer festhalten wollte.

    »Ich glaub, ich geh jetzt besser, bevor sich die Runde drüben im Aufenthaltsraum auflöst und Papa zur Abfahrt bläst«, sagte Rajata leise.

    »Verstehe«, erwiderte Yussuf ebenso leise. »Aber ihr bleibt doch noch ein bisschen, deine Eltern und du – in den nächsten Tagen, meine ich?«

    »Papa hat gesagt, wir fliegen erst am Donnerstag wieder heim«, antwortete Rajata. »Das sind drei Tage.«

    »Gut«, sagte Yussuf und meinte es absolut ernst. »Sehr gut.«

    »Find ich auch.« Rajata hob eine Hand und strich ihm zart und flüchtig über die Wange. »Schlaf schön, Heimleiter sahab.«

    »Du auch.«

    Er schaute ihr nach, während sie hinausging und lautlos die Tür hinter sich schloss. Dann ließ er sich auf den Küchenstuhl fallen und stellte fest, dass seine Hände zitterten.

    Was war da gerade passiert?

    Yussuf schloss die Augen. Eigentlich wusste er ganz genau, was da gerade passiert war. Ohne jeden Zweifel. Und in diesem Moment, allein in der Küche, erlebte er einen völlig unerwarteten Augenblick tiefsten Friedens.

    Tere bin ab jeena mushkil hai, main dil hoon tera tu mera dil hai.

    Jetzt machte es ihm nichts mehr aus, dass sich das romantische alte Liebeslied in seine Gedanken drängte. Er sang die Zeile mit und lächelte dabei.

    Von nun an ist es schwer, ohne dich zu leben. Du bist mein Herz, und ich bin das deine.

    ***

    »… und dann sagte sie, Yussuf sei der mit Abstand grässlichste Junge in Kashmir, Jammu und ganz Indien, und sie würde es ihm heimzahlen. Als er vor dem nächsten Freitagsgebet in seine nagelneue Kurta schlüpfen wollte, da waren beide Ärmel und der Halsausschnitt zugenäht. Und zwar so geschickt, dass es ihm erst auffiel, als er schon mit dem Kopf drinsteckte. Er verwickelte sich in den Stoff, rannte prompt gegen den Türpfosten – und während des gesamten Salat-al-dschumma konnten die Beter in der Moschee sein prächtig schillerndes Veilchen bewundern.«

    Vikram lehnte sich in dem ledernen Schreibtischstuhl zurück, mehr als zufrieden mit der Wirkung seiner kleinen Anekdote. Vishal, der in weniger als zwei Stunden zuschauen würde, wie seine Tochter Vikrams Ziehsohn heiratete, lachte herzhaft und entspannte sich zusehends.

    Die stürmische Romanze von Rajata und Yussuf, die bei dem Fest anlässlich von Yussufs Amtsübernahme ihren Anfang genommen hatte, war nicht nur für die beiden Beteiligten selbst ziemlich überraschend gekommen, sondern auch für alle anderen, die den jahrelangen Kleinkrieg der beiden Streithähne vom Dienst hautnah miterlebt hatten. Auch wenn Yussuf längst nicht mehr der kleine Tunichtgut von einst war; er war jetzt dreiundzwanzig, groß und mit seiner drahtigen Gestalt, den dunkelbraunen funkelnden Augen und dem schwarzgelockten Haar ein, wie Vishal sich ausdrückte, durchaus ansehnliches Exemplar von einem Mann. Rajata ihrerseits hatte gelernt, ihren Charme, der beträchtlich war, gezielt einzusetzen. Und nun hatte es zwischen ihr und dem neuen Heimleiter derart gefunkt, dass sie sich ihrer Sache schon nach kurzer Zeit bombensicher war: Sie würde Yussuf heiraten, niemanden sonst.

    Vishal hatte entschieden länger gezögert. Nicht weil er etwas gegen Yussuf oder das Dar-as-Salam hatte, wirklich nicht – aber die Sache kam ihm ein wenig übereilt vor, und außerdem: War Rajata mit ihren achtzehn Jahren nicht noch etwas zu jung zum Heiraten? Und war ihr überhaupt bewusst, worauf sie sich einließ und was es bedeutete, die Pflegemutter von achtundzwanzig Kindern zu sein? Rajata hatte seine Bedenken jedoch samt und sonders lachend beiseitegewischt: War Rani, die Tochter von Papas bestem Freund Raja, nicht auch erst knapp achtzehn gewesen, als sie mit ihrem Moussa um das Feuer ging, und waren die beiden nicht trotzdem heute ein überaus glückliches Ehepaar? War Yussuf nicht eigentlich auch viel zu jung, um das Heim zu leiten, und tat es jetzt trotzdem? Und hielt Papa sie allen Ernstes für so blauäugig, dass sie nicht genau wusste, welche Aufgabe an Yussufs Seite auf sie wartete? Abgesehen davon: Vor der Arbeit mit Kindern hatte sie keine Angst; im Gegenteil, sie freute sich darauf.

    Vishal war danach zwar halbwegs, aber noch lange nicht ganz überzeugt gewesen. Erst als seine Frau ein Machtwort sprach, streckte er die Waffen. »Sie weiß genau, was sie will«, sagte Pooja, »wieso sollen wir sie da erst noch ein paar Jahre zappeln lassen? Der Junge liebt sie, sie liebt ihn auch, und bessere Schwiegereltern hätten wir uns für unser Kind kaum wünschen können.«

    Also signalisierte er Gesprächsbereitschaft nach Srinagar, woraufhin Yussuf in Begleitung von Vikram, Sameera und Raja nach Shivapur reiste und in aller Form um Rajatas Hand anhielt. Da er von seiner Zukünftigen keine Konvertierung zum Islam verlangte (womit er bei Rajata auch definitiv auf Granit gebissen hätte), war auch eines der weiteren Probleme gelöst, die Vishal schlaflose Nächte bereitet hatten – nämlich dass diese »interreligiöse Verbindung« bei gewissen Nationalisten und hinduistischen Extremisten auf heftigen Widerstand stoßen könnte. Schließlich konnte wohl niemand Yussuf ernsthaft einen »Love Jihad« unterstellen, wenn seine indische Ehefrau ungehindert zu ihren Göttern beten und ihre Hindu-Feste feiern durfte.

