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Die Mauern des Kaisers: Historischer Roman
Die Mauern des Kaisers: Historischer Roman
Die Mauern des Kaisers: Historischer Roman
eBook901 Seiten13 Stunden

Die Mauern des Kaisers: Historischer Roman

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Über dieses E-Book

Isabella wächst behütet auf dem Hof ihres Vaters Wilhelm in Overrode auf, doch ahnt sie, dass seine und ihre Herkunft so manches Geheimnis birgt.
Ein einschneidendes Ereignis ist für Isabella der Beginn einer spannenden Reise in die Vergangenheit ihres Vaters und des staufischen Kaisers Friedrichs II.

Der Autor schlägt mit seinem Erstlingswerk eine Brücke in die Geschichte seiner Heimatstadt, aber auch der Reichsstadt Köln, des Heiligen Römischen Reiches bis in das Königreich Sizilien, und des Heiligen Landes.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum11. Juni 2018
ISBN9783746901763
Die Mauern des Kaisers: Historischer Roman

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    Buchvorschau

    Die Mauern des Kaisers - Hans Schlömer

    KAPITEL 1

    Als Isabella aus dem Wald trat, musste sie für einen Moment stehen bleiben und ihre Augen schließen. Die Sonne schien an diesem Aprilmorgen kräftig wie schon lange nicht mehr und fühlte sich angenehm warm auf der Haut ihres Gesichts und ihrer Hände an, obwohl die Luft noch recht kühl war. Langsam öffnete sie ihre Augen wieder, um sich an das helle Sonnenlicht zu gewöhnen.

    Sie stand auf der Kante eines Berges, der hinter ihr, im Wald aus dem sie gekommen war, sanft abfiel, vor ihr jedoch abrupt steil nach unten ging – nicht wie ein schroffer Felsen, aber doch so steil, dass man sich bei einem Sturz den Abhang hinunter ordentlich hätte verletzen können. Der schmale Weg, der sie hierher geführt hatte, ging aber ab hier sanft abfallend seitlich am Hang entlang, sodass kaum Gefahr bestand, wie ein Stück Holz hinunter zu rollen.

    Unten im Tal hob sich gerade noch der letzte Frühnebel von den Äckern und Wiesen; umso mehr war Isabella froh, hier oben in der Sonne zu stehen und die Aussicht zu genießen. Ein wenig rechts von ihr im Tal stand die für ein kleines Kirchspiel wie Overrode ziemlich groß geratenen Kirche St. Walburga mit ihrem mächtigen und hohen Turm. Isabella hatte von Leuten aus dem Dorf gehört, im Umkreis von einigen Meilen gäbe es keinen prächtigeren Kirchturm als diesen. Trotz der beeindruckenden Höhe des Kirchturms war die Turmspitze aber immer noch etwas niedriger als die Hangkante, von der Isabella herabsah.

    Auf der anderen Seite des Tales, hinter den fruchtbaren Flächen der Overroder Höfe, floss die Acher in Mäandern, mal direkt am Fuße des gegenüberliegenden Hanges, mal einige Dutzend Schritte davon entfernt. Über dem Fluss und seinen Auen, die bei starken Regenfällen schnell überschwemmt werden konnten, wodurch dann auch schon mal das halbe Tal mit braunen Fluten bedeckt wurde – sehr zum Leidwesen der ansonsten durch den fruchtbaren Boden verwöhnten Landbesitzer – lag der Frühnebel besonders dicht, stellenweise undurchdringlich. Aber Isabella wusste, dass der Fluss heute, wie auch in den letzten Wochen, wie ein etwas zu breit geratenes, flaches Bächlein dahinplätschern würde.

    Obwohl das Wasser sicher noch kalt war, freute sie sich schon darauf, an der flachen Stelle, die man auch ohne Pferd als Furt nutzen konnte, ihre Schuhe auszuziehen und durch das knietiefe Wasser zu waten. Hätte sie das Johanna, der Magd auf dem Gutshof ihres Vaters, erzählt, hätte diese sie für verrückt erklärt. Johanna behauptete immer, sie werde schon krank, wenn sie einen Fluss nur ansehen müsste – geschweige denn, ihre Füße hinein hielte.

    Ein bisschen verrückt war es vielleicht auch, denn nur wenige Schritte flussaufwärts hatten die Brüder des Klosterhofes, Benediktinermönche der Abtei St. Michael in Siegburg, mit Hilfe einiger Lehensleute aus dem Tal im letzten Sommer einen Steg aus Holz gebaut, der lang genug war, um selbst bei leichtem Hochwasser trockenen Fußes von einer auf die andere Flussseite zu gelangen, allerdings so schmal, dass man mit einem Pferd oder einem größeren Gefährt als einem Handkarren nicht darüber gehen konnte. Man hätte sonst auch riskiert, den Steg zum Einsturz zu bringen, wie Isabella kritisch angemerkt hatte, als Bruder Bernhard ihr stolz mitteilte, er habe die Pläne für den Steg selbst gezeichnet. Das war natürlich ein Scherz, denn tatsächlich sah der Steg so aus, als solle er für die Ewigkeit halten, so dicke Hölzer hatte man für ihn verwendet. Vielleicht lag es daran, dass einige von Bernhards Mitbrüdern ein wenig beleibt waren und man daher Angst hatte, ein weniger stabiles Bauwerk könne zu einer Dezimierung der in Overrode ansässigen Mitglieder der Siegburger Abtei führen.

    Tatsächlich war es aber wohl die Begeisterung Bernhards für die ihm übertragene Aufgabe gewesen, die zu dieser sonst eher unüblichen Verschwendung von Baumaterial geführt hatte: Was Bernhard machte, sollte jeder loben und bewundern – auch noch in hundert Jahren. Nicht dass Bruder Bernhard eitel gewesen wäre. Isabella kannte ihn zu gut, um das zu vermuten. Er liebte es nur, dann und wann auch mal für seine Arbeit gelobt zu werden, was auf einem von Mönchen betriebenen Klostergut wohl nicht so oft vorkommen dürfte, wo jeder seine Arbeit und die seiner Mitbrüder als gottgegeben und selbstverständlich ansieht.

    Während sie über Bruder Bernhard nachdachte, zu dem ihr morgendlicher Spaziergang sie wie so oft führen würde, ging sie den Pfad am Hang entlang in Richtung Kemenat, wie die Ansammlung der wenigen Häuser diesseits der Kirche und der großen Straße durchs Tal genannt wurde, die den größten Teil des Dörfchens Overrode bildete. Unvorstellbar, dass die Städte, von denen Bruder Bernhard ihr gerne erzählte, teilweise aus vielen hundert Häusern bestehen sollten. Kaum ein Einwohner von Overrode hatte jedoch jemals in seinem Leben eine Stadt gesehen, die größer war als Siegburg oder die Siedlung unterhalb der Bensburg, und dort gab es nach deren Erzählungen ein paar dutzend Häuser, nicht mehr.

    Nach Köln, einer der größten Städte im Reich, zog es hier niemanden, obwohl es keine halbe Tagesreise entfernt war, denn was man über die Zustände dort hörte, wo Bürger manchmal versuchten, ihr eigenes Recht zu machen und sich gegen Könige und Kaiser, ja manchmal sogar gegen den Erzbischof, einen Mann der Kirche, stellten, machte den meisten Overrodern eher Angst. Hier auf dem Land wäre es unvorstellbar gewesen, sich nicht dem Willen der Obrigkeit zu unterwerfen – sei es dem des Pfarrers, des Abtes und seiner Gesandten, des Vogts, des Erzbischofs als Landesfürst, des Königs oder des Kaisers – wobei letzterer vier Jahre zuvor verstorben war, ohne einen aussichtsreichen Nachfolger zu hinterlassen. Den Tod Friedrichs II. hatte vielleicht nicht jeder sonderlich bedauert – mancher hatte in ihm nur einen Sizilianer gesehen, der sich kaum in Deutschland hatte sehen lassen – aber dass die kaiserlose Zeit zu einem seit Jahren andauernden Chaos im Reich geführt hatte, das sich in einer Vielzahl kleiner und größerer Kriege an allen Ecken und Enden ausdrückte, bereitete selbst im von alledem nahezu nicht betroffenen Overrode manchen große Sorge.

    Isabella hatte eine vage Vorstellung von den aktuellen Problemen, aber an diesem Morgen dachte sie nicht an die Geschichte oder die Zukunft des Reiches. Sie winkte hier und da den Leuten zu, die auf den Äckern und Weiden bei Kemenat und rund um die Kirche ihrer harten Arbeit nachgingen. Sie kannte jeden mit Namen, und jeder kannte sie – an einem schönen Morgen wie diesem fand sie das wunderbar; an anderen Tagen, wenn ihr nicht so fröhlich zumute war und sie sich wünschte, niemandem zu begegnen, konnte das allerdings auch lästig sein. Neben der Kirche spielten ein paar Jungs mit Stöcken, sie wären Ritter in einem Turnier. „He, Franz, um was kämpft ihr?, fragte sie einen von ihnen im Vorbeigehen und lächelte ihn an. Der kleine Franz, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt (so genau wusste Isabella das nicht mehr), grinste sie an, während er versuchte, seinen Gegner mit einem Stock-Schwert in Richtung der Kirchenmauer zu drängen. „Der Gewinner bekommt die Prinzessin zur Frau, meinte Franz keuchend, während er einen Schlag seines etwas kleineren Bruders, der seinen Gegner spielen musste, abwehrte. Ein dabei stehendes Mädchen, eine der vielen Töchter des Krämers, fügte hinzu: „Zuerst muss er natürlich noch den Drachen besiegen, der die Prinzessin gefangen hält". Isabella lächelte über die überschäumende Phantasie der Kinder, winkte ihnen nochmal kurz zu und ging weiter.

