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Drachenkopf Chroniken: Drachenkopf
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eBook722 Seiten10 Stunden

Drachenkopf Chroniken: Drachenkopf

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Über dieses E-Book

Nachdem die Waise Mirin jahrelang erfolglos auf der Suche nach ihrer verschollenen Schwester durch das Land gezogen ist, beschließt die junge Magierin, der berüchtigten Gilde Drachenkopf beizutreten. Doch es herrschen unruhige Zeiten im Königreich Vruhdloan: Schon seit Anbeginn des Jahrhunderts terrorisiert der Magierbund der Schattenwölfe das Land, überfällt hilflose Bürger und legt ganze Landstriche in Schutt und Asche. Und als Mirin auf einem Auftrag dem jungen Schattenwolf Shado zur Flucht verhilft, gerät sie selbst in eine gefährliche Schicksalsspirale, die sie immer weiter in das Visier der Verbrecher zieht.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum1. Feb. 2021
ISBN9783347227118
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    Buchvorschau

    Drachenkopf Chroniken - J. E. Curtz

    Begegnung

    Das Meer rauschte, der Wind pfiff über das Deck des Schiffes hinweg, Möwen drehten am Himmel kreischend ihre Runden. Mirin stand an der Reling und blickte in die weite Ferne hinaus. Die pralle Sonne schien erbarmungslos auf ihren schwarzen Umhang und gab ihr das Gefühl, gekocht zu werden. Mirin hätte die Sonne hassen können, wären da nicht gleichzeitig so viele schöne Erinnerungen mit ihr in Verbindung gewesen. Um genau zu sein, waren es die einzigen schönen Erinnerungen, die ihr noch verblieben waren.

    »Fräulein«, rief eine Stimme hinter ihr. Mirin drehte sich um. In einigem Abstand, als würde er ihre Nähe meiden wollen, stand ein Matrose. »Wir legen gleich an«, rief er. Mirin wandte sich von der Reling ab, ging so dicht wie nur möglich an dem Mann vorbei – sie konnte aus den Augenwinkeln sehen, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief – und schloss sich der Menschenmenge an, die sich am Bug des Schiffes versammelt hatte. Sie war zu klein, um über die Leute hinwegzuschauen, doch durch einige Lücken konnte auch sie einen Blick auf die immer näher kommende Stadt Havenau werfen. Mirins Herz schlug schneller; den größten und mühsamsten Teil ihrer Reise hatte sie nun endlich bewältigt. Das Meer lag hinter ihr und mit der Kutsche konnte es nicht mehr lange dauern, bis sie ihr Ziel erreicht hatte. Mit einem Ruck stieß das Schiff gegen die Kaimauer, die Menschen, die sich nicht an der Reling festhalten konnten, taumelten und auch Mirin war bemüht, das Gleichgewicht zu halten. Dann blieb das Schiff stehen und die Matrosen schoben eine Holzplanke vom Deck ans Ufer. Die Menschen strömten vom Schiff, drängelten und schubsten, sodass Mirin es für besser hielt, vorerst an Ort und Stelle zu verharren, bevor sie noch ins Wasser fiel. So kam es, dass sie das Schiff als Letzte verließ. Mirin lief die ächzende und schwankende Holzplanke hinunter und stolperte auf die Kaimauer. Sie hatte sich schon so sehr an den hohen Seegang auf dem Nordmeer gewöhnt, dass es ihr während der ersten Schritte schwer fiel, wieder auf festem Boden zu laufen. Als Mirin den Fischmarkt betrat, hatte das Schiff bereits wieder abgelegt. Sie blickte ihm noch eine Weile nach, dann warf sie sich die Kapuze über den Kopf und tauchte in der Menge unter. Sie war so viele Menschen auf einem Fleck wie hier alles andere als gewohnt. Zu Beginn ihrer Reise hatte Mirin einsame Wanderwege bevorzugt, doch irgendwann hatte sich das nicht mehr umsetzen lassen.

    Sie lief im Zick-Zack, um ja niemanden zu berühren, und flitzte zwischen den Menschen hindurch, um den neugierigen Blicken, die sie wohl ihrer schweren, schwarzen Kleidung zu verdanken hatte, zu entgehen. Dies gelang ihr auch recht gut, bis sie schließlich selbst von einer dunklen Gestalt in zerschlissenem Umhang angerempelt wurde. Für einen winzigen Augenblick schien die Welt stehenzubleiben, ein Windzug wehte Mirin die Kapuze vom Kopf und ließ ihre feuerroten Haare hervorquellen. Die Gestalt zog an ihr vorüber wie ein Lufthauch und Mirin konnte flüchtig das Gesicht eines Mädchens erkennen, nicht viel älter als sie selbst. Irgendetwas an diesem Gesicht erschien ihr bekannt, beinahe vertraut, doch sie konnte es nicht erfassen.

    »Entschuldigung«, murmelte das Mädchen, dann verschwand es auch schon wieder in der Menge.

    Verwirrt blieb Mirin stehen und blickte dorthin, wo gerade eben noch die junge Frau gestanden hatte, bis die Menschen, die sich um sie herum drängten, sie wieder in die Wirklichkeit zurückholten. Schnell huschte Mirin in eine schmale, dunkle Gasse, lehnte sich gegen die angenehm kühle Hauswand und spürte ihr Herz bis zum Hals schlagen. Was war das gerade gewesen? Für einen kurzen Augenblick war da ein Bild vor ihrem inneren Auge erschienen, Gedanken waren ihr durch den Kopf geschossen, Gedanken, die sie vor langer Zeit schon einmal gehabt hatte – doch sie konnte nicht sagen, in welchem Zusammenhang. Mirin schloss für einen Moment die Augen, versuchte ihre durcheinandergeratenen Gedanken zu ordnen und blickte dann auf ihre Hände. Sie erinnerte sich kaum an ihre Kindheit. Die Erinnerungen, die sie hatte, waren alle am selben Ort, mit derselben Person. Doch Mirin wusste, dass vor dieser Epoche ihres Lebens noch eine andere gewesen war – eine andere Zeit, beinahe ein anderes Leben.

    Ein eigenartiges Geräusch direkt an ihrem Ohr riss sie aus ihren Gedanken, Mirin fuhr herum und entdeckte den kleinen Dämon, der neben ihr in der Luft schwebte. Sie sah sich um und vergewisserte sich, dass niemand in ihrer Nähe war, dann drehte sie sich wieder zu dem Dämon.

    »Wo warst du?«, fragte sie leise.

    Der Dämon legte den Kopf schief und sah sie vorwurfsvoll an. »Was soll das heißen?«, erwiderte Mirin. »Willst du mir etwa sagen, es ist meine Schuld?«

    Der Dämon nickte. Mirin senkte betrübt den Blick. Das war nicht das erste Mal, dass ihr so etwas passierte. Sie war die einzige, die diesen kleinen Dämon sehen und wahrnehmen konnte. Vor vielen Jahren war er plötzlich wie aus dem Nichts erschienen und seitdem reiste er stets als ein treuer und liebevoller Freund an ihrer Seite. Es hatte Mirin eine lange Zeit gebraucht, um herauszufinden, dass er nur für sie sichtbar war, schließlich hatte sie den Kontakt zu anderen Menschen jahrelang weitestgehend gemieden. Der Dämon, den sie liebevoll Klienfrin getauft hatte, was auf Norddrakonisch kleiner Freund bedeutete, war nie von ihrer Seite gewichen, doch in den letzten Wochen war es des Öfteren geschehen, dass er plötzlich ohne jegliche Spur verschwand, als würde er sich in Luft auflösen. Meistens bemerkte Mirin sein Verschwinden erst, wenn er unbemerkt wieder auftauchte. Sie hatte den Verdacht, dass er immer dann verschwand, wenn sie seine Anwesenheit völlig vergaß, wenn etwas Anderes für längere Zeit ihre komplette Aufmerksamkeit verlangte. Es machte ihr Angst. Angst, dass er eines Tages für immer und ewig verschwinden und nie wieder zurückkehren würde.

