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Groß Schneen 1000 Jahre
Groß Schneen 1000 Jahre
Groß Schneen 1000 Jahre
eBook421 Seiten4 Stunden

Groß Schneen 1000 Jahre

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Über dieses E-Book

Groß Schneen, ein Dorf, seine Menschen, ihre Geschichten - eine Eiche, 1000 Jahre, ein Jubiläum, ein Augenblick.
Der Autor schildert 50 Jahre erlebtes Dorfgeschehen, vom Neubürger bis zum Erzähler der Jetztzeit, in bildhaften Geschichten und Anekdoten. Seine Nähe zum Einzelnen gibt der Gemeinschaft ein Gesicht, in dem sich jeder wiederfindet. Namen, Bilder, Schicksale sind die Seele ihres Dorfes und der Inhalt dieses Buches. Eingebettet in die turbulenten Veränderungen eines halben Jahrhunderts, vollzieht sich in Groß Schneen der Wandel von einem Bauerndorf zum Mittelpunkt einer Gemeinde mit hohem Bekanntheitswert. Ein sehr persönliches Gesellschaftsportrait.
Aufschlussreich, überraschend und spannend.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum1. Mai 2022
ISBN9783347534834
Groß Schneen 1000 Jahre
Autor

Udo Lau

Der Autor wurde 1944 geboren und wuchs in einem kleinen Dorf in der Nähe der damaligen Kreisstadt Alfeld/Leine auf. Nach einer lebhaften und erinnerungsreichen Kindheit und Jugend machte er dort sein Abitur. Nach zwei Jahren Bundeswehr begann er in Göttingen mit dem Studium für Geographie und Sport und wurde dann Lehrer an einem der Göttinger Gymnasien. Beruf, Familie, drei Kinder, Hund, Hobbies, eine gelungene dörfliche Integration – verbunden mit einem intensiven sozialen Engagement – ließen ihn wieder in die ländliche Idylle zurückkehren: in eine kleine Gemeinde südlich von Göttingen. Hier ging das kindliche Samenkorn seiner späten jagdlichen Berufung auf und findet sich in den Geschichten dieses Buchs wieder. Einige Erlebnisse seiner einjährigen Weltreise während des Millenniums (s. a. Udo Lau – „Ein Jahr um die Welt“) gehören sicherlich zu den abenteuerlichen Höhepunkten seiner jagdlichen Erzählungen. Der Rückblick auf diese Momente schenkt dem Autor eine glückliche Erinnerung und eine dankbare Freude.

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    Buchvorschau

    Groß Schneen 1000 Jahre - Udo Lau

    PROLOG

    Die Frage, wer ist Neubürger oder Groß Schneer, zieht sich wie ein Glaubensbekenntnis durch die Geschichten dieses Buches. Jede Antwort darauf wird immer der subjektiven Einschätzung und Betrachtung des Betroffenen unterliegen. Ein objektiver Test könnte dabei eine wertvolle Hilfe sein, sich selbst ehrlich einzuschätzen.

    Ein „echter Groß Schneer müsste die Fragen vor dem Lesen des Buches beantworten können, einem Neubürger gäbe man nach der Lektüre die Möglichkeit, sich zumindestens als Anwärter auf den Titel bewerben zu können., „… de annern häwwet ‚n Schett.

    Fragen:

    1. Wo steht die „Prinzeneiche"? (1 Pt.)

    - am alten Sportplatz, - im Groß Schneer Wald, - auf dem „Dreisch"

    2. Wer oder was wird „angebunden"? (1 Pt.)

    - das Vieh, - die Neubürger, - das Stroh.

    3. Wie hoch ist der „Bocksbühl"? (1 Pt.)

    - 453 m, - 425 m , - 435 m

    4. Wo fand die Kirmes in den „Dreißiger Jahren" statt? (1 Pt.)

    - Gar nicht, - in der Feldscheune, - im „Ludewig’schen Garten"

    5. Was ist die, der oder das „Küttche"? (3 Pt.)

    - eine Auszeichnung, - eine kleine Schweinerei, - ein Denkmal

    6. Wo fand die letzte Hinrichtung statt? (1 Pt.)

    - unter der 1000-jährigen Eiche, - auf dem „Sülzeberg, - auf dem „Dreisch.

    7. Was wird auf einem Grenzstein beim Grenzabgang zelebriert? (1 Pt.)

    - eine Wanderpause, - ein Lied gesungen, - eine Ohrfeige verteilt

    8. Die „Flachsrotten" sind? (1 Pt.)

    - Fischreusen in der Leine, - eine Wildschweinfamilie, - Schießstände?