    Und nun war es so weit. Alles war vorbereitet, hinter dem Dar-as-Salam rührte der Waza eifrig in seinen vierzig dampfenden Wazwan-Kesseln, in Sameeras Schlafzimmer schlüpfte Rajata soeben unter den vielstimmigen »Ahhhs« und »Oooohs« der weiblichen Verwandtschaft in den herrlichen perlenbestickten Anarkali, den ihre zukünftige Schwägerin Zeenath extra für sie entworfen hatte – und Vikram hatte den Brautvater in sein Büro beordert, um dessen schwer angegriffene Nerven mit einer guten Dosis Humor und Bushmills zu besänftigen.

    »So gefällst du mir schon viel besser«, sagte er lächelnd. »Du hast eben ausgesehen wie ein Stück Paneer frisch aus dem Kühlschrank. Wir wollen doch nicht, dass du nachher vor den Augen des Imams zusammenklappst.«

    »Du hast leicht reden«, erwiderte Vishal trocken und stellte das leere Whiskeyglas auf den Tisch. »Du hast schon ein paar Töchter verheiratet, für mich ist das noch absolutes Neuland.«

    »Ich gebe zu, als ich damals Zeenath an Nadim übergeben habe, war ich froh, dass nicht ich sie zur Sänfte tragen musste«, erwiderte Vikram tröstend. »Ich hätte sie wahrscheinlich fallen gelassen; mir haben die Knie nicht schlecht gezittert. Zum Glück hat Raja diese Aufgabe übernommen und absolut souverän durchgeführt.«

    »Dabei habe ich doch eigentlich gar keinen Grund, nervös zu sein.« Sichtlich ungläubig über sich selbst schüttelte Vishal den Kopf. »Schließlich gebe ich meine Tochter nicht irgendeinem Wildfremden zur Frau, bei dem ich mir alles andere als sicher sein kann, ob sie gut bei ihm aufgehoben ist. In gewissem Sinne geht es mir genauso wie im vorigen Jahr Raja: Ich muss mir um das Glück meiner Tochter keine Gedanken mehr machen, denn sie heiratet einen Sohn von Vikram Sandeep.«

    Vikram verneigte sich leicht. »Danyavaad – vielen Dank. Aber Yussuf hat auch Glück. Deine Rajata ist ein Schatz und eine patente Frau, die das Zeug hat zur Mutter der Kompanie. Genau das, was der Junge braucht – und dieses Haus auch.«

    »Das ist der Punkt, über den Rajata und ich in den vergangenen Wochen am ausgiebigsten miteinander debattiert haben«, versetzte Vishal. »Ich habe ihr ganz klar vor Augen gehalten, dass sie bei einer Hochzeit mit Yussuf nicht einfach nur Ehefrau wird, sondern zugleich eine Verantwortung übernimmt, die sie auf keinen Fall unterschätzen darf. Nächtelang haben wir ernsthaft darüber geredet, was es bedeutet, die Frau eines Waisenhausleiters zu sein – und ich bin sicher, sie ist sich darüber im Klaren, was auf sie zukommt. Aber sie ist bereit und willens. Und ich denke, sie wird es schaffen.«

    »Das glaube ich auch«, sagte Vikram. »Wobei ich deine Bedenken gut verstehen kann. Wir sind nicht irgendein Kinderheim. Dieses Haus hat einen bestimmten Ruf, es wird noch immer von vielen Augen beobachtet, und nicht alle schauen freundlich hin. Daran hat auch die Tatsache, dass ich sozusagen abgedankt habe und jetzt Yussuf hier das Zepter schwingt, nichts geändert. Wenn ich das Gefühl hätte, dass Rajata diesem Druck nicht gewachsen ist, dann hätte ich diese Bedenken von vornherein offen geäußert. Aber sie hat deinen Mumm geerbt; ich bin sicher, sie kriegt das hin. Und was noch viel wichtiger ist: Sameera denkt genauso. Rajata wird uns beide haben und Yussuf dazu, um in diese Aufgabe hineinzuwachsen.«

    »Das beruhigt mich sehr.« Vishal lächelte. »Außerdem… weißt du, wir haben Rajata stets dazu erzogen, alles erst einmal auszuprobieren, bevor sie sagt: nein, das kann ich nicht oder das schaff ich nicht. Ich selbst hab das auf die harte Tour lernen müssen, als ich noch auf der Straße gelebt habe, und deshalb wollte ich, dass meine Tochter von Anfang an vor nichts zurückscheut und selbstbewusst durchs Leben geht. Jetzt wird sich erweisen, wie erfolgreich diese Strategie wirklich war.«

    »Da mache ich mir keine Sorgen«, versicherte Vikram. »Außerdem seid ihr ja nicht aus der Welt; der Weg von Srinagar nach Shivapur ist keine Einbahnstraße. Und du und deine Frau, ihr gehört nicht erst seit heute zu unserer Familie. Dass ihr hier jederzeit willkommen seid, muss ich dir ja wohl nicht extra erklären.«

    »Nein, wirklich nicht.« Vishal richtete sich in seinem Sessel auf und sah Vikram voller Zuneigung an. »Das weiß ich seit dreizehn Jahren. Seit damals… du weißt schon.«

    Vikram nickte. Ja. Seit damals, als Vishal ihm geholfen hatte, Raja in einer waghalsigen Aktion aus dem Folterlager von Djamal Kamils Paramilitärs zu befreien. Er hatte Vishal schon vorher durchaus gemocht, aber in jener Nacht hatte er ihn erst wirklich schätzen gelernt.