    »Tut mir leid«, murmelte Mirin. »Ich werde versuchen, besser aufzupassen.«

    Klienfrin gab eine Art Schnurren von sich und stupste sie aufmunternd an. Mirin schmunzelte. Der Dämon fletschte die winzigen Zähne, als würde er versuchen zu grinsen, und im gleichen Moment tönte ein lautes Grummeln aus Mirins Bauch. Gequält verzog sie das Gesicht, als sich ihr Magen vor Hunger zusammenzog. Es war lange her, dass sie das letzte Mal etwas gegessen hatte, um genau zu sein war es vergangenen Abend gewesen, als sie vor ihrer Schiffsreise von Fiskau nach Havenau den letzten Rest ihres Geldes für ein kleines, zähes Brötchen ausgegeben hatte.

    Mirin seufzte. »Scheint, als müsste ich noch einmal betrügen«, meinte sie.

    Klienfrin stimmte in ihr Seufzen mit ein. Mirin streckte die Hand aus, dunkle Schwaden stiegen aus ihrer Haut hervor und formten sich zu Münzen, perfekt geprägt wie echtes Geld, doch sie waren allesamt pechschwarz. Verärgert warf Mirin die Münzen fort und versuchte es erneut. Diesmal gelang es ihr und ehe sie sich‘s versah, konnte sie ihren Geldbeutel mit einer Handvoll silberner und goldener, täuschend echt aussehender Münzen füllen. Mirin zog sich die Kapuze über den Kopf, dann holte sie tief Luft und schloss sich wieder der Menschenmenge auf der Hauptstraße an.

    Nachdem Mirin ihren Hunger in einem kuschligen Wirtshaus gestillt hatte, flüchtete sie sich vor den Menschenmassen und der prallen Mittagssonne in den Stadtpark, eine schattige, bewaldete Grünfläche mitten im Zentrum Havenaus. Obwohl etliche Verkehrswege um den Park herum verliefen, war es hier angenehm ruhig und still. Mirin hatte sich unter einer großen Eiche niedergelassen und ließ ihren Blick durch den Park schweifen. Kinder spielten auf den Wiesen, während die Eltern beim Picknick beisammensaßen, Reisende wie sie ruhten sich im Schatten der Bäume aus und ganz in der Nähe entdeckte Mirin sogar eine Gruppe von Wächtern, die scheinbar eine Mittagspause einlegten.

    Die Wächter. Mirin hatte nie viel mit ihnen zu tun gehabt, doch es war unmöglich, ihnen in diesem Land aus dem Weg zu gehen. Nur Elfen konnten Wächter werden – dieses Gesetz galt, seit das Elfenvolk begonnen hatte, Frieden und Gerechtigkeit in Vruhdloan zu hüten und zu bewahren. Mirin wusste nicht viel über die Justiz, schließlich war sie fernab der Zivilisation aufgewachsen. Doch sie wusste, dass die Wächter in jeder Stadt und jedem Dorf umherzogen und darauf achteten, dass alles rechter Dinge zuging. Selten hatten einige von ihnen Trolle an ihrer Seite, doch meist kamen sie ohne die Hilfe dieser grobschlächtigen, dummen Kreaturen zurecht. Jeder Mensch trat den Elfen mit Ehrfurcht gegenüber und dies lag nicht nur an der Position, die sie innehatten, sondern auch an dem Charakter, den ein jeder von ihnen besaß. Alles, was Mirin bisher von den Elfen mitbekommen hatte, war, dass sie Menschen gegenüber hochnäsig und überheblich waren. Sie hielten sich für etwas Besseres, nur weil sie im Gegensatz zu den Menschen spitze Ohren hatten und mehrere hundert Jahre lebten. Die meisten Menschen hegten eine Abneigung gegen die Elfen, doch niemand protestierte jemals gegen ihre indirekte Herrschaft. Denn, so eingebildet sie auch waren, man musste den Elfen lassen, dass sie einen stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn besaßen, äußerst diszipliniert waren und dass sie niemanden aus Mitleid verschonen würden, wie Menschen es oft zu tun pflegten.

    Vruhdloan war ein Königreich. Der König, ein Mensch, wurde von seinem Vorgänger vorgeschlagen und die Bürger konnten entscheiden, ob sie den Vorschlag annahmen oder nicht – so wurde in diesem Land der König gewählt. Doch um ehrlich zu sein, war sich Mirin nicht sicher, wie viel Macht der König wirklich besaß, denn auch er musste sich wie jeder andere dem Gesetz der Elfen beugen. Es war ihm nicht erlaubt, gegen dieses Gesetz zu verstoßen und wenn er es täte, würde für ihn die gleiche Strafe anfallen wie für einen einfachen Bürger. Dennoch schien es die Menschen aber auf eine gewisse Art und Weise zu besänftigen, dass an ihrer Spitze nach wie vor einer von ihnen stand. Mirin wollte sich gar nicht ausmalen, was geschehen würde, wenn auch nur für ein Jahr ein Elf über das Volk herrschen würde. Die Menschen würden alles daran setzen, ihn vom Thron zu stürzen, ohne Zweifel.

    Mirin wurde aus ihren Gedanken gerissen, als ihr Blick auf ein Mädchen fiel, das unter einem Baum saß und eifrig etwas in ein Buch schrieb. Sie trug einen neuen Umhang, doch es war ohne Zweifel das Mädchen, das sie zuvor auf der Straße angerempelt hatte. Mirin beobachtete das Mädchen neugierig, dann stand sie auf und ging zu ihm hinüber. Klienfrin, der neben ihr im Gras saß, legte den Kopf schief und sah ihr verwundert hinterher. Das Mädchen blickte auf, als es Mirins Anwesenheit spürte. »Hallo«, sagte Mirin verlegen. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie wusste nicht einmal, was sie hier überhaupt tat. Warum sie das tat. Sie war nie einfach so auf irgendeinen fremden Menschen zugegangen – warum tat sie es ausgerechnet jetzt?

    »Hallo«, erwiderte das Mädchen lächelnd.

    »Du bist das Mädchen von vorhin«, meinte Mirin stockend. Ihr Gegenüber schien zu überlegen. Dann erinnerte sie sich. »Ach ja«, meinte das Mädchen. »Ich habe dich angerempelt. Entschuldige noch einmal.«

    »Kein Problem«, erwiderte Mirin.

    Sie betrachtete das Mädchen. Es musste etwa so alt sein wie sie selbst, vielleicht auch etwas älter. Das Mädchen hatte lange blonde Haare, die ihm offen über den Rücken fielen, eine kleine Strähne aber hatte es zu einem Zopf geflochten und mit einer silbernen Perle geschmückt. Das Mädchen schloss das Buch in ihrer Hand und rückte ein Stück zur Seite.

    »Du kannst dich ruhig hinsetzen«, bot es an.

    »Ah, ja«, stammelte Mirin, »Danke.«

    »Mein Name ist Seraina«, sagte das Mädchen, als Mirin sich hingesetzt hatte. »Wie heißt du?«

    »Mirin.«

    »Du bist auch Reisende, oder?«, vermutete Seraina.

    Mirin nickte. »Ich bin vor ein paar Stunden mit dem Schiff hier angekommen«, sagte sie. »Allerdings darf ich mich nicht allzu lange ausruhen, wenn ich vor Abend noch mein Ziel erreichen will.«

    »Ich denke, ich werde den Tag über noch hier bleiben«, meinte Seraina. »Ich bin ziemlich lange gereist, da brauche ich nun etwas Ruhe. Und Havenau ist eine schöne Stadt, um eine Rast einzulegen.«

    »Ich glaube, ich würde schnell durchdrehen, wenn ich noch länger in so einer großen und belebten Stadt verbringen müsste«, erwiderte Mirin schmunzelnd.

    »Für mich ist es auch ungewohnt«, meinte Seraina. »Aber ehrlich gesagt bin ich ganz froh, endlich mal wieder unter Menschen zu sein.«

    »Wohin reist du eigentlich?«, fragte Mirin neugierig.

    »Nach Drakenberg«, antwortete Seraina. »Eventuell werde ich noch weiterziehen, aber mein Plan ist es, erst einmal dort zu bleiben.«

    »Ich gehe auch nach Drakenberg«, meinte Mirin freudig. »Vielleicht sehen wir uns dort.«

    Seraina lächelte. »Vielleicht.«

    Mirin stand auf. »Ich sollte mich langsam auf den Weg machen«, sagte sie. »Die nächste Kutsche fährt bestimmt bald.« Seraina nickte. »Gute Reise.« »Dir auch«, erwiderte Mirin und wandte sich ab.