    9. Wieviel Zuschauer waren beim „Bullenrodeo" in Groß Schneen? (1 Pt.) - 100, - 900, - 1600

    10. Woraus wird ein „Feldkieker" gefertigt? (1 Pt.)

    - aus Gänseschmalz, - Rotwurst, - Flomenhaut.

    11. In welchem Jahr war die letzte Groß Schneer Brandserie? (1 Pt.)

    - 1958, - 1963, - 1975

    12. Was ist der „Mercedesstern"? (1 Pt.)

    - eine Wegekreuzung, - eine Automarke, - ein Gebäckstück

    13. Was ist noch immer in Betrieb? (1 Pt.)

    - die Milchannahmestelle, - die Strulle, - die Heißmangel

    14. Welche 3 Groß Schneer Originale verbergen sich hinter (3 Pt.) „Klingelausrufer, „Schäferlied, „knöriges Brummen"?

    Die Rangfolge …

    Kiugsciieißer"

    16-18

    „Ureinwohner"

    13-15

    „Groß Schneer"

    10-12

    „Adoptivbewohner"

    7-9

    „Neubürger"

    4-6

    „Durchreisender"

    0-3

    … zur Einordnung

    DIE 70`ER JAHRE

    „Einzelberg"

    DAS HAUS – „UNTERDORF 33" – DER ANFANG

    „Junge, lass die Finger davon, das wird nichts!"

    Diese Worte meines Vaters begleiteten mich nach oben.

    Gedankenverloren ging ich zum wiederholten Mal durch das eigenartige Treppenhaus, dessen architektonische Besonderheit mir zwar auffiel, die ich mir aber bis zu diesem Augenblick weder erklären konnte und auch nicht wollte.

    Meine Aufmerksamkeit richtete sich vielmehr auf den allgemeinen Eindruck eines Hauses, das ich zu kaufen beabsichtigte. Allein diese Absicht verursachte in mir das Gefühl eines unkontrollierten Realitätsverlustes, verbunden mit dem unerschütterlichen Willen eines Nestbautriebes.

    Die mahnenden Worte meines Vaters waren da nicht besonders hilfreich, sie konnten aber meinen Tunnelblick nicht entscheidend beeinflussen.

    Heute war ich allein in dem Haus, dessen äußerer Charme mir auf den ersten Blick gefallen hatte. Es war ein Fachwerkhaus, so wie wir eins gesucht aber bisher nicht gefunden hatten. Objekte dieser Art waren Anfang der 70-er Jahre stark gefragt, weil sie für mittellose, akademische Kleinfamilien gerade noch finanzierbar, und für ein unbeschwertes Landleben besonders reizvoll waren.

    Unsere amateurhafte Standortanalyse hatte neben der finanziellen Komponente nur eine zweite wesentliche Bedingung: das Anwesen sollte südlich von Göttingen liegen, da uns die verkehrstechnische Anbindung dieser Dörfer an die Universitätsstadt, aufgrund ihrer Zonenrandlage, eher eine sackgassenähnliche Einbahnstraße, als eine vielbefahrene Durchgangsstraße zu sein schien. Für unseren beruflichen Pendelbetrieb eine gute Lösung.

    Die bisherigen Angebote erfüllten nicht unsere Vorstellungen. Das eine war ein kleines Ferienhausobjekt mit idyllischer Bach- und Wiesenromantik im hessischen Grenzgebiet bei Berge, das andere ein schier unüberschaubarer Mühlenkomplex in Dramfeld. Also entweder zu klein und zu weit entfernt oder zu teuer und viel zu arbeitsaufwändig.

    Nun stand ich also in der oberen von vier Halbetagen dieses neuen Objekts und schaute aus dem Fenster, mit dem Schlüssel des Maklers in der Hand. Mein Blick fiel auf die Kirche, deren stolzer Kirchturm wie eine „Feste Burg" den Mittelpunkt des Dorfteils markierte. Das Haus selbst war noch von einem älteren Ehepaar bewohnt, das mir für den heutigen Tag freundlicherweise seine Räume für eine Besichtigung überlassen hatte.

    Und gerade als mir wieder der Satz meines Vaters ins Gedächtnis fiel: „Junge, lass die Finger davon, das wird nichts!, da schlug die Kirchturmuhr die zwölfte Stunde. Ich zählte mit, und der beruhigende Glockenschlag legte sich wie eine symbolische Bestätigung auf meine längst getroffene Entscheidung: „Udo, du machst es!

