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Auf der Jagd nach Fisch und Fetisch: Die Reisen der Mary Kingsley in Westafrika
Auf der Jagd nach Fisch und Fetisch: Die Reisen der Mary Kingsley in Westafrika
Auf der Jagd nach Fisch und Fetisch: Die Reisen der Mary Kingsley in Westafrika
eBook308 Seiten4 Stunden

Auf der Jagd nach Fisch und Fetisch: Die Reisen der Mary Kingsley in Westafrika

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Über dieses E-Book

Wie kam eine viktorianische Lady ausgerechnet auf die verrückte Idee, ins Grab des weißen Mannes zu reisen, zeigte sich doch schon die Karte von Westafrika in Rabenschwarz, von Sierra Leone bis über den Kongo hinaus. Eine deutliche Warnung, um die sich Mary Kingsley jedoch wenig scherte. Mit ihren 30 Jahren galt die Viktorianerin als "alte Jungfer", von der man keinesfalls erwartet hätte, dass sie ihren Seesack packt, einen alten Kohlendampfer besteigt und in der Gesellschaft trinkfester Händler alleine nach Westafrika fährt. Was sie auf ihren abenteuerlichen Reisen (1893 bis 95) an der Küste, in den krokodilreichen Flüssen und Mangrovensümpfen, in den Dörfern der kannibalischen Fang oder hoch oben auf dem Kamerunberg erlebte, hielt sie in Briefen, Buschjournalen und Tagebüchern fest. Ihre erste Begegnung mit Eingeborenen fand Miss Kingley allerdings erschreckend. Als in Tabu plötzlich eine Horde tätowierter schwarzer Männer an Bord erschien, flüchtete sie in ihre Kabine, wo bereits ein paar spärliche bekleidete Gentlemen ihre Koffer durchwühlten, ihre Käfersammlung begutachteten und die Funktion ihrer Zahnbürste erkundeten. Die gefährlichen "Wilden" entpuppten sich jedoch als freundliche Kru, denen Mary Kingsley in Westafrika öfter begegnete als einem Krokodil, Elefanten oder einem Nilpferd.
Um ihre magere Reisekasse aufzubessern, marschierte sie mit einer Warenkiste voll Tabak, Schnaps und allerlei Krimskrams durch den Urwald. Als Buschhändlerin saß sie als Ehrengast am abendlichen Feuer, palaverte mit den Häuptlingen, entlockte dem Hexendoktor ein paar Fetischgeheimnisse und feilschte geschickt um den besten Preis für Rohgummikugeln und Elfenbein. Gefährliche Situationen, bei denen ein Haudegen wie Stanley wohl um sich geschossen hätte, löste Mary Kingsley mit "stundenlangem Palaver und etwas Tabak". Trotz ihrer Begeisterung für Westafrika, fragte sich die Lady gelegentlich selbst: "Was mache ich kapitaler Esel eigentlich in diesem Land"?
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum5. Nov. 2019
ISBN9783749764624
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    Buchvorschau

