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FISCHMAUL: 5 ERZÄHLUNGEN VOM UNZUREICHENDEN GRUND
FISCHMAUL: 5 ERZÄHLUNGEN VOM UNZUREICHENDEN GRUND
FISCHMAUL: 5 ERZÄHLUNGEN VOM UNZUREICHENDEN GRUND
eBook223 Seiten3 Stunden

FISCHMAUL: 5 ERZÄHLUNGEN VOM UNZUREICHENDEN GRUND

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Über dieses E-Book

Die erste Geschichte ist eine Farce. Sie handelt von einem Geflügelzüchter, dessen Hühner plötzlich keine Eier mehr legen. Die zweite Geschichte ist eine Verwechslungskomödie. Sie handelt von einer Baufirma, die im falschen Haus landet. Die dritte Gesichte ist eine Gesellschaftssatire. Sie handelt von zwei Nachbarsfamilien, die im Clinch liegen. Die vierte Geschichte ist eine Kriminalstory. Sie handelt von einem Hausarzt, der bei seinen Abrechnungen betrügt. Die fünfte Geschichte ist ein Figurenmonolog und handelt von einem stummen Jungen, der Fische verkauft.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum1. Aug. 2022
ISBN9783347554498
FISCHMAUL: 5 ERZÄHLUNGEN VOM UNZUREICHENDEN GRUND

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    Buchvorschau

    FISCHMAUL - Semjon Volkov

    ZERBROCHENE EIER

    „Du Drecksack, du hast mir lesbische Hennen angedreht! Zwölf Stück! Glaubst du, du kannst mich verarschen?"

    Der fette Ertel guckt hoch, wirkt erst verdutzt. Bis er erkennt, wer -

    „Die Dreckviecher gehen sich gegenseitig hinterher. Un hopp, hocken sie sich aufeinander drauf und machen sich gegenseitig geil. Ich kann’s beweisen, hab’s selber gesehen."

    Wer den alten Rommel kennt, weiss womit er es zu tun hat: der Alte ist in der Umgegend ein berüchtigter Choleriker, macht anderen das Leben sauer. Ein böses, kleines altes Männlein mit altmodischer Brille, vor dem nichts und niemand sicher ist. Vor allem nicht die Hühner, die er sich hält. Der Alte hat ein ganzen Campingwagen voller Hühner. Dazu einen Hahn, einen kleinen, schwarzen Teufel, so herrisch und unberechenbar wie er selbst. Darauf ist der Alte besonders stolz, wie ein Vater auf den eigenen Sohn.

    Überhaupt sind die Hühner sein ganzer Stolz. Der Alte hat zuhause mehrere hiesige Urkunden und Medaillen: ‚Gerhard Rommel: 1. Preis für herausragende Leistung als Geflügelzüchter. - Goldmedaille für die beste Legehenne. - Zweimal hintereinander 1. Platz für die beste Bruthenne.’ Das soll ihm erst mal einer nachmachen. Und jetzt hat ihm der fette Ertel Bruthennen verkauft, die plötzlich … Seit zwei Wochen wartet er vergeblich, dass endlich das erste Ei gelegt wird, die erste Eischale aufbricht, das erste Küken in diesem Sommer schlüpft. Aber nix, Pustekuchen.

    Der Blick des Alten sagt alles. Betrug! Verarsche! Und das bei einem Mann wie ihm!

    Der fette Ertel schnauft. Da kann man nix machen. Der Alte ist ein schwieriger Kunde. Es ist immer besser ihn von hinten zu sehen; am besten man sieht und vor allem hört ihn überhaupt nichts. Da vermeidet man jede Menge Reibereien und Stress. Außer man hat es mit Federvieh, betreibt den Verkauf im örtlichen Verein für Kleintier- und Geflügelzucht. Dann ist der Kontakt mit Privatzüchtern unumgänglich, und man ist solchen Leuten wie dem alten Rommel praktisch ausgeliefert.

    Erst neulich ist der Alte im Vereinshaus aufgetaucht und hat wegen der neuen Futtermischung einen mordsmäßigen Aufstand gemacht.

    - Sag ma, was verkaufst du mir da für ’n Dreck!

    - Was heißt ‘n hier Dreck? Was is ’n eigentlich los?

    - Dein Futter!

    Kommt immer wie der Teufel aus der Kiste, fährt aus der Haut und spuckt Gift und Galle - ob ein anderer was dafür kann oder nicht. Steht dann mit der rechten Faust in der Tasche, als hätte er ein verstecktes Messer. Und jetzt hat ihn der Dicke schon wieder auf dem Hals, schwitzt, sieht verstört aus.

