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Der Grüne Mann
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eBook709 Seiten10 Stunden

Der Grüne Mann

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Über dieses E-Book

Der leitende Oberarzt der renommierten psychiatrischen Universitätsklinik wird ermordet im Wald aufgefunden. Vieles deutet daraufhin, dass der Täter in der Klinik zu suchen ist - unter den Mitarbeitern oder Patienten. Die Kommissare Wachtmeister und Merk tauchen tief in die Welt der modernen wissenschaftlichen Psychiatrie ein, um sich dem Mörder und seinen Motiven zu nähern. Nach und nach werden sie von Laien zu gewieften Kennern der psychiatrischen Geheimnisse. Sie lernen Krankheiten kennen, die in der Lage sind, einen Menschen zum Töten zu bewegen. Aber sie lernen auch, wie sich eine menschliche Persönlichkeit formt und was sie beeinflusst. Sie lernen, wie ursprünglich rein neurobiologische Prozesse des Gehirns schließlich zu menschlichen Leidenschaften, zu Angst, zu Neid und zu Zorn werden. Sie können die Welt und das Leben am Ende ihrer Ermittlungen nicht mehr durch die gleichen Augen betrachten wie zuvor.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum20. Aug. 2019
ISBN9783746929071
Der Grüne Mann

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    Buchvorschau

    Der Grüne Mann - Thomas C. Bengart

    1

    „Aha, ein neuer Student, was? Der kleine, dunkelhaarige Arzt mit der runden Brille auf der sommersprossigen Nase stand plötzlich vor ihm, eine Hand lässig in die Hosentasche gesteckt. „Ich bin Andries Kor, ich bin hier Stationsarzt.

    Mario erwiderte den Gruß und blieb dann vor Verlegenheit glühend in der Türöffnung des Stationszimmers stehen, während ihn die darin befindenden anderen Personen, eine Masse von ineinander verschmolzenen Körpern, unverhohlen neugierig musterten.

    Schelmisch lächelte Kor ihn an und machte eine einladende Bewegung mit dem Arm. „Nun komm erst einmal herein. Ich übernehme die Vorstellungen. Dies hier ist zum einen Stefan, der Stationspfleger."

    Mario trat schüchtern heran und schüttelte dem etwa 40-jährigen Mann mit schütterem dunkelblondem Haar und einem spitzbübischen aknenarbigen Gesicht zaghaft die Hand. „Sieht aus wie ein Kobold, nur viel zu groß dafür, dachte Mario und registrierte mit Erstaunen, dass er überhaupt den ersten Gedanken fassen konnte, seit er das schwere, mit kunstvoller schmiedeiserner Zierde versehene mächtige Tor der Universitätsklinik beklommen durchschritten und seinen Weg auf die ihm zugewiesene Station gefunden hatte. Andries beobachtete ihn weiter lächelnd und wandte sich dann um, um ihm noch andere der Schwestern vorzustellen, die im Stationszimmer saßen, dampfenden Kaffee tranken und sich an seiner Verlegenheit weideten. Da waren noch eine Schwester Mariola, eine zierliche kleine Dunkelhaarige mit listigen braungrünen Augen und einem anmutigenausländischen Akzent, die ihn kurz beiläufig anlächelte und sich dann wieder dem Betrachten ihrer sorgfältig lackierten Fingernägel zuwandte. Daneben eine Schwester Susanne, die den beinahe zirkushaften Counterpart zu Schwester Mariola darstellte. Sie musste sich wohl auf eine Anzeige: „große kräftige Schwester mit Biss gesucht, Kenntnisse in der Menschenführung nicht erforderlich beworben haben, fand Mario, denn sie war schwer und breit wie ein Ringer und steckte ihm mürrisch ihre rechte Pranke hin, ohne ihn dabei anzusehen oder ein Wort zu sagen. Daneben schließlich saß noch eine Schwester Ronja, klein, mit breiter Nase und dunklen Sommersprossen, fröhlich und freundlich, die immer im Wechsel einen Scherz machte und dann wieder verschämt zu Boden sah, als würde sie sich vergewissern, dass sie nicht zu keck gewesen sei, um dann im nächsten Augenblick wieder mit dem nächsten Scherz aufzuwarten.

    „Setz dich erst mal, willst du einen Kaffee?" Andries drückte ihn auf einen der abgewetzten Sessel, die um den runden Tisch standen. Mario setzte sich unbeholfen und nahm betreten einen Schluck aus der großen Tasse. Der starke Kaffee rann heiß seine Kehle hinunter, nahm ihm den Atem und versetzte ihn gleichzeitig in einen beschwingten Zustand, der ihm alles viel leichter erschienen ließ.

    „Ist dies dein erstes Trimester?", wollte Kor wissen.

    „Chirurgie habe ich schon hinter mir" antwortete Mario zaghaft.

    „Wo hast du die denn gemacht?"

    „Bei Professor Nuhr".

    Kor lächelte wissend: „Oh. Dann blickte er aus dem Fenster, als interessierte ihn das Gespräch nicht mehr und als dächte er schon längst an etwas ganz anderes. Plötzlich wandte er sich jedoch wieder an Mario und fügte mit sanfter Stimme hinzu. „Dann warst du ja bei einem - schwierigen Charakter.

    Mario errötete. „Das kann man wohl sagen. Soviel Rumgebrülle habe ich im OP noch nicht erlebt. Seine Assistenten stehen bei dem unter psychischem Dauerstress."

    „Und, weißt du schon, ob Du Psychiater werden willst?", fragte Kor weiter, ohne auf Marios Antwort einzugehen.

    „Nein, noch nicht. Ich fand Balthurs Vorlesung exzellent und das Praktikum war auch sehr gut. Da wollte ich mir das mal näher angucken. Ich habe sonst keine große Erfahrung in der Psychiatrie."

    „Schön, schön, eine vernünftige Einstellung. Kors Lachen klang wie das heitere Rauschen eines Gebirgsbaches, „aber wenn du mal Interesse an einer Stelle in diesen heiligen Hallen bekommen solltest, dann rate ich dir, den Eindruck zu vermitteln, als hättest du, seit du Laufen gelernt hast, nur die eine Berufung verspürt, nämlich die universitäre Laufbahn in der Psychiatrie einzuschlagen. Er blinzelte ihm spitzbübisch zu.

    „Geht in Ordnung, ich werde es mir merken", sagte Mario und probierte ein Grinsen.

    Kor nickte ihm lächelnd zu. „Wir haben vor der Visite noch etwas Zeit. Komm´. Ich zeige dir unsere Station. Er nahm aus einem kleinen Kästchen an der Wand direkt hinter dem Stuhl, auf dem Mario saß, einen Schlüssel. „Hier, der ist für dich. Damit kannst du fast alle Türen in diesem Haus aufschließen. Einen Universalschlüssel für alle Räume haben nur der Chef, der geschäftsführende und der leitende OA und einige Leute von der Technik. Merke dir eine wichtige Regel: Jede geschlossene Tür immer wieder hinter dir abschließen, schließlich sind wir hier in der Psychiatrie. Er zwinkerte ihm erneut schelmisch lächelnd zu und verließ den Raum. Mario beeilte sich, ihm zu folgen.

    „Deine Tassä kannst du später abwaschän", krähte eine Stimme frech lachend hinter ihm her. Mario hätte schwören können, dass es Schwester Mariola gewesen war. Verunsichert wandte er sich um, aber Kor packte ihn energisch am Arm, zog ihn mit sich auf den Gang der Station und ging in entgegengesetzter Richtung der Tür weiter, durch die Mario vor einer Viertelstunde die Station betreten hatte.

    „Mach dir nix draus, Schwestern sind nun mal so. Die müssen sich immer aufspielen, sonst haben sie den Eindruck, sie werden von den Ärzten nicht respektiert. Aber die hier sind ganz in Ordnung. Man kommt mit ihnen aus. Er nahm behutsam seinen Schlüssel aus seinem strahlend weißen Kittel und öffnete achtungsvoll eine Tür auf der rechten Seite des Ganges. Mit dieser Tür schien es eine besondere Bewandnis zu haben, denn nur nach innen hatte sie eine Klinke, nach außen zum Gang hin jedoch nur einen Knauf, der sich nicht bewegen ließ. „Damit nicht jeder die Tür einfach so aufmachen kann, erklärte Kor bedeutsam. „Dies ist in den nächsten vier Monaten dein Reich." Sie standen in einem geräumigen Büro mit einem Schreibtisch, vier Stühlen, einer Untersuchungsliege und einem kleinen Schrank.