    Als dann der Dreiklang das fröhliche Nachspiel des Glockengeläuts die Mittagsstunde begleitete, war der Entschluss besiegelt:

    Groß Schneen – auf dieses Abenteuer wollten wir uns einlassen, und wer weiß, vielleicht würde dieser Ort einmal unsere zweite Heimat werden!

    Zu diesem Zeitpunkt aber war das Dörfchen für uns eher ein weißer Fleck auf der Landkarte, ohne ein markantes Profil, ohne Namen aus dem Freundesoder Bekanntenkreis, ohne jeglichen Bezug.

    Eine Siedlung, am südlichsten Zipfel Niedersachsens, nahezu eine Exklave des Göttinger Landkreises, nur fünf Kilometer vom „Eisernen Vorhang" entfernt, der die Bundesrepublik von der DDR mit seiner schicksalhaften Grenze trennte. Eine innerdeutsche Tragödie, deren symbolisches Mahnmal als Heimkehrerdenkmal auf dem Friedländer Hagen weit über das Leinebergland hinaus an Krieg und Leiden erinnerte.

    All diese Eindrücke waren aber in diesem Augenblick nur schemenhafte Wahrnehmungen bei dem Projekt Groß Schneen, Fachwerkhaus, Unterdorf 33.

    Von der ersten Baubesichtigung bis zur notariellen Unterschrift im Oktober 1972 vergingen gerade mal vier Monate. Bis dahin hatten wir in diesem Ort kaum einen Kontakt – bis auf den zu unseren Verkäufern: Lene Bachmann, verw. Ludewig (geb.Wentrott)unserer späteren Nachbarin, deren Tochter Monika und ihrem Mann Willi Hartmann.

    Der gemeinsame Termin beim Notar war ein Spiegelbild dörflicher Besitzrechte, familiärer Meinungsverschiedenheiten und unserer ahnungslosen Gutgläubigkeit, also eine interessante Gemengelage zwischen ländlicher Tradition und urbaner Naivität.

    Mitten in diesem Entscheidungsprozess folgte ein Höhepunkt auf den nächsten:

    Fendina, unser erstes Töchterchen wurde geboren, ein Wonneproppen wie aus dem Bilderbuch. Gleichzeitig steckte ich als Referendar in meinem Zweiten Staatsexamen, als Lehramtsanwärter für Geografie und Sport. Außerdem nahm die Kette, der in diesem Alter anstehenden Einladungen zu Verlobungs- Hochzeits- und Examensfeiern kein Ende.

    Und dann kam noch die unglaubliche Erfüllung meines heimlichen Wunsches dazu: Der siebentägige Besuch mit meiner Frau Helga bei den Olympischen Sommerspielen in München! Für zwei Sportlehrer*innen eigentlich ein berufliches Muss, für eine reale Umsetzung allerdings eher ein Sechser im Lotto.

    Der unbeugsame Wille dabei zu sein, die Kunst, die schulischen und behördlichen Klippen zu überwinden und das unverschämte Glück, dazu noch die passenden Karten zu bekommen, wurden dann auch noch durch zwei Goldmedaillen belohnt: wir waren Zeugen im Stadion, als Ulrike Mayfahrt im Hochsprung und Klaus Wolfermann im Speerwurf Gold für Deutschland holten. Das war Gänsehaut pur!

    Das genaue Gegenteil mit Angst und Entsetzen, durchfuhr uns bei dem feigen Attentat der palästinensischen Terrorgruppe auf die israelische Olympiamannschaft. Dieser Anschlag überschattete die Olympiade, München und die Welt. Sie berührte mit den bewegenden Worten des IOC Präsidenten Avery Brundage ein ganzes Stadion und auch uns: „The Games must go on!"

    Noch tief unter dem Eindruck dieses beispiellosen Erlebnisses wieder zurück im Alltag, brach dieser wie eine Lawine über uns herein. Die folgenden drei Monate mit höchstem Einsatz, wenig Schlaf und nachlassenden Energiereserven, brachten uns an die körperlichen und psychischen Grenzen unserer Leistungsfähigkeit.

    Das Abenteuer Groß Schneen hatte uns voll im Griff!