    Sie überquerte die Straße, die hier breit genug war, dass sich auf ihr zwei Fuhrwerke begegnen konnten. Die Straße war eine wichtige Verbindung zwischen der Bensburg im Westen, von der aus man weiter nach Köln reisen konnte, und weit entfernten Städten im Osten. Häufig kamen Fuhrwerke aus der Gegend von Siegen durch Overrode, um hier die Pferde zu wechseln oder sie wenigstens zu füttern und rasten zu lassen. Einmal war sogar eine Gruppe in Metallrüstungen gekleideter Ritter mit kunstvollen, ihr unbekannten Wappen auf ihren Schilden im Galopp an der Kirche vorbei gestürmt. Später hieß es im Dorf, es seien Ritter des Erzbischofs von Köln gewesen, die in den Kampf geritten seien, aber niemand wusste, ob das wirklich stimmte. Nicht dass irgendwer es so genau hätte wissen wollen

    – Ritter waren Ritter, Bauern waren Bauern, und am besten hielt man sich aus Dingen heraus, die einen nichts angingen.

    Gegenüber der Kirche stand Gut Steinhaus, eines der wenigen komplett in Stein gemauerten Häuser im näheren Umkreis und gleichzeitig der Stammsitz des Ritters von Steinhaus. In den dicken Mauern waren kleine Fenster eingelassen, durch die wahrscheinlich selbst bei strahlendem Sonnenschein nur wenig Licht nach innen dringen konnte. Isabella war froh, nicht in diesem gemauerten Verlies wohnen zu müssen, und dachte sich, wie seltsam es doch sei, dass kleine Jungs es für erstrebenswert hielten, Ritter zu sein, in Schlachten zu ziehen und in solch dunklen Löchern zu wohnen. Neben dem Steinhaus zweigte der Weg ab, der, an den Äckern, Kuh- und Pferdeweiden des Ritterguts vorbei, auf die andere Seite des Tales führte und den Fluss an der Stelle erreichte, an dem für Pferde und Fuhrwerke die Furt eine Überquerung ermöglichte, während für Menschen, die keinen Spaß an kaltem Wasser an ihren Beinen hatten, der von Bruder Bernhard geplante Steg bereit stand. Auf der anderen Seite der Acher ging der Weg direkt auf den Klosterhof zu, der einige Schritte erhöht über der Flussaue am Berg lag, und führte gleich dahinter zum Lölsberg hinauf.

    Als Isabella an der Furt ankam, sah sie in der Ferne schon eine schwarz gekleidete Gestalt vor dem Haupthaus des Klosterhofes stehen, und wusste, dass Bruder Bernhard es mal wieder nicht aushalten konnte, mit dem Unterricht zu beginnen, den er ihr schon seit fast vier Jahren an drei Tagen der Woche gab. Sie war sich nie so ganz sicher, ob die gemeinsamen Unterrichtsstunden ihr oder ihm mehr Freude machten – sie war zwar eine interessierte Schülerin, aber Bernhard war ein noch begeisterter Lehrer und froh, sein in vielen Jahren angelesenes Wissen endlich einmal weitergeben zu können. Wahrscheinlich war der Enthusiasmus, mit dem er den Unterricht oft sehr interessant und lebendig gestaltete, auch der Grund dafür, dass Isabella den Weg vom Hof ihres Vaters zum Klosterhof immer wieder gerne zurücklegte.

    Als sie gerade in Rufweite war, hörte sie ihn schon: „Kind, jetzt komm schon, spute dich ein wenig. Wir wollen doch endlich beginnen!".

    „Ich komme schon, Bruder Bernhard. Müsst ihr ein Mädchen, das gerade erst eine Meile gelaufen ist, so hetzen? Kennt ihr denn keine Gnade?", erwiderte Isabella scherzhaft, als sie ihn schon fast erreicht hatte. Natürlich machte ihr dieser morgendliche Spaziergang nichts aus. Sie war es durchaus gewohnt, ganz andere Strecken zu laufen, manchmal mit einem schweren Bündel auf dem Rücken.

    „Gnädig werde ich erst wieder sein, wenn deine Kenntnisse des Lateinischen besser sind als meine. Wenn du weiter solche Fortschritte machst, kann das ja nicht mehr lange dauern.... Bruder Bernhard nahm ihre Hand in seine beiden Hände und drückte sie sanft. Es war, so kam es Isabella vor, die Art von Begrüßung, mit der Bernhard auch gute Freunde und lange nicht mehr gesehene Verwandte begrüßen würde. Er ließ ihre Hand wieder los und bedeutet ihr mit einen Wink und einem „Husch, husch, vor ihm her zu gehen und den Klosterhof zu betreten. Der Weg ging rechts an dem Gebäude vorbei, wo zwischen den drei hufeisenförmig angeordneten und einander berührenden Gebäuden des Hofes – dem Hauptgebäude am Kopfende, einer Scheune und einem Stall für die Tiere des Gutes an den Seiten – eine Mauer mit einem großen Tor den Abschluss bildete. Auf einem Gemüsebeet, das nur zehn Schritte weiter an den Weg grenzte, zupfte ein Mitbruder Bernhards in gebückter Haltung Unkraut.

    „Guten Morgen, Bruder Romuald, rief Isabella ihm zu, und als er sie erkannte, richtete er sich auf und winkte ihr mit einem freundlichen „Guten Morgen, Isabella, Gott sei mit dir an diesem schönen Tag! zu. Bruder Romuald war der älteste der fünf Mönche, die den recht großen Klosterhof gemeinsam betrieben. Sein kurz geschorenes, hellgraues Haar bildete einen schönen Kontrast zu der schwarzen Benediktinerkutte, und seine hellen Augen strahlten Isabella an, obwohl er wahrscheinlich nicht mehr klar genug sehen konnte, um sie auf diese Entfernung wirklich zu erkennen. Bei einem Alter von weit über sechzig Jahren war das aber auch nicht so ungewöhnlich. Nur wenige Mönche, die außerhalb des Klosters in Siegburg die harte Arbeit der gewöhnlichen Landbevölkerung ausübten, wurden überhaupt so alt wie Bruder Romuald, der Gott täglich mehrmals dafür dankte, sich aber beständig weigerte, die schwere Arbeit des Klosterhofes andere an seiner Stelle machen zu lassen, so schwer ihm diese auch fallen mochte.

    Während sie durch das Tor in den Innenhof des Klostergutes schritten, betrachtete Isabella Bruder Bernhard etwas genauer. Er sah heute besonders fröhlich aus, was sicher bedeutete, dass er zur Vorbereitung des Unterrichts schon seit Sonnenaufgang in seinen Büchern gewühlt und irgendein neues, besonders interessantes Thema gefunden hatte. Solche Dinge machten ihn glücklich, so wie Bruder Romuald das immer besser werdende Wetter glücklich zu machen schien. Bernhard war ein recht kleiner, schmaler Mann mit dunklen Haaren, die erst hier und da in ein leichtes Grau übergingen. Er trug meistens ein freundliches, manchmal auch verschmitztes Lächeln im Gesicht, und seine braunen Augen begannen zu leuchten, wenn man mit ihm scherzte. So mancher im Dorf hielt das für seltsam. „Ein Mönch, hatte einer der Hofbesitzer einmal sonntags nach der Messe zu seiner Frau gesagt, als Isabella hinter ihnen aus dem Kirchenportal ging, „sollte ernst und still sein, nicht lustig und ausgelassen. Dabei hatte Bernhard, der in Vertretung für den Pastor die Messe in der Dorfkirche hielt, nur ein wenig lockerer gepredigt, als dies sein Mitbruder und Pfarrer von Overrode, Dietrich von Werth, üblicherweise tat, indem er eine lustige Episode aus dem Overroder Dorfleben eingeflochten hatte, die viele der Kirchgänger zum Schmunzeln brachte.

    Bernhard war in vielerlei Beziehung anders als seine Mitbrüder. In der Klosterabtei St. Michael in Siegburg hatte er lange Jahre als Verwalter in der Klosterbibliothek gearbeitet, deren Umfang unter seiner Obhut ständig gewachsen war. Er war von allen Benediktinern in Overath der bei weitem gebildetste, den Pfarrer eingeschlossen, obwohl dieser aus einer Adelsfamilie stammte, während Bernhard der Sohn eines armen Bauern vom Niederrhein war. Er hatte als Kind das Lesen und Schreiben von einem Mönch eines anderen Ordens gelernt – seine Eltern konnten weder das eine noch das andere – und seit dieser Zeit alle Bücher verschlungen, an die er irgendwie kommen konnte. Als die Benediktiner, über die er schon einiges gelesen hatte, wenige Meilen vom Haus seiner Eltern entfernt ein Kloster gründeten, war Bernhard gerade zehn Jahre alt, und fest entschlossen, dem Orden beizutreten. Seine Eltern hielten ihn nicht auf. Er war eines von sieben Kindern, die ihr Hof kaum alle ernähren konnte.

