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Yun: Roman
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Yun: Roman
eBook262 Seiten2 Stunden

Yun: Roman

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Über dieses E-Book

Eigentlich will Jarek Jensen ungestört weiter Pfandflaschen sammeln. Doch der erwerbslose Souffleur wird Zeuge eines Telefonats, das ihn monatelang nicht loslässt. Die Schülerin Yun erinnert ihn an seine tote Tochter. Warum wirkt Yun stets wie benebelt? Wer sind die »bösen Geister«, die sie im Park sucht? Fantasie? Oder Symbol einer realen Gefahr?
Jensen entdeckt die morbide Geheimwelt einer angesehenen Familie. Um Yun zu helfen, muss er gegen gesellschaftliche Vorurteile ankämpfen. Gerüchte über ihn entstehen. Eine ängstliche Kassiererin, ein kranker Lehrer und ein lebensmüder Juwelier kreuzen seinen Weg: drei Menschen, die seine Situation unheilvoll beeinflussen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum5. Feb. 2021
ISBN9783347156401
Yun: Roman

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    Buchvorschau

    Yun - Jane D. Kenting

    PROLOG

    Sie war unbemerkt in den Park gekommen, in den verwirrenden Sekunden, in denen die ersten Regentropfen fielen. Jarek sah sie, als er sich umdrehte, um mit den Stofftaschen in beiden Händen die nächste Sammelrunde anzutreten. Ein Mädchen mit schwarzer Kurzhaarfrisur und gesenktem Kopf hielt sich auf einer Parkbank nahe dem Denkmal ein Handy ans Ohr. Sie war höchstens vierzehn Jahre alt.

    Oh, diese Ähnlichkeit … Mara …

    Die Erinnerung erwischte ihn kalt. Er blieb neben dem Mülleimer stehen und sah zu der Bank. Der Nieselregen befeuchtete seine Stirn und Wangen. Launischer Wind strich durch die Birkenkronen. Jarek zog den Reißverschluss seiner Jacke zu. Er wollte in die andere Richtung schleichen, über einen Umweg zum nächsten Sammelpunkt gelangen. Alle Flaschensammler taten so, als mache es ihnen nichts aus, bei der Arbeit gesehen zu werden. Auch er zog nur heimlich die Schultern zusammen, wenn ihn Blicke trafen. Aber nichts war für ihn so beschämend, wie dabei von einem Kind gesehen zu werden.

    Bewegungslos saß sie da. Wie sie sich von der Masse unterschied. Sie wirkte anachronistisch, schien zwanzig Jahre zu spät hier zu sein. Jeansrock und Stiefeletten, braune Samtjacke. Das weiße Halstuch verlieh ihr etwas Elitäres, fast Vornehmes. Sie schien aus der Zeit gefallen zu sein. Das Smartphone passte nicht zu ihr. Es war, als hätte ihr jemand ein Stück Technik in die Hand gedrückt, das sie nur duldete.

    Plötzlich unterbrach ihre belegte Stimme die Stille des Parks.

    »Es ist das Falsche. Es bringt mich um.«

    Sie sprach leiser weiter, sodass Jarek kein weiteres Wort verstand. Doch er hörte den Tonfall, ein Flehen, das gegen einen Widerstand ankämpfte. Ihre Lippen bewegten sich schnell. Sie hob den Kopf, straffte den Körper, lauschte ins Telefon. Dabei wandte sie sich einmal in Jareks Richtung. Ihr maskenhaftes Gesicht erschreckte ihn.

    Als wäre sie Maras Geist.

    »Immer sagst du, bald. Wann ist bald?«

    Sie verstaute das Telefon in ihrer Umhängetasche, sprang auf und spannte einen blauen Regenschirm auf. Während sie in Jareks Richtung ging, sah sie ihn mit hoffnungslosem Ausdruck an. Sie schien in Tränen ausbrechen zu wollen. Doch dann griff sie nur in ihre Tasche und zog eine leere Wasserflasche hervor, die sie ihm schweigend entgegenhielt. Die Armbewegung wirkte mechanisch. Aus der Nähe war die Ähnlichkeit mit Mara fast unerträglich. Er starrte sie an. Sie machte eine ungeduldige Handbewegung.

    Zögernd nahm er die Flasche. Das Mädchen kehrte ihm den Rücken zu und ging mit gleichförmigen Schritten in Richtung Chaussee, Kopf und Schultern vom Schirm verdeckt.

    »Alles in Ordnung mit dir?«, rief er.

    Sie lief weiter durch den zunehmenden Regen. Ihre Gestalt wurde dunkler, bis sie sich im Dunst auflöste.

    1

    JAREK

    Er fragte sich schon lange nicht mehr, wodurch die Grüne Allee ihren Namen verdiente. In der ganzen Straße gab es keinen Baum und auch sonst nichts Grünes außer den Glascontainern vor seinem Haus.

