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Fluchmond: Roman
Fluchmond: Roman
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eBook545 Seiten7 Stunden

Fluchmond: Roman

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Über dieses E-Book

Die geliebte Großmutter der Fantasybuch-Illustratorin Miriam Trautwein ist gestorben. Miriam erbt das abgelegene Haus im Schwarzwald, in dem sie glückliche Kindheitstage verbracht hat. Spontan entscheidet sie sich, von Norddeutschland ins Wolftal überzusiedeln.
Die Menschen im Wolftal heißen sie herzlich willkommen. Miriam findet alte Bekannte wieder, lernt aber auch neue kennen. Der Kunstschreiner Ralf Markward, der sehr zurückgezogen lebt, fasziniert sie besonders. Seine Familie scheint von düsteren Geschichten umgeben zu sein, aber Miriams Freundschaft mit dem rätselhaften Mann vertieft sich immer mehr, bis daraus schließlich Liebe wird.
Als Miriam im Schmuckkästchen ihrer Großmutter eine Kette mit einer merkwürdigen Silberscheibe findet, überschlagen sich die Ereignisse: Ralfs gut gehütetes Familiengeheimnis kommt unvermutet ans Licht, und als Miriam endlich begreift, dass manche Legenden tatsächlich wahr sind, gerät sie in einen Strudel uralter, düsterer Geheimnisse.
Spannend und hochemotional geschrieben, spielt Simone Dorras Geschichte so glaubwürdig im heutigen Schwarzwald, dass man geradewegs hinfahren und sich von der Existenz der Werwölfe überzeugen möchte. Wo sonst, wenn nicht im Wolftal, könnten bis heute fast vergessene Gestalten aus der Legende überlebt haben?
»Fluchmond« ist der erste regionale Fantasyroman im Silberburg-Verlag.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum10. Okt. 2014
ISBN9783842516427
Fluchmond: Roman

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    Buchvorschau

    Fluchmond - Simone Dorra

    entfernt.

    EICHENMOND – DAS BEGRÄBNIS

    VIER MONATE ZUVOR

    In diesem Winter fror der Maschsee in Hannover zum ersten Mal seit Jahren wieder zu, und Miriam hatte trotz ihrer Wollhandschuhe eiskalte Finger, als sie am Freitag vor dem dritten Advent ihre Wohnung aufschloss.

    Der Brief lag auf dem kleinen Webteppich hinter der Tür, zusammen mit ein paar Rechnungen und einem bunten Prospekt. An genau derselben Stelle hatte Miriam vor vier Tagen den anderen Brief gefunden, einen Umschlag aus teurem Papier, schwarz umrandet, vom selben Absender. Durch ihn hatte sie erfahren, dass ihre Großmutter gestorben war. Der Koffer war bereits gepackt, die Zugfahrkarte steckte in ihrer Lieblingshandtasche; morgen früh würde sie nach Süddeutschland fahren, um dabei zu sein, wenn Anna Trautwein im Schwarzwald beerdigt wurde. Sie war die einzige Verwandte, die die alte Dame noch gehabt hatte; ihr Vater – Anna Trautweins einziger Sohn – war vor zehn Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, gemeinsam mit Miriams Mutter.

    Miriam streifte die Stiefel ab, hängte ihren Mantel auf und legte die Handschuhe zum Trocknen auf die Heizung. Das Wohnzimmer war warm, aber es wirkte trotzdem abweisend und merkwürdig unpersönlich. Miriam entschied, dass es an der Einrichtung lag – weiße Regale und ein ultramodernes Sideboard vor einer schwarz gestrichenen Wand, ein Ledersofa und ein teurer Rauchglastisch auf einem anthrazitgrauen Teppichboden. Nichts davon hatte sie ausgesucht. Alles entsprach dem Geschmack von Karsten. Er war vor sechs Wochen ausgezogen, nach zwei Jahren gemeinsamen Lebens, inklusive Zukunftsplänen und regelmäßigen Abendessen mit seinen Eltern. Die teure Stereoanlage und den Flachbildfernseher hatte er mitgenommen. Die Möbel standen immer noch da, ein Denkmal für seine überspannte Geltungssucht und ihr mangelndes Durchsetzungsvermögen.

    Miriam legte den kleinen Poststapel auf den Rauchglastisch und setzte sich auf das Sofa. Irgendwann würde sie es austauschen müssen … am besten auch gleich den ganzen Rest. Sie sehnte sich nach warmen Farben, nach dem satten Schimmer von poliertem Holz, nach der natürlichen Maserung von Bodendielen, Schränken und Deckenbalken.

    Das Haus ihrer Großmutter hatte so ausgesehen … sicherlich sah es immer noch so aus. Anna Trautwein hatte in den letzten Jahren nur die Modernisierungen vorgenommen, die ihr die Arbeit leichter machten; sie hatte sich eine Spülmaschine und einen modernen Kühlschrank gekauft und den alten Holzofen mit den Eisenringen durch einen neuen Herd ersetzt. Was sonst in den fünf Zimmern stand, war teilweise mehr als vier Generationen alt, und sie hing an jedem einzelnen Stück. Für Miriam, die als Kind fast jedes Jahr ihre Sommerferien auf dem Trautweinhof verbracht hatte, bedeutete die Tatsache, dass sich dort kaum jemals etwas änderte, eine beruhigende Konstante in einem ansonsten sehr unruhigen Leben.

    Sie wog den Brief eine Weile in der Hand, dann schlitzte sie den Umschlag mit dem Daumennagel auf und faltete den Bogen auseinander. »Notariat Eberle & Schmidt«, sagte der Briefkopf, darunter standen wenige sauber getippte Zeilen.

    Sehr geehrte Frau Trautwein,

    ich möchte Ihnen nochmals mein herzliches Beileid zum Tode Ihrer Großmutter ausdrücken. Hiermit bitte ich Sie, mich nach der Beerdigung am Samstag, den 18.12., um 16 Uhr in meiner Kanzlei aufzusuchen. Frau Trautwein hat ein Testament hinterlassen, das ich bei dieser Gelegenheit eröffnen und dessen Inhalt ich Ihnen zur Kenntnis bringen möchte. Meine Mitarbeiterin wird Sie vor der Beerdigung um 13 Uhr am Bahnhof in Hausach abholen.

