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Se(h)geschichten
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eBook322 Seiten4 Stunden

Se(h)geschichten

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Über dieses E-Book

»Sehgeschichten« sind Erzählungen, entstanden auf den Wegen des Autors um seinen Heimatsee als gedankliches und damit thematisches Quellgebiet mit all seinen Sichten und Einsichten. Insofern kann es nicht verwundern, dass vielerlei Getier mitläuft und vorneweg die Hunde. Gespiegelt wie von der Wasseroberfläche ergeben sich tiefgründige Eindrücke, Erlebnisse und Reflexionen. Diese mit Sprache einzufangen und sprachlich diesen das abzugewinnen, was sie so besonders macht, als müsste man darauf zu sprechen kommen, weiß der Autor in seiner Art einfühlsam und immer mit ein bisschen humorigem Tiefsinn zu bewältigen. Er lässt den Leser teilhaben an seiner Gedanken- und Gefühlswelt, eingebunden und an dem orientiert, was das Leben als Natur und als Gesellschaft einem abverlangt. Und so, wie der Autor zum Beispiel seine Begegnung mit einem Eisvogel, im zweiten Jahr schon »seinem« Eisvogel schildert, wird diese Begegnung für den Leser erlebbar, mit all ihrer Freude. Diese über Jahre zustande gekommene Sammlung von Geschichten, in denen auch Hunde, Gänse, Hühner, Schweine und Enten einhergehen, niedergeschrieben und ersponnen, kommentiert, ergänzt und durch den geistigen Wolf gedreht, ist das vergnügliche Debüt von einem, der sich nicht nur Gedanken macht, sondern mit diesen spielt, die Sprache nutzt, um Welten zu erschaffen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum27. Sept. 2016
ISBN9783734560460
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    Buchvorschau

    Se(h)geschichten - Jörgen Helbrink

    Wie ich ein Hundeauskenner wurde

    Vorweg und unter uns, den Lesenden gesagt: Geschichten sind nicht wie das Leben! Sie sind nur das, was jemand davon erzählt. Insofern kann der viel erzählen und davon eine ganze Menge, aber die Leser werden sich womöglich die Freiheit nehmen, dem Ganzen mit ihrem Urteil eine Grenze zu setzen, indem sie vielleicht verlangen, in den Geschichten sollte ihr Leben mit wesentlichen Aspekten erkennbar bleiben. Und nicht nur das: So mancher möchte auch sich selbst mit seinem Denken und Fühlen wiederfinden, vielleicht sogar freudvoll mit Anstößen und neuen Einsichten bereichert.

    Doch wenn einer kommt und anfängt schreibend zu erzählen, wie er ein Hundeauskenner wurde, dann muss er bei sich selbst erst fündig werden, was alles dazugehören und was von ihm dahin gehend nun verlangt werden könnte. Und nichts davon ist von alleine da – nur die Frau, und die ist als ungewählte Leserbeauftragte mit ihrem kritischen Eingreifen nach und nach unumgänglich geworden. In dieser Eigenschaft ist sie namentlich als Die Frau kenntlich und niemand sollte auf die Idee kommen, daraus eine mindere Achtung oder Wertschätzung abzuleiten. Es ist die Frau des Autors und unverhandelbar, aber ohne ein Fürwort als Besitzanzeige!

    So kann sich jeder an drei Gedankenfingern ausrechnen, dass die hier zuvorderst vorliegende Geschichte als Erstling eines erzählenden Schreibers ein Anfängerwerk ist, das über die Jahre so manche Änderung hinzunehmen, Streichungen zu ertragen und Ergänzungen nebst Neuerungen zu verkraften hatte. Inwiefern dieses Anfängerwerk darunter gelitten hat, bleibt dahingestellt, auf jeden Fall halten wir dem Schreiberling zugute, lernwillig gewesen zu sein und mit der Erstgeschichte, mit dem Titel Wie ich ein Hundeauskenner wurde, den Anfang einer ganzen Reihe von Geschichten möglich gemacht zu haben. Diese Geschichten heißen nach Jahren nun Sehgeschichten; nicht nur, weil ihr Quellgebiet ein See ist, sondern hauptsächlich wegen der sehenden Auges wahrgenommenen Verhältnisse rund um diesen hier beheimateten See und über seinen Tellerrand hinaus.