    »Weißt du«, fuhr Vishal fort, »ich denke oft an diese Zeit zurück. Nicht nur wegen Raja. Ich erinnere mich vor allem daran, wie wir dieses Haus nach den Sturmschäden wiederaufgebaut haben. Damals hab ich mich ein bisschen in das Dar-as-Salam verliebt, und seitdem verstehe ich auch, warum es Raja von Anfang an immer wieder hierhergezogen hat – so sehr, dass er jetzt bei euch seinen Lebensabend verbringt. Dieser Ort ist etwas Besonderes. Und der Gedanke, dass nun auch meine Tochter hierhergehört, gefällt mir ausnehmend gut.«

    Mit einem Mal grinste er.

    »Aber wenn uns seinerzeit jemand gesagt hätte, dass wir beide eines schönen Tages miteinander verwandt sein würden – das hätten wir wohl niemandem so recht abgenommen, was?«

    Vikram streckte die Beine von sich und lachte leise. »Ach, weißt du – wenn mir damals bei der Armee jemand gesagt hätte, dass ich irgendwann Problemkinder in einem Heim in Kashmir aufziehe, dass ich einen Bruder wie Raja und einen Freund wie dich finde, dass ich heirate und mit Ende fünfzig noch Vater werde, dann hätte ich das auch nicht geglaubt. Das Leben überrascht uns immer wieder. Und Rajata ist eine der schönsten Überraschungen der letzten Jahre. Sie ist ein wunderbares Mädchen.«

    »Ich bin mit Yussuf auch sehr zufrieden.« Vishal schmunzelte. »Den hab ich schon damals gemocht, als ihr eure Kinder zu uns evakuiert habt. Er hat zu Rajil und Premal gepasst wie ein Deckel auf den Topf; ich hatte richtig Spaß mit den drei Lausern, in der Zeit, bevor ich dann mit dem Renovierungskommando hierhergekommen bin. Jungs von dem Kaliber finde ich klasse.«

    »Das glaub ich dir sofort.« Vikram schnaubte amüsiert. »Ihr seid von haargenau demselben Schlag.«

    Er betrachtete den Mann vor sich, der ihm inzwischen so vertraut geworden war: Kind der Straße, geläuterter Gauner, Rajas brother from another mother und hingebungsvoller Ehemann und Vater. Sein Gesicht wurde ernst.

    »Ich möchte, dass du eines weißt«, sagte er. »Deine Tochter ist nun auch meine Tochter, und ich werde sie ebenso beschützen wie den Rest meiner Familie. Sie wird hier so sicher sein, wie es in Kashmir nur irgend möglich ist. Und sollte sie jemals in Gefahr geraten, dann werde ich sie mit meinem Leben verteidigen. Jederzeit.«

    Vishal war bei Vikrams Worten ebenfalls sehr ernst geworden.

    »Daran zweifle ich keine Sekunde. Dazu kenne ich dich inzwischen viel zu gut. Wobei ich ja hoffe, dass nie wieder jemand von uns ernsthaft in Gefahr gerät. Aber wenn – dann erinnere dich daran, was Surya und ich damals zu dir gesagt haben: Das, was wir für Raja getan haben, würden wir jederzeit auch für dich tun. Versteh mich richtig, ich mache mir um Rajata keine Sorgen, solange ich sie in deiner und Yussufs Obhut weiß. Aber ich erwarte von dir, dass du im Notfall nicht zögerst, mir Bescheid zu geben, wenn du meine Hilfe brauchst. In Ordnung?« Seine Augen funkelten. »Ich meine, ich bin zwar immer noch kein Profi, aber Amateur bin ich auch keiner mehr. Ich hab die Kniffe und Tricks, die du mir in den vergangenen Jahren beigebracht hast, alle noch drauf!«

    »Und das ist verdammt viel«, erwiderte Vikram lächelnd. »Du warst einer der besten Schüler, die ich je hatte; was deine Nahkampftechnik betrifft, brauchst du dich schon lange hinter keinem Profi mehr zu verstecken. Gut, ich verspreche dir: Wenn ich dich brauche, werde ich dich rufen. Aber nimm’s mir nicht krumm: Ich hoffe und bete, dass wir nie wieder solche Kampfeinsätze nötig haben. Vielleicht juckt es dir ja in den Fingern, aber in meinem Alter hat man es gern ein bisschen friedlicher.«

    »Friedlich?« Vishal grinste breit. »Mit meinem Wildfang und Yussuf unter einem Dach? Träum weiter. Und was die Kampfeinsätze betrifft – das würde dann zwar bedeuten, dass ich ganz umsonst jahrelang mit dem besten Elitesoldaten Indiens trainiert habe, aber zugegeben: Ich hab auch nichts dagegen, wenn uns keiner mehr ernsthaft ans Bein pinkelt. Wollen wir darauf anstoßen?«

    Vikram warf einen Blick auf Vishals leeres Glas. Seine Brauen stiegen hoch. »Aha, du möchtest also noch einen?«

    »Nur, wenn ich nicht allein trinken muss«, gab Vishal augenzwinkernd zurück.

    »Für jeden einen Fingerbreit«, entschied Vikram salomonisch. »Mehr nicht, sonst kippst du nachher nicht aus Nervosität, sondern aus ganz anderen Gründen um, und das wäre auf einer islamischen Hochzeit vielleicht ein bisschen unpassend.«

    »Willst du mich beleidigen?« Vishals Augen blitzten herausfordernd auf. »Ich und nach nur zwei Whiskeys umkippen? Pass bloß auf, dass ich meine gesammelten Nahkampf-Elitekenntnisse nicht gleich mal an dir ausprobiere!«

    »Das sollten wir besser lassen, mera dost.« Vikram schmunzelte amüsiert. »Schließlich will ich meine neue Schwiegertochter nicht damit verschrecken, dass ich ihren Vater… ähm… demoliere.«

    »Du kämst auch nicht ohne ein paar ordentliche Dellen davon«, lachte Vishal. »Denk dran, dass du mir gerade erst Profiqualitäten bescheinigt hast! Aber gut, ich mache einen Alternativvorschlag: Irgendwann in den nächsten Tagen setzen wir uns abends mal bei Raja und seiner Nachttischbar zusammen. Und dann werden wir schon sehen, wer von uns beiden als Erster umkippt!«

    Vikram hob den Daumen. »Blendende Idee. Aber lass Sameera nichts davon hören. Die hat inzwischen ein gestrenges Auge auf meinen Lebenswasser-Konsum.«

    »Vielleicht drückt sie dieses gestrenge Auge ja zu, wenn wir sie gleich mit einladen«, versetzte Vishal. »Soweit ich weiß, ist sie bislang noch nicht zur Abstinenzlerin konvertiert, und ich bin sicher, Raja hat genügend Bushmills auf Lager, dass es für uns alle reicht.«

    Er hob sein Glas hoch.