    Die Umbauruine in unserem neuen Domizil sah aus wie ein Schlachtfeld. Aber auch hier hatten wir wieder ein unerwartetes Glück: die mitübernommenen Mieter waren einsichtig und verständig gegenüber unserem Eigenbedarf und zogen aus. Vielleicht hat sie das Lächeln unserer kleinen Fendina aus ihrem modischen Jeanskinderwagen überzeugt und unserer Kleinfamilie den Vorzug für die Zukunft gegeben.

    Dieser Entschluss gab uns freie Hand für eine Totalrenovierung, die beste Lösung bei einem Projekt dieser Größenordnung. Allein die bürokratischen und amtlichen Formalitäten waren ein reines Spießroutenlaufen: Bauzeichnungen, Architektenentwürfe, Genehmigungen, Grenzvermessungen, Kostenvoranschläge, Bauaufträge, Finanzierungsfragen, Darlehensanträge usw., das ganze Programm kam ins Rollen - und unsere Nerven auch.

    Die Firma Baumbach aus dem benachbarten Friedland rückte an. Mit ihr hatte ich den Bauvertrag geschlossen und damit ein regionales Unternehmen favorisiert.

    Spätestens als das Dach aufgerissen war und ein neuer Schornstein vom Kriechkeller bis zum Dachboden ausgemauert wurde, sackte mein Herz in die Hose. Der Blick vom firsthohen Gerüst, durch drei Etagen in die offene Wunde des ehrwürdigen Gebäudes, bis hinunter in den Kartoffelkeller, bereitete mir weiche Knie. Die Zweifel an der Richtigkeit unseres Unternehmens wuchsen disproportional zu der Fähigkeit, den Überblick zu behalten.

    In meiner Sorge über die ausufernden Kosten legte ich selbst mit Hand an, um mit Eigenarbeit das Stundenkontingent der Handwerker zu reduzieren. Dabei übersah ich in meinem Eifer häufig den Sinn und Nutzen meiner Handlangerdienste. Während ich die Klinkersteine und den Mörtel bis auf Schornsteinhöhe hinaufschleppte, legten die Maurer die Wasserwaage an und schmierten die Fugen glatt. Der damit gesparte Stundenlohn kam meinem Kreuz teuer zu stehen.

    1930, UNTERDORF 33, ANBAU

    Ich hatte die Hoffnung aufgegeben, dass aus dieser Baustelle jemals wieder ein bewohnbares Haus werden würde. Überall lag meterhoher Schutt, jedes Zimmer war ein aufgerissenes Loch. Im Garten stand der Kinderwagen zwischen Unkraut und ausgerodeten Bäumen. Strom-und Versorgungsleitungen liefen wie Schlangen durch das ganze Haus, Wände waren eingerissen und Fachwerkbalken freigelegt… - ich verlor die Übersicht. Die Tage wurden kürzer, und die Zeit lief mir wie Wasser durch die Finger.

    Nach der Schule fuhr ich jeden Tag von Göttingen sofort zur Baustelle, bei Dunkelheit kam ich todmüde zurück. Nur das glückliche Lachen unserer kleinen Tochter, ihr friedlicher Schlaf in ihrem Bettchen und der Gedanke, irgendwann wird ihr kleines Nest in Groß Schneen auch fertig werden, gaben mir die Kraft, die Unterrichtsvorbereitungen und Lehrprobenentwürfe für den nächsten Morgen noch eben in die Maschine zu tippen.

    So ging das Tag für Tag, Woche für Woche, den ganzen Herbst hindurch bis Weihnachten.

    Dabei werde ich eine Schlüsselszene während dieser Schufterei nie vergessen. Es war die Zeit vor dem dritten Advent. Der erste Schnee fiel. Ich war dabei, den lockeren Lehmputz von der Innenwand des Kinderzimmers abzuklopfen, als ich mit einem etwas kräftigeren Hammerschlag ein ganzes Gefach rausgeschlagen hatte und unten auf die Straße schauen konnte. In dem Augenblick kam meine Frau mit Fendina auf dem Arm ins Haus und überreichte mir ein Einschreiben von der Bezirksregierung Braunschweig. Darin stand die behördliche Anweisung, dass ich nach meinem Referendariat von Göttingen nach Verden an der Aller versetzt werden sollte.

    Der Schock über diese Nachricht raubte mir den Verstand! Die Fassungslosigkeit dieses Augenblicks hätte grausamer nicht sein können: Helga und ich schauten uns entgeistert an, im Lehmstaub des zukünftigen Kinderzimmers, mit einem Loch in der Wand und Weihnachten vor der Tür, meinen Versetzungsbescheid in der Hand und dem Bewusstsein, das ist das Ende unserer Träume.