    Heute war Bruder Bernhard vielleicht ein wenig älter als ihr Vater, schätzte Isabella, also etwa fünfzig, und hatte in den vierzig Jahren, die er nun schon im Benediktinerorden war, wahrscheinlich nie aufgehört, Wissen in sich einzusaugen. Da er zwar aus seiner Kindheit wusste, wie eine Landwirtschaft funktioniert, aber nicht zum Bauer geboren war, gehörte die Verwaltung des Klosterhofes zu Bernhards wichtigster Aufgabe. Eine weitere war die Lehrtätigkeit, denn er war der einzige auf dem Hof, der dazu überhaupt in der Lage war. Leider hatte sich – bis Isabellas Vater ihn um eine regelmäßige Unterrichtung seiner Tochter gebeten hatte – nie eine Gelegenheit dafür ergeben. Die Bibelstunde, sonntags nach der Messe für die Kinder des Dorfes und der umgebenden Höfe abgehalten, machte der Pfarrer mehr schlecht als recht selber (mehr als einmal waren Kinder dabei eingeschlafen und mit einem großen Krach und unter Gelächter der anderen Kinder von ihrer Kirchenbank gefallen).

    Bruder Bernhard führte Isabella ins Wohngebäude des Hofes und betrat mit ihr die Schreib- und Lesestube – das unangefochtene Reich Bernhards. In zwei Regalen an den Wänden standen ungewöhnlich viele Bücher, allesamt aus Beständen der Siegburger Abtei. Es waren größtenteils Abschriften großer Werke über Geschichte, Philosophie, Theologie und Wissenschaften. Hier und da war auch ein Original dabei, das Bernhard in Siegburg ausgeliehen hatte und in seiner freien Zeit abschrieb, um auch über eine Kopie zu verfügen. Oft sah man Bernhard mit einem der Pferde des Hofes nach Siegburg reiten, links und rechts mit zwei schweren Bündeln von Büchern bepackt; des Abends kam er dann wieder mit vielen neuen Büchern zurück. Auf einem großen hölzernen Schreibtisch stapelten sich weitere Bücher, aber auch unzählige von Bernhard angelegte Listen mit Einnahmen und Ausgaben des Hofes, Viehbeständen, Erntemengen des letzten Jahres sowie andere Tabellen und Aufstellungen. Insgesamt sah alles ein wenig chaotisch aus, aber Isabella wusste, dass für Bruder Bernhard jedes Ding an seinem richtigen Platz lag, um nicht verloren zu gehen und zur rechten Zeit benutzt, ergänzt oder zur Abtei geschickt zu werden. Hinter dem Schreibtisch stand ein einfacher Holzstuhl, auf den sich Bruder Bernhard niederließ.

    „Setz dich in deinen Sessel, mein Kind. Bevor wir weiter an deinem Latein arbeiten, will ich dir heute etwas über die Belagerung von Troja erzählen..., begann Bernhard seinen Unterricht. Isabella setzte sich in den Sessel auf der anderen Seite des Schreibtisches und hörte ihm wie immer gebannt zu, während er über die Griechen und Trojaner referierte, dabei immer wieder auf Ereignisse zu sprechen kam, die schon in vergangenen Sitzungen erwähnt worden waren, zwischendurch Fragen stellte, um sicher zu sein, dass Isabella auch noch aufmerksam war, bis er schließlich irgendwann vorschlug, eine Pause zu machen. Mittlerweile war es schon fast Mittagszeit; sie hatten beide über das Studium der alten Griechen völlig die Zeit aus den Augen verloren. Jetzt bekam Isabella langsam Hunger, und auch der Magen Bernhards machte vernehmlich auf sich aufmerksam. Bruder Michael steckte seinen Kopf zur Tür herein: „Hallo Isabella. Kann ich euch beide vielleicht mit ein wenig guter Suppe und feinem Brot vor dem Hungerstod retten?

    „Guten Tag, Bruder Michael, antwortete Isabella, „ihr kommt schon fast zu spät. Bruder Bernhards Bauch brummt schon wie ein kleiner Bär.

    „Dann kommt doch zu uns in die Kammer, damit wir alle gemeinsam essen können", bat er Bernhard und Isabella. Die folgten ihm, setzten sich mit den anderen Mitbrüdern an den langen Tisch und aßen mit Heißhunger die gute Suppe von Bruder Michael.

    Den Nachmittag verbrachte Isabella damit, einen langen lateinischen Text zu lesen, um Bernhard, der sich zwischenzeitlich mit Verwaltungsarbeiten beschäftigt hatte, anschließend ebenfalls in lateinischer Sprache zu erklären, worum es in dem Text ging. Latein gehörte nicht gerade zu den Dingen, die Isabellas am liebsten lernte, aber da viele von Bernhards Büchern in lateinischer Sprache verfasst waren, war sie halbwegs motiviert, um auch diese lesen und verstehen zu können. Dennoch war sie froh, als Bernhard bereits recht früh am Nachmittag mit den Worten „Du machst sehr gute Fortschritte, wir werden beim nächsten Mal hier weiter machen" den Unterricht beendete.

    Isabella verabschiedete sich von Bernhard und allen Mitbrüdern, die sie auf dem Weg vom Klosterhof zur Brücke traf. Diesmal ging sie nicht durch den Fluss sondern darüber, an Gut Steinhaus und Kemenat vorbei, und nahm wieder den Pfad, der den steilen Hang hinauf führte. Von dort ging ein Weg durch den großen Wald, über den man zum Hof ihres Vaters kam.

    Isabella ließ sich auf dem Weg durch den Wald viel Zeit und hing ihren Gedanken nach. Wie so oft in den letzten Wochen schwirrten ihr eine Menge Fragen im Kopfe herum, die sie immer wieder beschäftigten, wenn sie alleine war und Zeit zum Nachdenken hatte. Meistens drehten sich diese Fragen um sie selbst und um ihren Vater. Wer war ihre Mutter? Mehr als ihr Vorname – Elisabeth – und dass sie kurz nach ihrer Geburt gestorben war, war aus ihrem Vater nicht heraus zu bekommen. Wie bei fast allen Fragen zu seiner Vergangenheit hatte er sehr deutlich gemacht, dass er darüber nicht sprechen wollte, ohne viele Worte zu machen. Isabella wusste aus Erfahrung, dass jede weitere Frage dann nur dazu führen würde, dass er tagelang schlecht gelaunt wäre.

    Dabei war ihr Vater an sich ein zwar ernster, aber selten übellauniger Mann, der gerne auch einmal laut lachte, wenn sich dafür ein guter Anlass fand. Da es offensichtlich war, dass man ihn mit den falschen Fragen tagelang aus der Bahn werfen konnte, hatte es Isabella aufgegeben, ihn direkt auf solche Dinge anzusprechen, und versuchte statt dessen, in Gesprächen mit dem Knecht Friedrich und der Magd Johanna Licht in die Vergangenheit zu bringen.

    Diese konnten ihr jedoch nicht viel erzählen, außer dass ihr Vater sie angestellt hatte, als er gerade nach Overrode gekommen war. Woher er ursprünglich kam, darüber hatte er niemals ein Wort verloren. Isabella war damals gerade ein Jahr alt gewesen, und Johanna hatte die meiste Zeit damit verbracht, sie zu versorgen, während Friedrich und ihr Vater den übernommenen Hof vergrößerten und auf Vordermann brachten.

    Isabella war klar, dass ihr Vater einer recht hoch stehenden Familie entstammen musste, denn er konnte nicht nur lesen und schreiben, sondern kannte sich offensichtlich auch sehr gut damit aus, wie ein Hof zu führen war, damit er seinen Bewohnern ein ausreichendes Einkommen sicherte – was längst nicht auf alle umliegenden Höfe zutraf, denn viele andere Lehensleute und Pächter konnten ihre oftmals sehr großen Familien kaum ernähren. Selbst unter den wenigen freien Gutsherren gab es einige, die kaum das Nötigste zum Leben hatten.

    Der Waldweg, auf dem Isabella nach Hause ging, gabelte sich nun, wobei der linke Weg weiter auf den Rappenhohn führte, wo Isabellas Freundin Martha mit ihrer großen Familie wohnte, während der rechte Weg bergab in einen Siefen ging, den Isabella durchqueren musste. Da der Weg trocken war, konnte sie zügig hinabsteigen, den kleinen Bach mit einem Hüpfer trockenen Fußes überwinden und auf der anderen Seite wieder hinauf gehen. Langsam kam nun der Waldrand in Sicht, hinter dem eines der vielen kleinen Felder ihres Vaters begann.

    Eine der Fragen, die sich Isabella immer wieder stellte, war woher ihr Vater das Geld hatte, einen Knecht und eine Magd anzustellen – denn beide bekamen nicht nur ein Bett und ihr tägliches Brot, wie manch andere Hofangestellte, sondern auch einen Lohn, von dem sie sich sogar im Laufe der Jahre ein eigenes Holzhäuschen gegenüber dem Hofgebäude hatten leisten können – und gleichzeitig ihren Unterricht bei Bruder Bernhard zu bezahlen. Bis auf die reichen Ritter von Steinhaus und Bernsau konnte sich Isabella nicht vorstellen, dass irgendjemand in Overrode Geld für die Unterrichtung seiner Kinder hätte oder es dafür ausgäbe, wenn er es hätte.