    Hochachtungsvoll,

    Armin Eberle

    Miriam ließ den Briefbogen sinken und runzelte die Stirn. Ein Testament? Merkwürdig, dass Oma Anna an so etwas gedacht haben sollte. Natürlich bezahlte sie immer pünktlich ihre Rechnungen, hatte für die regelmäßigen Kosten Daueraufträge eingerichtet und behielt ihre Ausgaben sorgsam im Auge. Aber ein Testament zu machen hatte etwas Endgültiges. Es bedeutete, dass man sich mit seiner eigenen Sterblichkeit auseinandersetzte, und Oma Anna hatte trotz ihrer dreiundachtzig Jahre fest damit gerechnet, noch lange zu leben.

    Miriam hatte genau dasselbe gedacht. Sie war mittlerweile fast dreißig, aber das kleine Mädchen, das tief in ihrem Herzen noch immer die Erinnerung an die glückliche Zeit bei ihrer Großmutter hütete wie einen Schatz, war davon überzeugt gewesen, dass Anna Trautwein einfach nicht sterben konnte.

    Matthias Trautwein, Anna Trautweins einziger Sohn, wurde 1945 geboren. Die Wehrmacht hatte Annas Mann Ende 1943 vom Hof weg eingezogen, und es war ihm nicht gelungen, nachzuweisen, dass seine kleine Landwirtschaft kriegswichtig genug war, um ihn zu verschonen. Bevor er für den »Führer« zur Waffe greifen musste, war Alfons Trautwein kaum je über Hornberg hinausgekommen. Jetzt schwemmte der nur höchst widerwillig geleistete Dienst für das »Dritte Reich« ihn bis nach Italien. Anna erhielt ein paar Feldpostbriefe, in denen er sich besorgt danach erkundigte, wie die Dinge daheim standen. Für die fremde Landschaft, in die es ihn verschlagen hatte, konnte er sich nicht erwärmen, aber er brachte seiner Frau bei seinem ersten – und einzigen – Heimaturlaub im Frühsommer 1944 Rotwein und Zitronen vom Gardasee mit. Nur wenige Wochen später fiel er, ganz in der Nähe von Rom.

    Anna war erst ein rundes Jahr verheiratet gewesen und noch nicht ganz neunzehn, als der Krieg sie zur Witwe machte und sie gleichzeitig herausfand, dass sie schwanger war. Sie gestattete sich nicht mehr als eine Woche verzweifelter Trauer, dann rief sie ihren Vater zu Hilfe. Kurz nachdem Anna geheiratet hatte, war ihre Mutter unter ein Pferdefuhrwerk geraten; seitdem lebte er allein auf dem elterlichen Hof. Kurz entschlossen verpachtete er diesen Hof an seinen Knecht, der ihm schon seit dreißig Jahren zur Seite stand und niemals imstande gewesen wäre, sich etwas Eigenes zu leisten. Dann zog er zu Anna und machte sich an ihrer Seite daran, die kleinen Felder zu bewirtschaften und auf den steilen Wiesen Heu zu machen. Als Annas Sohn im März 1945 zur Welt kam, gab es plötzlich einen Enkel, den er lieben und mit aufziehen durfte.

    Matthias Trautwein wuchs zu einem aufgeweckten Jungen heran, mit einem dichten, rotblonden Haarschopf und grauen, neugierigen Augen in einem sommersprossigen Gesicht. Anna war überzeugt davon, dass er eines Tages ein hübsches Mädchen heiraten würde, das etwas Land mit in die Ehe brachte, um dann mit ihr gemeinsam den Hof zu übernehmen. Allerdings hatte sie seinen Lerneifer und seine Wissbegier unterschätzt, und dass weder er noch seine Lehrer bereit waren, sich für ihn mit einer Ausbildung an der Volksschule zufriedenzugeben.

    Er setzte durch, dass er das Technische Gymnasium in Wolfach besuchen durfte, auch wenn Anna kaum begriff, wozu ein Hoferbe das nötig haben sollte. Sie ahnte nicht, dass ihr Sohn keineswegs die Absicht hatte, den Rest seines Lebens auf dem Trautweinhof zu verbringen. Seine Noten in Physik und Mathematik waren hervorragend, und obwohl er zuhause genauso kräftig mit anpackte, wie es von ihm erwartet wurde, verbrachte er die knappe Freizeit, die ihm blieb, damit, in einem versteckten Winkel der elterlichen Scheune aufwändige Geräte aus Holzresten, Schrauben und Kabeln zu konstruieren, die fast immer funktionierten. Als sein Klassenlehrer ihm ein Studium der Ingenieurswissenschaften empfahl, war der Streit mit seiner Mutter nicht mehr zu vermeiden.

    Es wurde eine erbitterte Auseinandersetzung. Anna sah ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt und machte ihm heftige Vorwürfe. Matthias fühlte sich unter Druck gesetzt und eingeengt. Obwohl er seine Mutter und seinen Großvater innig liebte, wünschte er sich nichts mehr, als den heimatlichen Hof so weit wie möglich hinter sich zu lassen. Mit der Hilfe seines Klassenlehrers suchte er sich einen Studienplatz in Hannover und eine Unterkunft bei einem pensionierten Professor und kehrte seiner Heimat drei Monate nach seinem zwanzigsten Geburtstag den Rücken. Anna hätte das verhindern können – immerhin war er noch nicht volljährig –, aber sie war trotz ihrer Wut und Verzweiflung zu klug, ihn zum Bleiben zu zwingen.

    Matthias schloss sein Studium mit Auszeichnung ab und fand eine Stelle in einem großen Konzern, der überall auf der Welt Elektrizitätswerke baute. Der Kontakt zu seiner Mutter brach nie vollständig ab, doch er beschränkte sich lange Zeit auf wenige Anrufe im Jahr, regelmäßige Pakete zum Geburtstag und bunte Weihnachtskarten. Matthias ließ sich mit der Familiengründung Zeit; erst mit Mitte dreißig heiratete er eine Kollegin aus seiner Firma. Zwölf Monate später kam Miriam zur Welt.

    Hallo …?«

    Eine warme Hand berührte sie an der Schulter und rüttelte sie sachte.

    »Hallo, Sie …? Sie hatten doch bis Hausach gelöst, und in fünf Minuten sind wir da.«

    Eine tiefe, rumpelnde Stimme, den alemannischen Dialekt zu sorgfältigem Hochdeutsch gebändigt.

    Miriam blinzelte in ein freundliches, rundes Gesicht mit einem eisengrauen Schnäuzer. Sie versuchte den Schleier aus Müdigkeit abzuschütteln, und ihr Blick irrte ab. Die schroffen Hügel vor dem Fenster sahen aus wie ein etwas kitschig geratenes Motiv für eine Weihnachtskarte, die gefächerten Zweige der Nadelbäume glitzernd überzuckert, die Talsenken und kleinen Einschnitte dazwischen von einer dichten weißen Decke verhüllt. Sie versuchte, vertraute Landmarken zu erkennen, aber der Schnee machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Und es war noch nicht Finkenweiler, wo sie sich auch nach sieben Jahren Abwesenheit blind zurechtgefunden hätte.