    Doch wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, veränderte eine einzige Geste den Tiefpunkt unserer Gefühle zu einer gemeinsamen Kampfbereitschaft: der neugierige Griff unserer Tochter in meine staubverklebten Haare, ihr entwaffnendes und glucksendes Lachen waren wie ein Signal: jetzt erst recht! Der Wille, das zusammen durchzustehen, hatte uns gepackt.

    Drei Monate später zogen wir ein!!!

    Unglaublich, aber wahr. Auch wenn die zweite Bauphase den Druck und die Anstrengungen noch einmal erhöhte, alles wurde dem absoluten Ziel untergeordnet, am 1. April 1973 sollte der Einzug sein, kein Aprilscherz!

    Alle zogen an einem Strang. Die Baufirma aus Friedland, Helgas Onkel mit seinem Heizungs-und Sanitärbauteam aus Nordrhein/Westfalen, die Schwarzarbeiter im Elektro-Maler-und Fliesenbereich, Oberstufenschüler meiner Gymnasien, Referendarskollegen, Freunde, Verwandte und Bekannte. Die Baustelle wirkte wie ein einziger Ameisenhaufen und sie war, trotz aller Mühen, immer lustig.

    Dazu trugen inzwischen auch die Nachbarn bei. Bisher noch fast ohne jeden Kontakt zur einheimischen Dorfbevölkerung, steigerte sich deren Interesse spürbar mit der Frage:

    Was ist denn da im Unterdorf los?

    Die Schufterei auf dem Grundstück, im Haus und im Garten wurde mit zunehmendem Respekt zur Kenntnis genommen, wenngleich niemand so recht wusste, was von alledem zu halten sei. Noch hatte das Aktionsfeld weder Namen noch Gesicht, und die Fluktuation auf der Baustelle war zu unübersichtlich, als dass man sich darauf einen Reim hätte machen können. Außerdem waren Helfer und Handwerker von dem Bauherrn nicht zu unterscheiden.

    Das war den „Dörflis" mehr als suspekt und jeder war bemüht, irgendwie an verwertbare Informationen zu kommen.

    Wie man das auf dem Dorf schließlich löst, bewiesen einige ältere Stammtischbrüder an einem Sonntagvormittag. Auf dem Weg zu ihrer Doppelkopfrunde in der benachbarten Dorfkneipe, betrachteten sie das Hämmern im Haus als Einladung und standen mir nichts dir nichts im Badezimmer, wo Helga mühsam die alten Fliesen von der Wand klopfte. Nach einer flüchtigen Begrüßung und Vorstellung knüpften sie ebenso direkt wie frivol die Frage an:

    Hallo, junge Frau, wenn das hier mal fertig ist, dürfen wir dann später auch mal mit duschen?

    Damit war der Bann gebrochen und der Maßstab für innerörtliche Kontaktaufnahme gesetzt. Wir betrachteten diese Aufforderung als rustikale Offerte und spielten sie mit.

    Inzwischen hatte aber eine weitreichende und notwendige Entscheidung unsere Situation zusätzlich verändert. Uns wurde plötzlich bewusst, wie naiv wir die Frage nach der Bewältigung des Alltags bisher vernachlässigt hatten. Wie würden wir als Lehrer in Göttingen mit einem Kleinkind in Groß Schneen den Tagesablauf organisieren? Krippe und Hort waren zu der Zeit im Ort unbekannte Einrichtungen, und unsere Eltern wohnten zur möglichen Hilfestellung zu weit entfernt.

    Die Lösung fiel uns wie Schuppen von den Augen. Unsere besten Freunde in Göttingen hatten fast zur gleichen Zeit Nachwuchs bekommen wie wir. Illi und Peter Schröder.

    Ihre persönliche Situation passte haargenau in unser gemeinsames Konzept. Peter stand kurz vor seinem Magister in Deutsch und Philosophie, Ilona arbeitete halbtags bei einer Strickmodenfirma und bei einer Göttinger Tageszeitung. Und bereits direkt nach Helgas Mutterschaftsurlaub, betreute Ilona vormittags unser Töchterchen zusammen mit ihrem gleichaltrigen Sohnemann Florian in einer Hochhauswohnung in Geismar, eine einfache aber keine dauerhafte Lösung.