    Auf der Jagd nach Fisch und Fetisch - Silvia Dörfle

    »Nehmen Sie stets Maß, Miss Kingsley, und immer vom erwachsenen Männchen…«

    So lautete der Auftrag des Britischen Museums. Eine Anweisung, die sich der typisch viktorianische ‚Lehnstuhl-Wissenschaftler‘ wohl etwas einfacher vorstellte, als sich das praktisch umsetzen ließ. Vor allem, wenn das zu vermessende Exemplar ein Gorilla, Leopard, Nilpferd oder eine fünf-Meter lange Pythonschlange war ‒ und noch lebte. In den fischreichen Seen, Flüssen und Mangrovensümpfen nördlich des Kongo zu angeln, fiel der begeisterten Amateur Zoologin deutlich leichter. Dr. Günther, ein bekannter Ichthyologe, hatte Miss Kingsley dafür mit fachlichem Wissen und 15 Gallonen Spiritus ausgerüstet. Sein umfangreiches Werk, das Studium der Fische, verkürzte ihr die Zeit, wenn sie am Äquator mal wieder stundenlang in einem lecken Kanu hockte. Geduldig warten können »in feuchtheißer Luft, die zu 45 % aus Moskitos besteht«, gehörte zum Fischfang in Afrika dazu, wie der Haken zur Angel. Und wurde allzu oft nur mit dem üblichen Schlammfisch belohnt. Wann auch immer Miss Kingsley einheimische Fischer nach ihrem Tagesfang fragte, zeigten sie ihr Körbe voll Schlammfisch. Wo auch immer sie die Angel aus dem Wasser zog, hing in neun von zehn Fällen dieses urtümliche Scheusal daran. Zur Freude des Britischen Museums entwickelte sich Miss Kingsley in Westafrika zur fachkundigen Sammlerin. Sobald sie ihre Furcht überwunden hatte, ging sie im Busch auf die Jagd nach Schlangen. Auch ein breites Spektrum an Insekten brachte sie nach England mit ‒ von der roten Treiberameise samt Nest bis zur riesigen Elefantenzecke. Die hatte sich ‒ in der typisch rabiaten Art westafrikanischer Insekten ‒ mit einem »höllischen Stich« an ihrem Bein bemerkbar gemacht.

    Als Mary Kingsley 1893 zum ersten Mal ihren Seesack packte und nach Westafrika fuhr, war sie noch völlig unbekannt. Wenige Jahre später mischte sie sich lautstark in die britische Kolonialpolitik mit ein. Mutig widersprach sie der herrschenden Meinung über ‚die Neger‘. Diese Westafrikaner seien weder bösartige ‚Wilde‘ noch naive ‚Kinder der Natur‘. Jeder Stamm hätte seine eigene Kultur, eigene Gesetze und eine höchst komplizierte Glaubenswelt. Selbst auf einer kleinen Tropeninsel wie Fernando Po unterschieden sich ein Galwa und ein Bubi wie ein »Londoner von einem Lappländer«. Dass ausgerechnet eine Frau es wagte, bösartige Zeitungsartikel über Westafrika zu zerpflücken, auf die Arroganz der britischen Kolonialverwaltung hinzuweisen und die Ignoranz vieler Missionare zu kritisieren, sorgte für Empörung. Doch Miss Kingsley hatte die gesamte Küste bereist, vom britischen Sierra Leone bis hinunter ins portugiesische Loanda. Sie wusste also, wovon sie sprach. Mit Fug und Recht nannte sie sich selbst einen Old Coaster.

    Von ihrer zweiten Westafrikareise (1895) zurückgekehrt, schrieb Miss Kingsley in Rekordzeit zwei beeindruckend dicke Wälzer. Travels in Westafrica hieß ihr erstes Reisebuch. Vermutlich war niemand erstaunter als die Autorin selbst, dass ihr »wahrer Wortsumpf« aus über 7oo Seiten augenblicklich auf der Bestsellerliste stand. Auch gehörte es für sie rasch zum Alltag, vor gelehrten Zirkeln, in Universitäten oder Schulen ihre Vorträge abzuhalten. Bald füllte sie Säle mit bis zu zweitausend Zuhörern, da die bizarre, aber gelungene Mischung aus abenteuerlichem Reisebericht, haarsträubend makabrem Küstengarn und wissenschaftlich fundierten Informationen ein breites Publikum begeisterte. Auch gab es bei Miss Kingsley immer was zu lachen, denn im Gegensatz zu den ‚heroischen‘ Afrikaforschern (Stanley, Burton oder Baker) nahm sie sich selbst gern aufs Korn. Doch bei einem Vortrag in einer Mädchenschule zeigten sich die jungen Damen zunächst recht enttäuscht. Eine kühne Afrikaforscherin hatten sie sich völlig anders vorgestellt. Die hagere Gestalt im steifen Seidenkleid mit dem streng gescheitelten Haar über dem Gesicht einer Dürer Madonna passte absolut nicht zu diesem Bild. Einzig das etwas schief sitzende schwarze Käppchen vermittelte den Eindruck von Verwegenheit. Ansonsten erinnerte diese Miss Kingsley an die komische Figur, die in kaum einem viktorianischen Bühnenstück fehlte: die schrullige maiden aunt ‒ die unverheiratete alte Tante. Doch dann erzählte sie Geschichten, die Miss Blake, die Schulleiterin, in höchste Alarmbereitschaft versetzten. Von Paddeltouren einer weißen englischen Lady mit schwarzen Einheimischen, die nichts am Leibe trugen, als einen knappen Lendenschurz; vom Fieber, das einen kerngesunden Menschen innerhalb von Stunden dahinrafft; von überraschend sympathischen Kannibalen; von Krokodilen, die versuchten, mit ins Boot zu klettern und weißen Buschhändlern, die fluchten, Tabak spuckten und selten völlig nüchtern waren. Noch 7o Jahre später erinnerten sich diese ehemaligen Collagegirls vergnügt an Miss Kingsleys aberwitzige Geschichten.