    „Wie, ich habe ein Büro ganz für mich alleine?"

    „Ja, traumhaft, nicht wahr? Kor strahlte zufrieden über das ganze Gesicht. „Das ist der Vorteil in der Psychiatrie, wisperte er schelmisch und stieß Marius in die Seite. „Weil die Behandlung der Patienten viele Gespräche erfordert und keine andere Person davon etwas mitkriegen darf, muss gewährleistet sein, dass der Arzt mit dem Patienten ungestört ist. Daher diese luxuriöse Ausstattung."

    „Grandios!" Mario dachte an den Platz, mit denen sich Klinikärzte in der Chirurgie begnügen mussten. In einem Raum von etwa 15 Quadratmeter wie diesem hatten sich fünf oder sechs Ärzte gedrängt und ihre Schreibtischarbeiten erledigt.

    „Du kannst deine Tasche hier ablegen. Wir gehen erst einmal weiter. Hast du einen Kittel mit? Dann zieh‘ ihn an."

    Mario tat, wie ihm geheißen und folgte seinem neuen Mentor wieder auf den Gang. Ihm war der kleine Arzt mit seinen wachen braunen Augen, die durch die runde Brille alles sofort zu durchschauen schienen, mit jeder Minute sympathischer.

    „So, hier rechts ist das Spritzenzimmer. Hier finden die allmorgendlich Blutabnahmen und eventuelle Injektionen statt. Bist du fit im Blutabnehmen?"

    „Denke schon."

    „Na ja, selbst wenn nicht, spätestens nach vier Monaten bist du‘s. Hier ist das Badezimmer. Hier können die Patienten selbst ihre Wäsche waschen. Eigenständigkeit soll, wo immer es geht, gefördert werden. Alle übrigen Zimmer sind die Schlafräume der Patienten. Wir haben Zwei- und Vierbettzimmer, insgesamt achtzehn Betten. So, hier sind wir am Ende angelangt. Siehst du, hier geht noch ein Hinterausgang hinaus und führt in dieses kleine Treppenhaus. Die Türen sind normalerweise geschlossen und werden nur im Notfall geöffnet, bei Feueralarm oder so. Kor drehte sich langsam einmal um sich selbst. „Jetzt hast du die gesamte Station gesehen. Wir haben insgesamt sechs Stationen auf drei Stockwerken. Jeweils zwei befinden sich genau symmetrisch genau gegenüber, getrennt vom Innenhof. Unsere Station ist eine sogenannte Akutstation. Das heißt, die Patienten kommen meist mit akuten Krankheitsbildern zu uns, die wir hier einige Tage beobachten, stabilisieren, und dann, wenn wir uns ein diagnostisches Bild gemacht haben, gegebenenfalls auf die Spezialstationen verlegen. Wir sind sozusagen das Einfallstor der Klinik, fügte er bedeutsam lächelnd hinzu.

    „Das heißt, dies hier ist die geschlossene Station?", fragte Mario.

    „Sagen wir mal so: wenn überhaupt eine Station geschlossen ist in diesem Haus, dann ist es unsere. Normalerweise können die Patienten sie verlassen, wann immer sie wollen. Zumindest so lange sie keine Therapiestunden haben natürlich. Nur wenn ein Patient sehr verwirrt oder suizidgefährdet ist, wird die Stationstür vorübergehend geschlossen und man wird von den Schwestern und Pflegern nur hinausgelassen, wenn es vom Arzt angeordnet wird." Kor sah Mario wieder schweigend lächelnd an, als wolle er nach so vielem Reden den Gedanken die Gelegenheit geben, aufzuschließen. Dann fuhr er fort: „Tja, das war erst mal das Wichtigste in Kürze. Jetzt ist es gleich halb zehn. Wir sollten mit der Visite beginnen. Übrigens findet die Visite in einem Zimmer statt. Die Patienten kommen einer nach dem anderen herein. Wir gehen nicht von Zimmer zu Zimmer, weil sonst jeder mithören kann, was der andere gerade für Probleme hat. Vormittags läuft hier für die Patienten meist Programm. Wir haben hier Ergotherapie. Das ist Werken, Malen und so was, um wieder die Konzentrationsfähigkeit zu fördern und über den künstlerischen Ausdruck das auszuleben, was auf anderem Weg nicht möglich ist. Außerdem soll über das Arbeiten in der Gruppe wieder ein normaler Austausch mit anderen trainiert werden. Die Patienten nennen das oft nur Beschäftigungstherapie, was die Ergotherapeuten aber nicht gerne hören und in ihrer Berufsehre kränkt. Also sei vorsichtig, was du sagst. Daneben haben wir natürlich auch Krankengymnastik. Das heißt hier aber Bewegungstherapie, die spezielle Programme für die verschiedensten Erkrankungen anbietet.

    Dann gibt es noch je nach Patient das soziale Kompetenztraining und das Konzentrationstraining. Aber das erfährst du alles noch genauer. Kor steckte seinen Kugelschreiber in die Brusttasche seines Kittels. „Also, dann lass uns mal voranmachen. Du sitzt einfach nur da und hörst zu. Ich stelle dich jeweils vor und das wichtige kriegst du dann schon mit. Wenn du später etwas Erfahrung gesammelt hast, kannst du selbst Patienten betreuen.

    Mario, erschlagen von der Fülle von Informationen, die ihn in den letzten Minuten überspült hatten, folgte Kor in das Zimmer und setzte sich auf einen Stuhl neben den kleinen Stationsarzt, während er sich insgeheim sehnlichst wünschte, er hätte noch etwas von dem starken Zauberkaffee bekommen. Der Stationspfleger Stefan erschien mit dem Kurvenwagen und reichte Kor eine Kurve.

    „Herr Lehmann ist als erster da", sagte er.

    „Kann ´reinkommen", nickte Kor.

    Stefan öffnete die Tür und herein kam unsicheren Schrittes ein gutaussehender junger Mann von etwa zwanzig Jahren mit blondem Haar und stahlblauen Augen, der sich zögerlich auf den ihm zugewiesenen Stuhl setzte.

    „Guten Morgen Herr Lehmann. Darf ich vorstellen: dies ist ein neuer Kollege, Herr Mario Weinert. Wie geht es Ihnen heute?"

    Der Angesprochene räkelte sich langsam seinem Stuhl, bevor er mit müder Stimme antwortete: „Na ja, ich bin eigentlich doch der Meinung, dass ich hier nicht richtig bin. Ich glaube, ich sollte doch meine Probleme auf andere Art lösen."

    „Und wie könnte das zum Beispiel sein?", fragte Kor freundlich.

    Der junge Mann starrte eine Weile mit leerem Blick vor sich hin. „Na ja ich weiß nicht, vielleicht ´ne Band gründen?"

    Kor nickte verständnisvoll und legte die Fingerspitzen aufeinander. „Sehen Sie Herr Lehmann, ihre Mutter hat sie doch hierhergebracht, weil Sie ihr gesagt hatten, Sie hätten große Angst, dass man Ihnen etwas antun könnte und Sie haben sich gar nicht mehr auf die Straße getraut, geschweige denn in die Universität. Sie haben Stimmen gehört, obwohl niemand da war und diese Stimmen haben Ihnen Angst gemacht, richtig?"

    „Schon."

    „Diese Beschwerden, fuhr Kor fort „gehören zu einem ganz bestimmten Krankheitsbild, welches wir sehr gut kennen und das wir schon tausende Male behandelt haben. Und die Symptome, von denen sie berichten, haben viele in ähnlicher Form auch, die dieselbe Erkrankung haben. Sie sollten uns also vertrauen. Wir wissen, wie man Ihnen helfen kann. Und dann können Sie auch wieder in die Universität gehen und Ihr Studium fortführen, wenn Sie das möchten.

    In diesem Moment musste Mario niesen. Der junge Mann blieb völlig unbeweglich, aber seine blauen Augen bewegten sich blitzschnell in Marios Richtung und fixierten ihn. Kor redete weiter, aber der Junge schien gar nicht mehr zuzuhören sondern, durchbohrte Mario nur mit seinen Blicken.

    „Haben sie von dem Medikament, das wir Ihnen geben irgendwelche Nebenwirkungen?", ließ sich Kor wieder vernehmen.