    Die Hunde und ich, mittlerweile drei an der Zahl, weil unsere Tochter nicht umhin kam, uns zu unseren beiden auch noch ihren Hund vorübergehend oder doch eher ganz dazuzugeben. Natürlich hatte sie sich das mit dem Hund so nicht gedacht, aber das Leben hat ihr aufgetragen, zukünftig ohne den Vater ihres Sohnes zurechtzukommen und die dafür benötigte eigene Wohnung lässt sich in Hamburg nur ohne Hund finden, und selbst das gestaltet sich für eine junge Frau mit Kind in heutiger Zeit wie eine Odyssee, ein herabwürdigender Akt zwischen Pontius und Pilatus (und Herodes, dem eigentlichen Übel, nachzulesen schon in der Bibel, Lukas 23) hin und her geschickt zu werden, als höchste Weihe amtlicher Verwaltungskunst.

    Lebte Jesus Christus heute und hätte diese Lauferei, würde er verwundert gucken, warum seine Scherereien von damals so nachhaltig, sogar als Redewendung, im Menschheitsgedächtnis verweilen.Von Pontius nach Pilatus laufen – lieber das, als amtliche Nichtzuständigkeit bis hin zum Unvermögen ertragen zu müssen.

    »Hallo, auch wieder unterwegs?«, kommt es mir heute entgegen, wer weiß, zum wievielten Male in meinem derzeitigen Hundeausführleben schon. »Was machen die drei?« Gemeint sind die drei Hunde an meiner Seite.

    Ich antworte freundlich nickend: »Geht wohl, und Ihrer?«

    »Der stromert da irgendwo im Gebüsch«, sagt sie im Vorbeigehen.

    »Aber das Wetter geht, oder?«

    »Ja, soll aber noch anders werden!«

    Fast erreicht dieser Satz dialektischer Wahrheitsfindung schon nicht mehr mein Ohr. Die morgendliche Hundeausführpflicht hat zwei Menschen wie Sternschnuppen im All aneinander vorbeihuschen lassen.

    So ist das mit mir und den Hunden und dem See und dem Wind und dem Wetter und den anderen Hundeausführern. Aber das ist erst mit den Jahren so geworden, davor konnte man mir so nicht begegnen. Nun gehe ich täglich fürbass mit den Hunden um den See, komme nach draußen und bin in Gedanken.

    Wenn es stimmt, dass die Zeit in der man lebt einem vorgibt, mit welchem Denken und Meinen, ja sogar mit welchem gefühlten Alltag man ausgestattet daherkommt, dann ist es meiner Zeit eingefallen, den Mann ein bisschen als einsamen Wolf, als verhinderten Helden, als raue Schale, als unergründlichen Tiefsinner auf der Bühne des Lebens erscheinen zu lassen. Nicht unter seinesgleichen ist das so, nicht unter Männern, aber offensichtlich sobald Weiblichkeit sich in einem Windhauch zu erschnuppern andeutete.

    Ich weiß, die Frau wird jetzt pikiert gucken und fragen, was damit wohl gesagt werden solle und ob dass vielleicht auf biografische Geschichten hinauslaufe, deren Fehlentwicklungen, eine Entschuldigung suchend, im Unvermeidlichen gründen würden. Aber ich kann sie beruhigen. Ich will nur sagen, dass meine männliche Disposition – zu einer Zeit, als die Gespräche in der eigenen Familie sich mehr und mehr um die Anschaffung eines Hundes drehten – darauf ausgerichtet war, sich abweisend gebärden zu müssen. Niemals würde ich einwilligen in einen Hundekauf.

    Und so ist es eine lange Geschichte zähen Ringens, aus einem Hundeverweigerer einen Mitläufer für Hundespaziergänge gemacht zu haben, so, als gehörte ich dazu, ja, man könnte sogar sagen, man hat – unmerklich für einen selbst, wie nebenher vom Wege aufgelesen – einen Hundeauskenner aus mir geformt.