    Ein paar gute Ratschläge hatte Mary Kingsley auch noch parat. Wie man auf die ewig lästige Frage: »Wo ist dein Ehemann, Ma?« am besten reagiert, und sollte eine dieser jungen Damen später einmal für ethnologische Studien durch Westafrika ziehen, müsse sie unbedingt darauf achten, genügend Tauschware dabei zu haben. Erschien man nämlich als merkwürdige weiße Gestalt und wie »der Blitz aus heiterem Himmel« in einem Buschdorf, stellte neugierige Fragen und zog womöglich auch noch ein Maßband heraus, um die Leute zu vermessen, dann wurde man vermutlich als Teufel angesehen und mit ziemlicher Sicherheit erschlagen. Hatte man dagegen eine Warenkiste vorzuweisen, dann saß man als Ehrengast am abendlichen Feuer und palaverte mit den Häuptlingen, Dorfältesten und Medizinmännern. Vor allem genoss man den Schutz und das Wohlwollen der alten Damen, die überall in Afrika das Sagen hatten. Als gestrandete Buschhändlerin war Miss Kingsley einmal in der unangenehmen Lage, in einem Dorf der Fang nichts mehr zum Verkauf anbieten zu können. Keinen Handelsgin, kein Stückchen Stoff, keinen Tabak ‒ ja, nicht einmal mehr ein Duftwässerchen, das selbst bei den Damen im tiefsten Busch noch als Tauschware begehrt war. Die Fang galten als Kannibalen. Man hatte sie gewarnt, dass diese »schrecklichen Fang« hin und wieder einen Buschhändler in »handliche Stückchen« zerteilten. Doch Miss Kingsley wusste sich in jeder gefährlichen (oder gelegentlich auch absurden) Situationen zu helfen, ob sie einen angreifenden Leoparden in die Flucht schlug, unter die Affenjäger geriet oder nichts mehr zu verkaufen hatte als ihre eigene Zahnbürste, ein Paar Wollstrümpfe und ein Dutzend Blusen. Damit begann ein reges Feilschen: Baumwollblusen gegen Rohgummikugeln oder Elfenbein. Die muskulösen Krieger des Dorfes fanden diese Art Bekleidung offenbar höchst sexy. Vermutlich war es das einzige Mal, dass viktorianische Blusen mitten im Busch zum Verkaufshit wurden.

    In puncto Kleidung ging Miss Kingsley keine Kompromisse ein. Sie war fest davon überzeugt, dass man kein Recht hat »in Afrika in etwas herumzulaufen, für das man sich zuhause schämt«. Getreu dieser Devise trug sie selbst am Äquator – und in Gesellschaft von Leuten, die sich mit »etwas roter Farbe, ein paar Leopardenschwänzen und einem knappen Lendenschurz« bestens angezogen fühlten ‒ die gleiche Ausstattung wie in London. Diese bestand aus einem knöchellangen schwarzen Wollrock, einer bis zum Hals zugeknöpften Bluse mit langen Ärmeln, einem Seidenhütchen, derben Schnürstiefeln und natürlich einem Regenschirm. Damit durch den Busch zu marschieren, den Großen Kamerunberg zu besteigen oder sich durch reißende Flüsse zu kämpfen ist schon alleine eine Heldentat. Selbst beim Durchwaten der blutegelreichen Sümpfe weigerte sie sich standhaft, ihre »erdwärts gerichteten Extremitäten« in Hosen zu stecken. Man mag es heutzutage etwas seltsam finden, dass eine viktorianische Lady zwar munter über ihr Korsett plaudert, aber »lieber das Schafott« bestiegen hätte, als in Hosen herumzulaufen. Doch in spätviktorianischer Zeit galt die Hose keineswegs als harmlos. Sie war vielmehr zum Symbol geworden, für jene »kreischenden Weibsbilder«, die lautstark das Wahlrecht für Frauen forderten.