    Lehmann wandte sich nun wieder dem Arzt zu. „Wie? Nein, ich bin nur etwas müde".

    „Gut, dann erhöhen wir es noch etwas auf insgesamt 10 Milligramm, einverstanden?"

    „Ja, Ja, gut, einverstanden. Lehmann nickte geistesabwesend und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen. An der Tür drehte er sich noch einmal um und starrte Mario lange in die Augen. „Haben Sie das meinetwegen gemacht?, sagte er schließlich mit eisiger Stimme zu ihm.

    Mario bemerkte eine beklemmende Furcht in sich aufsteigen. „Was denn? Was meinen sie?"

    „Das Niesen."

    „Nein, ich habe Heuschnupfen, wirklich. Das hat nichts zu sagen. Es tut mir leid, ich wollte Sie nicht stören."

    „Was könnte es denn bedeuten?", fragte Kor gelassen.

    Lehmann besann sich lange. „Ich dachte, es - wäre ein Zeichen", murmelte er und verschwand mit einem letzten stechenden Blick auf Mario aus dem Raum.

    „Na, was war das?", fragte Kor zufrieden strahlend.

    „Keine Ahnung, ich habe keine Ahnung", keuchte Mario, dem die Schweißperlen auf der Stirn standen.

    „Wahnwahrnehmungen, sagte Kor begeistert. „Der Patient misst einer realen Handlung oder Situation eine abnorme Bedeutung bei. Er dachte, du wolltest ihm damit etwas ganz Bestimmtes sagen.

    „Aber was denn?", fragte Mario verzweifelt.

    „Was weiß ich, etwas, das in sein Wahnsystem passt, versetzte Kor, „das müsste man jetzt genauer explorieren. Er hat eine paranoid-halluzinatorische Psychose, eine Schizophrenie, wie du sicher längst erkannt hast und er hatte das Gefühl, von Orks verfolgt zu werden. Er könnte dein Niesen nun für ein Zeichen halten, dass du seine Befürchtung bestätigst.

    „Aber das ist ja schrecklich", sagte Mario.

    „Klar ist es schrecklich", nickte Kor triumphierend und seine Sommersprossen strahlten fröhlich, „und die Patienten können in ihrem Wahn so verfangen sein, dass sie schrecklichste Ängste ausstehen. Diese können so heftig werden, dass sie andere angreifen, die vermeintlich damit zu tun haben oder aber sich selbst töten. Dies zu erkennen ist eine der schwierigsten Aufgaben des Arztes, wie du noch sehen wirst.

    Wie kommt es, dass er diese Erkrankung gekriegt hat?, fragte Mario. „Nun, allgemein ist noch unklar, welche Faktoren dazu beitragen, dass man an einer Krankheit wie dieser erkrankt. Man geht davon aus, dass die Menschen, die einmal an einer Schizophrenie erkranken, bereits mit einem anfälligen Gehirn auf die Welt kommen, nennen wir es mal eine Verletzlichkeit. Möglicherweise wurde diese Verletzlichkeit vererbt oder ist im Mutterleib durch irgendwelche Komplikationen entstanden, eine Infektion möglicherweise. Wird im Leben das Gehirn nun dauerhaft unter Stress gesetzt, so kommt es zur Ausbildung dieser Krankheit. Worin dieser Stress bestehen muss, ist noch unklar. Ein Stressfaktor kann zum Beispiel ganz einfacher Drogenkonsum sein und damit meine ich in diesem Fall ausschließlich Cannabis. Kor schob sich seine Brille zurück, die auf seiner Nase heruntergerutscht war. „Wenn Erwachsene mal ´n bisschen kiffen, ist das normalerweise nicht weiter tragisch. Für ein junges und vor allem vulnerables Hirn kann es aber fatal sein und dann eine knallige Schizophrenie lostreten und schon hat man den Salat. Darum sind Ärzte nur verhalten begeistert, wenn die freie Vergabe von Cannabis propagiert wird, weil seine tatsächliche Gefährlichkeit von der Allgemeinbevölkerung gar nicht wahrgenommen wird. Jedenfalls ist es rein statistisch gesehen, folgendermaßen: Je früher man im Leben anfängt, Cannabis zu rauchen und je regelmäßiger man dies tut, desto größer ist die Chance einmal an einer Schizophrenie zu erkranken. Man weiß nur selber gar nicht, an welcher Zeitbombe man da ´rumspielt.

    „So ist das also", sagte Mario.

    „Ja, so ist das, nickte Kor ernst, „Aber wir müssen weiter machen, sonst werden wir bis zum Mittag nicht fertig; der Nächste!

    Es wurde nun ein hagerer grauhaariger Mann von etwa fünfzig Jahren ins Zimmer gebeten. Die Haare waren sorgfältig zurückgekämmt, er war in einem perfekt sitzenden Sakko und einer dazu passenden grauen Flanellhose gekleidet. Dazu trug er ebenfalls passend elegante schwarze Halbschuhe. Nachdem die Tür sich geschlossen hatte, blieb der Mann nach einer leichten höflichen Verbeugung aufrecht stehen.

    „Guten Morgen, Herr Stahlmann. Bitte nehmen Sie doch Platz", grüßte Kor.

    „Verbindlichsten Dank", antwortete der Angesprochene freundlich und setzte sich behutsam, als wolle er sich vergewissern, dass er den Stuhl nicht über Gebühr abnutzte.

    Mario wurde von Kor vorgestellt und ebenfalls mit einem höflichen Lächeln und galanten Kopfnicken bedacht. Danach wandte sich Stahlmann seine Aufmerksamkeit wieder Kor zu und erwartete dessen Fragen.

    „Herr Stahlmann, begann Kor, „Sie sind ja gestern erst gekommen und wir hatten noch nicht viel Zeit zu einem ausführlicheren Gespräch. Darum die Frage: Können Sie sich selbst vorstellen, warum Ihr Betreuer eine Behandlung in unserer Klinik beantragt hat?

    Der schlanke Mann wartete erst höflich ab, bis Kor zu sprechen geendet hatte, hielt sich die Hand vor den Mund, räusperte sich dann leicht und strich sich mit beiden Händen durch sein sorgfältig gepflegtes Haar. „Nun sehen Sie, wenn Sie gestatten, Herr Doktor, die Frage ist schnell beantwortet. Dagegen, wenn Sie so wollten, so kann man das natürlich auch weiter gefasst betrachten, ich meine natürlich durchaus sogar in einem gewissen religiösen Sinne. Denn wenn Sie einmal freundlicherweise annehmen wollen, dass wir in einem eher westlich katholisch oder meinetwegen auch protestantisch geprägten Umfeld aufgewachsen sind, so stellt sich natürlich die Frage der konfliktreichen Beziehung. Er machte eine Pause, hob leicht den Zeigefinger und sah mit erregt hochgezogenen Brauen prüfend von Kor zu Mario und wieder zurück. „Der vielleicht konfliktreichen Beziehung zu anderen Weltreligionen. Und wenn ich jetzt als, sagen wir, durchschnittlich gebildeter oder vielleicht auch etwas mehr - Mensch daher komme und sage: ich verstehe auch andere Weltreligionen, er klapste sich triumphierend mit beiden flachen Händen auf die Schenkel, „dann wäre das doch ein unerhörter Akt der interkulturellen Selbstüberschätzung, ich bitte Sie! Und jetzt kommt der wichtigste Punkt."

    „Verstehe, Herr Stahlmann. Aber wenn Sie mir noch eine Unterbrechung gestatten?"

    „Aber selbstverständlich, sehr gerne." Der Graumelierte lehnte sich distinguiert lächelnd zurück, verschränkte die Arme und sah Kor erwartungsvoll an.

    „Wir können ja die genauen Umstände auch noch bei Ihrem Betreuer erfragen, aber wären Sie denn überhaupt mit einer Behandlung auf dieser Station einverstanden?"

    Der Graue legte die Hand auf die rechte Wange und sah angestrengt sinnierend in die Ferne. Dann legte er energisch die Fingerspitzen aneinander. „Nun sehen Sie, natürlich ist meine Person, wie auch alle anderen Menschen von einer gewissen Wichtigkeit als menschliches Individuum im Sinne eines Ebenbilds Gottes, aber dennoch bitte ich Sie zu bedenken, dass man es auch von einem mehr globalen Standpunkt aus betrachten muss. Denn die Einzelpersonen, also ich und Sie und auch ich möchte auch sagen des gesamten Um-geb-lich-keits-bemühens aus den Augen verloren wird. Lassen Sie mich versuchen, es Ihnen von einem anderen Blickwinkel aus zu erläutern. Der Hinduismus-"

    „Herrje, es ist schon spät. Kor sah bestürzt auf seine Armbanduhr. „Verzeihen Sie mir, Herr Stahlmann. Könnten wir hier das Gespräch beenden, es warten noch andere Patienten, ich werde später noch einmal auf Sie zukommen.