    Aber hätte es diese Wege nie gegeben, was dann? Wäre dann auch so viel Zeit gewesen, den Blick zu schärfen, abzuwägen, inwieweit nicht die durch die Natur bestimmten Lebensbedingungen verteidigt werden müssten, gegenüber den vom Menschen geschaffenen künstlichen? Und ist es mir nicht gerade erst dadurch ermöglicht worden, Wege und das dort gefundene Lesegut wie einen Vorrat zu sammeln und als Ergänzung oder sogar als deren Widerspruch in die gängige Vorstellungswelt der Lebensbewältigungen einzuspeisen?

    Bevor man allerdings zu einer solchen Bewertung der vollständigen Geschichte kommen kann, ist doch eine ganze Weile und Wegstrecke mit Hindernissen und Widerständen zu bewältigen, die nach und nach erst beiseitegeräumt werden müssen, ehe sich ein Ja-Wort zur Anschaffung eines Hundes in einem wie mir herausbildet und dann irgendwann auch nach außen gelassen wird. Mir eine endgültige Zustimmung abzuringen, dafür haben die Frau und die Kinder sich eine Geschichte einfallen lassen, die, ähnlich einem dichterischen Werk, sich aus Realität und Fantasie zusammensetzt, angestoßen durch ein zufälliges Ereignis, aber geeignet, den Mann, das bin ich, an einer seiner weichen Stellen zu treffen und seine heroisch verteidigte ablehnende Haltung gegenüber einer Hundeanschaffung zu zermürben.

    Damals ging es um die Geschichte einer Verbrecherjagd, eines kriminellen Stückes, wie Kinder sich vorstellen dass Verbrecher gejagt und schließlich hinter Schloss und Riegel gebracht werden, aber erst, wenn man als Kind – im Alter von drei, fünf und sieben Jahren – dabei alle Ängste der Gefahren durchgestanden hat, in denen die Wirklichkeit mit einem spielt, und man voller Bange ein gutes Ende ersehnt.

    ***

    Schon seit einer Stunde am späten Sommernachmittag kreist ein Hubschrauber über den Kleingartenanlagen am See, unüberhörbar und sichtbar Polizei. Martinshorn und Blaulicht auf den Straßen. Die Kinder sind alleine zu Hause.

    Ein Polizeiwagen prescht auf das Grundstück. Zwei Polizisten springen heraus, klingeln Sturm und verlangen Türöffnung von den Kindern. Die dürfen aber nicht – hat die Mutter gesagt. Nicht aufmachen, solange sie nicht wieder zurück sei, sie wolle nur schnell zur Apotheke. Die Mutter siegt über die Uniform.

    Durch die geschlossene Tür rufen die Polizisten: »Habt ihr einen Mann hier vorbeilaufen sehen?«

    Kinderkopfschütteln hinter der Türscheibe und mit Blaulicht wieder weg.

    Als die Mutter nach Hause kommt, ist die Tür verbarrikadiert und die Kinder sitzen mit je einem Küchenmesser bewaffnet verängstigt weinend in der Küche, einem bösen Bösewicht zu trotzen. In diesem Augenblick wurde die Idee geboren, einen Hund anzuschaffen, den Kindern zur Sicherheit – und die Entscheidung stand wie ein Felsen im Raum.

    ***

    Bei meinem Eintreffen am Abend wurde ich überfallen mit dieser Geschichte, in immer wieder neuem Gewande, die Furcht sich von den kleinen Seelen zu reden, und war froh einwilligen zu können, in die Besänftigung der Gemüter, durch väterliches Verständnis für einen Hundekauf.

    Was allerdings Wirklichkeit und was Beiwerk war, werde ich wohl nicht mehr erfahren, zu sehr hat sich dieses Ereignis als Ausgangspunkt für einen Hund im Familiengedächtnis als einzige Wahrheit verewigt, und die Frau, diese Lehrerin, ist nicht bereit mehr als das Gesagte preiszugeben.