    Mit einem mageren Reisebudget von 3oo Pfund heuerte Miss Kingsley stets nur einen kleinen Trupp an schwarzen Trägern an. So mancher Afrikareisende ließ sich in der Hängematte tragen, schleppte den halben Hausrat mit und glaubte, ohne einen riesigen Vorrat an Dosen in Afrika zu verhungern. Miss Kingsley marschierte durch den Urwald oder paddelte im Kanu durch Flüsse und Mangrovensümpfe. Auf Zelt, Gummibad und ähnlich unnützen Luxus legte sie keinen Wert. Unterwegs ernährte sie sich von allem, was die »tägliche Buschküche« bot. Die bestand im Wesentlichen aus gestampftem Maniok ‒ eine Herausforderung für den robustesten Magen. Der einzige Luxus, auf den sie nicht verzichten mochte, war ein stark gebrauter englischer Tee. Welch ein Unterschied zu der Afrikareisenden, May French Sheldon, die sich mit 134 Trägern, zwei Soldaten und einem Stammeshäuptling ins Gebiet der kriegerischen Massai wagte. Während Miss Kingsley für ihre Träger wie eine »Mutterglucke« sorgte, prahlte Mrs. Sheldon damit, dass sie ihre Träger auspeitschen ließ. Tagsüber reiste die reiche Amerikanerin in einer monströsen Sänfte, abends speiste sie stilvoll an einem eigens dafür mitgebrachten Tisch. Danach ließ sie sich von ihrer schwarzen Köchin massieren. Täglich zog sie sich mehrmals um und vor Häuptlingen erschien sie mit einem Seidenkleid aus Paris, einer blonden Perücke und jeder Menge Schmuck. Ihr Gewehr hielt sie stets griffbereit und drohte, im Falle einer Meuterei sofort zu schießen.

    Auf ihrer zweiten Reise führte auch Miss Kingsley einen Revolver mit. Man hatte ihr geraten, ihn stets schussbereit zu halten. Leider stellte er auf der gesamten Reise nur ein Ärgernis dar, denn nach ihren Streifzügen durch den Urwald, bei dem sie stets bis zum Hals in irgendeinem Sumpf landete, war der »Revolver kein Schmuckstück mehr, geschweige denn zu irgendetwas nutze.« Überhaupt fand sie es idiotisch, lebensgefährlich und obendrein völlig undamenhaft, mit einem Revolver herumzufuchteln und zu drohen, dass man jemanden damit erschießt. In brenzligen Situationen, das wusste sie aus Erfahrung, erreichte man weitaus mehr mit »stundenlangem Palaver und etwas Tabak«.

    Von ihren zwei Afrikareisen 1893 und 95 kehrte Mary Kingsley mit einer erstaunlich reichen Ausbeute an Fetischobjekten, Musikinstrumenten, Fischen, Reptilien, Wasserkäfern, Moosen, Baumfarnen und Gräsern zurück. Obwohl es manchem viktorianischen Zeitgenossen schwerfiel zu begreifen, was eine über dreißigjährige ‚alte Jungfer‘ in den westafrikanischen Urwäldern und Mangrovensümpfen zu suchen hatte, erntete sie für ihre Sammelobjekte großes Lob. Sah man jedoch das Interesse für urtümliche Fischformen schon als etwas reichlich Exzentrisches an, so erforderte die Neugier für die Fetischkultur der afrikanischen ‚Wilden‘ einiges an Erklärung. Der Glaube an Fetische oder Jujus war schließlich nicht nur mit Dämonen, Hexen und bösen Geistern, sondern oft auch mit Kannibalismus und rituellen Menschenopfern verbunden. Miss Kingsley rechtfertigte ihr seltsames Hobby damit, dass sie es ihrem Vater schuldig sei, sein ethnologisches Werk zu vollenden. In Ausübung ihrer Pflichten verzieh man einer Tochter manches ‒ sogar die Fahrt ins berüchtigte Grab des weißen Mannes.