    Kaum ein Bauer konnte selber lesen oder schreiben, warum sollten es also ihre Kinder lernen?

    Überhaupt fiel Isabella, je älter sie wurde, immer mehr auf, dass sie und ihr Vater anders waren als die Nachbarn. Das fing schon mit ihrem ausgefallenen Namen an, dessen Herkunft ihr unbekannt war. Sie wusste allerdings, dass der verstorbene Kaiser Friedrich, für den noch immer kein Nachfolger in Sicht war, mit zwei Frauen dieses Namens verheiratet gewesen war: Isabella von Jerusalem und Isabella von England. Dies hatte ihr Bernhard beim Studium der jüngeren Historie erzählt. Sie wusste auch, dass ihr Vater ein glühender Verehrer des Kaisers gewesen sein musste, denn als die Nachricht von seinem Tod in Overrode eingetroffen war, hatte ihr Vater Tränen in den Augen und war ein paar Tage lang wie vor den Kopf geschlagen. Auch nach vier Jahren konnte sich Isabella gut daran erinnern, weil sie ihren Vater nie zuvor so gesehen hatte.

    Isabella hatte längst das Feld erreicht und konnte nun schon den Hof sehen, der noch etwa hundert Schritte entfernt lag. Friedrich hatte den Ochsen vor den Pflug gespannt und pflügte den Rest des letzten noch nicht bestellten Feldes um. Da er fast fertig und deswegen nicht mehr in Eile war, unterbrach er seine Arbeit kurz, als er Isabella sah, indem er den Ochsen zum Stehen brachte, wischte sich den Schweiß von der braun gebrannten Stirn und winkte ihr zu.

    „Gut dass du wieder da bist, rief er dabei lachend, „Johanna hat etwas für dich im Ofen. Lauf schnell, Kindchen, bevor sie es selber aufisst!. Dann trieb er den Ochsen mit einem Zungenschnalzen wieder an und der Pflug schnitt weiter durch den Acker.

    „Danke, lieber Friedrich. Vielleicht lasse ich für dich auch noch etwas übrig", antwortete Isabella, während sie etwas schneller in Richtung des Hofes lief. Tatsächlich kam aus dem Haupthaus ein süßlicher Duft. Johanna hatte wohl einen Kuchen gebacken, um Isabella, ihren Vater und Friedrich nach getaner Arbeit mit etwas Gutem zu verwöhnen. Zu dieser Jahreszeit war es wahrscheinlich ein Kuchen mit Haselnüssen aus dem letzten Herbst. Wieder kam Isabella der Gedanke, dass es dies auf einem anderen Hof, wie der auf dem Martha lebte, sicher nicht gäbe, vermutlich nicht einmal sonntags. Der Kuchen hätte dort auch für zwölf hungrige Mäuler reichen müssen, denn Martha lebt mit sechs Geschwistern, Vater, Mutter, Onkel, Großvater und Großmutter zusammen.

    Isabella wunderte sich über sich selbst: Früher wäre sie nie darauf gekommen, ihr Leben mit dem ihrer Freundinnen zu vergleichen, aber je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr sah sie Anlass, sich weiter gedanklich damit zu beschäftigen, weil ihr immer mehr Fragen als Antworten einfielen.

    Als sie die Tür zur Küche öffnete, lächelte Johanna sie an, wie andere Mädchen von ihren Müttern angelächelt werden. Immerhin war Johanna ja auch seit Isabellas erstem Lebensjahr die Mutterrolle zugekommen, die sie, da sie als Magd nicht an eigene Kinder denken konnte, gerne übernommen hatte. Wie immer war Johanna froh und erleichtert, Isabella wieder unter ihren Fittichen zu haben. Obwohl die Wälder von Overrode kaum noch Gefahren bargen, vor denen man sich fürchten musste, machte sich Johanna immer die größten Sorgen, wenn Isabella ihren üblichen Weg nach Overrode nahm.

    „Mädchen, warum kannst du nicht den großen Weg über den Rappenhohn nehmen? Der geht nicht durch den dichten Wald und du kommst an ein paar Gehöften vorbei – da muss ich mir nicht so viele Sorgen machen, dass dich der Wolf holt!" Johanna hatte es in vielen Jahren nicht aufgegeben, sich über die Abkürzung durch den Wald aufzuregen, die Isabella immer zu nehmen pflegte.

    „Aber Johanna, glaubst du denn, ich hätte Angst vor dem Wolf? Der soll mir nur kommen, dann mache ich mir einen warmen Pelz aus seinem Fell. Außerdem ist mir der andere Weg viel zu weit." In Wahrheit war das nicht der einzige Grund, weshalb Isabella den Weg durch den Wald bevorzugte. Sie hatte auch keine Lust, auf ihrem Weg Marthas Vater oder ihrem ältesten Bruder Konrad zu begegnen, was sich kaum vermeiden ließ, da deren Äcker allesamt links und rechts des Weges lagen.

    Die Abneigung gegen Marthas Vater kam daher, dass er ein furchtbarer Tyrann war, der seine Frau und seine Kinder gerne schlug, wenn ihm danach war, was leider sehr oft der Fall war, wie Isabella mehr als einmal gesehen hatte. Meist war eine Flasche Schnaps der Grund dafür; das einzige, wofür er immer noch Geld zu haben schien, egal wie schlecht es um seinen Hof stand.

    Konrad dagegen war schon seit längerer Zeit ausgesprochen nett zu ihr – oder das, was er unter nett verstand. Das hieß, dass er irgendwann aufgehört hatte, sie wie ein kleines Kind mit faulen Äpfeln oder im Winter auch mal mit Schneebällen zu bewerfen, wie er es mit seinen jüngeren Geschwistern gerne machte, um sie zu zanken. Stattdessen versuchte er jetzt immer, sie freundlich zu grüßen, wenn er sie des Weges kommen sah. Meist brachte er aber nicht mehr als ein verlegenes Grunzen oder ein gestottertes „Ha-hallo" hervor. Da Isabella kein besonderes Interesse an Konrad hatte, der mehr und mehr das Aussehen und das Verhalten seines Vaters annahm, ersparte sie ihm und sich die Verlegenheit und ging weiter ihre Abkürzung. Sonst hätte sie Johanna vielleicht den Gefallen getan und den breiten, auch mit Pferden und Wagen befahrbaren Weg zum Rappenhohn über den Kirchberg ins Tal genommen.

    „Mein Mädchen, was träumst du denn schon wieder in der Gegend herum? Willst du dich nicht ein wenig nützlich machen und ein paar Teller auf den Tisch stellen? Es gibt Nusskuchen für alle, sobald dein Vater wieder hier ist." Johanna zeigte auf die Teller, die auf dem kleinen Tisch in der Küche standen, und zeigte dann auf die Tür zur Wohnstube, in der der große Eichentisch stand, an dem gemeinsam gegessen wurde. Isabella nahm die Teller und deckte damit nebenan den Tisch.

    Das Haus, in dem Isabella mit ihrem Vater wohnte und das ihr Vater selbst geplant und errichtet hatte, war für das Haus eines freien Bauern ungewöhnlich groß und stabil gebaut. Neben der geräumigen Küche, der großen Wohnstube, einer Speisekammer und einem weiteren Raum, in dem ihr Vater Dinge aufbewahrte, die nicht jeder Besucher sehen sollte, gab es eine Treppe hinauf in das obere Stockwerk, in dem vier recht große Schlafkammern zu finden waren. Andere Häuser waren dagegen wesentlich kleiner und bestanden häufig nur aus einer Stube mit einer Ecke zum Kochen, einer kleinen Kammer für die Eltern und einem Dachboden, auf dem alle anderen Hausbewohner schlafen mussten.

    Das Haus war nur deswegen so groß, weil die Außenmauern und sogar die Innenmauern des gesamten unteren Stockwerks aus Stein gemauert waren. Sie waren lange nicht so dick wie die von Gut Steinhaus, aber immerhin so stabil, dass sie das große obere Stockwerk aus Holz samt Dachstuhl tragen konnten. Damit war das Haus fast sechs Fuß höher als üblich. Friedrich hatte ihr einmal erzählt, dass ihr Vater damals, als er das Haus gebaut habe, von vielen anderen Bauern für verrückt erklärt worden war. „Was will ein Mann ohne Frau und mit nur einer Tochter mit einer solchen massiven Burg?", hatte man sich im Dorf gefragt. Isabella hielt es aber für wahrscheinlich, dass die Leute damals nur neidisch gewesen waren, weil sie weder das Geld noch das Wissen hatten, um ein Haus auch nur auf ein gemauertes Fundament zu stellen, geschweige denn ein ganzes Stockwerk hoch zu mauern.

    Isabellas Vater kam wenige Minuten später zur Türe herein. Er begrüßte seine Tochter mit einem Kuss auf die Stirn, wie er es immer zu tun pflegte.

    „Hat Bruder Bernhard dich heute wieder mit seinem Wissen erleuchten können, mein Schatz? Oder kommt dir sein Unterricht langsam zu den Ohren heraus?", fragte er.