    Der gemeinsame Entwurf lag also auf der Hand: wir würden zusammen in das renovierte Fachwerkhaus ziehen. Ilona übernahm die Vormittagsbetreuung der Kinder, dafür wohnten Schröders mietfrei mit uns in der renovierten Fachwerkhausvilla… - eine geniale Idee. Die aufkommende Begeisterung trug die weitere Entwicklung von selbst.

    Als ich dann noch mein Versetzungsproblem lösen konnte, stand einem sorgenfreien Start in unserer neuen Umgebung nichts mehr im Wege.

    Der Doppelumzug mit den Bordmitteln studentischer Genialität, verlief reibungslos und markierte den Beginn eines neuen Lebensabschnitts für zwei Familien, deren bisherige Leichtigkeit urbaner Aktivitäten nun auf die konservative Ebene einer dörflichen Struktur transformiert wurde. Das sollten wir gleich hautnah erfahren.

    Denn – wie gesagt – im Dorf blieb das Ganze nicht unbemerkt. Nur hatten sich die Konturen der „Neubürger" in den Augen der Einheimischen etwas geschärft und weckten ihre Neugier umso mehr. Im Dorf stand der Misthaufen noch auf seinem Platz. Die Kirchturmuhr schlug alle 15 Minuten und zur vollen Stunde noch ein paar Schläge dazu.

    „Guten Morgen" sagte man nicht mehr nach 11:00 Uhr, die Gosse wurde samstags sauber gefegt. Hier ging alles seinen geregelten Gang, und argwöhnisch achteten die Nachbarn und Schlaumeier auf die Einhaltung der Regeln und Gewohnheiten. Wir waren die Neuen, fügten uns ein und bemühten uns gutwillig um Integration.

    Die effektivste Drehscheibe dafür und gleichzeitig der intensivste Umschlagplatz für Klatsch- und Tratsch war und blieb die Dorfkneipe. Und die lag direkt neben unserem Fachwerkhaus. Das „Deutsche Haus".

    Herbert Henne war Pächter und Wirt, ohne dass ihm diese Rolle auf den Leib geschnitten war. In seiner eher humorlosen und staubtrockenen Art hatte er aber zwei ausgeprägte Eigenschaften: seinen wachen Ohren entging nichts und seine geschäftstüchtigen Augen übersahen niemals ein leeres Glas Bier, der Zapfhahn war immer in Betrieb.

    Das bunte Gemisch der Gäste, das in dickem Tabakqualm und bei hohem Geräuschpegel den Schmelztiegel einheimischer Dominanz und auswärtiger Neubürger bestimmte, prägte die Atmosphäre. Nur wenn die schwere Eingangstür mit ihrem typischen Knarren geöffnet wurde, senkte sich für wenige Augenblicke die Lautstärke, um nach Erkennen des neuen Gastes umso heftiger wieder aufzubranden oder sich mit zusammen gesteckten Köpfen tuschelnd fortzusetzen.

    Letzteres war in der Anfangszeit immer dann der Fall, wenn von der „Baustelle" nebenan einer von uns die Gaststube betrat. Dann wurde spekuliert, wer ist das nun, der Neue oder einer seiner Freunde und Bekannten? Diese Neugier und Unwissenheit befeuerten wir ganz bewusst und stifteten damit die allergrößte Verwirrung zu unserem besonderen Vergnügen. Mal ging ich mit Illi vorweg und Peter mit Helga hinterher. Am nächsten oder übernächsten Abend machten wir es umgekehrt oder überließen den Frauen allein das Feld. Das grenzte schon fast an moralische Verwerfung und überforderte die Stammtischrunde auf das Äußerste. Die dubiosen Spekulationen über Beziehungszusammenhänge oder Partnertausch gaben uns schließlich den Ehrentitel, die erste dörfliche Kommune in Groß Schneen zu sein. Wir waren stolz darauf!

    Wie gut, dass sich all dieses anfänglich inszenierte Katz-und Mausspiel nach einer gewissen Zeit auflöste und sich die erregten Gemüter mit der Erkenntnis beruhigten, mit uns doch ganz normale Neubürger in ihrer Dorfgemeinschaft aufgenommen zu haben.

    Wir hatten uns in das ländliche Leben eingeklinkt, ohne die städtische Kultur sofort aufzugeben. Über unseren Beruf, das Gymnasium und die Universität blieb der Kontakt zur Göttinger Szene erhalten, der Lebensschwerpunkt verlagerte sich jedoch mehr und mehr nach Groß Schneen.