    „Äh, also … stottert der fette Ertel los. Er wirkt ängstlich, sieht in die gereizte Visage des Alten.

    Obwohl er zwei Köpfe größer ist als das alte Männlein und ungefähr doppelt so schwer, geht ihm die Flatter. Seine Hände schwitzen, streichen hilflos über seinen Schmerbauch. Der Alte ist schließlich unberechenbar, wer weiss … In solchen Augenblicken hasst er seine Arbeit.

    „Also … Sauerei! Unglaublich! Das gibt’s doch nicht. Aber bist du sicher, sind die wirklich … ich meine, tastet sich der fette Ertel vorsichtig ran. „Vielleicht ist ja auch der Hahn … „Der Hahn? Hast du se nicht mehr alle? Soll ich dir mal auf den Arsch treten, du Schwabbel?

    Der fette Ertel macht ein verblüfftes Gesicht, während der Alte nur stocksauer ist. Nichts gegen seinen Hahn. Da wird er erst recht wild. Sein Hahn ist über jeden Zweifel erhaben. Der versteht sein Handwerk, der scharrt und pickt und kräht. Der greift an, der zeigt den Hühnern wo’s langgeht. Der bringt die Hennen, die aus der Reihe tanzen, auf Vordermann. Der ist ein Steher, ein Champion, ein Stecher. Der kann immer, der kann …

    „Also, was quatschst du da für ein Blech! krächzt der Alte aufgebracht weiter. „Was kann denn der Hahn dafür, wenn sich diese dummen Hennen nicht besteigen lassen, hm?

    Der Alte steht da in seinen breiten braunen Arbeitshosen, die er immer anhat. Darauf einen Gürtel, an dem man einen Ochsen hätte aufhängen können. Sein Jähzorn hat an den Hosen deutliche Spuren hinterlassen. Die rechte Hosentasche ist eingerissen von der Faust, die immer heftig in die Hosentasche stößt. Die Tasche ist wieder und wieder doppelt vernäht. Jetzt geht der Alte auf Tuchfühlung: „Ich will von dir Ersatz, neue Hühner. Sechs Stück, jawoll." Er ist zornig und droht. Er kann so zornig und bedrohlich werden, dass sein Hals rot wird und anschwillt - wie der Kamm bei seinem kleinen, schwarzen Prachtgockels.

    Der fette Ertel seufzt. Sein Schmerbauch im bunten Trainingsanzug aus Ballonseide hebt sich beim Seufzen an. Warum hat er auch nicht sein Maul gehalten. Anderseits, der Alte geht ja sowieso bei jedem Furz sofort an die Decke.

    Der Schmerbauch hängt einen Moment in der Luft.

    Nein, da kann man nix machen. Eigentlich will er nur eine ruhige Kugel schieben. So wie fast immer, seit er für die Gemeinde den Zuchtverein leitet. Zweihundert blanke Mäuse im Monat fürs Nichtstun. Keine Aufregung, kein Stress. Aber damit ist es jetzt wieder mal Essig. Immer wird man irgendwo reingezogen. Warum lassen einen die Leute denn nicht einfach in Ruhe? Nein, da kann man wirklich nix machen. Da hilft nur auf Durchzug stellen, und heute Abend gibt es eine halbe Flasche Obstler. Mindestens. Mann, da wird die Mutti wieder jammern. Aber Muttis sind ja praktisch gemacht, um zu jammern. Bringt nix, bringt alles nix. Also, scheiß drauf! Der Schmerbauch sinkt zurück.

    „Was is jetzt?!"

    „Alles klar, zwölf neue Hennen. Machen wir doch. Überhaupt kein Ding. Warte, ich hol nur die Käfige."

    Unwillig und schwerfällig macht sich der fette Ertel ins Lager, holt zwei große Handkäfige. Kurz darauf trottet er vor dem alten Rommel ins Hühnergehege. Seine resignierte Visage sagt alles, und aus seinen zusammengepressten Lippen kommt ein leises Murmeln: „Scheiß Hühner."