    Klienfrin hatte sich in der Zwischenzeit aufgerappelt und flatterte nun zu ihr hinüber, um sich auf ihre Schulter zu setzen. Mirin lief über die Wiese, vorbei an den spielenden Kindern, vorbei an den Wächtern, zurück zur Hauptstraße. Nach einigen Minuten lichteten sich die Bäume und Mirin konnte das Rattern der Kutschen auf dem Kopfsteinpflaster hören, dann endete die Grünfläche unter ihren Füßen und sie stand auf der Straße. Orientierungslos schaute Mirin sich um, doch alles, was sie sah, war ein Gewusel von Menschen, Tieren und Kutschen, die an ihr vorbeifuhren. Sie hatte nicht den blassesten Schimmer, wohin sie gehen musste. Mirin blickte den Kutschen hinterher und überlegte. Vielleicht musste sie ihnen folgen. Vielleicht würden sie sie zu einem Sammelplatz führen, an dem sie in eine Kutsche nach Drakenberg steigen konnte. Gesagt, getan. Mirin folgte dem Weg der Kutschen und nachdem sie einmal den Park umrundet hatte, eröffnete sich ein weiter, ausladender Platz vor ihr. Der Platz war in vier Teile unterteilt; jedem davon war auf einem großen Holzschild eine Himmelsrichtung zugeordnet. Mirin wartete, bis die Straße vor ihr für einen Moment frei wurde, dann flitzte sie schnell auf die andere Seite. Um nach Drakenberg zu kommen, würde sie eine der Südkuschen nehmen müssen. Aber welche?

    Unsicher ging Mirin zwischen den Kutschen umher und sah sich um. An einigen waren Schilder aufgehängt, auf denen die Fahrrouten beschrieben standen. Mirin überflog die Aufschriften: Raizsted, Kungbrück; Kungbrück; wieder Kungbrück… Das war nicht weiter verwunderlich, schließlich war Kungbrück die glänzende Hauptstadt des Landes. Mirin war selbst noch nicht dort gewesen, doch sie hatte schon viele Menschen von der überwältigenden Größe und Pracht dieser Stadt reden hören. Zudem befanden sich dort der Königspalast und das Justizzentrum.

    Klienfrins Geschnatter ließ Mirin aufschrecken. Sie blickte an der Kutsche vor sich hoch und sah auf dem Schild in großen Lettern Drakenberg prangen. Ihr Herz machte einen freudigen Sprung und sie schwang sich die Stufen hinauf in den Wagen.

    »Drei Goldtaler«, erklang die schroffe Stimme des Kutschers. Mirin schluckte. Das war viel. Natürlich – dass sie daran nicht gedacht hatte, als sie diese edle Kutsche gesehen hatte. Mirin öffnete ihren Geldbeutel und zählte die Münzen darin. Es waren zwölf Silbertaler und ein Goldtaler. So unauffällig wie nur möglich formte Mirin mit den Händen im Beutel zwei weitere, dann drückte sie dem Kutscher das Geld in die Hand. Dieser hob in einer Mischung aus Verwunderung und Skepsis die Augenbraue; kein Wunder, denn Mirin sah schließlich nicht aus wie jemand, der Geld besaß, und ohne ihre Magie würde sie das auch nicht. Dann jedoch nickte er und ließ sie einsteigen. Mirin ging zwischen den Sitzreihen hindurch bis zum Ende des Wagens und setzte sich in eine Ecke. Sie spürte die Blicke ihrer Mitreisenden, wohlhabende Kaufleute und Wächter, Blicke des Misstrauens, ja sogar der Abneigung, doch sie ließ sich davon nicht stören und blickte aus dem Fenster. Bald würde sie in Drakenberg sein und das war alles, was zählte. Bald würde ihre Reise endlich ein Ende haben. Bald würde sie als Magierin der Drachenkopf-Gilde beitreten.

    Als wir uns trafen, hätte ich nie in Erwägung gezogen, dass ich diesem Mädchen schon einmal begegnet sein könnte, und noch weniger hätte ich damit gerechnet, es so bald wiederzusehen. Geschweige denn, dass unsere Wege schon von Beginn an so eng miteinander verbunden waren…

    Unter den Schwingen des Drachen

    Neben den üblichen Geschäften wie Bäckereien, Schneidereien, Schmieden und Derartigem gab es in Vruhdloan die Gilden. Handwerksgilden, Kaufmannsgilden, auch die eine oder andere illegale Räubergilde und nicht zuletzt die Magiergilden. Von dieser Art gab es nur sehr wenige, jedoch waren sie nicht von minder großer Bedeutung; denn immer öfter waren die Wächter auf die Unterstützung von Magiern angewiesen, sei es für die Entwicklung neuer Technologien oder die Verfolgung von Verbrechern. Denn Elfen waren, so viele andere Fähigkeiten sie auch besitzen mochten, nicht dazu in der Lage, Magie anzuwenden. Jahrhundertelang waren sie damit zurechtgekommen, doch eines Tages hatte sich in der Unterwelt des Landes etwas zu regen begonnen. Eine Gruppierung von Magiern hatte sich zum Ziel gesetzt, die Menschen zu terrorisieren, sie zerstörten Felder, Häuser, ja, ganze Städte hatten sie bereits dem Erdboden gleichgemacht. Den Wächtern fiel es zunehmend schwerer, gegen diese Gruppierung, deren Mitgliederzahlen stetig zu steigen schienen, anzukommen. Die Geburt dieser Organisation war der Moment gewesen, in dem die bisher ärmlichen und nach Arbeit lechzenden Magiergilden zu neuem Leben erwachten.

    Der Elf seufzte, als er seine Augen über die niedergebrannten Felder schweifen ließ. Die Bauernfamilie stand zitternd hinter ihm und blickte verzweifelt auf die Überreste ihrer Lebensgrundlage. Sie selbst waren unverletzt geblieben.

    »Sie werden für eine Weile Geld zur Versorgung zugestellt bekommen, bis die Felder wieder bestellbar sind«, beruhigte ein zweiter Elf die Familie, doch der Bauer schüttelte den Kopf. »Wer weiß, wie lange das dauern wird«, klagte er. Der erste Elf stand nach wie vor unbewegt da und starrte auf das Feld hinaus. »Waren das die Schattenwölfe?«, fragte er.

    »Ganz bestimmt«, sagte die Frau des Bauern. »Niemand sonst wäre dazu in der Lage, so eine Verwüstung anzurichten.«

    Der Blick des Elfen verfinsterte sich. Er wartete schon sehnlichst auf den Tag, an dem die Justiz diese Gruppe endlich ein für alle Mal auslöschen würde.

    Beschwingt lief Mirin die leere Straße entlang, die über die Wiesen zum See hinunter führte. Es hatte bereits zu dämmern begonnen, als die Kutsche den Gebirgspass, der nach Drakenberg führte, durchquert hatte. Die rote Sonne stand tief über dem Wald jenseits des großen Sees und tauchte die Stadt hinter Mirin in ein goldenes Licht. Die Temperaturen waren gesunken, doch es war noch immer angenehm warm, die Grillen zirpten im hohen Gras und eine Entenfamilie watschelte Mirin entgegen. Sie schreckten nicht vor ihr zurück. Mirin machte den Tieren Platz und blickte nach vorne. Am Ende des Weges, nahe beim See und dicht an dem mächtigen Drachenberg, der dieser Stadt ihren Namen gegeben hatte, stand die Gilde: Drachenkopf. Sie war schon immer eine berühmte Gilde gewesen. Das lag daran, dass sie aus dem üblichen Gildensystem herausstach. Denn Drachenkopf war weder eine Kaufmanns-, Handwerks- oder Magiergilde; bei Drachenkopf wurde – so war es Mirin zu Ohren gekommen – jeder aufgenommen, ob einfacher Gaukler oder Magier.

    Lange Zeit war Mirin heimatlos durch das Land gezogen, ohne ein Ziel vor Augen, ohne einen Plan, wohin sie gehen sollte. Als sie eines Tages in einer kleinen Stadt im Norden dann von der Gilde Drachenkopf gehört hatte, war mit einem Mal ein neuer Funken der Hoffnung in ihr aufgeglommen, gerade rechtzeitig, als Mirin schon an dem Sinn ihrer Existenz zu zweifeln begonnen hatte. Sie war auf der Stelle in den Süden aufgebrochen, war Meilen und Meilen zur Küste gelaufen, um von Fiskau mit dem Schiff nach Havenau zu segeln, und war schließlich hier angekommen. Mirins Herz begann mit jedem Schritt schneller zu schlagen, ihre Finger kribbelten vor Nervosität. Zweifel versuchten sich in ihrem Kopf breitzumachen: Was, wenn man sie nicht aufnehmen wollte? Was, wenn der ganze Weg umsonst gewesen wäre? Was sollte sie dann tun? Wohin sollte sie dann gehen? Wohin konnte sie gehen?