    »In diesem Sinne: Her mit dem Fingerbreit, Kommandant!«

    Kapitel 2

    Der neue Küchenchef

    Nur ein Jahr, nachdem Yussuf Sadaq die Leitung des Dar-as-Salam übernommen und Rajata geheiratet hatte (die sich tatsächlich schnell und mühelos in ihre neue Position als ammi eingearbeitet hatte), stand dem Haus des Friedens eine weitere einschneidende Veränderung bevor: Zobeida Mafous ging in den Ruhestand.

    Siebzehn Jahre lang war sie der gute Geist des Heimes gewesen, hatte in der Küche den Kochlöffel geschwungen und Tag für Tag köstliche Mahlzeiten für alle gezaubert. Selbst die Aussicht, dass sich durch die beiden vor vier Jahren neu errichteten Seitenflügel die Zahl der zu bekochenden Heimkinder mehr als verdoppelte, hatte sie nicht schrecken können: »Dann stellen wir eben noch einen zusätzlichen Topf auf den Herd, das geht schon«, hatte sie gelassen erklärt. Solange sie Kinder um sich hatte, die ihr beim Gemüseschneiden, Tischdecken und Geschirrspülen halfen, war sie glücklich und durch nichts aus der Ruhe zu bringen.

    In der letzten Zeit jedoch hatte ihre Energie merklich nachgelassen; wahrscheinlich, so vermutete Sameera, auch eine Folge der Unterleibsoperation vor drei Jahren, bei der ihr ein gutartiger Tumor entfernt worden war. Danach hatte sie sich nie wieder vollständig erholt, und immer öfter war vor allem Raja eingesprungen, um sie in der Küche zu entlasten. Was Zobeida nicht wirklich gepasst hatte. »Er ist nach Kashmir gezogen, um hier in Ruhe seinen Lebensabend zu verbringen«, hatte sie eines Abends frustriert zu Sameera gesagt, »und jetzt nutzen wir ihn als unbezahlte Küchenkraft aus, weil ich alt und müde werde. Das ist doch nicht richtig!«

    Sameera hatte ihr Möglichstes getan, um Zobeida ihre Gewissensbisse auszureden. Dennoch beobachteten auch sie und Vikram die Entwicklung mit Sorge – allerdings sorgten sie sich mehr um Zobeida selbst, ebenso wie Yussuf, mit dem sie oft über die Situation sprachen. »Eigentlich müsste man sie in Rente schicken, bevor sie irgendwann in der Küche umkippt«, meinte Yussuf resignierend, »aber ich bring’s nicht fertig. Diese Arbeit hier ist doch ihr Leben – wenn wir ihr die wegnehmen, dann hat sie am Ende noch das Gefühl, dass sie nicht mehr gebraucht wird, und dass wir sie loswerden wollen. Ob wir vielleicht mal mit Hamid darüber reden sollen, wie er das Ganze sieht?«

    Doch noch während sie über dieses Thema beratschlagten, bat Hamid sie eines Tages von sich aus um eine Unterredung, zu der er zusammen mit Zobeida erschien; sie war blass und unglücklich, und Hamid hielt sie umarmt, während er sehr ruhig sein Anliegen erläuterte: Er und seine Frau hätten nun schon mehrfach darüber gesprochen, und jetzt habe sie schweren Herzens den Entschluss gefasst, ihre Arbeit aufzugeben und in den Ruhestand zu gehen. Natürlich würde sie noch bleiben, bis eine Nachfolgerin oder ein Nachfolger für sie gefunden sei. Ginge das in Ordnung?

    Sie hatten den beiden versichert, dass das selbstverständlich in Ordnung ging und dass sie Zobeidas Entschluss akzeptierten – zwar durchaus mit einem weinenden Auge, weil sie ihnen entsetzlich fehlen würde, aber andererseits auch mit einem Lächeln, weil Zobeida damit die wohlverdiente Chance bekam, ihren Ruhestand zusammen mit ihrem Mann zu genießen. Und ein Teil des Dar-as-Salam würden sie beide in jedem Fall bleiben; sie würden hier immer willkommen sein.

    Danach stürzte Yussuf sich voller Energie in die Suche nach einem neuen Koch für das Waisenhaus. Er lancierte Inserate, studierte Stellengesuche in lokalen Zeitungen, Fachmedien und Online-Foren und lud auch den einen oder anderen Kandidaten zu einem Vorstellungsgespräch ein. Doch keiner von ihnen schien ihm geeignet. Sicher, gut kochen konnten sie alle – aber Yussuf sah sie nicht als (nach Möglichkeit auch noch warmherzigen) Mittelpunkt einer Küche, in der sich zwei Dutzend Kinder wie zuhause fühlen sollten.

    Vikram, Sameera und Raja halfen Yussuf, so gut sie konnten; aber mit jedem Bewerber, der unverrichteter Dinge wieder von dannen zog, schwand ihr Optimismus, und Raja bot bereits in einem Anflug von Galgenhumor an, sich selbst zu bewerben – zumindest für die Übergangszeit, damit Yussuf nicht irgendwann unter Zeitdruck geriet und sich mit einer zweiten oder dritten Wahl begnügte, nur um Zobeidas Ruhestand nicht noch weiter hinauszuzögern.

    Doch noch am gleichen Abend, als Raja sich mit Vikram und Sameera auf einen kleinen Bushmills als Schlummertrunk zusammengesetzt hatte, stand mit einem Mal Yussuf auf der Schwelle, ein Funkeln in den Augen.