    „Er hat mir über die alten Griechen und Troja berichtet. So wie er es erzählt, muss das eine spannende Zeit gewesen sein. Die lateinischen Texte über Rom waren allerdings nicht ganz so aufregend", meinte Isabella.

    „Sei froh, dass es hier bei uns nicht so aufregend ist. Aufregende Zeiten sind meist auch schlechte Zeiten, mischte sich Johanna ein, die den noch heißen Kuchen auf einem großen Teller herein trug und auf dem Teller abstellte. „Davon hatten wir in den letzten Jahren mehr als genug, fügte sie hinzu. Ihr Vater sah Johanna an und nickte bestätigend, wohl wissend dass jede andere Reaktion nur weitere sorgenvolle Bemerkungen provozieren würde.

    Gleich darauf kam Friedrich vom Feld, betrat die Wohnstube und nahm am Tisch Platz. „Der letzte Acker ist gepflügt, Herr. Morgen sollten wir mit dem Einsäen beginnen, bevor das Wetter wieder umschlägt. Ich traue dem April nicht über den Weg."

    „Danke, Friedrich. Du wirst sicher Recht haben. Der Wagen ist jetzt übrigens wieder fahrbereit", erwiderte Isabellas Vater, der fast den ganzen Tag damit zugebracht hatte, eine morsche Achse auszuwechseln, die andernfalls beim nächsten Transport einer schweren Last auf dem Wagen hätte brechen können. Da Isabella sich nicht daran erinnern konnte, wann ihr Vater den Wagen, vor den man den Ochsen oder das Pferd spannen konnte, angeschafft hatte, musste er schon ziemlich alt sein; kein Wunder also, dass er hier und da einer Reparatur bedurfte.

    „Du kannst am nächsten Markttag damit wieder alles holen, was uns fehlt, ohne dir Sorgen darüber machen zu müssen, dass er dich im Stich lässt", sagte er zu Friedrich und zwinkerte dabei Isabella zu.

    „Der wird schon noch einige Jahre halten, Herr, meinte Friedrich optimistisch, „so gut wie er von euch instand gehalten wird.

    Isabellas Vater lächelte Friedrich wegen dieses Lobes freundlich an. Das Verhältnis, das er zu seinem Knecht und zu seiner Magd hatte, war ausgesprochen gut und freundschaftlich. Immerhin lebte er seit fünfzehn Jahren mit ihnen zusammen und hatte nie ein böses Wort zu einem der beiden sagen müssen. Wäre die Tatsache, dass sie ihn mit „Herr und „Ihr

    anredeten, nicht gewesen, hätte man sie für Familienmitglieder halten können.

    Isabellas Vater Wilhelm war ein groß gewachsener Mann Mitte vierzig, dunkelblond mit einem leichten Ansatz von Grau, sehr muskulös, aber in keiner Weise dick oder, wie Johanna es sagen würde, rundlich. Seine dunklen braunen Augen blicken freundlich über eine lange schmale Nase, die sein Gesicht ein wenig dem eines Adlers gleichen ließ. Dennoch war er ein ausgesprochen gut aussehender Mann, um den sich die eine oder andere Witwe in der Nähe sicherlich gerissen hätte, wenn er auch nur jemals die geringste Neigung gezeigt hätte, sich für eine weitere Heirat zur Verfügung zu stellen. Er hatte jedoch wiederholt entsprechende Anfragen des Pfarrers von Overrode abgelehnt und war mittlerweile als „heiratsunwillig" bekannt, deshalb ließ man ihn mit solchen Ansinnen in Frieden.

    Isabella fragte sich, wie eine Frau auf die Idee kommen konnte, ihren Vater heiraten zu wollen – immerhin ließ er sich so gut wie nie im Dorf sehen und war vielen Menschen in Overrode nur vom Namen her bekannt. Geschäfte in Overrode und auf den Märkten vor der Bensburg und der Siegburg wurden im allgemeinen von Friedrich erledigt, der gelegentlich Johanna mitnahm, wenn ihm die Arbeit alleine zu viel war oder diese etwas brauchte, das sie lieber selber aussuchen wollte.

    Zu einem der nächsten Markttage an der Bensburg, das hatte Friedrich versprochen, wollte er Isabella mitnehmen. Die Erlaubnis Wilhelms hatte er eingeholt, aber Johanna wusste noch nichts davon – in ihrem eigenen Interesse, damit sie keine Gelegenheit hatte, tagelang über die Gefahren nachzudenken, die auf der Fahrt zur Bensburg und zurück auf sie lauern könnten, ganz zu schweigen von der immensen Bedrohung, die von den Händlern auf dem Markt ausging...

    Isabella freute sich schon seit Wochen darauf, denn zum Markt war sie noch nie mitgenommen worden. Während sie ihr Stück Kuchen aß, überlegte sie bereits, was sie wohl dort finden und erleben würde, und träumte, wie so oft, mit offenen Augen von Abenteuern, wie sie die alten Griechen einst erlebt hatten.

    KAPITEL 2

    Isabella wachte auf, als der Hahn unter ihrem Fenster laut darauf aufmerksam machte, dass der Morgen begonnen hatte und die Dämmerung langsam einem weiteren wolkenlosen Tag Platz machte. Obwohl sie noch etwas schlaftrunken war, sprang sie ohne zu zögern aus dem Bett, warf sich schnell etwas über und ging die Treppe hinunter, um sich nützlich zu machen. In der Küche hörte sie bereits Johanna, die sicher damit beschäftigt war, ein Frühstück für alle zu bereiten.

    „Guten Morgen, mein Mädchen, wurde sie von Johanna begrüßt. „Hat dich der Hunger geweckt?

    „Morgen Johanna. Hunger habe ich schon, aber der verdammte Hahn hat mich wach gemacht." Johanna sah sie mit einem Blick an, der streng aussehen sollte, aber wie immer eher sorgenvoll geriet.

    „Du sollst doch nicht fluchen. Ich frage mich wirklich, wer dir das beigebracht hat. Vielleicht muss ich mal mit deinem Vater reden, damit das ein Ende hat." Aber Isabella wusste, dass Johanna das nicht tun würde, denn ihrem Vater und Friedrich kamen gelegentlich ziemlich derbe Flüche über die Lippen, auch wenn sie sich in Isabellas Anwesenheit immer viel Mühe gaben, das Fluchen zu unterlassen.

    „Tut mir Leid, Johanna. Kommt nicht wieder vor, erwiderte sie, und fügte hinzu: „Kann ich dir vielleicht helfen? Sind die Kühe schon gemolken? Natürlich wusste Isabella, dass sie noch nicht gemolken waren, denn der Krug, in dem Johanna immer Milch für das Frühstück auftischte, war noch leer. Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm sie den Krug in die Hand.

    „Du musst das nicht tun, Mädchen. Ich kann gleich selber in den Stall gehen, sagte Johanna schnell. Aber Isabella trat schon zur Tür hinaus, während sie Johanna über ihre Schulter fröhlich anlächelte, und ging hinüber in den Stall. Neben den Schweinen mit den vielen kleinen Ferkeln standen dort zwei Milchkühe, ein Bulle, ein Kälbchen und ein Pferd. Den starken Ochsen hatte Friedrich wohl schon aus dem Stall geholt, weil es mal wieder etwas Schweres zu ziehen gab. Während der kleine, kräftige Hengst mit hell- und dunkelbraun geschecktem Fell, dem sie selber den Namen Cäsar gegeben hatte, zur Begrüßung ein kurzes Schnauben von sich gab, glotze das junge Kälbchen sie mit großen Augen an. Die Milchkühe ließen nacheinander ein drängelndes „Muuuh! hören, um klar zu machen, dass sie endlich gemolken werden wollten; eine Aufgabe, die von Isabella nicht erwartet wurde, die sie aber immer häufiger übernahm.

    Beide Kühe ließen sich ganz problemlos melken, obwohl Isabella lange nicht so erfahren im Umgang mit ihnen war wie Johanna und Friedrich. Frieda, die ältere der beiden Kühe, hatte im letzten Jahr Verstärkung bekommen, als Wilhelm beschlossen hatte, eine zweite Kuh zu kaufen, die den Namen Josefa erhielt. Solange sich Isabella zurück erinnern konnte, hatte es immer eine Milchkuh auf dem Hof gegeben. Johanna und ihr Vater hatten wohl schon damals auf dem Standpunkt gestanden, dass Kuhmilch besonders gesund für ein kleines Kind sei. Auf anderen Höfen gab es dagegen meist nur eine oder zwei Ziegen, die Milch gaben, weil man sich weder die Anschaffung noch das Futter für ein größeres Tier leisten konnte.

    Bei der Anschaffung der zweiten Kuh hatte Wilhelm aber einen anderen Gedanken verfolgt: Während eine Kuh bereits genug Milch gab, um daraus auch noch Butter, Rahm und Käse für mehr als vier Personen zu machen, konnte man mit der Milch von zwei Kühen so viel herstellen, dass es sich lohnte, die Milchprodukte in Overrode oder auf einem Markt zu verkaufen. Im zurückliegenden Jahr hatte das so viel eingebracht, dass der Preis für die Kuh längst wieder verdient war.