    Klienfrin, der die ganze Zeit still neben ihr hergeflogen war, schnatterte vorwurfsvoll und rammte ihre Schulter.

    »Autsch!«, entfuhr es Mirin. »Das tat weh!« Klienfrin schnatterte erneut und nickte streng. Mirin seufzte. Er hatte recht – sie sollte sich jetzt keine Gedanken darüber machen. Die Gilde kam immer näher, Mirin konnte schon das warme Licht sehen, das einladend durch die Fensterscheiben nach draußen fiel. Ihre Beine liefen schneller, ohne, dass sie es ihnen befahl, der Weg vor ihr machte eine Kurve und das Gras wurde immer niedriger. Es waren keine zwei Minuten, doch Mirin kam es vor, als wäre eine grausame Ewigkeit vergangen, bis sie endlich, endlich, vor der großen, hölzernen Eingangstür stand. Zögerlich legte sie die Hand gegen die Tür, diese gab fast widerstandslos nach, und trat ein. Vor ihr eröffnete sich ein weiter, geräumiger Schankraum. Zu ihrer Rechten und Linken waren Tische aufgereiht – die meisten von ihnen waren leer, doch in einer Ecke saßen noch einige Leute, vermutlich die Gildenmitglieder, beisammen und sahen Mirin neugierig an. Von der Tür aus führte ein mit Holzdielen gelegter Durchgang zielstrebig geradeaus zu einer Theke am anderen Ende des leeren Raumes, als wartete er nur darauf, sie zu empfangen und ihr den Weg zu weisen. Unschlüssig blieb Mirin stehen, bis die Tür hinter ihr zurück ins Schloss gefallen war, dann ging sie, den Blick zu Boden gerichtet, zwischen den Tischreihen entlang. Die Blicke der anderen waren nicht aufdringlich, vielmehr freundlich und offen, doch sie machten Mirin nervös. Es gefiel ihr nicht, so viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

    An der Theke stand eine Frau, groß, mit langen goldenen Haaren, und lächelte Mirin freundlich zu, während diese mit klopfendem Herzen näher kam. »Was führt dich so spät noch hierher?«, fragte sie.

    Mirin wusste nicht, was sie antworten sollte. »Ich möchte gern der Gilde beitreten«, sagte sie unsicher. Ein Strahlen breitete sich auf dem Gesicht der Frau aus.

    »Dann bist du herzlich willkommen«, erwiderte sie. »Der Meister ist gerade nicht da, aber er sollte bald zurückkommen. Etwas zu trinken?«

    Verwirrt nickte Mirin nur und setzte sich auf einen der Hocker, während die Frau zum Fass lief.

    »Wie ist dein Name?«, ertönte plötzlich eine Stimme neben ihr. Mirin drehte sich um und sah eine weitere Frau, die an der Theke saß, einen Krug Bier in der Hand. Sie trug eine schwarze Lederrüstung über einem knielangen, grünen Kleid und an ihrem Gürtel hing ein großes, schweres Schwert. Die Frau hatte eine stämmige Statur und die kastanienbraunen Haare hingen ihr zottelig auf die Schultern. Sie nahm einen tiefen Zug aus ihrem Krug, während sie auf Mirins Antwort wartete. Schnell stellte diese sich vor. »Mirin«, sagte sie. »Mein Name ist Mirin.«

    »Ich bin Minea«, erwiderte die Frau. »Willkommen in der Gilde.«

    »Mein Name ist Adelina«, sagte die Frau hinter der Theke und stellte Mirin einen Bierkrug hin. »Geht aufs Haus.« »Danke«, murmelte Mirin, noch immer überrumpelt von der Offenheit, mit der sie hier empfangen wurde wie ein alter Freund.

    »Als was möchtest du arbeiten?«, wollte Minea wissen.

    »Ich bin Magierin«, antwortete Mirin.

    Minea nickte anerkennend. »Von der Sorte sind schon lange keine mehr zu uns gekommen«, meinte sie.

    »Das stimmt«, pflichtete Adelina ihr bei. »Die meisten Magier bevorzugen die neuen und reinen Magiergilden. In einer Gilde wie dieser würden sie sich fehl am Platz fühlen.«

    »Als was arbeitet ihr?«, fragte Mirin.

    »Ich bin im Grunde nur für den Gildenhaushalt zuständig«, antwortete Adelina. »Ich kümmere mich um die Gäste und Mitglieder und helfe dem Meister ein wenig beim Papierkram.«

    »Ich bin Schwertkämpferin«, sagte Minea. »Ich beherrsche zwar selbst keine Magie, aber ich besitze ein magisches Schwert.«

    Mit diesen Worten stellte sie ihren Bierkrug beiseite und zog ihr Schwert aus der Scheide. Mirin konnte für einen kurzen Moment die bunten Kristalle erkennen, die in den Griff eingelassen waren. Minea legte ihren Finger auf einen der Steine und die Klinge des Schwertes begann zu schrumpfen, bis es nur noch die Größe eines Dolches hatte. Fasziniert sah Mirin zu, wie der Dolch die Form änderte, zu einem Beil wurde, zu einer Axt und schließlich zu einem kleinen Schnitzmesser.

    »Die Funktion der anderen Kristalle demonstriere ich dir lieber nicht, die sind gefährlich«, meinte Minea, ließ das Schwert wieder auf seine alte Größe zurückwachsen und steckte es weg. Unterdessen war eines der Gildenmitglieder, die an dem Tisch saßen, aufgestanden und zur Theke hinübergegangen. Es war ein Junge, etwa in Mirins Alter, mit einem jungen, von Sommersprossen gesprenkelten Gesicht und strubbeligen braunen Haaren, die ihm in alle Richtungen vom Kopf abstanden. »Du willst der Gilde beitreten, habe ich recht?«, fragte er. Mirin wollte antworten, doch Minea kam ihr zuvor. »Da hast du sogar tatsächlich mal recht«, meinte sie spöttisch. Der Junge schwang sich auf den freien Hocker zwischen Minea und Mirin und lehnte sich neugierig zu ihr herüber. »Und, was kannst du?«, wollte er wissen. Doch bevor Mirin antworten konnte, hob Minea urplötzlich die Hand und zog sie dem Jungen über den Kopf. »Sei nicht so aufdringlich und stell dich verdammt nochmal erst vor«, knurrte sie. Der Junge rieb sich kurz den Schädel und verdrehte die Augen, dann wandte er sich wieder Mirin zu. »Ich bin Flint«, sagte er. »Ich bin ein Feuermagier. Also, als was fängst du hier an?«

    »Ich bin auch Magierin«, antwortete Mirin.

    Flint stieß einen Freudenschrei aus, der sie zusammenzucken ließ. »Endlich mal wieder!«, rief er. »Die letzte Magierin ist vor zwei Jahren zu uns gekommen. Was für eine Magie beherrschst du?«

    Mirin überlegte. »Schwer zu sagen«, meinte sie und lachte. »Ich habe sie nirgendwo erlernt, ich habe sie selbst entwickelt, deswegen weiß ich nicht, wie man sie nennen kann. Jedenfalls kann ich mit meiner Magie Dinge formen, auch Lebewesen.«

    Flints Augen leuchteten begeistert auf, er sprang vom Hocker herunter und bedeutete Mirin, ihm zu folgen. »Komm mit, die anderen sollen dich auch kennenlernen«, sagte er. Mirin griff nach dem Bierkrug, den sie noch nicht einmal hatte anrühren können, und lief Flint zögerlich hinterher zu dem Tisch, an dem die restlichen drei Gildenmitglieder saßen. Die Person, die ihr beim Näherkommen als erste ins Auge fiel, war eine Frau, die im Schneidersitz auf der Bank saß. Sie war älter als die anderen am Tisch, vielleicht Mitte zwanzig, hatte ein weites Tuch um ihren Hals gewickelt und vergrub ihr Kinn darin. Neben ihr saß ein junger Mann, Mirin schätzte ihn einige Jahre älter, als sie selbst war. Er war äußerst groß, aber nicht hager, sondern kräftig und hatte rabenschwarze Haare, die er etwas kürzer trug als der Junge. Die dritte Person war ein Mädchen, klein und mit einer Stupsnase, das aus klugen und wachsamen Augen zu Mirin aufsah und lächelte.