    »Ich hab ihn!«, verkündete er heiter.

    »Wen?«, fragte Vikram.

    »Zobeidas Nachfolger«, erwiderte Yussuf, als sei es das Selbstverständlichste der Welt.

    »Was?« – »Wen?«

    Yussuf grinste breit.

    »Verrat ich euch nicht. Aber ich bin sicher, ihr werdet ihn genauso großartig finden wie ich.«

    »Und wo kommt der jetzt so plötzlich her?« Sameera legte den Kopf schräg. »Du hattest heute doch gar niemanden da zu einem Vorstellungsgespräch.«

    »Das hab ich telefonisch erledigt«, erklärte Yussuf lässig. »Er kommt am nächsten Ersten. Ich schlage vor, wir veranstalten an dem Tag ein großes Abschiedsfest für Zobeida, und bei der Gelegenheit präsentier ich euch dann unseren Neuen, ja?«

    Vikram schüttelte sachte den Kopf. »Bis jetzt bin ich ja immer davon ausgegangen, dass du weißt, was du tust, auch wenn es weiß Gott nicht immer danach aussieht. Aber was ich davon halten soll…«

    »Vertrau mir, Vikram baba«, sagte Yussuf lächelnd. »Und vergiss nicht, dass du mir gegenüber immer noch ein ungeschriebenes Veto-Recht hast. Wenn ich bei Zobeidas Abschied ihren Nachfolger vorstelle und du bist überzeugt, dass ich mit dem Mann komplett danebenliege, dann sagst du es knallhart, und ich suche weiter und übernehme in der Zwischenzeit freiwillig selbst die Küche. Aber das wird nicht passieren. Ich bin sicher, einen besseren Nachfolger hättest auch du nicht finden können.«

    »Aber wieso dann diese Heimlichtuerei?« Jetzt schüttelte auch Sameera den Kopf. »Warum sagst du uns nicht einfach, wer es ist?«

    »Weil’s sonst keine Überraschung mehr wäre.« Yussufs Augen blitzten fröhlich. »Und ich will euch überraschen, wenn ich den Mann sozusagen in Fleisch und Blut aus dem Hut zaubere.«

    »Du machst es wirklich spannend.« Vikram musterte ihn scharf. »Aber gut, ich vertraue dir. Weil ich davon ausgehe, dass diese Personalfrage dir zu wichtig ist für irgendeinen dummen Streich.«

    »Also bitte!« Yussuf setzte eine empörte Miene auf. »Ich und Streiche! Kabhi nahin!«

    »Eben«, warf Raja amüsiert ein. »Wo du doch nicht einmal weißt, wie man dieses Wort schreibt.«

    »Endlich ein Mensch, der mich versteht!«, deklamierte Yussuf theatralisch mit der Hand auf der Brust und grinste. »Gut, dann geh ich jetzt zu meiner Frau und fang schon mal an, Pläne für die Abschiedsparty zu schmieden. Gute Nacht allerseits!«

    Er verbeugte sich schwungvoll und verschwand. Vikram, Sameera und Raja sahen sich an.

    »Er muss schon einen sehr sicheren Trumpf in der Tasche haben, um einen solchen Auftritt hinzulegen«, meinte Raja nachdenklich.

    »Ja, aber mir wäre es trotzdem lieber, ich wüsste, wie dieser Trumpf aussieht«, grummelte Vikram. »Diese Geheimniskrämerei passt mir nicht.«

    »Lass dich überraschen, mera jaan«, sagte Sameera und schenkte ihm ein wenig Whiskey nach. »Etwas anderes bleibt uns kaum übrig, wenn wir Yussuf die Freude nicht verderben wollen. Und bis zum Ersten sind es sowieso nur noch knapp zwei Wochen. Also: Sláinte, auf unseren Neuen! Wer immer es ist.«

    ***

    Das Fest, mit dem Zobeida Mafous in den Ruhestand verabschiedet wurde, geriet unter der Leitung von Yussuf und Rajata zu einer bunten, fröhlichen Party. Viele ehemalige Zöglinge des Dar-as-Salam waren zur Feier des Tages gekommen und hatten Raja, Vikram und Sameera dabei geholfen, ein Buffet auf die Beine zu stellen, das den legendären Schlemmerorgien bei Rajas Familie in Shivapur in nichts nachstand. Sämtliche Heimkinder hatten Geschenke für Zobeida gebastelt; sie sangen Lieder und führten kleine Sketche und Tänze auf. Zobeida saß neben Hamid auf einem mit Blumen geschmückten Ehrenplatz und musste sich ein ums andere Mal die Tränen der Rührung trocknen.

    Vikram hatte bereits zu Beginn der Feier eine kleine Laudatio auf Zobeida (und zugleich auch auf Hamid) gehalten. Nach einer sehr gelungenen Gesangseinlage von Rani mit den drei kleinsten Heimkindern klopfte Yussuf mit einem Löffel gegen ein Glas und bat um Ruhe.

    »Keine Sorge, ihr dürft gleich wieder munter weiterfeiern«, sagte er, als alle ihm schließlich zuhörten. »Aber Zobeidas Nachfolger ist soeben hier eingetroffen. Er wollte eigentlich schon zu Beginn unseres Festes hier sein; dummerweise wurde sein Flug gecancelt und er musste auf den nächsten umbuchen, deshalb hat er sich verspätet. Aber jetzt ist er da – und ihr seid sicher alle schon total gespannt, wer fortan hier für euch den Kochlöffel schwingen wird, nicht wahr?«

    Ein vielstimmiges »Jaaaaaa!« beantwortete seine Frage.

    »Na dann!« Grinsend ging Yussuf zur Tür und riss sie mit einem fröhlich schmetternden »Tadaaa!« auf.