    „Aber selbstverständlich, ganz selbstverständlich. Er stand mit einer schwungvollen Bewegung auf, verbeugte sich leicht und sah in die Runde. „Darf ich mich dann zurückziehen?

    „Aber natürlich, vielen Dank."

    „Ich danke Ihnen, meine Herren."

    Die Tür schloss sich und Mario blickte dem Patienten andächtig nach.

    „Welches Symptom war das?", fragte Kor.

    Mario schüttelte hilflos den Kopf.

    „Schwere formale Denkstörungen. Was von dem, was er gesagt hat, hast du verstanden?"

    „Äh, nichts."

    „Genau. Das formale Denken beschreibt die Fähigkeit des Menschen, seinen Gedanken eine Struktur zu geben und diese auch seiner Umwelt nach den Regeln der Kommunikation und Sprache der betreffenden menschlichen Gemeinschaft mitteilen zu können. Kor rückte erneut seine Brille auf seiner Nase gerade und fuhr sich durch seine rossbraunen Haare, die danach in alle Richtungen von seinem Kopf abstanden. „Ich sage, können, setze also voraus, der Betreffende will es auch. Und dieser Herr hier, er wies mit dem Kopf auf die Tür, durch die der Patient eben hinausgegangen war, „wollte dies ohne Zweifel, konnte es aber nicht, richtig?"

    „Den Eindruck hatte man."

    „Jawohl, denn seine Sätze ergaben keinen Sinn, einige Worte, die er benutzte waren sogar gar nicht existent."

    „Gar nicht existent?", fragte Mario verwundert.

    „Ja, er - beziehungsweise seine Erkrankung- hat in diesem Moment aus Teilen von Worten neue geformt, die in unserer Sprache keinen Sinn ergeben, obwohl er sich uns gegenüber eigentlich verständlich machen wollte. Dies nennt man Neologismus. Er hat eine Störung seines formalen Denkens, er ist gefangen in einem Panzer und kann sich mit seiner Umwelt nicht austauschen, weil sein Denken keine Worte hervorbringen kann, die andere verstehen."

    „Wie traurig", sagte Mario.

    „Ja, das solltest du unbedingt nachlesen. Der Nächste."

    Eine Frau von Mitte vierzig betrat den Raum, die Mario etwas an frühere Hippie-Generationen erinnerte, über die er schon so viel gelesen hatte. Sie trug Jeans, Leinenschuhe und ein ärmelloses tief ausgeschnittenes T-Shirt. Drunter lugten die Träger eines farbenfrohen Bikinioberteils hervor. Die Frau hatte schon deutlich ergrauende Haare und blickte mit schnellen, fast schwarzen Äuglein flink von einem zum anderen. Sie wartete kaum die Begrüßungsrede von Kor ab, sondern begann sofort selbst zu sprechen. Dabei wiegte sie den Körper im Rhythmus ihrer Sprache, als wollte sie das Gesagte so noch einmal unterstreichen.

    „Wie es mir geht? Es geht mir sehr schlecht, Herr Doktor. Ich möchte noch einmal betonen, dass ich Opfer von spirituellem Missbrauch wurde. Die Polizei hat eine `Keine Macht den Drogen´-Kampagne durchgeführt und in diesem Rahmen haben mich Polizisten mit niederster Gesinnung spirituell missbraucht und mir pornographischen Müll in den Unterleib gepflanzt. Da ist sehr, sehr schmerzhaft und ich kann es nicht länger ertragen. Ich möchte im Wintersemester ein Studium beginnen und kann es nicht, weil skrupellose Bullen diesen pornographischen Dreck in meinem Unterleib abgeladen haben. Ich würde Sie daher bitten, jetzt sofort mit mir zum Polizeipräsidenten zu fahren und zu verlangen, dass die betroffenen Polizisten sofort entlassen und ihnen die Pension entzogen wird."

    „Frau Träger, haben Sie die Tabletten-"

    „Ich habe die Tabletten, die Sie mir verschrieben haben, genommen, bin aber zweimal kollabiert und habe sie daher selbständig reduziert."

    „Wie? Kollabiert?"

    „Ich bin kollabiert, hier auf dem Gang."

    „Waren Sie bewusstlos?"

    Sie verzog entnervt das Gesicht. „Ich konnte mich gerade noch rechtzeitig setzen und den Fernseher anmachen. Die Tiersendung im Vorabendprogramm stabilisiert meinen Kreislauf immer sehr zufriedenstellend. Aber die Medikamente helfen nicht gegen spirituellen Missbrauch. Ich würde Sie dringend bitten, mit Experten Kontakt aufzunehmen, die diesen Missbrauch auch wiederum spirituell entfernen. Ich hatte mich schon nach einer anthroposophischen Klinik erkundigt und ich würde gerne in eine solche Einrichtung verlegt werden."

    „Frau Träger, wenn Sie sich nicht von uns behandeln lassen wollen, müssen wir sie entlassen und sie können gerne in eine anthroposophische Klinik gehen und-"

    „Sie können mich nicht entlassen, weil ich keine Bleibe habe. Meine Wohnung wird von den skrupellosen Bullen mit giftigen Gasen belegt und aus den Wasserhähnen kommt nur verseuchtes Wasser. Dann gehen Sie mit mir zur Krankenkasse und fordern dort, dass man mir ein Hotel finanziert, bis der spirituelle Missbrauch aufhört."

    Kor klappte die Kurve zu. „So, ich muss jetzt weiter machen, der nächste Patient wartet."

    „Dann gehen Sie bitte erst mit mir zur Polizei."

    „Nein, gehe ich nicht."

    Empört sprang die Patientin auf und lief aus dem Zimmer. „Dann muss ich zum Direktor gehen, damit dieser verdammte Müll aufhört. Und Sie werden Ihren Job verlieren. Sie arbeiten illegal!"

    Blinzelnd blickte Mario der Frau nach. „Was war denn das?"

    „Nun, sagte Kor ruhig, während er konzentriert Einträge in der Kurve der Patientin vornahm, „diese Dame leidet an einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie mit überdies auch starken taktilen und olfaktorischen Halluzinationen. Leider ist sie, wie du eben sicherlich heraushören konntest, nicht sehr compliant, was ihre Medikamenteneinnahme angeht.

    „Aha."

    „Nun hat jeder Patient natürlich das Recht, eine Therapie abzulehnen und sie nicht durchzuführen. Leider gehen bei ihr natürlich auch die Symptome nicht weg und sie leidet zu Hause wie Hund, weil sie diese Empfindungen, die sie eben beschrieb, entsetzlich quälen. Aber das ändert nicht etwa ihre Meinung, sondern sie flüchtet sich dann in die Klinik, die sie eigentlich als falsch ablehnt, weil sie es woanders nicht aushält, schlimm oder?"

    „Das ist es", sagte Mario betroffen.

    „Du wirst dieses Problem noch zu Hauf erleben. Weißt du, der Punkt ist, dass wir alle einen freien Willen haben und uns immer wieder für oder gegen etwas entscheiden können, auch eine medizinische Behandlung. Aber was, wenn unser Geist von einer psychischen Erkrankung befallen ist, die ihn die Umgebung und sich selbst anders wahrnehmen lässt? Wie frei ist unser Wille dann eigentlich noch? Ohne eine Antwort abzuwarten blickte Kor auf seine Armbanduhr, „Mensch, wir müssen machen, wir kommen nicht voran.