    Ich weiß gar nicht, ob es der Frau bewusst ist, was sie mir mit der Zustimmung zu einem Hund im Hause abgerungen hat. Und ich hoffe auf die Kinder um nachträgliche Danksagung und Weihung irgendwann, falls sie die Größe meines Geschenkes bis zum heutigen Tag noch nicht in seiner ganzen Tragweite erkennen konnten. Denn sie sollen nicht denken, es wäre kein Opfer, es wären in mir keine sich auftürmenden Widerstände zu überwinden gewesen, aufgetürmt durch ewig dauernde Sekunden gefletschter Zähne vor mir oder grob riechender Scheiße am Schuh unter mir.

    So bin ich bestückt mit Seiten in meinem Leben, die immer mal wieder mit Ereignissen, die mit Hunden zu tun haben, beschrieben sind. Auf den ersten Seiten stehen allerdings Ereignisse, die ihren Ablauf nahmen, ohne dass ich mir den Bezug dazu gewollt herbeigeführt hätte und die Schreiber auf diesen ersten Seiten sind mir nicht erinnerliche Überlieferer.

    Also … eigentlich bin ich keiner, der von Haus aus mit Hunden in Verbindung zu bringen wäre. Auch wenn meine Mutter von einem kleinen, weiß-grau-braun gefleckten Hund namens Foxel erzählt – in mir ist haften geblieben: mit Haaren ähnlich einer Schuhbürste. Ich war klein, mit Lederhose und langen Locken und soll geweint haben, weil der Foxel beim Wildern erschossen worden sei.

    Der Konjunktiv an dieser Erzählstelle musste herhalten, weil ein bisschen Zweifel an dieser Version, wie Foxel zu Tode gekommen sein soll, in meinem Gedächtnis eingespeichert ist. Aus dem Dickicht meiner frühkindlichen Erinnerungen winkt ganz entfernt eine andere Darstellung der Todmachung für diesen Hund. Und aus heutiger Sicht müsste es dann an dieser Stelle zusammenfassend heißen: Feudaler Atem hat Foxel zu Tode getroffen. Die Geschichte ist nämlich meiner Meinung nach die gewesen, dass von gräflicher Eminenz, auf dessen Gut in wirren Nachkriegszeiten meine Eltern untergekommen waren, eine Exekution des Hundes Foxel vorgenommen worden ist, weil der sich zu sehr für die Dackelhündin des Grafen interessierte. Für den Adel muss die Frage der Berechtigung einer standrechtlichen Erschießung für ein solches Vergehen zu der Zeit noch eindeutig gewesen sein. Aber möglicherweise hat sich das bis heute auch gar nicht geändert.

    Davon ist mir aber kein Hundebild geblieben, was bis heute hätte heimliche Sehnsucht wuchern lassen nach einem Hundebesitz, behaupte ich gegen alle diejenigen, die mit psychologischer Raffinesse mir Unwissenheit über meine heimlichen Wünsche aus frühkindlichen Erlebnissen nachsagen wollen. Überhaupt! Wenn ich schon grabe in meinen Annalen – in der Versuchung Lust und Last, also für und wider einer Zuneigung zu solchem Getier in freudscher Manier zu hinterfragen –, tauchen Bilder auf, die alle auf nur einer Waagschale zu liegen kommen. – Der geneigte Leser weiß schon, was ich meine, wie Justitia da steht mit der Waage in der erhobenen Hand auf der einen und dem Schwert in der anderen, abzuwägen, was rechtens sei. Schön gedacht, wissen wir, aber zu wessen Nutzen? Natürlich, Recht und Gerechtigkeit, so sagt man heute; zwei Paar Schuhe.

    Aber davon will ich nicht reden, will nur sagen: in der Frage der Zuneigung zu Hunden ist es mehr zu einer ungleichgewichtigen Anhäufung von Dagegen auf der einen Schale, statt Dafür auf der anderen gekommen.

    Na ja, wird mancher sagen, könnte es nicht aber wirklich doch so sein, dass dieser Foxel vielleicht unbekannterweise, wie ein archäologischer Fund, als Ahnung einer innigen frühkindlichen Verbindung zu einem nicht menschlichen Wesen auf dem gegenüberliegenden Waagenteller liegt? Wenn, dann bleibt aber offen mit welchem Gewicht. Ihr, werte Leser, werdet es selbst bestimmen müssen, je nach Eurer eigenen Auffassung von um sich greifenden psychologischen Theorien.