    2

    Die Käfige mit den zusammengepferchten Ersatzhennen sind unterwegs, rumpeln auf der Ladefläche von Fett-Ertels Pickup - von der baufälligen Siedlung am Ortsrand mitten ins

    Kaff. Dort haben die beiden Alten ein kleines, halb verfallenes und freistehendes Haus mit großflächigem Grundstück. Der alte Rommel geht voraus. Der Hof ist gepflastert mit dicken Steinplatten. Hinterm Haus liegen Seite an Seite der Gemüsegarten mit den Gurkenbeeten. Daneben das weiträumige Hühnergehege mit dem ausgemusterten Campingwagen, der als Hühnerstall fungiert. Der Campingwagen ist gesprenkelt von Generationen an Hühnerscheiße. Zwischen den Beeten bewegen sich unermüdlich ein Paar schwere Arbeitsschuhe. Die alte Rommel kniet, bearbeitet mit besessenem Eifer ihre Beete mit einer kurzen Hacke. Die kniende Arbeit mit der kurzen Hacke krümmt sie wie die Witterung die Gurken. Einen Moment hebt sich der verblasste Stoffhut. Die Alte wechselt die Stellung, ächzt dabei leise. Dann kriecht sie weiter durch die Beete. Auf allen vieren. Ihr alter Knochenarsch kennt keine Pausen.

    Sind die Gurken krumm? Macht nix. Hauptsache sie faulen nicht. Fangen sie an zu faulen? Abschneiden und ab damit über die Mauer. Geht der Rücken kaputt? Macht nix. Hauptsache die Gurken faulen nicht. Salat ist auch nicht schlecht, aber da hat man dauernd die Schnecken an Hals, muss Gift kaufen. Ne ne, das kostet viel zu viel.

    „Los, mir nach!" kommandiert der Alte den fetten Ertel, öffnet mit einem Tritt das Gatter zum Gehege. Das Gatter quietscht, fliegt gegen den Drahtzaun. Der verblasste Stoffhut hebt sich.

    „Un lass dir diesmal nix andrehen", blökt die Alte quer übers Grundstück.

    „Halt dein Maul!" blökt der Alte noch lauter zurück.

    Der Alte und die Alte harmonisieren exzellent miteinander, sind ein Herz und eine Seelenqual. Die Nachbarn sind leidensfähig, da leidgeprüft, bekommen einiges mit und ab vom Treiben der Alten. Gegacker, Geblöke, den Geruch vom nassem Mist, wenn der Wind ungünstig steht. Und faule Gurken. Mit wachsender Ungeduld wünschen sie die beiden Alten regelmäßig gegenseitig in den Schlund.

    - Vierzig Jahre im Farbenbau der Chemiebetriebe der Stadt.

    Und sie?

    - Weiss nicht genau. Irgendwas an Fließband.

    - Am Fließband? Muss wohl bei beiden mit der Zeit aufs Hirn gegangen sein. Aber voll.

    Der abrupte Besuch und das aufgeregte Gekrächze der Neuankömmlinge versetzen auch die heimischen Hühner in Aufregung. Alles, was Federn hat gackert und krächzt, zieht den Kopf ein, weicht zurück vor dem fremden Gekrächze und den Beinen der beiden Eindringlinge.

    Nur vom Hahn ist nichts zu sehen.

    „Stell ab. Dahin!"

    Der fette Ertel stellt die beiden Handkäfig ab. Jeder Schritt ist anstrengend, der Käfig mit den Hühnern schwer. Er schwitzt, wischt sich die Stirn und sieht zu, wie der Alte direkt zum Misthaufen steuert. Direkt dahinter murmelt leise ein keiner Bachlauf. Dort hockt der Hahn und macht keinen Mucks, ein zusammengekauertes Bündel schwarzer Federn. Es sieht aus, als würde er sich verstecken. Als der Schatten des Alten über ihn fällt, reagiert er kaum, dreht nur langsam und unbeteiligt den Kopf. Die Visage des Alten wirkt besorgt. Normalerweise müsste der Hahn umher stolzieren und das Gehege bewachen, die Hennen zurechtweisen und jeden Eindringling sofort angreifen. Manchmal greift er ja sogar die Alte oder ihn selbst an - da gluckst der Alte dann regelrecht vor Wonne. Aber das hier? Stattdessen lässt das Vieh ständig die Flügel hängen, hockt nur noch von morgens bis abends allein hinterm Misthaufen. Das Vieh hat sogar aufgehört mit dem Scharren, schafft es gerade noch morgens aus dem Campingwagen zu trapsen, auf den Misthaufen zu steigen und mühsam ein klägliches Krächzen auszustoßen. Bevor die Hennen auftauchen und das Gehege in Besitz nehmen, hat sich der Hahn längst wie ein Feigling hinter den Misthaufen verzogen.