    Ein Patient nach dem anderen wurde nun zügig in das Zimmer geholt, Männer und Frauen unterschiedlichen Alters mit unterschiedlichen Beschwerden. Einige wirkten äußerlich völlig gesund und erst wenn sie über ihr Befinden berichteten, taten sich Abgründe menschlicher Verzweiflung auf. Andere konnten sich kaum auf den Beinen halten und mussten von Stefan gestützt werden. Viele schienen auf den ersten Blick ähnliche Erkrankungen zu haben und dann aber auch wieder nicht, einige ähnelten denen, die Kor bereits ausführlicher erklärt hatte. Alles verschwamm vor Marios Augen zu einem einzigen unüberschaubaren Berg komplizierter Strukturen, die er nicht durchschauen konnte und er wunderte sich über die Gelassenheit, mit denen der Arzt und der Pfleger diesen verwirrenden Zuständen begegneten. Inzwischen neigte sich der Vormittag seinem Ende entgegen und der letzte Patient hatte den Raum verlassen.

    „So, es ist halb eins. Gut haben wir das gemacht", Kor machte zufrieden seine letzte Eintragung.

    Der Stationspfleger streckte seinen Kopf ins Zimmer: „Andries, wir kriegen nachher gleich noch eine Akutaufnahme per Unterbringungsbeschluss. Ein Herr mit einer psychotischen Manie bei vorwiegend religiösem Wahn, der in einer Kirche während eines Gottesdienstes nackt um den Altar getanzt ist. Er wurde dann gegen die herbeigerufene Polizei handgreiflich."

    „Na hübsch sagte Kor, „dann lass´ uns mal schnell was Essen gehen, damit wir bei Kräften sind, wenn er kommt. Er fügte mit einem Grinsen hinzu: „Dann kannst du mal gleich unsere wunderbare Kantine kennen lernen." Sie standen auf und verließen den Raum und stießen fast mit einem Mann in weißem Kittel zusammen, der gerade im Begriff war, ihren Raum zu betreten.

    „Oh, Herr Oberarzt, darf ich Ihnen Herrn Weinert vorstellen, Student im letzten Studienjahr und die nächsten Monate bei uns", sagte Kor und wies auf Mario.

    Scheu blickte Mario auf den kleinen Oberarzt mit den streng gescheitelten aschblonden Haaren und der tadellos sitzenden Krawatte, die aus dem strahlend weißen Arztkittel hervorstach. Er trat einen Schritt vor und gab dem Oberarzt artig die Hand, der ihn eindringlich durch seine runde Brille taxierte. Sein noch glattes und ebenmäßiges Gesicht einer sich langsam zurückziehenden Jugendlichkeit wurde dominiert von zwei tiefen Falten, die zwischen den Augenbrauen prangten wie zwei Wehrtürme einer Festung. Um die ebenmäßigen vollen Lippen bewegte sich ein Gekräus kleiner Fältchen, einem zugezogenen Tabakbeutel gleich, sternförmig auf ihr Zentrum zu.

    „Willkommen bei uns, Herr Weinert, sagte Dr. Urser schließlich und gewährte den Fältchen um seinen Mund eine kurze Rast, der Schatten eines Lächelns entfloh seinem Gesicht, bevor er sofort wieder in einen prüfenden Blick zurückfiel. „Ich hoffe, Sie werden gut mitarbeiten und viel lernen.

    „Dessen bin ich sicher, antwortete Mario respektvoll. „Vielen Dank, fügte er noch hinzu.

    „Herr Dr. Urser, wir kriegen wohl nachher noch einen etwas komplizierten Fall, offensichtlich eine psychotische Manie", sagte Kor.

    „Ja, habe ich schon gehört. Sie können mich gerne gleich dazu rufen, wenn Ihnen das lieber ist, dann besprechen wir das gleich gemeinsam."

    „Danke, ich schaue mal, wie es sich anlässt."

    „In Ordnung, bis später." Mit einem Nicken in Marios Richtung drehte der Oberarzt sich um und verließ die Station.

    2

    Tiefer, dichtester Nebel lag milchig-grau über der ganzen Stadt und hüllte jede Straße und jeden Baum in ein dichtes Spinnennetz aus kleinsten Wassertröpfchen. Um 23: 48 Uhr wurde der Arzt vom Dienst von der Nachtschwester der Station 4 angefunkt. Er hatte sich gerade zu diesem Zeitpunkt in einem inneren Zwiespalt befunden, der sich fast rituell um etwa diese Zeit während jedes Nachtdienstes einstellte. Sollte er sich jetzt zu Bett begeben oder lieber noch wach bleiben? Würde er sich jetzt ausziehen und hinlegen, so würde gewiss der Pieper sein verhasstes Signal just in dem Augenblick von sich geben, wenn er in einen flachen Schlaf gefallen war und er würde unsanft geweckt, müsste sich erneut ankleiden und sich auf den Weg machen. Dies war das Schlimmste von allem. Bliebe er dagegen wach, so versäumte er wichtigen Schlaf, den er dann vermissen würde, wenn er später in der Nacht - und dessen war er sich ganz sicher - Arbeit bekam. Von diesem Grübeln wurde der Diensthabende gnädig erlöst, als das kleine Telefon von der Größe einer Zigarettenschachtel, das an der Brusttasche seines Kittels angeklemmt war, seinen Signalton von sich gab.

    „Die Vier, Schwester Sarah!", sagte eine sanfte weibliche Stimme am anderen Ende.

    „Illigens, A-v-D"

    „Ja, Herr Illigens, guten Abend. Ich wollte nur Bescheid sagen, dass eine unserer Patientinnen, Frau Leyme, immer noch nicht aus dem Ausgang zurückgekehrt ist. Sie wollte nach dem Abendessen nur noch einmal in den Garten zum Rauchen und ist seitdem nicht wiederaufgetaucht."

    „Weswegen wird die Patientin behandelt?"

    „Wegen einer Angsterkrankung."

    „Gibt es Anhalt für Suizidalität?"

    „Nein, ich kenne die Patientin seit meinen letzten Diensten. Sie hat gute Fortschritte gemacht und hat sich fleißig am Expositionstraining beteiligt. Es war schon die Rede von Entlassung."

    „Hm, dann müssen wir uns also keine Sorgen machen. Haben Sie schon bei den Angehörigen gefragt?"

    „Ich habe den Ehemann angerufen, der mir auch nichts Näheres sagen konnte. Er ist jetzt besorgt und möchte informiert werden, wenn wir etwas Neues wissen."

    „Gut, in Ordnung. Wir unternehmen zunächst nichts. Vielleicht gibt es eine einfache Erklärung für das alles, vielleicht hat sie sich im Nebel verlaufen und taucht bald wieder auf."

    Illigens verabschiedete sich und ging dann einige Minuten nachdenklich im Zimmer auf und ab. Schließlich gähnte er, streckte sich und begann, nun doch entschlossen, die Nachtruhe einzuläuten, sich träge auszuziehen. Als er gerade nur noch zwei der Knöpfe seines Pyjamas zuzuknöpfen hatte, vernahm er ein aufdringliches Klingeln aus seinem Kittel, kniff seufzend die Augen zusammen und ging ans Telefon.

    „Jawoll, die Eins!", meldete sich eine Stimme.

    „Jawoll, Illigens, A-v-D."

    „Jawoll, Herr Doktor, wir ham´ hier ein kleines Problemschen. Da is´ der Herr Marius, heute Nachmittag vonne Polizei gebracht und vom Rischter nach Psysch-KG untergebracht, ein Patient mit Manie und religiösem Wahn. Er hatte heute von Dr. Kor Medikamente verordnet bekommen, die er am Nachmittag auch brav einjenommen hat. Der wird jetze aber hier zunehmend anjespannt und aggressiv, hat schon einer Schwester die Brille ´runtergeschlagen und will seine Nachtmedizin nisch´ nehmen, sondern hat uns angedroht, uns zu züschtigen, wenn wir nisch uns´re Sünden bekennen."

    „Dann bekennen Sie halt Ihre Sünden, das kann doch nicht so lange dauern."

    „Sehr ulkisch, Herr Doktor!"

    „Schon gut, ich komme."

    Illigens legte auf und begann Unter dem Vor-sich-Hinzischen schlimmster Flüche, seinen Schlafanzug aus- und seine Kleidung anzuziehen.