    »Das ist Mirin«, sagte Flint, als sie beim Tisch angekommen waren. »Sie ist Magierin.«

    »Ich bin Erin«, stellte sich das Mädchen vor.

    »Talvi«, sagte der junge Mann und nickte Mirin freundlich zu.

    »Serafina«, murmelte die Frau.

    Talvi wies auf den freien Platz neben sich. »Setz dich«, forderte er Mirin auf. Diese tat wie geheißen und setzte sich neben den Mann, der sie um mindestens einen Kopf überragte, während Flint sich ihr gegenüber neben Erin niederließ. »Wir sind alle Magier«, erklärte er Mirin. »Erin kann Tiere beschwören, Talvi ist das Gegenteil von mir und Serafina beherrscht Erdmagie.«

    »Dann sind ja fast alle Elemente hier vertreten«, staunte Mirin. Flint nickte stolz. »Serafina kann sich sogar in ihr Element verwandeln.«

    »Wie viele andere Magier gibt es noch in der Gilde?«, fragte Mirin neugierig.

    »Wenn man den Meister mitzählt, sind es noch zwei weitere vollwertige Magier«, antwortete Talvi. »Adelina beherrscht auch ein wenig Magie, aber sie benutzt sie nur, um sich die Arbeit etwas zu erleichtern, und dann haben wir noch einen Feuerspucker und einen Waffenschmied, die gern mit Magie experimentieren.«

    Mirin hob überrascht die Augenbrauen. Damit, dass es nur so wenige Magier in dieser Gilde gab, hatte sie nicht gerechnet.

    »Also, jetzt zeig uns deine Magie«, forderte Flint sie eifrig auf, bevor sie weitere Nachfragen stellen konnte.

    Mirin konzentrierte sich und ließ eine kleine, schwarze Maus auf dem Tisch erscheinen. Quiekend trippelte das Tier auf seinen kleinen Füßchen umher und beschnupperte die Tischplatte. Erins Augen begannen bei dem Anblick augenblicklich freudig zu leuchten. Als nächstes formte Mirin ein Stück Käse, das sie auf die andere Seite der Tischplatte legte. Die Maus schnupperte, roch das Fresschen und machte sofort kehrt, um genüsslich daran zu knabbern.

    »Kann man das wirklich essen?«, fragte Flint fasziniert.

    »Ja, das kann man«, erwiderte Mirin lachend. »Es schmeckt sogar wie echter Käse.« »Gib mir auch was«, bat Flint und keine Sekunde später erschien ein Käsewürfel in seiner Hand. Flint biss zunächst ein kleines Stück davon ab, dann schob er sich auch den Rest in den Mund.

    »Tatsächlich«, meinte er.

    »Was kannst du noch alles erschaffen?«, wollte Talvi wissen. »Sagt mir, was ihr haben wollt, und ich gebe es euch«, erwiderte Mirin und schmunzelte selbstsicher.

    Talvi streckte die Hand aus und ließ eine kleine Wassersäule daraus hervorsteigen. »Kannst du auch so etwas?«, fragte er.

    Mirin fixierte mit ihrem Blick einen Punkt auf der Tischplatte und erschuf vor ihrem inneren Auge das Bild einer Wassersäule, wie Talvi sie ihr gezeigt hatte. Augenblicklich wurde das Holz feucht und ein Strudel aus Wasser schoss in die Höhe. Talvi nickte beeindruckt. »Mir scheint, als hättest du was auf dem Kasten.«

    Mirin ließ die Maus, den Käse und die Wassersäule verschwinden.

    »Wo hast du diese Magie gelernt?«, fragte Erin.

    »Ich habe sie nicht gelernt«, entgegnete Mirin. »Ich habe sie selbst entwickelt.«

    »Das tun nicht viele«, meinte Erin anerkennend. »Ihre eigene Magie entwickeln. Wir vier haben unsere Magie erlernt, wir sind vermutlich nur einige wenige von vielen, die diese Arten von Magie beherrschen.«

    Mirin lächelte. Eigentlich war ihre Magie noch viel mehr als das, was sie soeben gezeigt hatte. Sie war viel komplexer und viel stärker. Doch ihre wahre Kraft war nicht dazu gedacht, demonstriert zu werden. Es war die Nacht, die ihr diese Kraft gab. Eine Kraft, die einzig und allein zum Vernichten geschaffen war.

    Adelina trat an den Tisch, in der Hand hielt sie einen Teller mit dampfenden Knödeln und einem Stück Fleisch. »Du scheinst lange nichts Vernünftiges gegessen zu haben«, meinte sie und stellte den Teller vor Mirin auf den Tisch. »Wird Zeit, dass du hier ein wenig aufgepäppelt wirst.« »Danke«, murmelte Mirin ein wenig überrascht. Adelina gab ihr noch Messer und Gabel, dann wandte sie sich ab und ging zurück zur Theke. Mirin, die ihren Hunger die ganze Zeit über unterdrückt hatte, begann gierig zu essen, während die anderen um sie herum mit einem Mal aus heiterem Himmel in eine merkwürdige Diskussion darüber verfielen, welche Jahreszeit die beste war und warum.

    Mirin saß noch eine gute Stunde bei den Magiern und wartete auf die Rückkehr des Meisters. Serafina war die erste, die nach Hause ging, danach verabschiedeten sich auch Erin und Flint und als die Eingangstür aufschwang und ein alter Mann hereinkam, hatte selbst Minea die Gilde bereits verlassen. Nur noch Talvi und Mirin saßen am Tisch.

    »Du warst ziemlich lange weg«, rief Adelina dem Mann mit den langen weißen Haaren von der Theke aus zu. Dieser lachte nur und ging zu Talvi und Mirin hinüber. »Lass dem alten Mann seine Freiheiten.«

    Der Mann ließ sich den beiden gegenüber am Tisch nieder und wandte sich an Mirin. »Entschuldige, dass du so lange warten musstest«, sagte er. »Ich schätze mal, du bist eine Anwärterin?«

    »Ja, das bin ich«, erwiderte Mirin. Dieser Mann musste der Meister von Drachenkopf sein, ganz sicher.

    »Ich bin Viisan«, sagte der alte Mann und bestätigte ihre Vermutung. »Herzlich Willkommen in meiner Gilde.«

    Mirin lächelte. »Danke sehr.«

    Viisan wandte sich an Talvi. »Es ist spät«, meinte er. »Möchtest du nicht nach Hause?«

    »Ich wollte unseren Neuling nicht ganz allein hier warten lassen«, erwiderte Talvi. »Aber ich denke, ich mache mich dann auch mal auf den Weg.«

    Mit diesen Worten stand er auf, verabschiedete sich und lief zur Tür. Als er sie öffnete, fiel ein schmaler Streifen des letzten Tageslichtes in die Schänke und ließ die Holzdielen in einem sanften Honiggold leuchten. Erst als die Tür wieder ins Schloss fiel, bemerkte Mirin, wie still es eigentlich war.

    »Wie ist dein Name?«, fragte Viisan.

    »Mirin.«

    »Wie alt bist du?«

    »17 Jahre.«

    Viisan lächelte.

    »Das ist das Alter, in dem die meisten sich dazu entscheiden, einer Gilde beizutreten«, meinte er.

    Adelina kam an den Tisch und stellte Mirin und Viisan jeweils einen Becher Wasser hin.

    »Ich mache oben schon einmal alles fertig«, sagte sie zu dem alten Mann. Dieser strich über seinen langen, weißen Ziegenbart und nickte stumm. Während Adelina hinter einer Tür verschwand, trank er einen tiefen Zug aus seinem Becher, dann wandte er sich wieder Mirin zu.

    »Du bist Magierin, richtig?«, vermutete er.

    »Ja«, erwiderte Mirin überrascht. »Woher wisst Ihr das?« Viisan lächelte. »Wenn man lange genug mit Magie zu tun hat, erkennt man Magier an der Aura, die sie umgibt. Und deine Aura ist sehr stark.« Er nahm einen weiteren Schluck Wasser und schloss für einen Moment die Augen, als würde er nachdenken. Mirin beobachtete den Mann. Sie war zu aufgeregt und zu nervös, um selbst etwas zu trinken.