    Auf der diesseitigen Schale zu wägen liegt auf jeden Fall ein Jagdhund. Was mir noch heute die Spielwelt des ganzen Hofes des gräflichen Anwesens ist, musste dem Hund des Grafen der schmutzige Zwinger sein. Den ganzen Tag folgten einem die traurigen Augen nach. Aber jede Annäherung versetzte ihn in erschreckliches Gebell. Und ein Geruch ist mir in der Nase, der jeden Gedanken daran zu vertreiben wünscht.

    Aber es gab auf dem Grafengut auch einen Dackel mit wehenden Ohren und dem Schwanz als Wimpel hintendran und Freudengebell bei jeder Begegnung! Nur gehörte dieser Hund auch dem Grafen. Im Gegensatz zu dem Zwingerwesen wohnte der Dackel allerdings direkt mit in der gräflichen Behausung. Vielleicht frönte er dort ein Leben als Schoßhündchen, der Gräfin zuliebe.

    Trotzdem, zur Jagd musste der Dackel auch mit ran. Da waren Füchse und Kaninchen aus dem Bau zu treiben. Aber irgendwann gab es einen Dachs, einen gemeinen Hühnerräuber, wie es hieß, und ein Ereignis, ihn in seinem Bau auszugraben. Auch meine Kinderneugierde war zugegen. Herrchen Graf schickte den Dackel in den Dachsbau und der kam nicht wieder. Mir blieb ein Jaulen und Winseln … und eine Stille, in die hinein mit einem unflätigen gräflichen Gefluche dem Dachs der Garaus gemacht wurde.

    Über diesen Bildern thronte ein anderes. Und ich sage deswegen thronte, weil dieses Bild sich früher immer dann meiner als Erinnerung bemächtigte und mich in Form von Angst beherrschte, sobald sich mir ein unvertrauter Vierbeiner näherte.

    Hinterm Kuhstall links durch den Wald führte ein zerfahrener Sandweg zum nächsten Dorf. Dort, wo die düstere Tannenschonung endete, stand ein Haus unter Eichen und dort zerrte an einer Kette auf dem mit Feldsteinen ausgelegten Vorhof eine schwarze Bestie, der ganze Kopf nichts als Reißzähne. Ich musste zu diesem Haus, um die dort wohnende Frau für den nächsten Tag zur Feldarbeit zu bestellen. Sie war eine Heuerfrau, eine Gutstagelöhnerin. Ich war der Sohn des Gutsverwalters.

    Der Hund ließ mich nicht weisungsgemäß meinen Auftrag ausführen, und ich fuhr heim, meinen Vater zu belügen. Als die Frau am Morgen zur Arbeit auf dem Feld nicht erschien, musste ich in die Pedale treten sie zu holen. Der Hund riss sich los und nur weil die Frau in der Nähe war und ihn kuschen ließ, blieb ich am Leben.

    Wie sollte bei solchen Geschichten aus mir einer werden, der mit Hunden spielte, der womöglich Kenntnis davon erwerben wollte, was für eine Art jeweils gerade auf ihn zugewedelt oder dahergebellt käme?

    Selbstverständlich wusste ich natürlich aus nebenher erworbenem Grobwissen, allgemeine Merkmale den verschiedenen Hunderassen zuzuordnen: krumme Beine, etwas größer als eine Ratte – Dackel; lockiges Haar und Tennisball am steil aufragenden Schwanzende – Frauchen mit Pudel; Männer klein, Hund groß und am Hinterteil behindert – Schäferhund.

    Große und kleine Hunde, verschiedene Farben … ja, das kennt man, aber welche Rasse sich nun unter welchem Fell verbirgt, das wollte ich eigentlich nie wissen.