    Auf der Schwelle stand ein junger, gutaussehender Mann – groß, sehr schlank, Ende zwanzig. Schwarzes, leicht gewelltes Haar umrahmte ein sanftes, ebenmäßiges Gesicht mit leuchtend braunen Augen. Er trug eine elegante auberginefarbene Kurta aus weich fließendem Stoff mit dazu passenden Churidars und ließ seine Blicke mit einem vorsichtigen Lächeln durch den Raum schweifen.

    Und dann, noch ehe sonst jemand reagieren konnte, ertönte aus Sameeras Richtung ein kleiner Aufschrei.

    »Ahmad!!«

    Im nächsten Moment stürmte sie auf den jungen Mann zu und fiel ihm um den Hals wie einem verlorenen Sohn, der nach jahrelanger Abwesenheit endlich nach Hause zurückgefunden hatte. Auch Vikram trat auf die beiden zu und legte bewegt die Arme um sie.

    »Meine Lieben«, verkündete Yussuf strahlend, »ich darf euch unseren neuen Küchenchef vorstellen: meinen Ziehbruder Ahmad Khan.«

    ***

    »Die Überraschung ist dir wirklich gelungen«, stellte Vikram fest und legte Yussuf eine Hand auf die Schulter. »Damit hätte ich nie im Leben gerechnet.«

    Sie hatten sich, nachdem das Fest verklungen war, noch zu einem späten Chai um den Küchentisch versammelt – Vikram und Sameera, Raja, Yussuf und Rajata und natürlich Ahmad, der nach dem Flug von Mumbai nach Srinagar, dem Wiedersehen mit seinen Pflegeeltern und Ziehgeschwistern und vor allem dem Fragenmarathon, mit dem die Heimkinder ihn voller Neugier bombardiert hatten, inzwischen rechtschaffen müde wirkte.

    »Ich gebe zu, ich hatte einen Moment lang tatsächlich an Ahmad gedacht, als Yussuf um Zobeidas Nachfolger so ein Geheimnis gemacht hat«, sagte Sameera lächelnd. »Aber natürlich kam mir der Gedanke sofort völlig abwegig vor. Ich meine – mein letzter Wissensstand war, dass du Chef de Cuisine in einem Fünf-Sterne-Hotel in Mumbai bist. Da hattest du doch mit Sicherheit andere berufliche Aussichten als die schlichte kleine Küche eines Waisenhauses in Kashmir!«

    »Hatte ich auch«, erwiderte Ahmad ruhig. »Aber als Yussuf mich anrief und fragte, ob ich ihm bei der Suche nach einem neuen Koch für das Dar-as-Salam helfen könne, da… ich weiß nicht, irgendwie wusste ich sofort, dass ich das machen möchte. Ich wollte mich sowieso beruflich verändern, neue Herausforderungen suchen. Insofern kam Yussufs Angebot wie gerufen.«

    »Moment – ich hab dir nicht angeboten, den Job zu übernehmen«, protestierte Yussuf. »Das hätte ich mir bei einem Sternekoch wie dir niemals angemaßt. Ich hab dich nur gefragt, ob du einen Tipp für mich hast – wo ich mich noch umhören könnte oder ob du vielleicht jemanden kennst, der…«

    »Schon klar«, unterbrach ihn Ahmad lächelnd. »Aber weißt du… wenn man ständig Gourmet-Menüs zaubert, dann sehnt man sich irgendwann unweigerlich auch mal wieder nach guter alter Hausmannskost – nach einem schlichten, ehrlichen Curry oder einem Stapel leckerer Parathas. Ich hatte ganz einfach plötzlich Lust auf diesen Job, deshalb habe ich mich selbst dafür angeboten. Damit ist uns beiden geholfen: Du hast wieder einen Koch für dein Heim, und ich…« Er schluckte und fuhr leise fort: »Und ich bin wieder zuhause. Ich meine, ich war wirklich gerne in Mumbai, aber… ihr habt mir gefehlt. Ihr und dieses Haus.«

    »Ich finde es schön, dass du wieder hier bist.« Raja stand auf und schenkte Ahmad noch einmal Chai nach. »Und wenn du mal eine helfende Hand in der Küche brauchst: Ich wohne heutzutage hier, und ich stehe dir jederzeit zur Verfügung.«

    »Gut zu wissen, danke«, antwortete Ahmad und prostete ihm mit seiner Tasse zu. »Das Chaikochen beherrschst du jedenfalls immer noch perfekt. Der ist doch von dir, oder?«

    »Du meinst, der dezenten Kardamom-Note nach zu urteilen?«, lachte Raja. »Bingo, Chef.«

    »Auch der hat mir gefehlt«, sagte Ahmad leise. »Und ammi, und Vikram baba…«

    Die Stimme versagte ihm, und er brach ab. Kurz entschlossen erhob sich Sameera, trat hinter seinen Stuhl und umarmte ihn.

    »Willkommen zuhause, beta

    ***

    Draußen regnete es in Strömen. Raja stand in der Küche des Dar-as-Salam und rührte den Firni geschmeidig, den er Ahmad für das Abendessen versprochen hatte. Ahmad selbst hatte vorhin mit ein paar nicht ganz druckreifen Ausdrücken das Haus verlassen; er hatte an diesem Morgen beim Einkaufen in Srinagar vergessen, die Milchvorräte aufzufüllen, und der Restbestand hatte zwar durchaus noch für den Firni gereicht, aber für die abendliche Chairunde und für das nächste Frühstück der Heimkinder wäre es knapp geworden. Also musste er jetzt noch einmal in die Stadt fahren, und Raja hatte ihm dafür die Zubereitung des Nachtischs abgenommen.