    Die Haltung von Vieh – mit Ausnahme von Schweinen und Kleinvieh wie Hühnern und Gänsen – war in Overrode noch nicht weit verbreitet, da die Flächen, die in den letzten hundert Jahren dem teilweise sehr dichten Wald durch Rodung abgetrotzt worden waren, überwiegend für den Ackerbau benötigt wurden. Für eine Weide wollten nur wenige Bauern wertvolles Ackerland aufgeben, und Neuerungen gegenüber war man ohnehin nicht gerade aufgeschlossen. Sowohl der junge Bulle als auch das Kälbchen waren der Erfolg erster Züchtungsversuche, die Friedrich mit Hilfe anderer Viehhalter in der Umgebung unternommen hatte.

    Ein Pferd zu besitzen war zwar für jeden Bauer erstrebenswert, aber für die meisten unbezahlbar. Ihr Vater hatte dagegen schon ein Pferd besessen, als er Friedrich und Johanna angeworben hatte, so viel wusste Isabella. Cäsar hatte er vor mehr als fünf Jahren als gerade ausgewachsenes Jungtier gekauft. Entgegen seiner Gewohnheit hatte er dafür sogar Friedrich auf einen Pferdemarkt nahe der Siegburg begleitet, um selber ein passendes Tier auszusuchen.

    Cäsar eignete sich gut für die Arbeit auf dem Feld, aber meist wurde für die schweren Aufgaben doch der Ochse vorgespannt. Wilhelm nutzte das von ihm selbst hervorragend zugerittene Pferd bevorzugt für Ausritte, die er meist auf schmalen Wegen in den tiefen Wald hinter dem Hof unternahm. Friedrich durfte Cäsar gelegentlich nehmen, um seine einige Meilen entfernten Verwandten zu besuchen. Wenn Markttag war, spannte Friedrich das Pferd an Stelle des Ochsen vor den zweiachsigen Wagen und fuhr damit zur Bensburg oder zur Siegburg.

    Auch Isabella durfte auf Cäsar reiten – allerdings nur, wenn niemand in der Nähe war und kein Nachbar dies hätte sehen können. Denn zum einen war es in Overrode völlig unüblich, Mädchen oder Frauen das Reiten beizubringen und hätte nur zu weiterem Klatsch geführt, und zum anderen hatte Wilhelm seiner Tochter beigebracht, wie ein Junge auf dem Pferd zu sitzen, um auch im Wald immer fest im Sattel zu bleiben, was ebenfalls Grund zur Verwunderung gegeben hätte.

    Isabella hatte mittlerweile beide Kühe gemolken und die Milch auf mehrere Holzeimer verteilt. Nachdem sie die Eimer bis auf einen mit Tüchern abgedeckt und gegenüber in die Scheune gebracht hatte, holte sie den letzten Eimer, der für das Frühstück bestimmt war, schloss die Stalltür und trug ihn in die Küche, wo Johanna bereits wartete.

    Das Frühstück verlief wie immer: Ihr Vater kam schon bald komplett angezogen aus seiner Schlafkammer herunter, begrüßte alle gewohnt wortkarg mit einem Nicken und einem Lächeln (Isabella bekam noch einen Kuss auf die Stirn), aß ein Stück Brot mit etwas Käse, den er mit seinem Messer von einem großen Laib abschnitt, und trank einen großen Krug mit Milch. Friedrich tat es ihm gleich, während Johanna und Isabella mit einem Holzlöffel Honig auf ihrem Brot verteilten und ebenfalls etwas Milch tranken.

    Da an diesem Tag kein Unterricht mit Bruder Bernhard stattfand, sollte sich Isabella um die Kühe kümmern, damit Friedrich und ihr Vater sich sofort an die Feldarbeit machen konnten. Nach dem Frühstück stand sie mit den Worten „Ich bin dann mal auf der Weide vom Tisch auf und ging wieder in den Stall. Das Ausmisten würde Johanna später übernehmen („Das ist keine Arbeit für junge Mädchen), also musste sie die Kühe nur um das Hofgebäude herum auf eine der beiden Weiden daneben treiben. Die gutmütigen Tiere, selbst der Bulle, liefen fast von selbst auf die richtige Wiese, sodass Isabella eigentlich nur noch das Gatter hinter ihnen schließen musste. Dann ging sie zum Brunnen, füllte zwei Eimer randvoll mit Wasser, ging zur Weide zurück und schüttete den Inhalt in die Tränke, die ihr Vater aus einem dicken Eichenstamm geschnitzt hatte, damit das Vieh keinen Durst leiden musste.

    Es war Isabella klar, dass es zu Anfang des Frühjahrs besonders viel auf dem Hof zu tun gab, kaum weniger als zur Erntezeit. Dennoch hatte sie in den vergangenen Jahren nur selten wirklich mithelfen müssen, anders als ihre Freundinnen, die oft von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang mit nur kurzen Pausen auf den Feldern schuften mussten. Heute wollte Isabella aber unbedingt mehr tun als die Kühe oder die Schweine zu beaufsichtigen. Sie ging daher zurück ins Haus, um ihren Vater oder Friedrich zu fragen, wie sie helfen könne. Beide waren schon nicht mehr dort.

    „Dein Vater baut ein neues Butterfass, gab Johanna bekannt, „das alte ist kurz davor zu zerbrechen. Gott sei Dank, dass er handwerklich so geschickt ist. Friedrich ist schon mit dem Saatgut zum oberen Feld unterwegs.

    Isabella war davon überzeugt, dass ihr Vater genug Geld gehabt hätte, ein neues Butterfass vom Markt mitbringen zu lassen, zumal der nächste Markttag am Fuße der Bensburg kurz bevor stand. Für ihn schien es aber eine Frage der Ehre zu sein, möglichst alles selber zu bauen und seine handwerklichen Fertigkeiten unter Beweis zu stellen.

    „Ich laufe dann mal zu Friedrich, der kann sicher mehr Hilfe gebrauchen." Ohne einen Einwand Johannas abzuwarten, lief Isabella zur Türe hinaus und den großen Weg entlang. Sie hatte die vage Hoffnung, dass Konrad und sein Vater nicht ausgerechnet auf dem benachbarten Feld arbeiten würden, war sich aber dieser Möglichkeit bewusst. Ihre Abneigung den beiden gegenüber ging jedoch nicht so weit, dass sie dies davon abgehalten hätte, Friedrich etwas zur Hand zu gehen.

    Der Weg führte leicht bergauf rechts am Rand des Waldes entlang. Da das Feld teilweise hinter einer Ecke dieses Waldes verborgen lag, konnte Isabella Friedrich erst sehen, als der Weg an diese Ecke kam. Er stand an seine Schaufel gelehnt und sah prüfend in den Himmel, um das kommende Wetter zu ergründen, und hatte Isabella noch nicht bemerkt. Dasselbe galt für Marthas und Konrads Vater, der nur einige dutzend Schritte entfernt das benachbarte Feld mit seinem Ochsen pflügte und gerade Anstalten machte, eine kurze Pause einzulegen.

    „Heda, Knecht", rief er zu Friedrich hinüber, der seinen Blick von den kleinen weißen Wölkchen am Himmel zu ihm herüber lenkte, „ich will

    deinen Herrn sprechen. Frag ihn, wann es ihm passt."

    Die unhöfliche Anrede und der patzige Ton, in dem der Bauer in ansprach, ignorierte Friedrich demonstrativ. Mit einem bewusst übertriebenen Lächeln antwortete er freundlich, aber bestimmt: „Ich glaube nicht, dass mein Herr viel Zeit für dich hat. Wenn du mir sagst, was du von ihm willst, kannst du auch von mir eine Antwort bekommen."

    Der Bauer sah ihn geringschätzend an. „Es ist nichts, was ich mit einem Knecht besprechen will. Aber du kannst es genauso gut wissen: Ich will meinen ältesten Sohn Konrad, er nickte mit dem Kopf in die Richtung, wo dieser gerade mit einem gelangweilten Gesichtsausdruck damit beschäftigt war, den äußeren Rand des Feldes mit der Schaufel umzugraben, „mit seiner Tochter verheiraten. Er is´ ´ne gute Partie, erbt mal den größten Teil meines Hofes. Mit dem Land deines Herren zusammen hätten die zwei ihr gutes Auskommen, will ich meinen. Die Kleine ist alt genug, wohlgemerkt; nicht mehr lange und sie wird keinen anständigen Mann mehr finden.

    Isabella lauschte aufmerksam und trat hinter einen Baum am Waldrand. Offensichtlich hatte sie noch niemand bemerkt, und sie wollte es dabei belassen. Sie hatte sich schon häufiger gefragt, warum ihr Vater noch nicht mit sie betreffenden Heiratsangeboten bedrängt wurde, und hatte dies darauf zurück geführt, dass sein zurückgezogenes Dasein für viele Familien trotz seines offensichtlichen Wohlstands ein Grund war, von solchen Ansinnen abzusehen.

    Friedrich hatte inzwischen Zeit gehabt, sich eine Erwiderung für den Bauern zu überlegen. Er setzte ein finsteres Gesicht auf, das, wie Isabella erkannte, nicht gespielt war sondern seinen tatsächlichen Gemütszustand widerspiegelte.