    So geht das schon seit zwei Wochen, und die Sorgen des Alten wachsen von Tag zu Tag.

    Was für ein elender Anblick. Ein Hahn ohne Schneid, das geht doch nicht mit rechten Dingen zu. Der Alte hat keine Kosten und Mühen gescheut und sofort sämtliche Hebel in Gang gesetzt. Letzte Woche hat er komplett das Futter des Hahns gewechselt. Nichts. Gestern ist der Veterinär gekommen und hat den Hahn gründlich untersucht.

    Nichts.

    Je umso mögliche Ursache ausscheiden, umso mehr ist der Alte bestätigt. Längst glaubt er zu wissen, was das Verhalten des Hahns so drastisch verändert hat. Die Sache wird immer klarer. Hat er es nicht von Anfang an gesagt? Schuld ist nur diese Saubande von Hühnern. Was ist nur in diese dämlichen Hennen gefahren? Hat sein Hahn vielleicht die Pest? Da hat er extra neue Bruthennen gekauft, um eine neue Zucht anzufangen und diese blöden Hennen lassen sich nicht besteigen. Jedes mal, wenn der Hahn ran will, haben sie ihn nicht nur abgeschüttelt, sondern sich sogar zu mehreren verbündet und sind gegen ihn gegangen. Sie beschimpfen und zwicken ihn, bis er die Flucht ergreift. Kein Wunder, dass der Hahn davon ein Trauma kriegt, zum Feigling und Weichei wird.

    Aber jetzt ist damit Schluss. Jetzt wird die Saubande ausgetauscht. Dann sind die alten Verhältnisse endlich wieder hergestellt und alles wird wieder so, wie es immer war. Die neuen Hennen werden keine Zicken mehr machen, der Hahn wieder den Ton angeben und im Gehege für Ordnung sorgen. Der fette Ertel steht noch immer zwischen den beiden abgestellten Handkäfigen. Er gähnt, wartet. Mann, ist das geil hier. Vor allem der direkte Ausblick auf den Knochenarsch der alten Rommel. Und auf seinen Gummistiefeln, erst gestern mit dem Schlauch abgespritzt, klebt auch schon wieder Hühnerscheiße … super, hervorragend.

    Die Hühner haben sich von ihrer ersten Aufregung erholt, umkreisen und beäugen den fetten Ertel jetzt misstrauisch, gackern untereinander. Ratlos kratzt sich der fette Ertel im Nacken, sieht von den zusammenpferchten Hühnern in den beiden Handkäfigen auf die ganzen freilaufenden Hühner. Oh je, das wird nicht einfach werden. Im nächsten Moment beginnt er zu grinsen: „Und Manne, welche von denen sind denn jetzt lesbisch?"

    3

    Der alte Rommel steht in seinem gepflasterten Hof und hört, wie der Hahn kräht. Aber wieso kräht der Hahn, jetzt am Mittag, fragt sich der Alte und sieht zum Himmel. Und während der Alte sich noch wundert, kräht der Hahn zum zweiten mal. Und wieso ist der Himmel eigentlich rot, jetzt am Mittag? Was soll denn der Quatsch! Da hört der Alte bereits das dritte Krähen, und … Was zum?

    Aus dem roten Himmel fallen kleine, ovale Objekte. Die Hühnereier fallen, ein Regen von Hühnereiern zur Erde. Das heißt, die Eier fallen nicht, sie sinken. In Zeitlupe sinken die Eier, ein Regen von Hühnereiern sinkt nahezu schwerelos, wie unter verzögerter Schwerkraft, auf den Hof.

    Ach so, reimt sich der Alte zusammen: auffangen, ja. Die Eier auffangen, bevor sie auf den Boden aufschlagen und zerbrechen, das ist die Aufgabe. So langsam wie die Eier fallen - die sammelt er zehnmal aus der Luft. Das ist doch das reinste Kinderspiel, ein Klacks.

    Der Alte wartet, bis das erste Eier auf Kopfhöhe sinkt, hebt seinen Arm, greift zu. Aber das Ei zerbricht, sowie er es berührt. Das Ei zerbricht geräuschlos, noch mitten in der Luft. Die Schale zerbricht wie in Zeitlupe, lässt Eigelb und Eiklar mit quälender Langsamkeit vortreten. Eigelb und Eiklar steigen aus der zerbrochenen Schale, eine schleimige Masse, die unter zeitlicher Verzögerung bizarre Formen bildet. Sekundenlang stehen dicht gedrängte Tümpel und gedehnte Fäden in der Luft, zerfließen so zäh wie dickflüssiges Sirup. Die Fäden ziehen an den Tümpeln. Unendlich langsam strömt die schleimige Masse im Sinken in verschiedene Richtungen auseinander. Und alles unter dem entsetzen Blick des Alten, der reine Hilflosigkeit ausdrückt.