    ٭٭٭

    In der englischsprachigen Welt ist Mary Kingsley ein household name – ein Name, den jeder kennt. Bei uns ist sie dagegen fast unbekannt. Mein Interesse an Mary Kingsley liegt schon über 3o Jahr zurück. Damals durfte ich als Gasthörerin an der Cornell University einen Women‘s Studies Kurs zu besuchen. Mary Kingsley fiel als Studienobjekt zwar durch (zugunsten von Virginia Woolf), doch meine Neugier war geweckt. Ich kaufte mir den englischen ‚Türstopper‘ mit über 7oo Seiten. Beim Stöbern im Buch fand ich rasch Gefallen an der humorvollen Erzählweise. Trotz des völlig chaotischen Durcheinanders von erster und zweiter Reise hatte mich die ‚Anglerin‘ Mary Kingsley bald am Haken. Diese viktorianische Lady war nicht nur mit ‚Fisch und Fetisch‘, sondern auch mit einem schier unerschöpflichen Vorrat an Anekdoten aus Westafrika zurückgekehrt. Die fand ich – teilweise wie die Rosinen im englischen Plumpudding versteckt – in ihren beiden schwergewichtigen Büchern, in Vortragsmanuskripten, Notizbüchern, Buschjournalen, Tagebüchern und Briefen.

    Wer sich mit Mary Kingsley und ihrer Zeit beschäftigt, pflegt irgendwann ein typisch viktorianisches Hobby: das Sammeln. In meinem Fall von Biographien und Büchern reisender Frauen. So manche viktorianische Lady veröffentlichte interessante Reiseberichte, doch keine schrieb auch nur ansatzweise so salopp und witzig wie Mary Kingsley. Die folgende Reiseerzählung ist der Versuch, durch die ‚Wortsümpfe‘ der Originalliteratur einen halbwegs plausiblen Pfad zu finden. Vor allem die ausführliche Biographie A Voyager Out von Katherine Frank diente mir dabei als Kompass. Wichtiger als die exakte Reiseroute war mir allerdings, den humorvoll anekdotischen Stil der Mary Kingsley zu erhalten.

    Die Fahrt ins Grab des weißen Mannes

    Es war 1893, als ich mich plötzlich im Besitz von fünf oder sechs Monaten sah, die ganz allein mir selbst gehörten. Das war mir in den 3o Jahren meines Lebens noch nie zuvor passiert. Ich fühlte mich daher wie ein kleines Kind, das völlig unverhofft ein Geldstück findet, denn jetzt stand ich vor der großen Frage: »was fange ich damit wohl am besten an?«

    »Geh' und studier' die Tropen«, riet mir die Wissenschaft. Aber wohin, um Himmels willen, sollte ich denn gehen? Tropen sind schließlich Tropen, wo auch immer man sie auf diesem Erdball findet. So holte ich mir den Atlas herunter und erkannte, dass mein Ziel Südamerika oder Westafrika heißen müsse, denn der Malaiische Archipel lag für meine bescheidenen Finanzen viel zu weit weg. Schließlich entschied ich mich für Westafrika, was mir umso leichter fiel, da ich über die tatsächlichen Lebensbedingungen in dieser Region so gut wie gar nichts wusste.

    Um ganz ehrlich zu sein, meine Wissenslücke in Sachen Westafrika war schon recht beachtlich. Was ich zu wissen glaubte, stammte aus Büchern. Das meiste erwies sich vor Ort genauso unnütz wie die Flut an höchst kuriosen Informationen, die zu diesem Zeitpunkt über mich hereinbrach. Ich benütze das Wort kurios ganz bewusst, denn wie mir schien, deutete man meine Bitte um praktische Hinweise als: »Hier wird man jeden Unsinn los«. Anfangs bemühte ich mich noch, diese merkwürdigen Ratschläge zu ordnen. Doch damit scheiterte ich kläglich. Zum Glück fiel mir schließlich auf, dass sie fast samt und sonders zu einem der folgenden Kapitel passten:

    ◆ Die Gefahren Westafrikas

    ◆ Die schlechten Seiten Westafrikas

    ◆ Die Krankheiten Westafrikas

    ◆ Was man unbedingt nach Westafrika mitnehmen muss

    ◆ Das Schlimmste, was man in Westafrika tun kann.