    „Damit muss ich meinen Herrn nicht belästigen, sagte er in abweisendem Ton und mit erhobener Stimme, „ich denke nicht, dass er seine Tochter in solcherlei Hände geben wird. Schlagt euch das aus dem Kopf, bevor es jemand anders tut.

    Der Bauer bekam nach dieser klaren Beleidigung und der obendrein ausgesprochenen Drohung einen hochroten Kopf und brüllte: „Du traust dich, so mit mir zu reden? Hat dir lange niemand mehr gezeigt, wo dein Platz ist, Knecht? Ich werde mit deinem Herrn reden, ob du´s willst oder nicht!" Er drehte sich zu seinem Sohn um, der zweifellos alles gehört hatte, aber so tat, als sei er völlig taub und habe das Gespräch gänzlich verpasst.

    „Konrad, komm her und halte den Ochsen fest, bis ich wieder komme. Ich muss mit unserem Nachbarn sprechen." Konrad ließ gehorsam die Schaufel fallen und ging zu seinem Vater hinüber, der ihm die Zügel des Ochsen in die Hand drückte und vom Feld in Richtung des Weges stapfte. Isabella ging auf Zehenspitzen einige Schritte in den Wald hinein, um nicht doch noch gesehen zu werden. Während der Bauer mit großen, entschlossenen Schritten und grimmigem Gesicht auf den Hof ihres Vaters zuging und hinter der Ecke des Stalls verschwand, konnte Isabella sehen, dass Friedrich seine Arbeit fortsetzte, während Konrad den Ochsen antrieb und das Pflügen seines Vaters weiterführte.

    Isabella rührte sich nicht von der Stelle. Als Konrad ein paar Minuten später mit dem Pflug an der entferntesten Ecke seines Feldes war, sagte Friedrich, ohne in ihre Richtung zu sehen, so laut dass nur sie es gerade hören konnte: „Ich habe dich schon gesehen, Isabella. Geh auf die Weide; ich komme gleich zu dir, dann können wir ungestört reden." Isabella zuckte erschrocken zusammen. Sie hatte nicht damit gerechnet entdeckt zu werden, und war gerade dabei zu überlegen, wie sie sich unauffällig entfernen konnte. Jetzt war das kein Problem mehr; Konrad war weit genug weg und pflügte, von ihr abgewandt, und Friedrich wusste Bescheid. Also trat sie einfach aus dem Wald hervor und ging mit leisen Schritten in Richtung des Hofes. Sie ging, wie Friedrich es ihr aufgetragen hatte, um den Hof herum auf die Weide und setzte sich auf den Rand der Tränke.

    Sie wartete einige Zeit, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, und ihre Gedanken kreisten um das Thema Heirat. Bisher war es ihr immer gelungen, dieses Thema zu verdrängen. Die anderen Mädchen in ihrem Alter waren – bis auf Martha – alle in den letzten zwei Jahren verheiratet worden, und soweit sie es beurteilen konnte, war keine von ihnen damit glücklich geworden.

    Anna, die jüngste Tochter einer der Bauern aus dem Tal der Acher, war mit einem wohlhabenden Witwer verkuppelt worden, der vom Alter her ihr Vater hätte sein können. Quasi als Tauschgeschäft hatte er Annas Vater ein Pferd und einen neuen Wagen gekauft, machte ein Gerücht die Runde. Isabella hatte keinen Zweifel, dass da etwas dran war. Es war bei manchen Bauern durchaus üblich, solcherlei Geschäfte mit ihren eigenen Kindern zu machen. Es gab jedoch keine Gelegenheit mehr, Anna selber danach zu fragen, denn seit dem Tag der Hochzeit vor mehr als einem Jahr hatte sie den Hof ihres Mannes nicht mehr verlassen dürfen, nicht einmal um ihre Familie zu besuchen oder in die Messe zu gehen. Isabella hatte die Befürchtung, dass sich dies auch bis zum Tode von Annas Ehemann nicht mehr ändern würde.

    Anders, aber kaum besser, verhielt es sich bei Christina, die seit einigen Monaten mit ihrem jungen Ehemann auf dem Lölsberg lebte. Zunächst hatte es so geschienen, als sei sie sehr glücklich mit dieser Verbindung, zumal sie nur einige hundert Schritte vom Hof ihrer Eltern weg gezogen war und ihren Mann Paul schon lange gekannt und immer sehr gemocht hatte.

    Isabella hatte sie vor einigen Wochen ohne Paul in der Sonntagsmesse gesehen und sich vorgenommen, sie zu fragen wie es ihr ging. Am Ende der Messe fing sie sie am Kirchenportal ab und konnte kaum glauben, was sie sah: Christina hatte ein geschwollenes, blaues Auge, wie von einem Faustschlag. Christina wich ihrem Blick aus. Dann sah sie ihr kurz in die Augen und schüttelte nur kurz den Kopf, wohl um ihr zu bedeuten, dass dies kein guter Platz sei, um darüber zu sprechen.

    Isabella nahm sie wortlos an der Hand, und gemeinsam gingen sie um die Kirche herum, außer Hör- und Sichtweite der übrigen Gemeinde, und setzten sich auf die niedrige Kirchenmauer.

    „Frag nicht...", sagte Christina, und Tränen traten in ihre Augen, obwohl sie mit aller Kraft versuchte, gefasst auszusehen.

    „Paul", sagte Isabella. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Eine andere Erklärung gab es ja auch kaum.

    Christina nickte kaum sichtbar. „Ich weiß nicht, was in ihn gefahren ist. Er war doch immer so ein lieber Kerl. Und jetzt..."

    „Tut er dir oft weh?", frage Isabella sanft und lächelte Christina mitfühlend an, während sie ihr mit der Hand beruhigend durch das Haar strich.

    „Er findet immer einen Grund, erwiderte Christina, jetzt mit einem leichten Ansatz von Wut in ihrer Stimme, „egal was ich tue: ich mache es falsch, zu schnell, nicht gut genug – es ist so, als ob er mich überhaupt nicht leiden könnte.

    Isabella sah sie ratlos und etwas verwirrt an, denn so hatte sie Paul nun wirklich nicht eingeschätzt. Sie kannte ihn als sehr freundlichen jungen Mann, der mehr Kultur hatte, als die meisten anderen Männer in Overrode. Sie sagte daher erst einmal nichts und drückte Christina feste an sich, um sie ein wenig zu trösten.

    „Ich glaube, es ist sein Vater, unterbrach Christina die Stille mit einem leisen Schluchzen und setzte sich wieder aufrecht. „Paul hat einmal gesagt, er hätte ihm schon beigebracht, wie man mit einer Ehefrau umgehen müsste.

    „Scheint so, als ob dein Schwiegervater mehr von einer harten Hand als von guten Worten hielte. Und Paul tut alles, was man ihm beigebracht hat. Was für miese Schweine!" Isabella merkte, wie langsam die Wut in ihr hoch kochte.

    Christina sprang plötzlich auf und wischte sich die Tränen aus den Augen. „Ich muss jetzt, sonst bekomme ich schon wieder Prügel."

    Isabella nickte und sah sie traurig an. „Wenn es nur etwas gäbe, womit ich dir helfen könnte..."

    Aber Christina schüttelte den Kopf und verließ den Kirchhof mit den Worten: „Nein, Isabella, da kann man nichts tun. Ich werde das eben durchstehen müssen." Ohne sich noch einmal umzudrehen schlug sie den Weg in Richtung des Flusses ein und verschwand schließlich hinter dem Gut Steinhaus.

    Für Isabella war klar: Einen Mann zu heiraten war ein Risiko, das sie nicht bereit war einzugehen. Aber was war, wenn ihr Vater in eine Hochzeit mit Konrad einwilligte, ohne vorher mit ihr zu sprechen? Es war an sich nicht üblich, Töchter in solchen Angelegenheiten nach ihrer Meinung zu fragen. Oder hatte Friedrich Recht, der das Ansinnen von Konrads Vater brüsk abgewiesen hatte?

    In diesem Moment kam Friedrich um die Ecke des Hauses, ging durch das Gatter zu ihr auf die Weide und setzte sich neben Isabella auf die Tränke.

    „Hast gehört was der Bauer wollte, stellte er fest. „Spricht noch immer mit deinen Vater. Friedrich, der kein Freund von langen Reden war, suchte sichtlich nach den richtigen Worten.

    „Ich will Konrad nicht heiraten, sagte Isabella mit fester, entschlossener Stimme und sah, dass Friedrich verständnisvoll nickte. „Glaubst du wirklich, er wird den Antrag ablehnen?

    „Ganz sicher. Dein Vater will dich mit keinem Bauern verheiraten. Noch nicht. Die letzten Worte hatte er hinterher geschoben, aber sie taten ihm in dem Moment leid, in dem er sie ausgesprochen hatte. Deshalb redete er nach einer kleinen Pause weiter: „Wäre nicht der erste Antrag, den dein Vater ausgeschlagen hat. Bist ´ne gute Partie, mit dem Hof und dem Vieh. Hat sogar schon Streit mit dem Pastor deswegen gehabt.

    Isabella sah ihn fragend an, denn von alledem hatte sie keine Ahnung gehabt. Ihr Blick schien Friedrich nervös zu machen. Er richtete seinen Blick auf seine Füße und schwieg eine Weile.