    Das Ganze ist umso seltsamer, da der Alte selbst nicht im geringsten von der Verzögerung eingeschränkt wird. Er kann sich in gewohnter Art und gänzlich ungehindert hin und her bewegen.

    Schon kommt das nächste Ei, sinkt in Griffweite. Diesmal wartet der Alte, bis es auf Brusthöhe ist, bevor er beide Hände ausstreckt. Aber das Ei, sowie es auf seinen offenen Handflächen auftrifft, zerbricht wieder, explodiert förmlich bei der geringsten Berührung. Das Nächste genauso. Und wieder. Egal wie er es anstellt, egal wie behutsam er danach greift. Die Eier zerbrechen, sowie er sie berührt. Sie zerbrechen als wäre ihr Fallen nicht verzögert, sondern ungebremst. Und es kommen nun immer mehr Eier. In Zeitlupe sinken sie zur Erde, ganz langsam und behutsam. Aber so langsam sie auch sinken, sie klatschen trotzdem auf die Betonplatten im Hof oder zerbrechen unter der geringsten Berührung des Alten. Alle Eier gehen kaputt, ausnahmslos, ganz unabhängig von ihrer seltsam abgebremsten Fallgeschwindigkeit.

    In panischer Hast rennt der Alte umher, versucht die fallenden Eier zu retten. Sein Entsetzen über dieses absurde Schauspiel, das vor ihm abläuft, steigert sich bis ins Unerträgliche; mit jedem zerbrochenen Ei wächst seine Angst. Vor allem, als er selbst feststellt, das ihn die Verzögerung nicht einschränkt und er jede Bewegung im üblichen Tempo ausführen kann. Wenn er nur ein einziges Ei retten könnte. Aber er kann kein einziges Eier retten. Und endlich völlig hilflos und gelähmt vor Angst steht er reglos und sieht zu, wie sämtliche Eier, die der Himmel schickt, auf die Steinplatten in seinem Hof klatschen und beim Aufprall zerschmettern.

    Der alte Rommel schreckt hoch aus seinem Schlaf. Er ist schlagartig wach, stützt sich im Bett auf seine Ellbogen. Vier Uhr. Während er angespannt ins Dunkel starrt, lauscht er einen Moment reglos. Die Alte neben ihm schnarcht, wie üblich. Dahinter ist nur die Stille. Dann ist die verdrängte Ahnung, von der er in dieser Nacht geträumt hat, zurück und packt ihn. Die Stille ist die verdächtige Nahrung seiner Ahnung, zerrt den Alten aus seinem Bett. Der Zwang zur Gewissheit ruft, erteilt der Gewohnheit Befehle: aufstehen, anziehen, raus, nachsehen.

    Draußen ist es noch dunkel. Im frischen Herbstmorgen schlurft der Alte durch den dunklen Garten zum Gehege. Er wirkt wie ein Verurteilter, der seine Strafe resigniert hinnimmt und widerstandslos Folge leistet. Er schlurft vorbei am Misthaufen, sieht.

    Seine Ahnung hat sich bestätigt. Der Hahn ist tot. Ertrunken. Der Alte braucht überhaupt nicht zu suchen. Er findet ihn hinterm Misthaufen, ertrunken in der knöcheltiefen Pfütze von Bachlauf. Ein durchnässtes Bündel schwarzer Federn in unnatürlicher Stellung, die Krallen sind verdreht, der Kopf weit zurückgeneigt. Was für ein elender und bitterer Witz! Was für eine hundsgemeine Schmach!

    Mit finsterer Visage zieht der Alte den toten und aufgeweichten Kadaver aus dem Wasser. Ursache und Motiv stehen für den Alten fest: Selbstmord aus Verzweiflung. Was sonst? Das musste, das konnte wohl nur so kommen. Der Ärmste hat sich abgerackert, um die Hennen zu beeindrucken, erst die Alten, dann die Neuen. Vergeblich. Er hat sich abgeplagt, um die Hennen zu besteigen, die Alten wie die Neuen. Umsonst. Keine der Hennen wollte noch was von ihm wissen. Das war kein stolzer und kampflustiger Hahn mehr, nur noch ein Häufchen Elend, das von sämtliche Hennen missachtet

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