    »Warum möchtest du dieser Gilde beitreten?«, fragte Viisan schließlich. »Es ist mehr als nur Geldmangel, oder?«

    Mirin blickte starr auf das Wasser in ihrem Glas. War es so offensichtlich, dass er sie so schnell durchschaut hatte?

    »Ich will endlich ein normales Leben führen«, antwortete sie. »Ein Leben wie jeder andere Mensch es auch führt. Mit meiner Magie kann ich alles erschaffen, was mir beliebt, aber das ersetzt nicht die Zufriedenheit, einen Auftrag erledigt und sein Geld und alles, was man sich davon kauft, wirklich verdient zu haben. Außerdem…« Mirin holte tief Luft, zögerte, weiterzusprechen. »Außerdem möchte ich nicht mehr allein sein.«

    »Hast du einen Familiennamen?«, wollte Viisan wissen. Mirin schüttelte den Kopf.

    »Nein.« Vielleicht hatte sie einen gehabt, damals, in ihrem ersten Leben. »Das heißt, ich hatte sicherlich einmal einen«, ergänzte Mirin. »Aber das ist schon lange her.«

    »Woher kommst du?«, fragte der Meister weiter.

    »Ich weiß es nicht«, antwortete Mirin. »Ich habe den größten Teil meines Lebens mit meiner großen Schwester in einem Wald gelebt, aber dort wurde ich nicht geboren.«

    »Wieso hast du dein Zuhause verlassen? Ist etwas mit deiner Schwester passiert?«

    Mirins Hände verkrampften sich, sie biss sich unwillkürlich so fest auf die Lippe, dass diese zu bluten begann. Sie hatte noch nie mit jemandem darüber geredet, wer sie war und was in ihrem Leben geschehen war. Wem hätte sie es denn auch erzählen sollen? Klienfrin wusste alles über sie und andere Menschen hatte sie nie an sich herangelassen. Aber vielleicht würde es ihr auch guttun, das alles einmal auszusprechen. Alles, was ihr auf dem Herzen lag, alles, was sie so lange in sich hineingefressen hatte.

    »Sie ist verschwunden«, sagte Mirin leise.

    »Hinter allen Mitgliedern von Drachenkopf liegt eine schwere Vergangenheit«, erwiderte Viisan. »Viele haben keinen Ort zum Leben und keine Familie mehr. Hier finden sie ein neues Zuhause, eine neue Familie und eine Zukunft, in die sie voll Ehrgeiz blicken können – und ich bin mir sicher, dass auch du all das hier finden wirst.«

    »Ist es in einer Gilde so üblich, jeden Interessenten sofort aufzunehmen?«, wechselte Mirin das Thema.

    »Viele Gilden prüfen die Bewerber zuerst auf ihre Tauglichkeit«, entgegnete Viisan enttäuscht. »Versichern sich, dass ihre Mitglieder ihnen möglichst viel Geld einbringen, und wer vollkommen mittellos ist, wird sofort wieder vor die Tür gesetzt. Doch unter den Schwingen des Drachen findet jeder einen Platz, der sonst nirgendwo einen hat, hier spielen die Fähigkeiten eines Menschen keine Rolle. Das Herz ist alles, was zählt.«

    Viisan lächelte Mirin herzlich an. »Du solltest dich jetzt ausruhen«, meinte er. »Immerhin hast du eine lange Reise hinter dir, wie es scheint. Adelina hat im zweiten Stockwerk bereits ein Bett für dich vorbereitet, sie wird dir gleich den Weg zeigen.«

    Mirin stand auf und verbeugte sich. »Habt vielen Dank.« »Dafür nicht«, erwiderte Viisan mit einem Augenzwinkern.

    Adelina, die inzwischen wieder zurückgekommen war, winkte Mirin zu sich und führte sie durch die Tür. Sie durchquerten einen Raum, in dem eine lange Tafel stand, liefen durch einen Flur in eine gemütliche Stube, die den Gildenmitgliedern als Entspannungsort zu dienen schien, und die Treppen hinauf. Nach weiteren schier endlosen Fluren und einer zweiten Treppe hielt Adelina schließlich vor einer Tür am Ende des letzten Flures an. Sie öffnete die Tür und ließ Mirin eintreten. Der größte Teil des Zimmers lag im Schatten versteckt, doch im schwachen Abendlicht, das durch das Fenster hereinfiel, konnte Mirin ein etwas klappriges, aber durchaus gemütliches Bett erkennen.

    »Hier kannst du wohnen, bis du genug Geld für ein eigenes Heim zusammen hast«, sagte Adelina.

    Das Zimmer war klein, doch allein der Gedanke, endlich wieder einen ordentlichen Schlafplatz mit einem festen Dach über dem Kopf zu haben, ließ Mirins Herz freudig hüpfen und erfüllte ihre Seele mit einer wohligen Wärme, die ihren Körper von Kopf bis Fuß durchströmte.

    »Danke«, sagte sie strahlend, unfähig, ihre Freude und ihre Dankbarkeit angemessen zum Ausdruck zu bringen.

    Adelina lächelte. »Nichts zu danken«, erwiderte sie, dann wandte sie sich ab und schloss die Tür. »Gute Nacht«, wünschte sie noch, dann war Mirin allein.

    Erschöpft ließ sie sich auf die weiche Matratze fallen, die sie sanft wie eine Wolke umhüllte und sah zur Zimmerdecke hinauf. Als sie wieder aufstand, um das Fenster zu öffnen, entdeckte sie Klienfrin auf dem Betttisch. Ausdruckslos sah er sie aus seinen großen, gelben Katzenaugen an, stumm, und regte sich nicht. Mirin wusste, wieso. Sie hatte dem Meister gesagt, sie wolle nicht mehr allein sein, dabei war sie nie allein gewesen. Oder vielleicht doch? Mirin setzte sich auf das Bett und sah Klienfrin unschlüssig an. »Was bist du überhaupt?«, fragte sie.

    Der Dämon antwortete nichts darauf. Eine Weile erwiderte sie noch seinen starren Blick, dann legte Mirin sich mit einem Seufzen nieder und schloss die Augen. »Gute Nacht«, murmelte sie. Klienfrin reagierte zunächst nicht, bis er sich schließlich aufrappelte und vom Tisch auf das Bett sprang. Er stemmte sich gegen Mirins Arm, bis diese ihn ein Stückchen anhob, dann kroch er darunter und kuschelte sich eng an das Mädchen.

    Die ersten Sonnenstrahlen fielen durch das Fenster und wärmten Mirins Gesicht. Sie blinzelte, kniff beim Anblick des Lichts die Augen zusammen und wälzte sich auf die andere Seite. Es dauerte eine Weile, bis sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatte und klar sehen konnte. Schläfrig rappelte Mirin sich auf und sah sich um. Zunächst war sie ein wenig verwirrt, sich in einem Zimmer mit vier Wänden und Holzdielen wiederzufinden, doch schnell fiel ihr wieder ein, dass das hier ihr neues Zuhause war. Dass sie endlich angekommen war. Mirin stand auf und tapste zum Fenster, durch das ihr die Morgensonne zwischen den Bergen entgegenlachte. Mit der Hand schirmte sie ihre Augen ab und erforschte mit neugierigem Blick ihre Umgebung. Zu ihrer Rechten konnte sie den See glitzern sehen, zur Linken war nur grauer Fels. Direkt vor ihrem Fenster erstreckte sich eine weite Grünfläche, dahinter erhob sich stolz und erhaben der Drachenberg, um dessen Gipfel noch die letzten Nebelschwaden umherwaberten. Es klopfte an der Tür. Mirin drehte sich um und ehe sie etwas sagen konnte, wurde die Tür geöffnet und Adelina trat ein.

    »Wie ich sehe, bist du auch schon auf den Beinen«, stellte sie lächelnd fest. »Guten Morgen.«

    »Guten Morgen«, erwiderte Mirin.

    »Ich wollte dich fragen, ob ich dir vielleicht ein warmes Bad vorbereiten soll«, meinte Adelina. »Nach so einer langen Reise hast du dir das nur verdient.«

    »Gern!«, antwortete Mirin freudig.