    Bei Collies allerdings, würde ich sagen, ist das anders. Den Collie, wer kann das nicht sagen, kennt man aus vielen Fernsehstunden mit Lassie und hat diesen Hundetyp mit Leib und Seele in sich aufgenommen: schön, klug und unaufdringlich menschenfreundlich – wenn es darauf ankommt: todesmutig.

    Also, was kann man erwarten? Denn als nun schließlich, wie erzählt, der Bann für einen Hund gebrochen war und bei Frau und Kindern sich die Frage einstellen konnte: Was für einen Hund wollen wir?– Was konnte dabei schon herauskommen?

    Zwar habe ich noch das eine oder andere Mal versucht, mit Vernunft oder Schönrederei meine Zustimmung zu relativieren, aber damit hatte ich mich ganz gewaltig verrechnet. »Verräter!«, war noch die mildeste Form der charakterlichen Festschreibung meiner Person. Also musste ich mich überstimmen lassen. Ein Mensch, eine Stimme! Alles andere im Umgang mit demokratischen Spielregeln wurde von der Frau und den Kindern nicht akzeptiert, obwohl ich zu gerne dann doch in dieser Frage mit Stimmrechten ausgestattet gewesen wäre, wie sie zu verschiedenen Zeiten die Herrschenden den Untertanen als gerecht und unumstößlich, im Sinne von Gott gegeben vorgegaukelt haben.

    Also bleibe ich bei der entscheidenden Abstimmung gegen einen Hund in der Minderheit und verliere den Wahlkampf, während die Kinder den Sieg mit ihrer Mutter in Form einer Polonaise feiern. Mit dieser Entscheidung für einen Hund fällt auch die Entscheidung für einen Collie, mir gegenüber als Kompromiss getarnt. Ich muss wohl irgendwann einmal signalisiert haben, dass, wenn überhaupt ein Hund infrage käme, es nur ein Collie sein könne.

    Und so kommt ein Collie ins Haus, blindlings gekauft wie eine Katze im Sack. Der Hund ist schön, der Hund ist lieb, aber zu nichts zu gebrauchen, wofür man einen Hund möchte, weil er ständig kränkelt.

    Also entscheidet der mir stimmmäßig überlegene Familienrat, noch einen richtigen Hund dazuzukaufen. Ein Rassehund von einem Collie mit Papieren müsse es sein. Wo sollte so ein Rassehund herkommen? Na selbstverständlich aus einer anerkannten Colliezucht – und wie man mir versichert, wolle man sich diesmal zuvor gründlichst erkundigen, was man bei einem Hundekauf alles berücksichtigen müsse.

    Sollte jemand annehmen, dass ich als der in der Hundefrage Unterlegene nun mit all den Dingen, die auch zukünftig mit Hund zu tun hätten, nicht in Anspruch genommen werden würde, irrt dieser Jemand gewaltig.

    Zuerst musste ich zu jeder Collie-Zucht, die sich in Zeitschriften oder Internet anpries, meine Meinung äußern: »Wie findest du die?« – »Sind die nicht süß?« – »Sehen die nicht toll aus?« – »Vergleich mal, sag: Welche sind besser?« Und egal was man antwortet, die Fragen hören nicht auf. Und dabei soll doch nur ein Hund gekauft werden!

    Und dann wurde die Entscheidung auch noch davon abhängig gemacht, welches Blut in dem Hund pochte. Denn sehr bald wollte die Frau herausgefunden haben, amerikanisches Hundeblut sei herzhafter als englisches. Dafür musste ich sie extra zu Hundeausstellungen fahren, dahin, wo möglicherweise solches besichtigt werden konnte. Aber nur englisches Blut in diesen Hunden wurde ausgestellt.

    Aber da konnte ich dann sehen, wie Hündchen fein gemacht wurden: gekämmt, geföhnt, gepudert. Niedliche Colliepüppchen, nicht größer als eine Gans, vielleicht auch so klug, aber mit Sicherheit nur halb so mutig. Zitternde Hunde wurden auf den Laufsteg gezerrt. Sie seien es nicht gewöhnt, auf so glatten Böden zu laufen. Die Armen! Wo sie im normalen Alltag doch sonst nur auf Teppichen zu laufen kämen.