    »Danke schön«, sagte sie. »Vielen Dank. Ich wäre sonst vielleicht nach Freiburg weitergefahren.«

    »Schon recht.«

    Der Schaffner lächelte, dann ging er hinaus. Er machte die Schiebetür wieder zu, und Miriam stemmte sich aus ihrer legeren Haltung hoch, um den Koffer aus dem Gepäcknetz zu holen. Sie hatte warme Winterkleidung zum Wechseln mitgenommen, einen schwarzen Hosenanzug für die Beerdigung, gefütterte Stiefel und ihre Lieblingsmütze. Ihr Vater hatte sie ihr nach einer Dienstreise aus Russland mitgebracht; sie war geformt wie eine Tatarenkappe und üppig mit dunklem Pelz besetzt. Genau das Passende für die Wolfsjagd mit Stil, dachte Miriam ironisch, und das, obwohl es seit Hunderten von Jahren im Schwarzwald gar keine Wölfe mehr gibt.

    Sie schlüpfte in ihre Daunenjacke, zog den Koffer hinter sich her und trat auf den Gang. Der Zug wurde langsamer, dann gab es einen kräftigen Ruck und die Waggons standen still. Miriam öffnete die Tür und stieg hinunter auf den Bahnsteig. Als sie sich umdrehte, stellte sie fest, dass der Schaffner von gerade eben sie neugierig beobachtete.

    »Werden Sie abgeholt?«, fragte er.

    Offenbar wirkte sie verloren genug, um seinen Beschützerinstinkt zu wecken. Sie blickte den Bahnsteig hinauf und hinunter. Niemand zu sehen.

    »Ja … sie ist nur anscheinend noch nicht da«, erklärte sie. »Aber keine Sorge, sie kommt bestimmt gleich.«

    Er nickte, offensichtlich beruhigt. »Na dann alles Gute!«

    Die Tür knallte zu, ein schriller Pfiff ertönte und der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Das freundliche Gesicht hinter der Glasscheibe verschwand und ließ Miriam mit ihrem Koffer und einem unbehaglichen Gefühl der Verlorenheit zurück. Es war kalt, viel kälter als in Hannover. Der Wind trug eine eisige Schärfe mit sich, die mühelos durch die Nähte der Jacke stach.

    Sie schob beide Hände in die Jackentaschen und seufzte. Drei Jahre lag ihr letzter Besuch im winterlichen Schwarzwald nun zurück, und sie war wohl nichts mehr gewöhnt. Vielleicht wartete sie besser im Bahnhofsgebäude, bevor ihre Zehen sich trotz der gefütterten Schuhe in Eiszapfen verwandelten.

    Drinnen stand noch immer die hölzerne Wartebank auf dem schwarz gekachelten Sockel mit den Lüftungsschlitzen, und das unruhige Muster aus vereinzelten Kacheln in Gelb, Rot und Blau sah immer noch so aus, als hätte ein Kleinkind Bauklötzchen geworfen. An der Wand stand ein neuer Automat, aus dem man Snacks ziehen konnte; er wirkte in seiner nüchternen, leicht angestaubten Umgebung wie ein chromglänzender Eindringling.

    »Miriam? Bist du … sind Sie Miriam Trautwein?«

    Miriam drehte sich rasch um und sah aus heiterem Himmel eine junge Frau direkt vor sich stehen; Anfang zwanzig, schätzte sie, und sehr darum bemüht, gut auszusehen. Hautenge Jeans – zum Glück an langen, schlanken Beinen –, riesige, flauschige Moonboots, eine lange, braune Jacke mit weißem Teddyfutter und eine fröhlich bunt geringelte Wollmütze, darunter ein von der Kälte gerötetes Gesicht mit wachen, kleegrünen Augen und Stupsnase.

    »Weißt du noch, wer ich bin?«

    Miriam kniff die Augen zusammen und betrachtete ihr Gegenüber etwas gründlicher. Sie kannte die junge Frau irgendwoher, konnte sie aber nicht wirklich einordnen. Dann entdeckte sie am Kinn eine kleine, sichelförmige Narbe, direkt unter der vollen Unterlippe, und plötzlich wusste sie Bescheid.

    »Du bist Susanne, nicht? Susanne Hessler!«, sagte sie. »Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, hast du mit deinem Rad eine Vollbremsung gemacht, bist über den Lenker geflogen und mitten auf der Straße gelandet.«

    Sie wurde mit einem strahlenden Lächeln belohnt.

    »Meine Güte, du hast aber ein gutes Gedächtnis!«, sagte Susanne; ihre Stimme war hell und ein wenig atemlos. »Die Ferien waren vorbei, du musstest nach Hannover zurück und ich wollte dir unbedingt anständig auf Wiedersehen sagen. Ich dachte, ich erwische dich noch rechtzeitig am Bahnhof in Wolfach.«

    »Und ich stieg aus dem Auto deines Vaters«, fuhr Miriam fort, »drehte mich um und sah dich wie eine Rakete die Straße hinunterschießen. Oma Anna hatte fast einen Herzanfall, als sie den Sturz mitbekam.«

    Das Lächeln auf Susannes Gesicht verblasste.

    »Tut mir leid, dass wir uns ausgerechnet zu so einer Gelegenheit wiedersehen«, sagte sie. »Und wir sollten schnell los. Die Beerdigung ist in einer Stunde, und ich muss mich noch umziehen.« Ihr Blick streifte Miriams graue Cordhose, die Daunenjacke und die Tatarenkappe mit ihrem breiten Pelzrand. »Du kannst eigentlich so bleiben, wie du bist«, fügte sie hinzu; ihre Stimme klang bewundernd und ein ganz klein wenig neidisch.

    Miriam folgte ihr hinaus auf den Vorplatz und über die Straße, wo ein einsamer, quietschroter Fiat Panda auf sie wartete. Sie dachte an den teuren Hosenanzug in ihrem Koffer und beschloss spontan, ihn dort zu lassen, wo er war.