    Gleichzeitig spürte er die typische Anspannung in sich aufsteigen, die jeden Dienstarzt befällt, der auf dem Weg zu einem Problemfall war von dem er eigentlich nicht recht wusste, wie er ihn lösen sollte, es aber alle von ihm erwarteten. Im Dunkel der Nacht fühlt der unerfahrene Dienstarzt stets eine gewisse Einsamkeit und Beklommenheit. Er muss dann am eigenen Leibe die Phänomene erfahren, die er eigentlich bei einigen seiner Patienten zu behandeln versucht. Er muss erfahren, wie sehr das Gefühl der Angst mit dem der Niedergeschlagenheit verbunden ist. Er muss feststellen, dass ihm seine persönliche Zukunft plötzlich düsterer erscheint, als gewöhnlich, dass sein Herz schwer und verzagt ist und er seine sonst ihm vertraute Zuversicht zu verlieren droht. Dieses Gefühl wird komplett verdrängt, wenn er in der Untersuchung oder Behandlung eines medizinischen Notfalls ist. Dann lässt die Konzentration keine Angst mehr zu. Wenn dann spät in der Nacht alles getan ist und die Hoffnung besteht, dass sich wohl diesmal keine Aufgaben mehr ankündigen. Wenn er dann im Halbschlaf bemerkt, dass die Vögel zu singen beginnen und der Morgen langsam graut und schon ein leichtes Alltagsleben sich regt, wenn als erstes die Lieferanten geräuschvoll in der Frühe ihre Waren abliefern, später die Putzfrauen schwatzend über den Hof laufen, dann weicht die Anspannung einer erleichterten Erschöpfung, denn der Tag und die Sicherheit der bald eintreffenden Kollegen sind nicht mehr fern. Mit Erstaunen bemerkt der junge Arzt dann, dass die düsteren Sorgen und niedergedrückte Stimmung, die ihm noch vor wenigen Stunden auf der Seele lasteten, mit dem aufkommenden Morgen verschwinden, wie die Schatten eines Alptraumes und er fühlt sich frei und beschwingt, bis zum nächsten Dienst. Jeder Arzt würde ohne Zögern bestätigen, dass die Nachtdienste das Schlimmste am Arztberuf überhaupt sind. Sie machten mürbe und ließen einem nur gerade so viel Lebenskraft übrig, dass man zwar leben konnte, aber sich nie richtig frisch und lebendig fühlte. Der Schlafmangel, die Anspannung und die Angst raubten dem Arzt die so wichtige Energie und er erlebte den Alltag nur wie in einem leichten Nebel. Aber jeder bestätigte nach Jahren, wenn er vielleicht schon längst keine Nachtdienste mehr machen musste, dass diese die wichtigsten Erfahrungen für die Ausbildung der eigenen ärztlichen Persönlichkeit gewesen waren. In der Nacht begegnete der Arzt den interessantesten Fällen und erlebte sie überdies noch viel intensiver, als er sie je erfahren würde, wenn er sie in einer Vorlesung oder Falldiskussion vorgestellt bekäme. Außerdem lernte der junge Arzt viel über sich selbst. Er lernte, wie er in bestimmten Situationen reagierte und er erfuhr nach und nach, dass es immer weniger Probleme gab, die er nicht irgendwie meisterte. Dies gab seinem Selbstbewusstsein dann einen veritablen Schub und ist die Voraussetzung und Bedingung für eine erfolgreiche Reifung.

    Dies alles hatte Illigens schon dutzende Male von seinem Oberarzt vorgetragen bekommen und auch selbst durchlebt, daher war er sich dessen bestens bewusst. Trotzdem war es im Moment ein geringer Trost und die Reifung seiner Persönlichkeit, die ihm vom Oberarzt so blumig in Aussicht gestellt worden war, schien Lichtjahre entfernt und bei genauerer Betrachtung eigentlich auch entbehrlich zu sein. Als er schließlich aus einer Mischung aus Anspannung und schlechter Laune in den ersten Stock geschlurft war, wo sich die Akutstation befand, sah er bereits durch die Sicherheitsglastür, wie zwei Pfleger aufgeregt über den Gang liefen. Er schloss die die Tür, welche nachts immer verriegelt war auf und vergaß nicht, sie wieder sorgfältig zuzusperren. Einer der Pfleger kam sofort mit einer Krankenakte auf ihn zu und reichte sie ihm.

    „Er hat drei mal sechshundert Valproinsäure, drei mal zehn Diazepam und sechs Milligramm Risperidon oral pro Tag. Die Abenddosis hattta nisch jenommen, jetzte drehta zunehmend auf."

    Illigens seufzte: „Wo ist er denn - jetzte?"

    Stumm deutete der Pfleger den Gang hinab, als ginge es dort geradewegs in den Schlund der Hölle.

    Illigens bemerkte zu seinem eigenen Entsetzen eine langsam in ihm aufsteigende Angst und ging langsamen Schrittes voran, in gebührender Entfernung gefolgt von den beiden Pflegern. Er betrat ein halbdunkles Zimmer, welches nur von einer Lampe spärlich erhellt war und sah sich vorsichtig um.

    „Herr - Marius?"

    „Amen!", ließ sich eine sanfte Stimme von der gegenüberliegenden Fensterfront vernehmen. Sie gehörte einem großen massigen Mann. Er hatte schulterlange, schwarze Haare, die ordentlich glatt zurückgekämmt waren. Er war barfuß und trug ein klinikeigenes, blaues Nachthemd, welches ihm bis zu den Knien reichte.

    „Guten Abend, sagte Illigens, „mein Name ist Illigens, ich bin der Dienstarzt.

    „Der Dienst am Nächsten ist der wichtigste von allen", versetzte der Dunkelhaarige gütig lächelnd.

    Inzwischen hatte einer der Pfleger das Deckenlicht angemacht, sodass Illigens den Patienten besser sehen konnte, der ihn mit einer Mischung aus Neugier und Gelassenheit aus haselnussbraunen Augen anblickte. Er war groß und kräftig, hatte ebenmäßige, fast schöne Gesichtszüge und strahlte ihn mit einer ruhigen Freundlichkeit an. Er hielt seine Arme leicht angehoben als wolle er die Menschheit einladen, in seine schützende Brust zu sinken.

    „Herr Marius, ich würde Sie bitten, Ihre Abendmedizin zu nehmen."

    Statt einer Antwort wies der große Mann würdevoll auf eine etwa einen halben Meter hohe Heiligenfigur aus Holz, welche neben ihm auf dem Nachtisch stand, wunderbar fein geschnitzt und reich bemalt, ein wahres Kunstwerk.

    „Dies ist der Erzengel Gabriel."

    „Hallo", Illigens winkte verunsichert in Richtung der Figur.

    „Der Erzengel will, dass sich alle Menschen lieben, auf dem Pfad des Lichtes wandeln und rein werden", fuhr Marius fort.

    „Auf jeden Fall, beeilte sich Illigens zuzustimmen, „aber dennoch, Herr Marius, würde ich Sie bitten, jetzt Ihre Medikamente einzunehmen und dann schlafen zu gehen. Alles Weitere können Sie morgen früh mit Ihrem behandelnden Arzt besprechen.

    „Wir sollten uns viel mehr von reinen Nahrungsmitteln ernähren: Weizensaft, Salassi, Mangofrucht und Hirse. Damit auch wir rein werden mögen und uns unsere Sünden von Shiwa vergeben werden können. Könnten wir einen Entsafter für die Station anschaffen?"

    „Nun -"

    „Soll ich Ihnen etwas zeigen?", fragte Marius eifrig nähertretend.

    Sofort traten die beiden Pfleger einen Schritt zurück, aber Illigens selbst war viel zu überrumpelt, als daran zu denken, sich vor dem großen Mann in Sicherheit zu bringen.

    Dieser zog aber nur ein Blatt Papier aus dem Nachtisch hervor, auf dem mit Buntstift in der Mitte eine Krone und um sie herum im Kreis neun Sterne gemalt waren. Er trat dicht an Illigens heran, sodass dieser merkte, wie seine eigenen Achseln sich zügig mit Feuchtigkeit zu füllen begannen.

    „Dies, Marius zeigte auf die Krone, „ist die göttliche Kraft: Shiwa, Buddha, Jesus sind eins. Und die Sterne symbolisieren die sieben Todsünden der Scholastiker, die den Menschen immer wieder von Gott und damit von sich selbst trennen wollen: Trägheit, Stolz, Zorn, Neid, Geiz, Maßlosigkeit und Schamlosigkeit. Und dann sind da noch die Furcht und die Lüge, die die Scholastiker nicht nennen, die aber ebenso wichtig sind, also sind es eigentlich neun. Sie alle müssen wir zähmen lernen, damit sie uns dienen, aber nicht versklaven und unser Leben einzwängen und uns unfrei machen. Der schwerste Kampf ist der Kampf gegen uns selbst. Er hielt zufrieden lächelnd inne. „Außerdem würde ich noch empfehlen, dass wir Räucherstäbchen anschaffen und auf der Station verteilen, damit die Seelen der anderen Patienten auch rein werden. Die Schwestern sollen Wachen einteilen, damit die Stäbchen Tag und Nacht brennen."