    Adelina lachte. »Das dachte ich mir schon. Warte ein wenig, das Wasser müsste gleich fertig sein.«

    Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer und schloss die Tür wieder hinter sich. Mirin beschloss, ihr neues Heim ein wenig zu erkunden, während Adelina das Wasser vorbereitete, und als sie um sich sah, fiel ihr als erstes der Wandschrank ins Auge. Neugierig öffnete sie ihn und lugte hinein, wobei die Tür ein lautes Knarren von sich gab. An der Kleiderstange hingen zwei Blusen, ein Rock, ein Kleid, eine Hose sowie diverse Unterwäsche für Männer und Frauen. Mirin schmunzelte. Allem Anschein nach war die Gilde ständig bereit, jemandem ein Zimmer zum Wohnen zu bieten. Nach einigem Überlegen zog Mirin den schwarzen Rock hervor, denn auch wenn sie lieber Hosen trug, sah sie auf den ersten Blick, dass die im Schrank ihr niemals passen würde, und hielt ihn sich an. Auch er war zu lang, was bei ihrer geringen Größe zu erwarten gewesen war, doch glücklicherweise hatte er einen Stoffriemen zum Festschnüren. Mirin legte den Rock sorgsam auf ihr Bett, daneben die weiße Bluse, dann schloss sie den Schrank und nahm die kleine Kommode neben dem Spiegel unter die Lupe. Gleich die erste Schublade enthielt einen Kamm. Mirin griff danach und machte sich daran, ihre zerzausten Haare zu kämmen. Sie biss die Zähne zusammen vor Schmerz, doch sie kämmte beharrlich weiter, bis die Zotteln von mindestens einem Jahr endlich gelöst waren. Da kam auch schon Adelina zurück ins Zimmer, in den Händen zwei Eimer mit dampfendem Wasser tragend.

    »Magst du mir die Badezimmertür öffnen?«, bat sie Mirin. Diese legte den Kamm beiseite und öffnete die Tür neben dem Kleiderschrank, um Adelina hindurchzulassen. Die Frau füllte das warme Wasser in eine kleine Holzwanne, dann drehte sie den rostigen Hahn an der Wand auf und ließ ein wenig kaltes Wasser einlaufen. »Pass auf, es könnte etwas heiß sein«, sagte sie schließlich und verließ das Zimmer. Mirin schloss die Tür hinter sich, dann legte sie ihre Kleider ab und ließ sich in die Wanne gleiten. Wie gut es tat, das warme Wasser auf ihrer Haut zu spüren. Jahrelang hatte sie sich mit eiskaltem Flusswasser begnügen müssen. Auf einem Tischchen neben der Wanne entdeckte Mirin ein kleines Fläschchen und ihre Augen weiteten sich vor Freude. Schnell griff sie nach der Flasche, öffnete sie und roch daran. Sie lag richtig: Es war Öl. Mirins Herz machte einen freudigen Hüpfer. So viele Jahre hatte sie von so etwas nur träumen können! Eifrig, aber bedacht, nichts zu verschwenden, schüttete Mirin sich etwas von dem Inhalt der Flasche auf die Hand und begann, es in ihre verfilzten Haare und ihre raue Haut zu massieren.

    Nachdem sie das Wasser abgelassen, sich angezogen und ihre nassen Haare notdürftig mit einem Handtuch getrocknet hatte, schlüpfte Mirin in ihre Stiefel und machte sich auf den Weg nach unten. Sie lief durch den langen Flur, die Treppen hinunter und in die Gildenstube. Am Tisch saßen Viisan und Adelina und frühstückten. Freundlich lächelte Viisan Mirin an und bedeutete ihr, sich zu ihnen zu setzen. »Guten Morgen«, wünschte er.

    »Guten Morgen«, erwiderte Mirin und ließ ihren Blick über den gedeckten Tisch schweifen. Frisches Brot, Butter, Käse, Schinken und Milch mit Honig. Ehe Mirin reagieren konnte, hatte Adelina den Teller vor ihr mit etwas von allem gefüllt und ihr einen Becher der warmen Milch eingeschenkt. »Schlag ruhig zu«, forderte Viisan Mirin lachend auf. »Es ist genug da.« Mirin ließ sich das nicht zweimal sagen und begann gierig zu essen und zu trinken.

    »Ich werde dir heute ein wenig die Gilde zeigen, während der Meister sich um deine Formulare kümmert«, sagte Adelina, während sie aß. Verwundert sah Mirin sie an. Formulare? Als hätte Viisan ihre Gedanken gelesen, begann er zu erklären.

    »Jeder, der eine Arbeit angeht, muss für diese auch bezahlt werden. In einer Gilde verdient man das Geld durch die verschiedenen Aufträge, denen man nachgeht. Damit du deinen Lohn auch gerecht ausgezahlt bekommst, musst du offiziell ein Mitglied der Gilde sein und offiziell Aufträge annehmen. Deswegen muss ich ein Formular zu deiner Person anlegen und unterschreiben, dass du nun ein Mitglied meiner Gilde bist und das Recht hast, Aufträge anzunehmen und damit dein Geld zu verdienen.«

    Er lächelte. »Aber du wirst es schon noch selbst sehen, schließlich musst du mir beim Ausfüllen helfen.«

    Mirin nickte. Sie hatte noch nie eine Arbeit gehabt und auch nie mitbekommen, wie so etwas ablief, deswegen war ihr diese Formalien-Angelegenheit völlig fremd. Doch wie es schien, würde sie sich wohl bald daran gewöhnen müssen.

    Mirin trank einen Schluck Milch. »Wie viele Magiergilden gibt es eigentlich im Land?«, fragte sie.

    »Es gibt viele kleinere Gilden«, meinte Adelina. »Aber die größten sind Dünenwind in Nymphedonn, Maagsjel in Kungbrück und die Zwei Brüder in Edsjelam.«

    »Vor einigen Jahren gab es im Süden auch noch Vaaterkium«, fügte Viisan hinzu. »Allerdings wurde diese Gilde in nur einer Nacht von den Schattenwölfen komplett vernichtet und mit ihr alle, die sich noch im Gebäude befanden. Danach mussten sich die Magier, die dort arbeiteten, auf andere Gilden verteilen. Viele haben die Magie sogar ganz aufgegeben, aus Angst vor einem erneuten Angriff.«

    Mirin runzelte nachdenklich die Stirn. Die Schattenwölfe… Jeder sprach von ihnen, jeder sah den Schaden, den sie anrichteten, keine ihrer Taten blieb unbemerkt. Doch nur die wenigsten Menschen schienen sie wirklich jemals zu Gesicht bekommen zu haben, beinahe wie ein Phantom.

    Das Frühstück verlief zum größten Teil schweigend, bis Adelina aufstand und den Tisch abzuräumen begann. Mirin erhob sich ebenfalls und half ihr. Adelina bedankte sich lächelnd und führte sie durch den Flur in die geräumige Küche. Nachdem sie das Geschirr abgewaschen hatten, bedeutete Adelina Mirin, ihr in den Keller zu folgen, der hinter einer Tür verborgen lag. Sie gingen durch zwei Speisekammern, bis sie schließlich in einen Flur traten, der mit dunklen und rauen Steinwänden gemauert war. Eine mächtige, eisenbeschlagene Flügeltür, die so alt sein musste wie die Mauern selbst, stach Mirin ins Auge. Adelina lief zu der Tür, hing die Fackel, die sie bei sich trug, in eine Halterung an der Wand und stemmte sich gegen die massiven Holzflügel. Mit einem dumpfen Grollen wie ein Donner öffnete sich die Tür und offenbarte den Blick auf das, was dahinter lag. Der Reihe nach entflammten die Fackeln an den Wänden und die Leuchter an den Decken und erhellten den großen steinernen Saal. In seiner Mitte stand eine lange, gebogene Tafel, an deren Ende ein Podest aufgestellt war; der Rest des Raumes wurde von einer großzügigen Tanzfläche eingenommen.

    »Hier feiern wir Gildenfeste«, erklärte Adelina lächelnd und ging etwas weiter in den Raum hinein. »Dieser Saal ist ganz allein für die Mitglieder dieser Gilde bestimmt.«

    Mirin folgte ihr. »Welche Feste werden denn hier in der Gilde gefeiert?«, wollte sie wissen.

    »Das größte ist das Drachenfest im Sommer«, erwiderte Adelina. »Es ist unser ganz eigenes Fest, an dem wir die Arbeit niederlegen und die Gründung unserer Gilde feiern.« Sie drehte sich zu Mirin um.