    »Ah, Papa, hier bist du.« Rani war in der Küchentür erschienen. »Darf ich dir ganz kurz deinen Enkel in die Hand drücken? Die Mädels haben mich gebeten, noch zwei, drei Lieder mit ihnen zu singen, bevor ich heimfahre, und der Kleine schläft gerade so schön; ich möchte ihn nicht wecken.«

    »Klar«, antwortete Raja lächelnd und stellte den fertigen Firni zum Auskühlen beiseite. »Lass ihn ruhig hier, und wenn er aufwacht und dich braucht, dann bring ich ihn dir.«

    Er nahm das kleine Deckenbündel von seiner Tochter entgegen und betrachtete liebevoll das winzige Baby, das darin schlief. Said Vikram Raja Qaadri. Moussas und Ranis erstes Kind, erst vor wenigen Wochen geboren. Er erinnerte sich noch gut, wie Moussa danach zu ihm und Vikram gekommen war und ihnen erklärt hatte, dass der Junge drei Vornamen bekommen sollte. Ich möchte ihn nach meinen drei Vätern nennen, hatte er gesagt, und zwar in der Reihenfolge, in der sie in mein Leben getreten sind. Ihr seid doch einverstanden, oder?

    Natürlich waren sie das gewesen; Vikram hatte lediglich mit einem Augenzwinkern darauf bestanden, dass der Rufname des Jungen Said sein sollte (»sonst sind Raja und ich am Ende noch eifersüchtig aufeinander«), und Raja hatte ebenso amüsiert nachgefragt, ob bei einem Schwesterchen für den kleinen Said dann Moussas drei Mütter als Namensgeberinnen drankommen würden. Mal sehen, was sich machen lässt, hatte Moussa lachend erwidert, und Raja zweifelte keine Sekunde daran, dass die Familienplanung im Hause Qaadri noch keineswegs abgeschlossen war.

    Rani küsste ihren Sohn auf die Stirn und ihren Vater auf die Wange und verschwand in Richtung des Flurs mit den Mädchenzimmern. Raja setzte sich an den Küchentisch und wiegte seinen schlafenden Enkel sanft. Manchmal konnte er es immer noch nicht fassen, wie wunderbar sich alles gefügt hatte: dass seine Tochter und Vikrams Ziehsohn Moussa, die er beide von Herzen liebte, einander gefunden hatten und miteinander glücklich waren – ein Glück, das nun durch dieses Baby gekrönt worden war und an dem er teilhaben durfte, weil Vikram und Sameera ihm das Gästezimmer im alten Anbau als seinen dauerhaften »Alterswohnsitz« zur Verfügung gestellt hatten.

    Bald darauf hörte er von draußen das Geräusch eines Wagens, der in die Auffahrt einbog und anhielt, und wenig später kam Ahmad mit einem großen Karton voller Milchpackungen in die Küche. Raja sah ihm entgegen, gab ein ganz leises »Pscht!« von sich und wies mit bedeutungsvollem Blick auf das Baby in seinen Armen.

    »Oh!« Behutsam stellte Ahmad den Karton ab und trat näher. »Haben wir Besuch am Herd?« Er betrachtete lächelnd das schlafende Gesichtchen.

    »Er macht hier nur Zwischenstation«, erklärte Raja. »Rani singt noch eine Runde mit den Mädchen und holt ihn dann ab, bevor sie nach Hause fährt.« Er schaute Ahmad an. »Willst du ihn mal halten?«

    Ahmad zögerte kurz, dann nickte er. »Gerne.«

    Er nahm das Baby entgegen und bettete es vorsichtig in seine Armbeuge. Raja sah ihm dabei zu und lächelte.

    »Steht dir gut, mein Junge!«

    Ahmad versteifte sich plötzlich ein wenig. »Sag das nicht zu laut – vor allem nicht, wenn andere dabei sind. Ich krieg auch so schon ständig zu hören, wie seltsam es ist, dass ich in meinem Alter noch nicht verheiratet bin, und dass ich mir doch endlich ein nettes Mädchen suchen soll! Wenn sich jetzt auch noch rumspricht, wie gut Ahmad mit Baby aussieht, bin ich endgültig verloren. Kann ich nicht einfach Ahmad chacha für die Allgemeinheit bleiben? Muss ich partout verkuppelt werden und Frau und Kinder haben?«

    Sein Tonfall war unerwartet scharf geworden. Said rührte sich in seinem Arm und gab ein missvergnügtes Quäken von sich. Ahmad tätschelte sanft das Köpfchen. »Tut mir leid, mein Kleiner. Nimm’s nicht persönlich.«

    »Ich hab das Gefühl, im Moment nimmst eher du etwas persönlich.« Raja musterte ihn prüfend. »Hab ich etwa irgendeinen wunden Punkt bei dir erwischt?«

    »Nein.« Ahmad zog sich mit der freien Hand einen Stuhl heran und setzte sich vorsichtig. »Nein. Du ganz bestimmt nicht. Du kannst überhaupt nichts dafür, Rajaji. Ich…«

    Er atmete tief durch.

    »Ich glaube, ich würde dir gern etwas erzählen. Das heißt, wenn du Lust und Zeit hast, mir zuzuhören.«

    Raja betrachtete ihn verwundert.

    »Seit wann musst du fragen, ob du mit mir reden kannst und ob ich dir zuhöre? Das wäre ja ganz was Neues – ebenso wie die Tatsache, dass du mich plötzlich ›Rajaji‹ nennst. Dir muss ja wirklich einiges auf der Seele liegen, mein Junge.«

    »Wie man’s nimmt.« Ahmads Gesicht war müde. »Vor einem Jahr wäre das alles noch kein Problem für mich gewesen. Ich meine… ich hatte es geschafft, oder? Chef de Cuisine im besten Fünf-Sterne-Hotel von Mumbai, und das mit siebenundzwanzig; Jobangebote von gleich drei Hotels, darunter das Raffles in Singapur – aber das wäre nicht in Frage gekommen. Ich war genau da, wo ich sein wollte.«

    Er strich dem Baby in seiner Armbeuge behutsam über die Hand. Winzige Finger spreizten sich und umklammerten seinen Daumen.

    »Ich war sehr glücklich«, fuhr er fort. »Verliebt in meine Küche, in meinen Job, in jedes neue Rezept… und in jemanden, von dem ich geglaubt habe, dass wir zusammengehören. Und zusammenbleiben. Ich wäre niemals woandershin gegangen. Ich hatte keine Ahnung, wie glücklich man sein kann.«

    »Und was geschah dann?«, fragte Raja behutsam.