    „Hab auch schon mit ihm gesprochen. Muss ja mal irgendwann sein, mit dem Heiraten. Der Hof ist sonst nicht ewig zu halten, sagte er dann mit ernster Stimme und sah weiter seine Füße an. „Hat gesagt ihm ist das klar, aber er will noch nicht. Ich glaub´ er weiß einfach noch nicht, was er will. Denkt, er kann die Sache aufschieben.

    Selten hatte Isabella einen solchen Redefluss von Friedrich gehört. Die Angelegenheit schien ihn sehr zu beschäftigen, und das nicht erst seit heute. Sie wusste auch, dass er vollkommen Recht hatte. Mädchen mussten verheiratet werden, bevor sie zu alt waren, oder sie konnten ins Kloster gehen. Als einziges Kind ihres Vaters würde sie zwar den Hof bekommen, aber als Frau konnte sie ihn alleine nicht bewirtschaften, selbst wenn sie die Arbeit schaffen würde. Eine Frau als Pächter gab es weit und breit nirgendwo, und sie bezweifelte, dass der Siegburger Abt einem solchen Novum seine Zustimmung geben würde.

    Dennoch sagte sie in einem Anflug von Trotz: „Trotzdem heirate ich nicht. Da müsstet ihr mich schon in die Kirche tragen."

    Friedrich erwiderte nichts, aber er sah sie erstaunt und vielleicht auch ein wenig stolz an. Er stand auf und blickte zum Himmel, als ob er das Wetter erneut prüfen müsste. „Dein Vater will nicht, dass du mit dem Thema Heirat belastest wird. Lassen wir´s dabei. Du hast nichts gehört, und ich habe nichts gesagt. Und mach dir keine Gedanken, dein Vater weiß schon, was er tut." Dann ging er durch das Gatter und verschwand hinter dem Hofgebäude, um seinem Tagewerk nachzugehen, das er bereits so lange unterbrochen hatte.

    In dieser Nacht schlief Isabella schlecht. Weder ihr Vater noch Johanna hatten ein Wort über die Angelegenheit verloren, sodass Isabella sicher war, dass von einer bevorstehenden Hochzeit keine Rede sein konnte. Johanna hätte sich sonst auch sicherlich die Augen aus dem Kopf geweint.

    Irgendwann, mitten in der Nacht, stand Isabella aus dem Bett auf und trat ans Fenster. Es war eine helle Nacht, die vom vollen Mond und tausenden von Sternen erleuchtet wurde. Dennoch wäre ihr fast entgangen, dass zwei dunkle Gestalten gerade dabei waren, sich vom Haus zu entfernen. Sie gingen lautlos in Richtung des unteren Feldes, und als sie am dortigen Waldrand angelangt waren, erkannte Isabella, dass sie zwei Pferde bestiegen, die dort angebunden waren.

    Erschrocken nahm Isabella wahr, dass im Haus jemand die Treppe hinauf kam, stellte aber dann erleichtert fest, dass es den Geräuschen nach zu urteilen ihr Vater sein musste, der erst jetzt ins Bett ging und dabei versuchte, Isabella nicht aufzuwecken.

    Sie ging leise ins Bett und dachte scharf nach. Offensichtlich hatte ihr Vater Besuch von zwei Männern mit Pferden bekommen. Wer konnte das sein? Viele Pferde gab es in Overrode nicht, deshalb kamen nur wenige Personen in Frage. Der Pastor hatte ein Pferd, aber der kam immer alleine und nie mitten in der Nacht. Sonst fiel Isabella auch niemand ein, zu dem ihr Vater regelmäßigen Kontakt hatte. Vielleicht würde ihr Vater ihr ja am Morgen erzählen, wer die nächtlichen Gäste gewesen waren. Doch kurz bevor Isabella endlich erschöpft einschlief, kam ihr noch der Gedanke, dass er dies wahrscheinlich nicht tun würde...

    Nach diesem ereignisreichen Tag vergingen etwa vier Wochen, in denen nichts Außergewöhnliches geschah. Isabella hatte den Heiratsantrag des Nachbarn schon fast vergessen, aber der nächtliche Besuch beschäftigte sie regelmäßig, wenn sie zu Bett ging.

    In der Nacht des nächsten Vollmondes hatte Isabella eine Vorahnung, dass es sich lohnen könnte, mitten in der Nacht aus dem Fenster zu sehen. Für Reiter, die durch den Wald reiten wollten, war es die beste Nacht dafür, weil man nicht Gefahr lief, gegen allzu viele Äste zu reiten. Sie achtete besonders darauf, wann ihr Vater zu Bett ging, aber davon war auch am späten Abend nichts zu hören. Daher beschloss sie, so lange wie möglich auf zu bleiben, um nicht zu verpassen, was so um das Haus vor sich ging, und setzte sich auf ihren Stuhl, den sie fast geräuschlos ans Fenster gerückt hatte.

    Trotz aller Bemühungen, ihre Augen offen zu halten, war Isabella kurz eingenickt. Sie schreckte auf, weil sie fast vom Stuhl gerutscht wäre, und setzte sich wieder gerade hin. Als sie ihren Blick erneut auf den Waldrand richtete, konnte sie es sehen: zwei Männer mit dunklen Umhängen stiegen von ihren Pferden, banden diese wieder an Bäumen an und näherten sich dem Hof. Von der Tür hörte sie kurz darauf ein kaum vernehmliches Klopfen, dann öffnete ihr Vater die Tür, die noch nicht verriegelt gewesen war. Er schloss die Tür wieder, und danach drang kein Geräusch mehr zu ihr nach oben. Offensichtlich war ihr Vater mit den Besuchern in die Küche gegangen.

    Isabella war entschlossen herauszufinden, mit wem sich ihr Vater, offenbar regelmäßig, in seinem Haus traf, ohne dass es jemand wissen sollte – sie selbst inbegriffen. Sie überlegte, wie das zu bewerkstelligen sei. Wenn sie die Treppe hinunter ginge, bestünde die Gefahr, dass ihr Vater sie hören würde, denn einige der Stufen knarzten bei jedem Tritt. Also musste sie oben bleiben, und hier sehen, was zu machen war. Sie öffnete die Tür ihres Zimmers und schloss sie hinter sich wieder, wobei sie darauf achtete, die Tür lautlos zu schließen. Auf dieselbe Art öffnete sie die Tür zur Schlafkammer ihres Vaters und schloss sie hinter sich. Da die Küche unter diesem Raum lag, hoffte sie, durch die Bodendielen etwas von dem Gespräch hören zu können, welches unten stattfand. Sie legte also ihr Ohr auf den Boden – und war enttäuscht festzustellen, dass man nur ein leises Murmeln hören konnte, aber keine Stimmen auszumachen waren, geschweige denn der Inhalt ihres Gesprächs. Warum hatte ihr Vater das Haus nur so verdammt massiv gebaut?

    Jetzt gab es eigentlich nur noch eine Möglichkeit: Isabella musste warten, bis die Besucher das Haus verließen, um wenigstens über die Treppe einen kurzen Blick auf sie werfen zu können, wenn sie zur Tür hinaus gingen. Sie verließ das Zimmer ihres Vaters wieder und kauerte sich am Ende der Treppe hinter die Ecke der Wand, gleich neben ihrer Zimmertür. Von hier aus konnte sie vielleicht einen kurzen Blick nach unten riskieren, ohne bemerkt zu werden.

    Die Zeit schien überhaupt nicht zu vergehen, und Isabella fragte sich schon, ob die Unbekannten wohl bis in die frühen Morgenstunden bleiben würden, da hörte sie ganz leise einen Stuhl rücken, als ob jemand plötzlich aufgestanden sei. Dann ging die Klinke der Küchentür, und gedämpfte Schritte drangen zu ihr nach oben. Offensichtlich hatte man sich schon in der Küche verabschiedet, denn es wurde kein Wort gesprochen. Isabella lugte um die Ecke herum, und sah im nur schwachen Licht einer Kerze, die ihr Vater in der Hand hielt, den Rücken eines Mannes, der sich gerade seinen Umhang über warf. Der Mann drehte sich noch kurz zu ihrem Vater um, der bereits die Tür geöffnet hatte, und warf ihm zum Abschied ein kurzes Lächeln zu. Isabella sah für einen kurzen Moment das Profil des Mannes im Kerzenschein, und traute ihren Augen kaum: Er sah fast so aus wie der Ritter Gerhard von Bernsau, der Truchsess des Grafen von Berg.

    Den zweiten Mann hatte Isabella nicht sehen können, er trug bereits seinen Umhang und hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Sie hörte, wie ihr Vater den Riegel vorschob und wieder in Richtung Küche ging, sicherlich um die Spuren des nächtlichen Besuchs zu verwischen. Isabella wollte zusehen, dass sie wieder möglichst leise in ihr Zimmer kam. Dabei passierte das Unglück: durch einen Luftzug im Haus schlug die Tür mit einem leichten Knall zu, bevor Isabella es verhindert konnte.

    Isabella hielt sich mucksmäuschenstill und bewegte sich keinen Fingerbreit, in der Hoffnung ihr Vater habe in der Küche nichts davon gehört. Es stellte sich heraus, dass sie nicht so viel Glück hatte. Ohne dass

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