    Zunächst hatte ich mich bei all meinen Freunden erkundigt, was sie über Westafrika wussten. Die meisten wussten überhaupt nichts. Der eine oder andere meinte jedoch: »Da kannst Du unmöglich hinfahren. Sierra Leone liegt dort, das Grab des weißen Mannes«. Auf weitere beharrliche Fragen kam dann gelegentlich heraus, dass ein junger Mann aus ihrer Familie dort hingeschickt wurde, nachdem er zum ‚hoffnungslosen Fall‘ geworden war. Die meisten dieser schwarzen Schafe hatten inzwischen nicht nur Westafrika, sondern auch diese Welt verlassen, und damit war ihnen vergeben und alles vergessen.

    Eine ältere Dame erinnerte sich noch deutlich an einen Bekannten. Als kerngesunder junger Mann (und, wie sie betonte, keinesfalls als schwarzes Schaf) war er nach Fernando Po gezogen. Mit vierzig kehrte er von dort zurück, nur noch ein menschliches Wrack, vom Fieber so sehr geschüttelt, dass er bei Tisch den Kerzenständer umwarf. Der wiederum zerstörte ein teures Teeservice samt dem Silberkännchen in der Mitte. Nein, es gab keinen Zweifel: dieser Ort war ungesund!

    Als mich ein früherer Kollege meines Vaters besuchte, nutzte ich die Gelegenheit einen Arzt ins Kreuzverhör zu nehmen. Er beschrieb mir Westafrika mit dem Enthusiasmus des Mediziners als »das tödlichste Fleckchen Erde« – und bewies mir das anhand von Karten. Nun möchte ich nicht behaupten, dass irgendein Land in giftgrün oder gallengelb einladend aussieht. Aber diese Farben deuteten ja möglicherweise auf das fehlende künstlerische Talent des Kartographen hin. Die Farbe Schwarz ließ dagegen keinen Irrtum zu. Und die Karte von Westafrika zeigte sich in rabenschwarz, von Sierra Leone bis über den Kongo hinaus. »Wer lebend von dort zurückkommt«, warnte mich der Doktor, »ist von höchstem Interesse für jeden, der Tropenkrankheiten studiert. Du solltest besser nach Madeira fahren«. Wer mich jedoch näher kennt, weiß, dass ich gelegentlich stur bin wie ein alter Esel. Appelle an meine Vernunft sind dann meist zwecklos. Schließlich gab er auf, erklärte mich für völlig verrückt, bestellte aber danach alle möglichen Dinge, die ich ihm unbedingt aus Afrika mitbringen müsste. Auf was ich mich da einließ wurde mir erst klar, als sich noch weitere Auftraggeber bei mir meldeten. Irgendwann reichte meine Auftragsliste von London bis nach New York.

    Keiner meiner Informanten versäumte es, mich auf die Missionare1 hinzuweisen. Die gäbe es dort unten wie Sand am Meer. Also widmete ich mich mit Feuereifer der Missionarsliteratur. Leider fand ich bald heraus, dass diese guten Leute nichts davon berichteten, wie es in dem Land, in dem sie lebten, tatsächlich aussah. Stattdessen erfuhr ich, wie es sich – langsam aber sicher, dank unermüdlicher Missionsarbeit – in die gewünschte Richtung hin entwickelte. Auch fehlte nirgends der deutliche Hinweis, dass man großzügige Spenden von mir erwartete. Trotz allem vermittelten mir die Missionare den ersten Eindruck über die sozialen Verhältnisse in Westafrika. Ich begriff, dass dort in erster Linie eingeborene menschliche Wesen hausten – das Rohmaterial sozusagen. Diese Wesen entwickelten sich zum Guten, sobald sich ein Missionar um die Rettung ihrer ‚armen schwarzen Seelen‘ kümmerte. Oder zum Schlechten, wenn ein Händler sie zum Schnapskonsum verführte. Es gab dort auch noch die Vertreter der Regierung. Nach Meinung des Missionars bestand deren wichtigste Aufgabe darin, seine Arbeit voll und ganz zu unterstützen. Diese Funktion erfüllten die Beamten zwar, doch ohne allzu großen Eifer. Diese Händler jedoch – nun, für mich gehörten sie Augenblicks zum Kapitel ‚Gefahren Westafrikas‘.