    Susanne schloss den Wagen auf, und Miriam ließ sich auf den Beifahrersitz gleiten. Nach dem Dezemberfrost draußen war es im Auto wohltuend warm; Susanne rutschte hinter das Steuer und zog sich energisch die Mütze vom Kopf. Ihr Haar war schulterlang und aschblond, zeigte aber hier und da unregelmäßige, hell gefärbte Strähnen. Entweder ein ungeschickter Selbstversuch oder ein unterdurchschnittlicher Dorffriseur, dachte Miriam, dann versetzte sie sich innerlich einen Tritt. Das war nun wirklich arrogant, und außerdem machte Susannes hübsches, lebendiges Gesicht jeden Wasserstoffunfall mehr als wett.

    Sie fuhren aus Hausach hinaus, die gewundene Straße das Kinzigtal hinauf und durch das Tor in der Schlossmauer nach Wolfach hinein. Miriam erhaschte einen kurzen Blick auf bunte Häuser und verwaiste Cafés, dann auf den Fluss, der grau und still zwischen schneebedeckten Ufern dahinströmte. Die Talwände weiteten sich, während sie die kleine Stadt hinter sich ließen, und jetzt wurde Miriam die Landschaft immer vertrauter. Sie erkannte bewaldete Felsvorsprünge wieder, Wege, die von der Straße ab in die steil aufsteigenden Abhänge und schließlich unter den Schatten der Nadelbäume führten. Viele davon war sie schon entlanggewandert, zuerst gemeinsam mit Oma Anna und später zunehmend allein, als das Alter bei ihrer Großmutter seinen Tribut forderte.

    Wenige Kilometer hinter Oberwolfach kam die letzte, sanfte Kurve, auf die sie Jahr für Jahr jeden Sommer sehnsüchtig gewartet hatte, und dann sah sie endlich Finkenweiler vor sich liegen: das Sägewerk der Armbrusters, das aufwändig renovierte Hotel, die wenigen, unregelmäßig am Straßenrand verstreuten Wohnhäuser, den kleinen Supermarkt und die Magdalenenkirche, die eher eine barocke Kapelle war. Der Parkplatz davor würde in einer Stunde voller Autos stehen; Finkenweiler besaß einen winzigen Friedhof, der vor zehn Jahren eigentlich schon geschlossen worden war, aber für Miriams Großmutter hatte man noch Platz gefunden. Undenkbar, dass Anna Trautwein irgendwo anders beerdigt werden sollte als dort, wo sie von klein auf jeden Baum und jeden Pflasterstein kannte.

    Sie fuhren an der Kapelle vorbei und bogen scharf links ab, auf einer Brücke über den Fluss und den Berg hinauf. Nach drei Kilometern war die Straße nicht länger asphaltiert, und grober Kies knirschte unter den Reifen des Fiat. Dann waren sie zwischen den Bäumen, der Kies wich unebener Erde, und nur die Tatsache, dass der Boden hier bereits gefroren war, bewahrte den kleinen Wagen davor, stecken zu bleiben. Dann machte der Weg eine Biegung nach links, wo bis vor neunundzwanzig Jahren das Hauptgebäude gestanden hatte, und endlich hielten sie vor dem, was vom Trautweinhof noch übrig war.

    Auf einer winterkahlen Wiese thronte die Kleinausgabe eines Kinzigtäler Hauses, vor knapp dreihundert Jahren für den Lebensabend der Altbauern errichtet. Im gemauerten Erdgeschoss gab es keine Stallungen, sondern nur die Küche und eine kleine Wohnstube. Im aus Holz gezimmerten ersten Stock befanden sich ein Schlafzimmer und zwei zusätzliche schmale Kammern; in einer davon hatte Oma Anna die Wäscheschränke mit ihrer Aussteuer aufbewahrt. Nirgendwo brannte Licht, und die Blumenkästen auf dem Balkon, die im Sommer immer von Fuchsien und Geranien überquollen, waren leer.

    Susanne stellte den Motor ab und blickte zu Miriam hinüber.

    »Dr. Eberle hat mir den Schlüssel gegeben«, sagte sie. »Ich dachte, du möchtest vielleicht lieber hier schlafen als im Hotel – aber erzähl meinem Vater bloß nicht, dass ich das gesagt hab.«

    Miriam musste lächeln. Bernd Hessler gehörte das etwas protzig geratene Hotel »Tannenhof« in Finkenweiler. Er träumte davon, es besonders für zahlungskräftige Touristen zur Hauptattraktion in der Gegend zu machen, aber die Konkurrenz in den Tälern ringsherum machte ihm das Leben schwer.

    Miriam öffnete die Tür und schwang die Beine aus dem Wagen. Hier im Wald hatte die Luft einen noch weit schärferen Biss als unten im Tal; es roch nach Schnee und nassem Nadelholz. Und nach Rauch. Miriams Blick ging nach oben, und sie sah den dünnen, blauen Faden, der aus dem Schornstein aufstieg und kräuselnd verwehte.

    Etwas Kleines, Hartes wurde ihr in die Hand gedrückt: der Schlüssel.

    »Ich hab heute Morgen den Kachelofen eingeheizt«, hörte sie Susannes Stimme hinter sich. »Weißt du, ich dachte, dass man sich erst in einem warmen Haus so vorkommt, als sei man daheim.«

    Miriam spürte, dass ihre Augen brannten. »Danke, Susanne«, sagte sie leise. »Ich danke dir.«

    Sie stand auf und stapfte in Richtung Tür. Die alte, ausgetretene Steinschwelle war unter dem Schnee fast nicht zu sehen. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss, holte tief Atem, drehte ihn herum und betrat zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder das Haus ihrer Großmutter.

    Die Margarethenkapelle war nicht besonders groß, und an diesem Tag waren sämtliche Bankreihen besetzt. Miriam hatte einen Platz ganz vorn, dem Sarg ihrer Großmutter direkt gegenüber; ein Gesteck aus leuchtend roten Christsternen stand darauf, vor einem silbergerahmten Foto von Anna Trautwein. Miriam betrachtete das vertraute Gesicht, das von silberweißen, zum Kranz geflochtenen Haaren gekrönt wurde. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass die Frau auf dem Bild, die so zuversichtlich und lebendig aussah, binnen einer Stunde unter der Erde liegen würde.

    Noch immer kamen vereinzelt Leute herein. Miriam erkannte Frau Armbruster: klein, vogelzart und mit straffer, grauer »Halleluja-Zwiebel«. Als Miriam noch ein Kind gewesen war, hatte sie ihr in dem kleinen Supermarkt Bonbons und Schokolade verkauft, immer in dunkelblauem Rock, perfekt gebügelter, weißer Bluse und geblümtem Kittel. Schräg hinter ihr saßen Susanne und ihr Vater.