    Ich musste erfahren, wie diese Zuchten sich ständig selbst hofierten, ins Gespräch brachten, auf Werbeeffekte aus waren. Die Verbandsund Vereinsschriften waren voll mit Lobtexten und Bildern von sogenannten wesensfesten Hunden und wenn man das nachprüfte war genau das Gegenteil der Fall. Einmal in die Hände geklatscht, und der Hund zuckte erschrocken zusammen.

    Wen wundert’s? Derartige sprachliche Beschönigungen haben heutigentags doch überall Einzug gehalten, auch wenn der Zustand von Gebrechlichkeit nicht zu übersehen ist. Haben nicht zur Ablenkung von sozialen Missständen Lügen dieser Art geradezu Konjunktur? Ganze Ämter werden umbenannt, um sich abzusetzen von dem Gedanken, staatliche Wohlfahrtspflege wäre eine Pflicht des Gemeinwesens. Aus Ämtern werden Service-Center, die Hilfebedürftigen als Kunden verhohnepipelt. Ist die Sicht anders, als es die Wirklichkeit hergibt, ist offensichtlich der Drang nach sprachlicher Verdrehung umgekehrt proportional der wahrheitlichen Bestimmung.

    Jede Zucht hatte übrigens einen Namen, nein, nicht den des Züchters, sondern wie aus einer anderen Welt oder Zeit: Von den hohen Staufen, Aus dem Paradies, Von den kleinen Bengeln oder ähnlicher Schnickschnack. Als könnten diese Namen all das ersetzen, was diesen Hunden durch Zucht abhandengekommen ist.

    Diese lackaffigen kleinen Kriecher sollen einmal Lassie gewesen sein? Ich glaubte es nicht, selbst eingedenk des Wissens um die sich selbst vergrößernden Bilder von lange zurückliegenden Erlebnissen nicht. Nicht wahr, man fahre einmal an die Stätten seiner Kindheit, dann weiß man, was ich meine. Nein, so klein war Lassie nie.

    Aber die Blutbehauptung meiner Frau könnte vielleicht doch ein bisschen Wahrheit enthalten haben. Vielleicht waren mit dem Verschwinden der großen Schafherden Ende des 19. Jahrhunderts in England Collies als Hütehunde derart umgemodelt worden, dass sie für englische Ladys süße Hündchen, Handwärmer, eine Art Muff spielen konnten. Wie sonst hätte die Umwidmung vom Arbeitstier zu einem Modepüppchen vor sich gegangen sein können?

    Also … dort, auf den beschriebenen Ausstellungen, war der Hund, auf den wir aus waren, auf jeden Fall nicht zu haben. Wo aber war der wohnhaft, den die Frau meinte finden zu wollen?

    Ich merkte, wie meine Person mit wachsender Beschleunigung in die Klärung von Hundeauswahlprozessen hineingezogen wurde, als würde ich auf einen Strudel zutreiben, durch dessen Auge ich auf den Grund der Erkenntnis über die wesentlichen Merkmale gezogen werde. Dort aufgeschlagen wußte ich: Neben der englischen gibt es auch eine amerikanische Zuchtlinie, aber die ist nicht standard, nicht in den Zeitschriften, jedenfalls nicht in den hiesigen.

    Wo aber waren hier Nachfahren von Hunden zu finden, deren Ahnen in Vorzeiten als Collie einmal ihre Pfoten auf den amerikanischen Kontinent gesetzt hatten? Mir scheint, die aus Schottland stammende Rasse war mit Quäkern dereinst von England aus auf der Flucht vor Arbeitslosigkeit, Armut und Hunger über den großen Teich nach Amerika gekommen, musste nun Indianer vertreiben und statt Schafherden Mustangs hüten. Das hatte sich genetisch festgesetzt, und es gab anscheinend keine Veranlassung, das bei den Darstellern von Lassie bis in die 60/70er-Jahre herauszüchten zu müssen.