    Schließlich fand sich in meinem Bekanntenkreis doch noch ein echter Old Coaster. Dieser Mann hatte tatsächlich sieben Jahre lang an der Küste gelebt, und da er trotz des langen Aufenthalts im tödlichsten Fleckchen dieser Region noch recht gesund und munter wirkte, war ich auf seine Ratschläge sehr gespannt. Als er von meinem festen Entschluss hörte, nach Westafrika zu reisen, meinte er prompt: »dann ist es das Klügste, Sie packen diesen Entschluss, werfen ihn über Bord und fahren stattdessen nach Schottland. Tun Sie das nicht, dann setzen Sie sich wenigstens nicht direkt den Sonnenstrahlen aus. Nehmen Sie zwei Wochen bevor Sie die Flüsse und Sümpfe erreichen jeden Tag vier Gran Chinin und freunden Sie sich mit den Methodisten an. Die sind als einzige in der Lage, Ihnen ein feierliches Begräbnis auszurichten.«

    Als Nächstes galt meine volle Aufmerksamkeit dem Kapitel: Was man unbedingt mitnehmen muss. Leider ließen sich zu diesem Zeitpunkt die Schleusen für gute Ratschläge nicht mehr schließen. Meine Freunde, wie auch deren Freunde, schienen unter der irrigen Vorstellung zu leben, dass ich einen Dampfer anzuheuern gedachte und unermesslich reich sei. Mit dankbarer Miene zuzuhören war das Einzige, was mir in dieser Situation noch übrigblieb. Sie überschütteten mich mit den verschiedensten Chinin Präparaten, schenkten mir Senfblätter, mehrere Patentfilter, sowie eine Wärmflasche. Zu guter Letzt gesellte sich noch eine riesige quadratische Flasche dazu. Sie gab vor, Malz und Lebertran zu enthalten. Dieser Inhalt rebellierte gegen die afrikanische Hitze, hob in seinem Zorn den Korken und enthüllte sich als effektiver, aber nicht allzu wohlschmeckender Leim.

    Sowohl die Dinge, die ich mitzunehmen hatte, als auch die Dinge, in denen ich sie mitzunehmen hatte, gestalteten sich so langsam zum Problem. Ich lauschte unzähligen Geschichten über Reisetruhen, Koffer oder Taschen. Alle hatten sie unschätzbare Dienste geleistet. Aber wie nicht anders zu erwarten, unterschieden sie sich allesamt in Größe, Form und Material. Völlig verwirrt erwarb ich lieber gar kein neues Gepäckstück, bis auf einen langen wasserdichten Sack, mit einem Griff am oberen Ende und einem Riegel, der ihn fest verschloss. In ihm verstaute ich meine Reisedecken, Stiefel, Bücher, kurzum alles, was nicht mehr in den Portmanteau oder in die schwarze Reisetasche passte. Anfangs verfolgte mich die Schreckensvision, dass sein Boden platzen könnte. Doch bis auf die Tatsache, dass er stets höchst eigenmächtig entschied, wie der Inhalt eines Seesacks geordnet zu sein hatte, diente er mir treu während der gesamten Reise.