    Bernd Hessler hatte seine untersetzte Figur in einen teuren Lodenmantel verpackt; er wirkte ganz wie ein Lokalpolitiker, der einen wichtigen Kondolenztermin wahrnahm, und so sah er sich wahrscheinlich auch selbst. Miriam fragte sich ein wenig nervös, ob er wohl vorhatte, eine Rede zu halten. Hoffentlich nicht. Dann merkte sie, dass Susanne ihr zulächelte, und lächelte unwillkürlich zurück.

    Die Orgel begann einen Choral, und die Gemeinde öffnete rasch das Gesangbuch. Förster Heinrich Waidele spielte »Befiehl du deine Wege«, die Augen in kurzsichtiger Konzentration auf die Noten gerichtet. Miriam war ihm häufig auf dem Trautweinhof begegnet, weil ihre Großmutter mehrere Waldstücke besaß und immer wieder einmal mit ihm besprechen musste, wie viel Holz zu schlagen war und wer die Stämme an das Sägewerk lieferte.

    Den jungen Pfarrer kannte sie nicht. Oma Anna hatte ihr nur einmal geschrieben, dass er regelmäßig von St. Cyriak in Schapbach herüberkam, um in Finkenweiler die Messe abzuhalten. »Ein junger Kerle und noch ein bissle grün hinter den Ohren«, hatte es in dem Brief geheißen, »aber der wird schon noch.« Einmal in der Woche hatten sie und Miriam telefoniert; aber Anna hatte eigentlich immer lieber mit Menschen gesprochen, die sie dabei auch sehen konnte. Zwei Ordner in Miriams Bücherregal waren mit ihren Briefen gefüllt. Den ersten hatte sie nach Miriams allererstem Besuch auf dem Trautweinhof geschrieben.

    Wieder musste Miriam unwillkürlich lächeln. Ihre Großmutter mochte in den letzten Jahren gebrechlich geworden sein, aber sie hatte bis zuletzt alles um sich her mit wacher Aufmerksamkeit verfolgt und sich ihre Meinung gebildet.

    Dann war es so weit, Anna Trautwein hinaus auf den Friedhof zu geleiten. Miriam trat hinter dem Sarg ins Freie und kniff geblendet die Augen zusammen. Während des Aussegnungsgottesdienstes hatten sich die letzten Wolken verzogen. Die Sonne strahlte von einem fast kobaltblauen Himmel und ließ den Schnee, der den Gedenksteinen auf dem Kirchhof weiße Mützen aufsetzte, in ihrem Licht glitzern und funkeln. Der einzige dunkle Fleck war das sauber ausgehobene Viereck, das Anna Trautweins letzte Ruhestätte werden sollte – direkt neben den Gräbern von Miriams Eltern. Als Matthias und Elisabeth bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, hatte Anna darum gebeten, dass ihr Sohn wenigstens jetzt nach Hause zurückkehrte. Miriam war sofort damit einverstanden gewesen.

    Jetzt stand sie an dem offenen Grab, hinter sich all die Menschen, die Anna gekannt und geliebt hatten. Ihre Gegenwart war wie eine zusätzliche Wärmequelle, und sie half ihr, die plötzliche Erkenntnis zu ertragen, dass sie das letzte lebende Mitglied ihrer Familie war. Sie ließ das kleine Sträußchen aus Tannenzweigen auf den Sargdeckel fallen und trat zurück, während die Dorfbewohner es ihr gleichtaten. Sie hatte sich davor gefürchtet, dass sie danach zu ihr kommen würden, um ihr die Hand zu schütteln und Beileidsbekundungen zu murmeln, aber wieder ließ die Vertrautheit mit den Menschen von Finkenweiler sie nicht im Stich. Das Mitgefühl, das ihr entgegengebracht wurde, war so tief und echt wie der Verlust, dessen Schärfe sie alle gemeinsam spürten, und jedes tröstende Wort tat ihr wohl.

    Susanne flüsterte ihr noch zu, dass es im Finkenweiler »Tannenhof« ein gemeinsames Essen geben würde und dass man sich freuen würde, sie dort zu sehen, aber Miriam wusste, dass es ihr überlassen blieb, ob sie kam oder nicht. Bis zu ihrem Termin mit Notar Eberle in Wolfach blieb fast noch eine Stunde Zeit; Susanne würde sie hinfahren, wenn sie so weit war.

    Miriam wandte sich dem rötlichen, halb von Schnee verhüllten Grabstein zu, der in Metall-Buchstaben die Namen ihrer Eltern und ihre Lebensdaten trug: Matthias Trautwein war 1945 geboren worden, Elisabeth 1947. Gestorben waren sie beide am 15. Mai 2004, als der brandneue Mercedes von Miriams Vater auf dem Heimweg vom Flughafen auf eine Kreuzung in Hannover rollte. Ein Schwerlaster aus Dänemark kam von der Seite. Der Fahrer war für Sekunden eingenickt, überfuhr eine rote Ampel und vierzig Tonnen Stahl krachten mit verhängnisvoller Wucht in die Fahrertür des Mercedes. Matthias war sofort tot, Elisabeth starb zwei Tage später im Krankenhaus, ohne das Bewusstsein noch einmal zurückerlangt zu haben.

    »Tut mir leid, ich hab gar keine Blumen für euch«, murmelte Miriam. »Dass ich zwei Jahre nicht mehr hier war, tut mir auch leid … Karsten wollte nie zu Besuch in den Schwarzwald, er konnte Oma Anna nicht ausstehen. Ihr habt mir gefehlt … ihr alle drei.«

    Jetzt kam der Schmerz, auf den sie gewartet hatte, und sie war froh, damit allein zu sein. Kein wildes Schluchzen, kein verständnisloses Aufbegehren gegen die Leere, die sich plötzlich vor ihren Füßen auftat und mit der das offene Grab nur teilweise etwas zu tun hatte. Alles, was sie spürte, war eine knochentiefe Trauer, und der Friedhof verschwamm zu einem wässrigen Nebel, als ihr zum ersten Mal an diesem Tag die Tränen kamen.

    Es dauerte ein paar Minuten, bis sie sich wieder gefasst hatte. Als sie aufschaute, stellte sie fest, dass sie doch nicht allein war – jedenfalls nicht ganz. Etwa zehn Meter weiter stand ein Mann auf dem Weg und schaute sie an.

    Er war hoch gewachsen und trug die Kapuze seiner grauen Wolljacke zurückgeschlagen; das kurz geschnittene Haar schimmerte im Sonnenlicht bräunlich schwarz wie nasse Eichenrinde. Sie sah eine gerade Nase und einen schmalen, herben Mund mit einem kräftigen Bartschatten. Sein Gesicht hatte wenig Farbe, und die Augen, die ihren Blick unverwandt erwiderten, waren von einem hellen, durchscheinenden Graugrün.