    »Apropos Feste«, meinte sie. »Bald ist das Harsgardfest. Sagt dir das etwas?«

    Mirin nickte. Ja, sie kannte das Harsgardfest. Von allen Festen, die von den Menschen in Vruhdloan gefeiert wurden, war dieses ihr liebstes, doch bisher hatte sie es nur allein mit Klienfrin gefeiert und den Menschen in den Städten aus sicherer Entfernung dabei zugesehen. Das Harsgardfest war ein Drakonisches Fest, ein Fest der Menschen, die daran glaubten, dass die Drachen noch existierten, und die den Drachenkönig Harsgard als ihren Herrscher verehrten. Viele Legenden rankten sich um die Drachen, die einen besagten, dass sie jahrhundertelang die Siedlungen und Felder der Menschen verwüstet hätten, andere stellten sie als kluge und weise Wesen, als Freunde der Menschheit dar – das Verschwinden dieser Geschöpfe aber konnte nicht eine von ihnen erklären. Mirin war selbst Drakonierin und die Geschichte, der sie am meisten Glauben schenkte, war die, in der Harsgard als friedlicher und weiser König über das Land herrschte und den Menschen sein Wissen lehrte. Sie war fest davon überzeugt, dass die Drachen tatsächlich gelebt hatten, auch wenn nicht einmal die ältesten Elfen noch dazu in der Lage wären, es zu bezeugen, schließlich war das Verschwinden der Drachen fast ein Jahrtausend her. Doch es gab so viele Zeichnungen und Überlieferungen aus diesen Zeiten, dass die Existenz von Drachen beinahe unmöglich auszuschließen war, obgleich niemand zu sagen vermochte, was mit ihnen geschehen war. Mirin war sich sicher, dass sie noch lebten und dass sie irgendwo, weit draußen in der Welt darauf warteten, sich wieder zu erheben.

    »Das Harsgardfest hier in Drakenberg ist eines der größten«, sagte Adelina. »Kennst du die Legende dieser Stadt?« »Ich glaube, sie schon einmal gehört zu haben, aber ich bin mir nicht mehr sicher«, meinte Mirin.

    »Der Legende nach war Harsgard der erste aller Drachen«, erzählte Adelina. »Man sagt, dass er vor tausenden von Jahren aus dem Felsen des Drachenberges entschlüpft sei.« Mirin nickte. Sie erinnerte sich an diese Geschichte.

    »Deswegen ist Drakenberg von hoher Bedeutung für viele Drakonier«, fuhr Adelina fort. »Hunderte kommen jedes Jahr hierher, um auf dem Drachenberg Laternen steigen zu lassen. Die einzige wichtigere Stadt, die mir einfällt, ist Norrbühl, wo der große Tempel steht.«

    »Bist du Drakonierin?«, fragte Mirin.

    Adelina lachte. »Jeder hier ist Drakonier«, erwiderte sie. »Schließlich ist das hier Drachenkopf

    Unwillkürlich begann Mirin leise vor sich zu summen, während sie hinter Adelina her den Saal wieder verließ und zu einer zweiten Treppe ging, die zurück nach oben führte. Es war die Melodie des Liedes, das jedes Jahr zum Harsgardfest gesungen wurde, und zu ihrer Überraschung stieg Adelina mit ein.

    »Als großer König, der er ist, als Volk, das wir all sind, friedlich hier in diesem Land ein neues Lied beginnt.« Sie lachte Mirin an. »Freu dich auf das Fest«, meinte sie. »Es wird atemberaubend.«

    Sie erreichten das obere Ende der Treppe und befanden sich wieder in der Gildenstube. »Das hier ist der Raum, in dem du dich immer und zu jeder Zeit, wann es dir beliebt, aufhalten kannst«, erklärte Adelina. »Die Gildenmitglieder nutzen ihn, wenn sie ein wenig Ruhe haben möchten.«

    Sie ging zur Tür und trat hinaus in den Flur, doch diesmal lief sie in die andere Richtung. Am Ende des Flures war eine weitere Tür, anders als die anderen aus massivem Holz gefertigt. Adelina öffnete sie und grelles Licht nahm Mirin für einen Moment die Sicht, dann traten sie hinaus ins Freie. Vor ihr erstreckte sich ein kleiner Garten, bepflanzt mit duftenden Blumen, Kräutergewächsen, allerlei Gemüse, Beerensträuchern und einigen kleinen Obstbäumen. In einer Ecke stand ein hölzerner Bienenstock, von dem geschäftiges Summen herüberdrang.

    »Es ist nicht leicht, in der Gilde so viele Leute zu versorgen, wenn man kaum Gewinn macht«, meinte Adelina. »Deswegen bauen wir so viel wie möglich selbst an.«

    »Ist Drachenkopf denn nicht eine große und berühmte Gilde?«, wunderte sich Mirin.

    »Berühmt schon«, erwiderte Adelina, »Allerdings liegt das nur daran, dass wir es uns zur Aufgabe machen, denen ein Zuhause und eine Arbeit zu bieten, die sonst nichts haben. Eine Gilde finanziert sich über ihre Mitglieder. Diese müssen bei jedem Auftrag einen Teil ihres Verdienstes an den Meister abgeben, manchmal geben auch die Auftraggeber eine zusätzliche Bezahlung direkt an die Gilde. Aber wir haben weder viele Mitglieder noch viele gewinnbringende Aufträge. Zudem bekommt bei uns jedes Mitglied Essen, Trinken und einen Schlafplatz, ohne dafür bezahlen zu müssen. Für den Wohlstand einer Gilde ist das nicht förderlich. Doch glücklicherweise sind wir nicht darauf angewiesen, viel Geld auszugeben. Oder besser gesagt: Wir lassen nicht zu, uns von anderen abhängig zu machen.«

    Adelina ging über den schmalen Pfad zwischen den Pflanzen durch den Garten, Mirin folgte ihr und nach einigen Metern wurde jenseits des Grüns ein Holztor sichtbar. Adelina öffnete es und ging hindurch. Sie ließen den dicht bewachsenen Garten hinter sich und traten auf eine weite Wiese hinaus. Nicht weit entfernt glitzerte das Wasser des Sees. »Im Sommer sind wir oft hier draußen«, sagte Adelina. »Der See ist wunderbar zum Baden.«

    Mirin sah sich um. Zur Linken endete die Wiese an den Felsen des Drachenberges, die sich von dort aus am See entlangzogen, rechts erstreckte sich das Gildengebäude. Erst jetzt konnte Mirin sehen, wie beeindruckend groß es wirklich war. An die Hauswand neben dem Garten war ein Stall gebaut. »Habt ihr Tiere?«, wunderte sich Mirin.

    »Ein Pferd«, antwortete Adelina. »Es gehört Serafina, aber sie hat bei sich zu Hause keinen Platz, es unterzubringen. Deswegen kümmert sie sich hier darum.«

    Sie wandte sich ab und ging am Gebäude entlang über die Wiese. »Wie lange bist du eigentlich schon hier?«, fragte Mirin neugierig, während sie ihr hinterherlief.

    »Ich glaube, es sind inzwischen fünfzehn Jahre«, überlegte Adelina und lachte. »Das ist schon fast mehr als mein halbes Leben.«

    Mirin staunte, denn Adelina konnte nicht älter als Ende 20 sein. »Wie alt warst du, als du beigetreten bist?«, wollte sie wissen.

    »14 Jahre«, antwortete Adelina. »Es ist eine lange Geschichte, wie ich hierhergekommen bin, ich werde sie dir irgendwann in Ruhe erzählen.« Mirin nickte.

    »Möchtest du, wenn deine Formulare fertig sind, gleich anfangen zu arbeiten oder willst du erst einmal in der Gilde aushelfen?«, fragte Adelina.

    »Ich denke, ich bleibe vorerst in der Gilde«, meinte Mirin. Sie musste sich erst einmal daran gewöhnen, überhaupt wieder Menschen in ihrer Umgebung zu haben, und wollte sich Zeit nehmen, um sich einzuleben. Sie war noch nicht bereit für die Arbeit.

    »Kannst du kochen?«, fragte Adelina. Mirin lachte. »Ich kann Fleisch und Gemüse essbar machen, aber da hören meine Kochkünste auch schon auf«, erwiderte

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