    ٭٭٭

    Ende Juli war alles fertig gepackt, bereit zur Abfahrt. Trotzdem erreichten mich noch Chinin Präparate (meist mit nur teilweise bezahlter Postgebühr) bis zum letzten Augenblick. Kurz vor meiner Abreise schickte mir noch jemand zwei Zeitungsausschnitte. Der Titel des Ersten lautete: ‚Eine Woche auf einer Palmölwanne‘. Er beschrieb, wie man auf einem Dampfer nach Westafrika untergebracht sei, welcher Spezies Mitmensch und welcher Art von Fauna man höchstwahrscheinlich begegnen würde. Der zweite Ausschnitt rezensierte ein französisches Wörterbuch für ‚Gebräuchliche Ausdrücke in Dahomey‘. Ein Beispiel daraus begann mit dem Satz: »Hilfe, ich ertrinke!«. Danach kam die Frage: »Wenn ein Mann kein Dieb ist?«, gefolgt von dem Aufschrei: »das Boot ist gekippt!«. »Steht auf, faules Gesindel!« hieß die nächste Aufforderung, der fast unmittelbar die Frage folgte: »wieso wurde dieser Mann nicht beerdigt?«. »Ein Fetisch hat ihn getötet. Deshalb muss er unbedeckt hier liegen bleiben, bis nur noch seine Knochen übrig sind«, lautete die fröhliche Antwort. Für jemanden, der oft im Boot unterwegs sein würde, und der den festen Vorsatz hegte, Fetische zu studieren, klang das alles wenig ermutigend. Daher verließ ich London mit einem Gefühl herannahenden Unheils und fuhr nach Liverpool ‒ nicht gerade aufgeheitert durch die nüchterne Mitteilung der dort ansässigen Reederei, dass sie für ihre westafrikanische Dampfschiffslinie keine Rückfahrtickets ausstellten. Auch der Anblick des uralten Frachters, der mich an die Küste bringen sollte, war ganz und gar nicht dazu angetan, den unerfahrenen und durch düstere Prophezeiungen verschreckten Afrikareisenden zu beruhigen. Schmutz und Gier schienen die hervorstechendsten Eigenschaften dieser Palmölwanne zu sein. Während der Schmutz im Laufe der nächsten Wochen unter einer dicken Schicht Farbe verschwand, blieb ihre unersättliche Gier nach Ladung erhalten. Leichter um Leichter legte bei ihr an. Ihre Ladeluken füllten sich mit Gütern aller Art. Doch sie war keineswegs damit zufrieden und pfiff und quarrte ohne jede Scham nach mehr.

    ٭٭٭

    In der Biskaya frischte der Wind auf. Das Deck leerte sich rasch, da ein Passagier nach dem anderen eiligst in seiner Kabine verschwand. Gewaltige Brecher donnerten über die Reling, weshalb mich der Kapitän nach unten schickte, in den Salon. Der lag bei diesem Veteranen der Handelsflotte noch hinten (oder achtern, wie der Seemann sagt). Um dort nicht mitsamt einer Tonne des vierten Elements zu erscheinen, galt es gewisse Vorsichtsmaßregeln zu beachten. Man hob rasch drei Kokosmatten hoch, schloss drei Türen hinter sich und brüllte einmal kräftig »Bill«. Da niemals ein Bill erschien, hielt ich ihn schließlich für die Beschwörungsformel eines Wetter-Jujus2. Etwas voreilig, wie sich bald zeigte. Während einer besonders wilden Sturmnacht weckte mich erschreckendes Gepolter aus dem Salon. Als ich hinübereilte, fand ich dort die Stewardess bereits eifrig damit beschäftigt, nach der Ursache des Lärms zu forschen. Keine einfache Aufgabe in dem trüben Licht, denn die Lagos gehörte nicht zu den Dampfern, die ihr Geld für Elektrizität verschwendeten. Doch gemeinsam entdeckten wir schließlich das Piano, das nicht mehr auf seinem Podium stand, sondern ziellos durch den Raum irrte. Entschlossen stürzten wir uns auf das Ungetüm, navigierten es geschickt um eine Palme samt Topf, hielten unverzagt unseren Kurs trotz des Hagels aus Worcestersauce- und Bierflaschen, der uns vom Regal her traf, und brüllten dabei aus Gewohnheit kräftig »Bill«. Und Bill erschien als rotblonder Steward ‒ ein liebenswürdiger Mensch in höchst erstaunlichem Gewand.

    ٭٭٭

    Die Spezies Old Coaster ist überall an der Küste Westafrikas

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