    »Es war von einem Tag auf den anderen vorbei. Und weißt du, was der Grund war?«

    Ahmad nahm den Blick von dem schlafenden Kind und sah Raja in die Augen.

    »Angst. Nicht meine, sondern… seine. Er hatte Angst. Er ist verheiratet.«

    Raja brauchte ein paar Sekunden, um diese für ihn völlig überraschende Wendung zu verarbeiten. Ahmad deutete sein Schweigen offensichtlich auf eine ganz bestimmte Weise.

    »Schockiert, was? Kein Wunder. Ich hab Arjun vor zwei Jahren kennengelernt, bei einem Catering für einen großen Konzern. Der gehört seinen Eltern – und die haben auch die Frau für ihn ausgesucht und die Ehe arrangiert. Kurz bevor wir uns zum ersten Mal begegnet sind, übrigens. Dass er eigentlich auf Männer steht, wissen sie bis heute nicht. Kein Wunder, so was erzählt kein Sohn seinen Eltern besonders gern. Ich hab’s ja auch noch nicht geschafft.«

    »Also… schockiert würde ich es nicht nennen«, erwiderte Raja nach einer kleinen Pause. »Eher überrascht – weil ich damit wirklich nicht gerechnet hätte. Und die Frage, nach der ich vorhin gesucht habe, war eigentlich die, ob du gewusst hast, dass er verheiratet ist.«

    »Hab ich, ja. Er war der strahlende Junior – dazu bestimmt, die Fackel des Familienbetriebs hochzuhalten und Söhne zu zeugen und so weiter. Ich hab damals zum ersten Mal ein Festbankett vollkommen eigenverantwortlich organisiert. Fünf Gänge für vierhundert verwöhnte Gäste, und ich war nervös wie die Hölle. Aber es hat alles geklappt, wie am Schnürchen. Wie ein Uhrwerk. Das Dessert war eine Variation indischer Süßigkeiten, alles in kleinen Gläschen serviert. Weiß ich bis heute. Am Ende kam er, um sich zu bedanken – und ich sah ihn an und bekam von einer Sekunde zur anderen keinen geraden Satz mehr zustande.«

    »Liebe auf den ersten Blick, ja?«, fragte Raja mit einem leisen Lächeln.

    »Und wie!« Ahmad schnaubte. »Ich hätte nie gedacht, dass mir so was mal passiert. Wenn man ist wie… wie ich, dann lernt man, sein Herz festzuhalten. Ist sicherer so, weißt du?«

    In diesem Moment wurde die Küchentür aufgestoßen, und Rani kam herein. Als sie Ahmad sah, lächelte sie fröhlich.

    »Hallo, Ahmad! Na, benimmt sich unser Junior? Steht dir übrigens verdammt gut. Sitzt denn nirgends in Srinagar eine alte Schulzeitliebe von dir, die du reaktivieren könntest? Es muss doch mehr als genug Frauen geben, die sich sämtliche Finger nach dir ablecken würden!«

    »Ich bin mit meinen Töpfen verbandelt«, versetzte Ahmad leichthin. »Willst du deinen Sohn wiederhaben?«

    »Wenn ihr euch von ihm trennen könnt, gerne«, lachte Rani. »Auf mich warten jetzt nämlich auch ein paar Töpfe – die, in denen ich das Abendessen für meinen hart arbeitenden Mann kochen muss.«

    Sie nahm Ahmad ihr Baby ab und liebkoste dem Kleinen die weiche Wange.

    »Danke, dass ihr auf ihn aufgepasst habt. Lieben Gruß an Sameera und Vikramji, ja? Bis bald!«

    Sie warf einen Luftkuss in Richtung Raja und verließ mit ihrem Sohn die Küche.

    »So, jetzt hast du es dir von meiner Tochter auch noch mal anhören müssen«, meinte Raja mit einem verlegenen Grinsen. »Tut mir leid.«

    »Macht doch nichts.« Ahmad zuckte leicht mit den Achseln. »Woher soll sie es auch wissen? Ich hab ja nie mit irgendwem darüber geredet. Mit vierzehn hab ich mich das erste Mal in einen Jungen verliebt, und ich weiß noch, was für ein Schock das damals für mich war. Er hat es nie mitgekriegt; ich bin ihm danach aus dem Weg gegangen.«

    Er holte tief Luft.

    »Es ist nicht so, dass ich mit Mädchen nicht klarkomme. Mit einigen war ich sogar ganz gut befreundet. Aber ich war immer nur der Kumpel, der zuhört und sie tröstet, wenn ihre Eltern nicht erlauben, dass sie ausgehen, oder ihnen mit einer arrangierten Ehe drohen. Mehr war da nie.«

    »Und dann hat es dich also bei Arjun zum ersten Mal so richtig erwischt?«

    »Kann man so sagen.« Ahmad schaute auf seine Hände hinunter. »Davor gab es lediglich die eine oder andere… kürzere Sache. In Delhi und Mumbai ist es nicht schwer, jemanden zu finden. Trotzdem war ich furchtbar einsam.«

    »Kann ich mir vorstellen«, nickte Raja. »Und Arjun… auch wenn er verheiratet war, aber hat er auch etwas für dich empfunden?«

    »Ja.«

    Ahmad verstummte. Raja wartete geduldig, dann legte er ihm behutsam die Hand auf den Oberarm.

    »Wenn’s dir doch zu schwerfällt – du musst nicht weiterreden.« Er überlegte kurz. »Oder sollen wir lieber in mein Zimmer gehen? Da sind wir ein bisschen sicherer; hier platzt ja doch eher mal unerwartet jemand rein, so wie eben Rani.«

    »Gute Idee.«

    »Dann komm!« Raja stand auf. »Vorausgesetzt, du möchtest mir tatsächlich noch mehr erzählen.«

    Ahmad erhob sich langsam. »Und vorausgesetzt, du willst mit jemandem wie mir allein in einem Zimmer sein«, sagte er leise.

    Unwillkürlich entfuhr Raja ein

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