    Oder war Lassie gar kein solcher Hund, wie er mir als Bild vor Augen stand? Ich glaube, ich sprach schon davon, was meine Ahnung betraff, dass über die Jahre die Scharfeinstellung des Bildes bezüglich groß und klein einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung erlegen sein könnte. Und von Lassie-Darstellern aus Zeiten nach meiner eigenen Fernsehbekanntschaft mit der Lassie aus meinen Kindertagen hatte ich, gebe ich zu, genau genommen gar kein real beschreibbares Bild.

    Also Vorsicht, so kann es gehen mit dem vorschnellen Urteil. Lassie war für mich Lassie, groß und stark, ein heldenhafter Hund. Aber ob bei den nachfolgenden Zuschauergenerationen die neueren Folgen der Fernsehserie dieses Bild auch noch ausgeprägt hatten, wußte ich gar nicht.

    So musste ich meine Überlegungen auf nur den Teil von Lassie -Modellen beschränken, die mit mir selbst und Jeff und Oma um Hilfe gebellt hatten.

    Dass Collies aus England stammen, scheint sicher. Mein Gedanke, dass sie mit Quäkern – englisch: quakers – nach Amerika gekommen wären, hat etwas Reizvolles und ist nicht ganz abwegig. Zitterer ist die wörtliche Übersetzung von quakers. Es ist ein Spottname für eine religiöse Gemeinschaft. Und genau so kamen mir die von den Colliehundevereinen vorgegeben Colliezuchtziele vor, aus denen daraus hervorgegangene Collies auf den Ausstellungen vorgeführt wurden, die nichts als englische Zitterer waren.

    Um nun zu einem Collie als richtigem Hund zu kommen, mussten wir bis hinter Mönchengladbach und Aachen fahren, fast bis an die holländische Grenze.

    So fuhren wir dem Ruf hinterher, der von irgendwo an das Ohr der Frau gedrungen war, mit der wahrhaftigen Versicherung, mit einem Welpen dieser Art könne man nichts falsch machen. Nach Mendel ist eben eins und eins zwei. Gute Anlagen und amerikanisches Hundeblut, das musste ein robuster Collie sein! Ein klangvoller Zwingername tat sein Übriges. Zwinger, musste ich lernen, war nur ein Synonym für Zucht. Wir fuhren zum Zwinger Vom Eichenhof. So kamen wir zu einem weiteren weiblichen Collie-Welpen, Tricolor in Schwarz und beste Papiere.

    Kaum bei uns zu Hause, raste das kleine Hundeküken mit der lädierten älteren Hündin durch den Garten, tobte und spielte Ich darf alles und die Ältere vergaß für die Zeit des Aufwachsens des Welpen ihre Krankheiten und starb, als die Neue alleine bestimmen gelernt hatte.

    Mit der Neuen erfuhren wir, was ein Collie sein kann: klug und in jeder Beziehung freundlich, gelehrig, sogar den Mut betreffend. Dieser Hund war in der Lage, sich lernend selbst über Ängste, zum Beispiel bezüglich der Silvesterknallerei, hinwegzusetzen.

    Und mir wuchsen mit jedem Spaziergang Erfahrungen zu, aus denen ich mit der Zeit hundespezifische Einsichten abspeicherte.

    Mittlerweile weiß ich einiges. Und ich kann darüber erzählen. Über die feine Nase, das Riechorgan als Zentrale der Orientierung und Wiedererkennung. Was das heißt, dass alles berochen wird, was riecht, selbst das, was mir äußerst unangenehm ist. Über Dominanz und Rudelführer, Abstammung und Erziehung. Ich bin richtig beschlagen geworden, denn die Frau kann, was diese Dinge betrifft, nichts für sich behalten und ich lerne davon, und damit sie sich nicht wiederholen muss, schnell.

    Und so bin ich nun ein Hundeauskenner. Und wenn da ein kleiner Wuschel auf mich zukommt, kann ich sagen: »Sieh mal an, ein Lhasa Apso. Oder doch ein Shih Tzu?« Und wenn ein irischer Wolfshund kommt, kann ich den nicht übersehen, aber sagen: »Keine Angst, so groß der auch ist, der tut nichts.«

    Doch, so ein Auskenner bin ich nun und drehe mit den mittlerweile drei Colliehündinnen meine allmorgendliche Runde. Und auf was und

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