    Miriam runzelte die Stirn. Kannte sie ihn? Irgendwie glaubte sie, ihn schon einmal gesehen zu haben, aber sie war sich nicht sicher. Und als sie sich gerade entschieden hatte, ihn anzusprechen und es herauszufinden, drehte er sich auf dem Absatz um und ging mit langen Schritten davon. Nur Sekunden später schlug das Gittertor des Friedhofes hinter ihm zu. Er bog in die Straße ab, die Richtung Schapbach führte, und verschwand außer Sicht.

    Um halb vier an diesem Nachmittag saß Miriam im Notariat von Dr. Eberle. Susanne arbeitete dort als Sekretärin; sie zeigte Miriam ihren Schreibtisch, der in einem freundlich hellen, ein wenig altmodisch eingerichteten Vorzimmer stand. Dann führte sie sie in das eigentliche Büro, brachte ihr einen Kaffee und ließ sie allein.

    Dr. Eberle kam gleich darauf, eine Ledermappe unter dem Arm. Vermutlich hatte er am Wochenende sonst Besseres zu tun, als sich in seiner Kanzlei aufzuhalten, aber er trug ihr zu Ehren extra einen dunklen Anzug mit weißem Hemd und Krawatte und auf Hochglanz polierte Schuhe. Während er zu seinem Schreibtisch hinüberging und feierlich dahinter Platz nahm, ertappte Miriam sich bei dem Gedanken, ob er diese Schuhe wohl erst hier im Haus angezogen hatte, um sie vor Schneerändern zu schützen und seinen professionellen Auftritt vor ihr nicht in robusten Winterstiefeln absolvieren zu müssen.

    »Schön, dass die Sonne geschienen hat, Frau Trautwein«, sagte er freundlich. »Es gibt nichts Ärgeres, als wenn man bei einer Beerdigung nass wird. Darf ich Ihnen noch einmal mein Beileid ausdrücken?«

    »Das haben Sie schon sehr schön in Ihrem Brief getan«, erwiderte Miriam und lächelte. »Ich war sehr überrascht zu erfahren, dass meine Großmutter ein Testament gemacht hat. So viel zu hinterlassen hatte sie ja nicht, oder?«

    »Wie man’s nimmt«, versetzte der Notar trocken und legte die Fingerspitzen aneinander. »Es gibt zwei ordentliche Stücke Wald, eines bei Oberwolfach, das andere bei Schapbach, und vor allem über das Letztere wird noch zu reden sein. Ihre Großmutter hat es mit einem Vorkaufsrecht an den Wolf- und Bärenpark verpachtet, der dort vor wenigen Jahren eröffnet hat, und sie trug sich mit der Absicht, es in naher Zukunft an die Leitung zu verkaufen. Das ist bisher nur deshalb noch nicht geschehen, weil man sich über den Preis nicht ganz einig war.« Seine Mundwinkel kräuselten sich. »Anna Trautwein gefiel die Idee mit dem Park, aber sie war eine harte Verhandlungspartnerin.«

    »Das glaube ich sofort.« Miriam beugte sich vor und nahm noch einen Schluck Kaffee. »Vielleicht steht ja in dem Testament, was sie sich vorgestellt hat.«

    »Richtig«, sagte Dr. Eberle, »und ich denke, sie war vor allem deshalb so eisern, weil sie wollte, dass Ihnen nach ihrem Tod genügend Geld übrig bleibt.«

    Miriam holte tief Luft. »Ich habe nie angenommen, dass meine Großmutter vermögend ist«, sagte sie langsam, »und außerdem verdiene ich genug, um leben zu können. Ich hätte sie lieber noch ein paar Jahre behalten, anstatt irgendetwas von ihr zu erben.«

    »Das ehrt Sie«, meinte der Notar, »aber die Lage ist nun einmal so, wie sie ist. Und die beiden Grundstücke sind nicht das, was Ihrer Großmutter beim Abfassen des Testaments am meisten am Herzen lag. Möchten Sie, dass ich Ihnen das gesamte Testament vorlese, oder soll ich mich auf die wichtigsten Punkte beschränken?«

    »Die wichtigsten Punkte, bitte.«

    Miriam lehnte sich zurück; ihre Handflächen kribbelten vor Nervosität. Die ganze Situation kam ihr zunehmend unwirklich vor.

    »Also gut.«

    Dr. Eberle klappte die Mappe auf, zog eine Lesebrille aus der Brusttasche, platzierte sie säuberlich auf seiner Nase und blätterte kurz in der Mappe.

    »Ah, hier ist es: ›Meine Enkelin Miriam kann freilich mit meinem Eigentum machen, was sie für richtig hält. Ich habe allerdings immer gemeint, dass sie sich auf dem Trautweinhof daheim fühlt, und ich wäre sehr traurig, wenn das Land, auf dem meine Familie seit fast 300 Jahren gelebt hat, so eine teure Ferienwohnanlage wird. Ich weiß ganz genau, dass Bernd Hessler hinter meinem Austragshäusle her ist wie der Teufel hinter der armen Seele, aber als Bleibe für reiche Touristen aus der Stadt taugt es nicht.‹«

    Dr. Eberle schaute sie an, dann langte er noch einmal in die Brusttasche und reichte Miriam kommentarlos ein zusammengefaltetes Taschentuch. Es war das zweite Mal, dass sie an diesem Tag weinte; selbst in dem sorgsam formulierten Text des Testaments war die Stimme von Anna Trautwein immer noch deutlich hörbar.

    »›Ich weiß wohl‹«, zitierte der Notar weiter, »›dass Miriam eigentlich in Norddeutschland wohnt, aber ich möchte trotzdem, dass sie behält, was vom Hof noch übrig ist. Vielleicht kann sie sich ja vorstellen, ganz dort zu leben.‹«

    Der Raum war sehr still. Miriam stellte die Tasse auf dem kleinen Beistelltischchen neben ihrem Sessel ab und zuckte zusammen, als das Porzellan klirrte.

    »Was … was meint sie denn damit?«

    Wieder schaute der Notar sie an; die Augen hinter der Lesebrille waren mitfühlend und nicht ohne Humor.