    Der Anfang war gemacht, und die ursprüngliche Skepsis der „Dörflis" wich zunehmend einer wohlwollenden Anerkennung, ja sogar einem spürbaren Respekt.

    Die sichtbaren Veränderungen auf dem Grundstück, die Aufräumarbeiten im Garten und das Bild der fortschreitenden Fachwerkhausrenovierung hinterließen bei Nachbarn und Zuschauern einen beifälligen Eindruck.

    1979, MICHAELISSTR. 4, NACH DER RENOVIERUNG

    So verwunderte es nicht, dass uns eines Tages der Nachbar von Gegenüber mit seinem Besuch beehrte. Helga erkannte ihn sofort wieder, es war einer aus dem frivolen Trio der Badezimmerbegegnung, der Seniorchef des Fuhrunternehmens, dessen kleine LKW-Flotte so gar nicht in die Fachwerkarchitektur des Unterdorfs passte. Kurzum, mit einem schelmischen Blick und seriös mit Schlips und Kragen gekleidet, trug er uns sein Anliegen vor: Er wollte den straßenseitigen Teil unseres neuen Grundstücks kaufen, um damit die Parkfläche für seine Lastwagenflotte zu vergrößern.

    Unser entsetzter Blick machte die Antwort überflüssig und beendete diesen Teil des Gesprächs abrupt. Aber die Einladung zu einem gemeinsamen Frühschoppenbier schlug Herr Stockmann nicht aus, und damit besiegelten wir eine gute und dauerhafte Nachbarschaft über drei Generationen.

    So ähnlich, aber in der Absicht umgekehrt, verlief ein Bubenstück, an dem ich Interesse hatte. Auf unserer direkten westlichen Nachbarschaftsseite verlief die Grenzlinie unseres ehemals kleinbäuerlichen Anwesens von 1.500 qm so verwinkelt, dass sie kaum eine zusammenhängende Spielwiese für unsere noch geplante Kinderschar ergeben hätte. Das betroffene Nachbargrundstück gehörte allerdings einem Landwirt, dessen Frau das Sagen hatte und als absolut verhandlungsresistent galt. Meine Erkundigungen und die Absicht einer Grenzkorrektur, wurden deswegen von den Einheimischen nur müde belächelt. Da hätte ein zugereister Grünschnabel nicht die geringste Chance auf Erfolg.

    Ich versuchte es trotzdem… - und siehe da, es gelang!

    Was schließlich den Ausschlag für die bereitwillige Zustimmung gab, weiß ich nicht. Sicherlich auch der grundwerte Vorteil eines wesentlich günstigeren Grenzverlaufs auf der eigenen Seite. Selbstverständlich musste ich alle Notar-und Vermessungskosten übernehmen, auch für die drei Quadratmeter, um die sich das Büro zu meinen Gunsten vertan hatte. Diese hätte ich sofort zu den ortsüblichen Baulandpreisen bezahlt, aber damit überschritt ich das Gesetz bäuerlicher Schollenverwurzelung: kein Land gegen Geld!

    Also eine Neuvermessung. Am Ende zahlte ich dreimal die Grunderwerbssteuer für das gleiche Stück Gartenerde. Dennoch, ich hatte mein Ziel mit gegenseitigem Einvernehmen erreicht und blieb auch der Familie Gerlt über drei Generationen freundschaftlich verbunden. Das galt besonders, als Tochter und Enkelin später ihr Anwesen runderneuerten und unsere Nachbarn wurden.

    Mit dieser Bereitschaft, uns ins dörfliche Leben zu integrieren, erwarben wir weitere Pluspunkte in der einheimischen Bewertungsskala und erarbeiteten uns als Neubürger eine zusätzliche Akzeptanz.

    Noch hatten wir unseren Blick nicht weit über die Kirchturmspitze hinaus schweifen lassen. Das Unterdorf war zu dieser Zeit eine gewachsene Einheit ehrwürdiger Fachwerkhäuser, deren Zahl man an weniger als vier Händen ablesen konnte.