    Illigens seufzte und entschloss sich, dass es Zeit sei, zu einer mannhaften Attacke überzugehen, obwohl er sich über die totale Aussichtslosigkeit seiner Lage keinerlei Illusionen hingab. „So müssen sich wohl die Spartaner an den Thermophylen gefühlt haben, als sie das persische Heer auf sich zuwalzen sahen, dachte er bei sich. Er spannte all seine Muskeln an, drehte sich mit aller Entschlossenheit, die ihm seine schlotterten Knie erlaubten um, und nahm von einem der Pfleger einen kleinen Plastikbecher in Empfang. Er hoffte dabei inständig, dass seine Hände nicht zitterten. „So, und nun, Herr Marius, habe ich hier Ihre Tropfen, die Sie bitte sofort nehmen.

    „Oh nein, sie machen mich unrein", jammerte Marius.

    „Ich verspreche Ihnen, sie machen Sie nicht unrein."

    „Wirklich?"

    „Ehrenwort!"

    „Oh, Herr Doktor, ich liebe Sie so sehr!" Er machte einen großen Schritt auf Illigens zu und umarmte ihn mit seinen starken Pranken und legte seinen Kopf zärtlich an seine Schulter, woraufhin die beiden Pfleger erneut unmerklich zusammenrückten.

    „Das freut mich zu hören, antwortete Illigens freundlich, während ihm der Schweiß in Sturzbächen den Rücken hinunterlief und er gerade noch rechtzeitig den Kopf wegdrehte, bevor der Patient ihm einen Kuss auf die Stirn geben konnte. „Hier bitte ihre Tropfen.

    Marius nahm sie und hielt seine Hand über den kleinen Plastikbecher.

    „Ommmmmmmm, verschaffe mir Reinheit, ommm."

    „Schlucken, bitte."

    Marius nahm sie in den Mund und gurgelte mit der Flüssigkeit.

    „Herr Marius, hinunterschlucken, bitte!"

    Marius tat, wie befohlen und strahlte Illigens an.

    „Aaah, Herr Doktor, sie sind ein guter Mensch. Ich fühle mich gut, meine Synapsen sind erquickt, lassen Sie mir von den Tropfen da, ich nehme später noch mehr."

    „Nein, Herr Marius, man soll nicht übertreiben und nun aber ins Bett. Ich wünsche Ihnen und dem Erzengel eine gute Nacht."

    „Gute Nacht, Herr Doktor, schlafen Sie wohl. Shiwa möge Sie bewachen."

    Befriedigt verließ Illigens das Zimmer und ging den Gang zum Schwesternzimmer hinunter. Er fühlte die Last eines Kleinwagens von seinen Schultern genommen und wuchs vor Stolz mehrere Zentimeter. Er genoss die respektvollen Blicke der Pfleger, die er zweifelfrei in seinem Rücken zu spüren vermeinte.

    Lässig reichte er ihnen die Krankenakte zurück.

    „So, das hätten wir, sonst noch was?"

    „Nee, allet klar sonst, danke und ru´je Nacht."

    „Danke."

    Illigens verließ die Station, schloss die Tür hinter sich und ging langsam in sein Dienstzimmer im Erdgeschoß zurück. Es war inzwischen nach ein Uhr geworden, als er sich gähnend langsam auszog, um sich zu waschen und sich die Zähne zu putzen. Als er schließlich im Bett lag, fühlte er eine entspannte Müdigkeit, er räkelte sich wohlig und freute sich auf das baldige Ende der Nacht. Er hatte seine Sporen heute bereits verdient, jetzt würde nichts Schlimmes mehr kommen, dessen war er sicher. In diesem Moment ging der Pieper. Illigens bemerkte, wie sich seine Nackenhaare sträubten. Er starrte kurz auf einen weit entfernten, imaginären Punkt an der Decke, schüttelte sich und schaute dann auf das Display. Es war die Nummer der Pforte angezeigt. Das konnte Vielerlei bedeuten. Von den in Frage kommenden Möglichkeiten waren die meisten unerfreulich. Zum einen konnte ein Patient von zu Hause aus anrufen, der nicht schlafen konnte und beschlossen hatte, dass aus Gründen der ausgleichenden Gerechtigkeit junge Dienstärzte dies auch nicht können sollten. Diese Variante war die relativ harmloseste, denn Illigens müsste sich nur eine Weile das anhören, was der Patient zu beklagen hatte, um ihn dann nach Erteilen allgemeiner Ratschläge an niedergelassene Ärzte am nächsten Tag zu verweisen. Die zweite Möglichkeit war, dass sich ein Patient für die Erste Hilfe beim Pförtner gemeldet hatte. Dies würde bedeuten, dass sich Illigens aufrappeln, anziehen und in die Notaufnahme gehen müsste, um den Patienten zu untersuchen. Unter einer Stunde würde das kaum dauern. Es war also sehr unerfreulich. Die dritte Variante war aber eigentlich die unangenehmste. Es könnte eine andere Klinik oder ein Krisendienst anrufen, der ankündigte, demnächst einen Patienten per Krankentransport, Feuerwehr oder Polizeifahrzeug vorbeizuschicken. Dies würde etwa eine Stunde Warten und dann weitere Arbeit bedeuten, womit die Nacht dann langsam aber sicher endgültig dahin wäre. Einmal war ihm in einem Dienst gegen drei Uhr morgens ein Patient von einer benachbarten Klinik angekündigt worden. Nachdem er dann zwei Stunden vor sich hingedöst hatte, immer in angstvoller Erwartung des baldigen Eintreffens, war ihm klar geworden, dass der Mann, aus welchen Gründen auch immer, doch nicht auf den Weg geschickt worden war und er wünschte dem Anrufer aus der anderen Klinik die Pest an den Hals. Illigens hielt das Telefon ans Ohr und wartete.

    „Pforte."

    „AvD."

    „Ja, Herr Doktor, könnten Sie bitte mal gleich kommen. Ich glaube, im Garten liegt jemand."

    Illigens spürte, wie sich langsam eine Gänsehaut auf seinem ganzen Körper bildete und es ihn schauerte. Er legte auf, zog sich in Windeseile an, schloss die Tür seines Zimmers auf und hinter sich wieder zu und rannte zur Pforte. Der Pförtner erwartete ihn bereits verstört und zeigte in Richtung des Klinikgartens. Illigens Blick folgte der Richtung, in welche die Hand des Pförtners wies. Der dichte Nebel, welcher, viel zu früh in diesem Jahr, den ganzen Abend und die Nacht über Stadt und Land gelegen hatte, begann sich etwas zurückzuziehen, behinderte aber immer noch die Sicht. Der über den Boden kriechende Dunst gab für wenige Momente den Blick über den Hof frei. Vor einem Seitengebäude lag, von der Gartenbeleuchtung undeutlich beschienen, so etwas wie ein großer Sack oder etwas Ähnliches. Im Laufschritt stürmte Illigens aus dem Gebäude, tauchte schaudernd in die feuchten Schwaden und näherte sich dem unbewegten Bündel. Beim Näherkommen konnte er Haare ausmachen und sah schließlich Gliedmaßen, die sich in alle Himmelsrichtungen von dem Bündel ausstreckten. Er stand vor dem Körper einer leblosen Frau, die mit offenen Augen in den Nachthimmel starrte. Der Haaransatz war blutverschmiert, um den Kopf herum war eine große Blutlache. Etwas Weißes, Gallertartiges, das aus den Haaren herausquoll bedeckte den Boden. Illigens glaubte, sich übergeben zu müssen. Er drehte sich zu dem Pförtner um, der ihm gefolgt war, und paralysiert auf die leblos am Boden Liegende blickte und der gerade im Begriff schien, ebenfalls niederzusinken. „Rufen Sie einen Notarztwagen!", herrschte Illigens ihn an.

    Dies brachte wieder Leben zurück in den schreckensbleichen Pförtner. Er drehte sich um und lief überstürzt davon.