    »Das ist doch ganz einfach«, antwortete er. »Anna möchte, dass die letzte Trautwein zurück nach Hause kommt.«

    WOLFSMOND – DIE HEIMKEHR

    1. JANUAR, SCHLESWIG-HOLSTEIN

    Miriam saß am Fenster des Bauernhauses, ein warmes Wolltuch über den Schultern, und blickte hinaus über die weiße Fläche, die sich bis zum Horizont erstreckte. Das Land war flach wie ein Teller, verhüllt von einem dicken Mantel aus Schnee, und unendlich still unter einem niedrigen Himmel von gleichmäßigem Grau. Der Gegensatz zu Anna Trautweins Haus in Finkenweiler konnte kaum größer sein, und doch begriff sie in diesem Augenblick unerwarteter Ruhe, dass sie sich geirrt hatte. Nicht nur dort, sondern auch hier war sie zu Hause.

    Der alte Hof war halb verfallen gewesen, als ihre Freundin Britta ihn gekauft hatte, gemeinsam mit ihrem Mann Jesper. Er stammte aus Dänemark und sprach selbst nach zehn Jahren in Deutschland noch mit dem weichen, singenden Akzent, der Britta dazu gebracht hatte, sich auf der Stelle in ihn zu verlieben. Britta hatte auf der Kunsthochschule in Hannover dieselben Kurse belegt wie Miriam; während Miriam phantastische Geschöpfe zeichnete, malte sie unwirkliche Landschaften, in denen sich immer neue Wege in immer neue Welten hinein verzweigten, so vielschichtig und verblüffend wie ein Kaleidoskop. Miriam war daran gewöhnt, auf Vernissagen Menschen zu begegnen, die minutenlang vor Brittas Bildern standen, den Mund halb offen vor Staunen. Irgendwann gelang es ihnen, sich loszureißen, und sie liefen rot an vor Verlegenheit, wenn sie feststellten, dass jemand sie bei ihrem geistigen Ausflug in ein anderes Universum beobachtet hatte.

    Die Gemälde, die Britta auf einer Ausstellung im Frühjahr 2004 zeigte, wurden fast alle verkauft, und eines davon ging an Jesper Pedersen, der eher durch Zufall in die Räume der Galerie geraten war. Er war ein Bildhauer aus Kopenhagen. Ein privater Kunstsammler in Hannover hatte eine seiner Skulpturen erworben, er hatte den Transport nach Deutschland überwacht, und bei einem Abendspaziergang blieb sein Blick an einem Gemälde von Britta im Schaufenster der Galerie hängen. Jesper, der die hünenhafte Statur eines Wikingers und die Sturheit eines Panzers besaß, beschloss auf der Stelle, dass er das Bild besitzen und die Künstlerin, die es gemalt hatte, kennen lernen wollte. Er marschierte in die Galerie, fragte sich durch, bis er in der Menschenmenge Britta gefunden hatte, und sprach sie an. Keine fünf Minuten später gehörte das Bild ihm, und keine fünf Monate später waren er und Britta verheiratet.

    Miriam bekam den Anfang dieser turbulenten Liebesgeschichte nicht persönlich mit. Normalerweise hätte nichts sie davon abgehalten, den ersten Triumph ihrer besten Freundin mitzuerleben, aber eine Woche zuvor waren ihre Eltern bei dem verhängnisvollen Unfall auf der Kreuzung in Hannover ums Leben gekommen, und an dem Tag, als die Ausstellung eröffnet wurde, fand die Beerdigung auf dem Friedhof in Finkenweiler statt. Erst Wochen später, als sie nach Hause zurückgekehrt war und allmählich aus dem dichten Nebel der frischen Trauer auftauchte, lernte sie Jesper kennen. Nach einem Nachmittag zusammen mit Britta und ihrem blonden Riesen war sie davon überzeugt, dass ihre Freundin nicht verrückt und Jesper nicht gefährlich war, und als die beiden sich im Neuen Rathaus in Hannover trauen ließen, stand sie als Brittas Trauzeugin daneben.

    Es war wahrscheinlich Jesper und Britta zu verdanken, dass Miriam nach dem Tod ihrer Eltern nicht in Depressionen versank. Die beiden fanden den Hof in Schleswig und ließen sich von der Herkulesarbeit, die ihnen bevorstand, nicht abschrecken. Sie machten sich daran, das verlotterte Hauptgebäude und die baufällige Scheune zu renovieren. Miriam wurde enthusiastisch ermutigt, sich an dem Abenteuer zu beteiligen; wenn sie protestierte, dass sie bei einem jungen Ehepaar doch das fünfte Rad am Wagen sei, lachten die beiden sie bloß aus. Also packte sie in regelmäßigen Abständen Zeichenbrett, Stifte und Computer zusammen, fuhr zwei Stunden in Richtung Schleswig und wurde in einem kleinen Zimmer auf der Baustelle einquartiert.

    Sie lernte, wie man Fachwerkwände mit Lehm verputzt, schliff Türen ab und verlegte Seite an Seite mit Jesper Dielenböden, bis ihr der Rücken wehtat und sie abends todmüde ins Bett fiel. Zeit zum Grübeln hatte sie keine, und sie war den beiden unendlich dankbar dafür. Als Britta im Frühjahr darauf schwanger wurde und feststellte, dass sie eine Tochter erwartete, reiste Miriam gleich für mehrere Wochen an und übernahm die Gestaltung des Kinderzimmers.

    Sie verwandelte die Wände in einen täuschend echt gemalten Märchenwald voller Zaubertiere, eine Prinzessin schlummerte auf einem Moospolster, und das grazile Einhorn, das sie an der Stirnwand auf einer blumenbewachsenen Lichtung grasen ließ, sah aus, als sei es lebendig. Britta und Jesper erklärten das fertige Zimmer zum achten Weltwunder, und als Anne kurz nach Weihnachten zur Welt kam, baten sie Miriam, ihre Taufpatin zu sein.

    In den Jahren danach vervollständigten zwei lebhafte Jungen die Familie auf dem liebevoll hergerichteten Hof. Britta malte in ihrem lichtdurchfluteten Atelier ein wundersam verzwicktes Gemälde nach dem anderen, Jesper stand in der umgebauten Scheune und schuf seine modernen Skulpturen mit den weichen Rundungen und harmonischen Linien, die sich ebenso gut verkauften wie die Bilder seiner Frau. Gemeinsam brachten sie es irgendwie fertig, gleichzeitig ihre Kinder aufzuziehen, ohne sie zu vernachlässigen, und Miriam gehörte so selbstverständlich dazu, dass sie sich auch dann nicht einsam fühlte, wenn sie – was immer noch den größten Teil des Jahres der Fall war – in Hannover in ihrer eigenen Wohnung lebte.