    Der markante Bau der Michaeliskirche bildete das göttliche Zentrum, um dessen Mitte sich die typischen Fachwerkhäuser scharten. Mit ihren roten Dächern und den schwarz-weißen Gefachen ihrer historischen Gebäude, bildeten sie ein gewachsenes Mosaik. Ein bäuerlicher Großbetrieb ragte allerdings mit seinem dreigeschossigen Herrenhaus aus dem eher kleingekammerten Bild ländlicher Traditionen heraus: Der Hof von Harriehausen. Dieses Anwesen lebte die Sitten und Gebräuche auch von innen heraus und war in jeder Beziehung ein Beispiel schollenverwachsener Dorfstruktur, dessen Mentalität nur der Gleichgesinnte versteht. Die Geschichten dazu sind unerschöpflich und gehen weit über die mir bekannten drei Generationen zurück.

    Neubauten suchte man zu dieser Zeit im Unterdorf nahezu vergebens. Dagegen waren die Klassiker eines alten Dorfkerns klangvoll besetzt: Schmiede, Tischlerei und Dachdeckerei, die drei B`s der Handwerkergilde, allesamt mit B beginnend: Bode, Börger, Bachmann, ein unverzichtbares Trio für handwerkliche Bodenständigkeit, gewachsen aus den Wurzeln langer Familientraditionen.

    Für uns war es nicht nur eine Selbstverständlichkeit, uns dieser örtlichen Angebote zu bedienen, es war auch eine Verpflichtung der Dorfgemeinschaft gegenüber und gleichzeitig der Beginn von Freundschaften, die durch keine Alternativen zu ersetzen waren.

    Otto Bachmann deckte unser Dach. Walter Börger setzte mit seinem Edelgesellen Heinrich Fischer die neuen Fenster ein. Und Heinrich Bode schmiedete das Rolltor für unsere Hofeinfahrt und schaffte damit einen Hingucker für die Passanten. Wir hatten in den folgenden Jahren zusammen noch viel Spaß miteinander.

    Bei allen drei Handwerkern hatte ich Hof- und Werkstatterlaubnis.

    Bei Otto Bachmann, wenn es um die Transporthilfe mit dem Gabelstapler ging. Bei Heinrich Bode, der mir das kalte Schmieden unserer maßgefertigten Gardinenstangen beibrachte. Und bei Karl Börger, der mir in seiner aufgeräumten Tischlerei zeigte, wo noch bis 1952 Stühle und Bänke der alten Schule standen. Zwei Klassen befanden sich früher unten in seiner jetzigen Werkstatt, und zwei Klassen oben in dem späteren Sarglager. Alles hatte seine Ordnung.

    Und als dann noch kurze Zeit später das Pfarramt neu besetzt wurde und ein junger Pastor den Vorgänger von Kurzbach-Seydlitz ablöste, hatte ich über seinen Nachfolger Rainer Pfaff sogar eine irdische Verbindung zum „Lieben Gott". Da unsere Grundstücke damals noch zaunlos aneinandergrenzten, war die zunehmende Besuchsverbindung schnell und einfach hergestellt.

    Gastwirtschaft, Kirche, Pfarramt, „Alte Schule, kleiner Kindergarten, Handwerker, Bauernhöfe und schließlich noch die „1000-jährige Eiche am alten Sportplatz, neben dem Panoramafriedhof auf dem Mühlenberg, bildeten eine gewachsene Einheit, in deren Kreis wir unsere neue Herberge bezogen und um freundlichen Einlass baten. Die ersten Schritte der Einbürgerung in eine neue Welt waren getan. Ihnen sollten in einem halben Jahrhundert noch lange aber glückliche Wege folgen.

    Wir waren bereit.

    TOTALSANIERUNG

    ÜBER DIE LANDSTRASSE INS OBERDORF

    Es war an der Zeit, eine Bestandsaufnahme der örtlichen Infrastruktur vorzunehmen.

    Das rasende Tempo, mit dem wir unseren Umzug auf das Land gestartet hatten, die kraftraubende Umsetzung mit all ihren Hindernissen und die zum Teil grenzwertige Belastung mussten mal auf eine Atempause heruntergefahren werden.

    Die Aufmerksamkeit allerdings, mit der man in dem verschlafenen Grenzdörfchen unsere Aktivität zur Kenntnis nahm, gab uns kaum Gelegenheit dazu.

    Ein Beispiel dafür war die erste Begegnung mit einem freundlichen Mann, der lachend vor unserer Haustür stand und sich als Bezirksleiter der EAM vorstellte. Er hätte den Auftrag, auf unsere Anfrage den Starkstromanschluss zu installieren und die Zuleitung mit dem Panzerkasten zu verbinden. Für diese Aufgabe erschien er mir auf Anhieb überqualifiziert zu sein, aber ich war dankbar für die prompte Erledigung.

    Sein offener Blick

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