    Illigens wusste nicht, wie lange er vor der Frau gestanden hatte, bis er sich seine ärztlichen Pflichten ins Gedächtnis rief. Er hatte keine Vorstellung, ob die Frau tot war oder nicht, selbst wenn es ihm verdammt so aussah, obwohl Illigens es vermied, sich ihren Kopf näher anzuschauen, weil er sich dann näher mit der Natur und Herkunft der grau-weißen Substanz hätte beschäftigen müssen, die aus dem Schädel austrat. Seine Übelkeit bezwingend, trat er langsam näher, kniete sich neben den reglosen Körper und fasste ihre Hand. Sie war warm. Er tastete am Hals der Leblosen, konnte aber keinen Puls finden. Dann fiel ihm wieder ein, dass er nach den Reanimationsrichtlinien sich nicht mit dem Suchen nach einem Puls aufzuhalten hatte. Sollte keine Atmung erkennbar sein, so musste ein Patient unverzüglich reanimiert werden. Er legte seine beiden Hände übereinander auf das Brustbein der Frau und begann mit kurzen kräftigen Stößen die Herzmassage. Er hatte vergessen, mitzuzählen und hielt nach einer Weile keuchend inne. Dann wandte er sich der Atmung zu, obwohl ihm sein Unterfangen mit jeder Sekunde immer absurder erschien. Er entschied sich, durch die Nase zu beatmen. Er griff das Kinn der Frau und drückte den Unterkiefer gegen den Oberkiefer. Damit der Kopf nicht nach hinten knickte, musste er nun mit der anderen Hand auf die Schädeldecke fassen und einen Widerstand entgegenhalten. Warmes Blut und Liquor flossen durch seine Finger und Illigens glaubte vor Entsetzen, sein Atem würde aussetzen und sein Herz müsste zerspringen. Er hielt ein letztes Mal inne, tat einen tiefen Atemzug und zwang seinen Kopf in Richtung des Gesichtes der Frau, um seinen Mund um ihre Nase zu schließen, als sich eine schwere Hand auf seine Schulter legte und ihn zusammenzucken ließ.

    „So, jetzt lass uns mal `ran, Kollege."

    3

    Sie war sehr, sehr müde. Sie hatte den ganzen Abend mit Leuten aus ihrem Bekanntenkreis zusammengesessen und sich unterhalten. Hin und wieder zwang sie sich zu so etwas, obwohl sie sich eigentlich am liebsten immer nur auf eine Person konzentrierte. Sie war dann am Tisch bereits einmal eingenickt und hatte sich schließlich mit dem Hinweis entschuldigt, gestern lange aufgewesen zu sein und war freundlich lächelnd gegangen. Sie war sich nicht sicher, ob einer aus dem Kreis ihr Weggehen überhaupt richtig bemerkt hatte, aber das war sie gewohnt. Sie lenkte ihren Wagen auf die beliebte Geschäftsstraße der Gegend und fuhr langsam an den beleuchteten Modegeschäften, Restaurants und Boutiquen vorbei. Es war schon eine Weile nach Geschäftsschluss und daher flanierten immer weniger Menschen auf den Straßen. Außerdem zog langsam immer dichter werdender Nebel auf. Als Lennos an die Straße kam, in der die Klinik lag, bog sie rechts ab und rollte langsam auf dem holprigen Untergrund entlang. Sie fuhr vorbei an wunderbaren alten Villen und Herrenhäusern, deren stolze Besitzer es verstanden hatten, den nostalgischen Flair ihrer Fassaden und Gärten zu erhalten. Der Asphalt war schon sehr marode, was sie dazu zwang, ihr Tempo noch mehr zu verlangsamen. Eigentlich liebte sie es, schnell zu fahren. Mitfahrer hatten sich immer ängstlich bei ihr beschwert, sie fahre wie der Henker und dass dies gar nicht zu ihrem sonst so stillen Naturell passe. Sie fuhr sowieso am liebsten allein. In der Tat trat sie manchmal so sehr aufs Gaspedal, dass sie an allen anderen Autos vorbeiraste, ohne dass sie es selbst wirklich bemerkte. Dies tat sie erst, wenn sie von anderen Autofahrern mit Lichthupen und wildem Gestikulieren in die Wirklichkeit zurückgeholt wurde. Dann fuhr sie eine Zeit lang wieder etwas langsamer. Aber wenn sie Auto fuhr, fühlte sie sich frei und entspannt und kümmerte sich nicht darum, was die anderen dachten. Eines aber konnte sie in unbändigen Zorn versetzen: wenn sich ältere Männer mit hängenden Gesichtsfalten in teuren Autos über ihren Fahrstil ereiferten, sie im Vorbeifahren abfällig und missbilligend ansahen und das taten, was, wie sie fand, diese Haltung am treffendsten beschrieb: ´Hauptbeuteln`. Dieses missfällige Kopfschütteln versetzte sie in so ohnmächtige Wut, dass sie am liebsten ausgestiegen wäre und den Alten die Scheinwerfer zertreten und den Lack zerkratzt hätte.

    Ihr Handy klingelte. Sie sah auf dem Display die Nummer von Professor Balthur und runzelte für einen Moment die Stirn. Wie üblich ging sie nicht ans Telefon. Sie würde sich später irgendwann einmal anhören, ob eine Nachricht auf der Mailbox war.

    Sie bog auf den Klinikparkplatz ein und stellte den Wagen ab. Sie sog die kalte, feuchte Nachtluft ein, blieb einen Moment regungslos stehen und lauschte dem schwachen Gesang der Vögel, die es in den letzten Jahren immer öfter versäumt hatten, nach Süden zu ziehen. Innerhalb kurzer Zeit hatte sich der Nebel weiter verdichtet und schien immer noch weiter anzuwachsen. Nach einer Weile schreckte sie auf, weil sie wohl eine recht lange Zeit so gestanden und geträumt haben musste. Sie ging über den kleinen Parkplatz, betrat die Klinik durch den Hintereingang und stieg in den ersten Stock in die Abteilung für Elektrophysiologie und Schlafmedizin. Sie ging den Gang entlang und schloss schließlich die Tür zu ihrem Büro auf, betrat den Raum und warf ihre Handtasche auf einen Sessel. Sie atmete durch und stand etwas unschlüssig in der Mitte des Raumes. Sie war sich uneins, wohin sie sich nun wenden und was sie als Nächstes tun sollte. Ihr Blick blieb auf dem großen Bild an der Wand haften, welches sie häufig lange betrachtete. Es war ganz in rot gemalt und stellte abstrakte Flammenzungen dar, die sich um einen runden Hohlkörper wanden. Ganz im Zentrum des Körpers war die einzige Stelle des Bildes, die nicht in rot, sondern in einem gelblichen weiß gehalten war. Sie hatte es vor vielen Jahren einmal auf einem Trödelmarkt entdeckt und war sofort begeistert gewesen. Obwohl es viel teurer war, als sie es sich hatte leisten können, musste sie es kaufen. Das Klingeln des Telefons auf dem Schreibtisch riss sie wieder in die Gegenwart zurück. Ihr Herz schlug heftig bis zum Hals. Wer konnte das sein? Eigentlich wusste niemand, dass sie um diese Zeit hier war, aber Professor Balthur rief manchmal zu allen möglichen Tages- und Nachtzeiten bei seinen Untergebenen im Büro an, weil seine Fantasie eigentlich nicht dazu ausreichte, sich vorzustellen, dass sie etwas anderes anstellen könnten, als zu arbeiten. Sie erschauderte kurz und blieb regungslos vor dem Telefon stehen, bis es endlich verstummte. Sie ging an ihren Schreibtisch. Sie schloss die Schreibtischschublade auf, holte ein Manuskript hervor und legte es sorgfältig vor sich auf den Tisch. Sie begann, es langsam durchzublättern und machte hier und da mit einem Bleistift Anmerkungen und Korrekturen im Text. An einigen Stellen verharrte sie länger, blätterte wieder zurück und änderte erneut die eben gemachten Korrekturen. Schließlich, nach einer guten Stunde, hatte sie das Manuskript zu Ende durchgearbeitet und verstaute es wieder im Schreibtisch. Professor Balthur hatte sie vor einigen Wochen während einer Besprechung fürchterlich angeschrien, dass sie diesen „verdammten Artikel" endlich fertig machen und allerspätestens bis zum Ende des Semesters veröffentlicht haben sollte, sonst würde ein Unglück geschehen. Bis zum Ende des Semesters war noch eine Weile hin, also gab es keinen Grund, zu hetzen und sie

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