    Erst Karsten sorgte dafür, dass die Beziehung zu ihren Freunden einen spürbaren Riss bekam. Britta und Jesper mochten ihn nicht, und die instinktive Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit. Karsten hasste Kinder, und der Nachwuchs der Pedersens war ihm zu quirlig und viel zu laut. Britta hatte eine scharfe Zunge, und nachdem er sich bei diversen Besuchen ein paarmal danebenbenommen hatte, kam es schließlich zu einem handfesten Krach. Danach wurde Miriam nur noch solo eingeladen. Aus Loyalität zu dem Mann, mit dem sie fest entschlossen war, ihr Leben zu verbringen, blieb sie zwei lange Jahre hindurch meist zu Hause … und war todunglücklich darüber. Als die Beziehung auseinanderging, machten Jesper und Britta keinen Hehl aus ihrer Erleichterung.

    »Miriam?«

    Sie wandte den Kopf und sah Britta in der Tür stehen. Sie trug ein Tablett, auf dem neben einem Teller voll Kekse eine Glastasse dampfte.

    »Ich hab dir Glögg gebracht. Uff, ist das kalt hier drin! Da steckt wieder nicht genug Holz im Kaminofen.«

    Sie hatte recht. Miriam zog das dicke Wolltuch enger um ihre Schultern zusammen, legte dankbar die Hände um das warme Glas und nippte vorsichtig an dem alkoholischen Gebräu, dessen Zubereitung Jesper nie jemand anderem überließ. Sie schmeckte Rotwein, Nelken und Zimt und spürte, dass ihr der starke Punsch schon beim ersten Schluck zu Kopf stieg. Sie nippte noch einmal und sah zu, wie ihre Freundin energisch Holzscheite in die heruntergebrannte Glut stieß. Funken stoben auf und beleuchteten herzförmige Züge mit großen Augen, die im Licht der aufschießenden Flammen wie Bernstein schimmerten. Britta Pedersen war klein und zierlich, der vollkommene Gegensatz zu ihrem hochgewachsenen, breitschultrigen Mann. Sie hatte sich einen dicken Schal um den Hals gewickelt, trug aber gleichzeitig ihren farbfleckigen Malerkittel. Der begleitete sie schon seit ihrer Zeit in der Kunsthochschule und war so weit und lang, dass er ihr bis zu den Knöcheln reichte. Ihr Haar war lockig, rabenschwarz und weich wie das eines kleinen Kindes. Es war eines der vielen Details, die sie nicht nur hübsch machten, sondern schön; nicht umsonst hatte Miriam der Prinzessin, die sie vor fast acht Jahren an die Wand des ersten Babyzimmers gepinselt hatte, Brittas Gesicht gegeben.

    Miriam nahm noch einen Schluck Glögg und verzog das Gesicht. »Wie viel Wodka hat Jesper diesmal in den Topf gegossen? Ich schwöre, das macht er mit Absicht – er weiß genau, wie wenig ich vertrage.«

    Britta grinste und schloss die Glastür des Kaminofens.

    »Er würde dich nie besoffen machen … Jesper kann sich bloß einfach nicht vorstellen, wie es ist, besoffen zu sein.«

    Was daran liegen mochte, dass er fast nie trank. Wenn er in seiner Werkstatt stand, rührte er keinen Alkohol an, und in Gegenwart seiner Familie gönnte er sich höchstens einmal ein Bier. Wenn allerdings der Winter kam und mit ihm das Weihnachtsfest, dann mutierte der Bildhauer zum Alchemisten, der Wein und Wodka mischte, geheimnisvolle Gewürze hinzufügte und sein fertiges Gebräu selbst am meisten genoss. Wirklich betrunken hatte Miriam ihn allerdings tatsächlich noch nie erlebt.

    »Wenn ich im Schwarzwald bin, schicke ich ihm eine Flasche Kirschwasser«, sagte sie.

    Britta zuckte zusammen und ihr Mund wurde schmal.

    Miriam seufzte innerlich. Seit vier Tagen war sie jetzt auf dem Hof; sie hatte den beiden von der Erbschaft erzählt, und sie hatten sehr unterschiedlich reagiert. Britta hatte die erstaunliche Geschichte schweigend zur Kenntnis genommen, das Thema gewechselt und weigerte sich seither, das Haus in Finkenweiler auch nur zur erwähnen. Jesper war mit Miriam in die Scheune gegangen, hatte ihr sein neuestes Werk gezeigt, bei dem eine üppig verästelte Baumkrone aus einem Marmorblock herauszuwachsen schien, und erst dann einen Kommentar abgegeben.

    »Du hast ein Recht auf eigene Wurzeln«, hatte er gesagt, »aber sei Britta nicht böse, dass sie damit nicht klarkommt. Sie hat Angst, dich zu verlieren.«

    Miriam stellte das Glas ab, stand auf und ging zu Britta hinüber. Sie zog das Wolltuch von den Schultern, hielt die Enden fest und umarmte ihre Freundin, so dass das Tuch sie beide einhüllte wie eine wärmende Decke. Sie spürte, wie Britta sich entspannte, und küsste sie auf die Wange.

    »Du riechst nach Holzfeuer und Terpentin«, sagte sie lächelnd.

    »Ich werde dich so vermissen«, murmelte Britta. »Musst du dich denn wirklich in dem Hexenhäuschen deiner Oma vergraben?«

    »Ich muss nicht, ich möchte«, sagte Miriam. »Ich habe Oma Annas Haus immer geliebt … eures auch natürlich«, fügte sie hastig hinzu, als sie Brittas Gesichtsausdruck sah. »Ihr werdet immer meine Familie sein. Aber selbst von Hannover aus wohnt ihr nicht gerade nebenan; wenn ich euch besuchen will, sind es in Zukunft einfach ein paar Kilometer mehr.«

    »Mehr als sechshundert insgesamt!«, sagte Britta finster. »Ich hab auf Jespers Computer nachgeschaut.«

    Miriam musste lachen.

    »Dann druck dir beim nächsten Mal gleich einen Routenplan aus«, entgegnete sie und legte die Wange auf den lockigen Scheitel unter ihrem Kinn. »Wir schlagen für die Kinder ein Zelt im Garten auf und ich zeige euch all die Schleichwege, die die Touristen noch nicht plattgetrampelt haben. Außerdem kenne ich die Leute in Finkenweiler, seit ich ein kleines Kind bin, also werde ich wohl kaum vereinsamen. Und wenn ich mich langweile, dann kann ich an der Volkshochschule in Freudenstadt

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