    Vielleicht war es Zufall, dass er selten Nachbarn im Treppenhaus traf. Doch bei Ava, die zwei Etagen unter ihm wohnte, war er sich sicher: Sie mied ihn. Wenn er ihr begegnete, grüßte sie nicht zurück. Nie öffnete sie die Tür, wenn er hin und wieder wegen einer Hausangelegenheit bei ihr läutete. Zur Mieterversammlung war sie nur einmal erschienen. Das Einzige, was sie an dem Abend gesagt hatte, war »Ja«, als es darum gegangen war, ob alle sich duzen sollten. Und kam Jarek am Laden vorbei, wo Ava an der Kasse arbeitete, sah sie in eine andere Richtung oder trank ein paar Schlucke Wasser aus einer Plastikflasche.

    Am letzten Apriltag ließ er auf dem Weg zum Park die Wohnblöcke hinter sich. Wie immer wandte er den Blick vom Friedhof ab. Seit Tagen hing Dunst zwischen den Bäumen. Der Park war menschenleer. Keine halbe Stunde zuvor hatten Schüler auf dem Heimweg ihre Spuren hinterlassen. Die meisten Flaschen kamen von ihnen. Ob er hier heute der erste Sammler war?

    Er zog die Kapuze über, froh, sich jetzt nicht umsehen zu müssen, bevor er in einen Mülleimer griff. Die Meinung der Leute war ihm wichtig. Sie sollten das richtige Bild von ihm haben und kein anderes – selbst wenn es besser gewesen wäre als die Realität. Diese bestand aus zwei Dingen: dem Sammeln des Lebensunterhalts und einer festen Tagesstruktur.

    Er mochte die Bewegung im Freien. Gleichzeitig hatte er die Hoffnung auf einen neuen Job nicht aufgegeben. Mit Zweiundvierzig war es zum Resignieren zu früh. Am liebsten hätte er wieder als Souffleur am Theater gearbeitet, doch viele Stellen wurden gestrichen – wie seine letzte.

    Unter der Hauptbrücke nippte seine wohnungslose Bekannte Edda an einer Bierdose und wickelte den Schlafsack fester um ihren Bauch. »Ich sammle nur das, woraus ich selbst getrunken habe. Mehr steht mir nicht zu«, lautete ihr Prinzip.

    »Was gibt es, Shakespeare?« Eddas Lachen ging im Verkehrslärm unter. Der Brückenpfeiler sonderte muffige Gerüche ab. Oder war es der Einkaufswagen mit Eddas Hab und Gut?

    »Nichts anderes als sonst«.

    »Schwache Inszenierung.« Sie heftete ihre Fuchsaugen auf Jareks Gesicht. Das Haarband war auf die Stirn gerutscht, graue Locken baumelten lustlos herum. Mit Mühe hielt sie die Lider halb geöffnet. Über ihrer Oberlippe glitzerten Biertropfen.

    »Für die Regie kann ich nichts«, sagte er.

    Edda schloss die Augen. »Es wird Frühling.«

    »Kann ich nicht feststellen.«

    »Vorhin habe ich drüben im Park spielende Kinder gehört.«

    »Nur gehört?«

    »Sie haben sich irgendwo hinter dem Denkmal im Grünen versteckt. Manchmal sitze ich dort auf der Bank und denke an früher.«

    Die Bank. Das Mädchen.

    »Ist dir im Park mal eine Schülerin mit schwarzer Kurzhaarfrisur aufgefallen? Ungefähr vierzehn Jahre?«

    Was verspreche ich mir davon? Es ist nicht Mara.

    Eddas Augen blieben geschlossen. »So genau achte ich nicht auf die Leute.«

    »Samtjacke? Jeansrock?«

    »Nein.« Jetzt sah sie ihn erstaunt an.

    Jarek versank in Gedanken, umgeben vom fernen Surren der Motoren auf den Straßen, den flüchtigen Schritten der Menschen auf der Promenade, dem Gluckern des Wassers unterhalb der Böschung. Am anderen Flussufer lag hinter hohen Häusern der Park.

    Edda drehte sich gähnend auf die Seite. »Viel Erfolg heute«, murmelte sie.

    »Danke. Kann ich gebrauchen.«

    Er überquerte die Brücke. Trotz des unbeständigen Wetters waren inzwischen mehr Leute unterwegs. Er blendete sie aus, hielt nach Flaschen Ausschau. Nach einer Weile kam er zum Denkmal, wo er horchend stehen blieb.

    Der Wind strich durch die Baumkronen. Ein Taubenschwarm flog auf. Dann hörte er sie: Mädchenstimmen. Eine helle, klare und eine belegte, seltsam monotone. Sie kamen aus der Richtung der fünf Birken, die hinter der Buchenhecke in einer Reihe wuchsen.

    Er schulterte die Stofftasche und schlich näher. Was sich hinter dem dichten Laub befand, konnte er nicht sehen. Aber er hörte, wie sich die Stimmen in Wispern verwandelten.

    Er streifte ein Stück an der Hecke entlang, bis er eine Lücke fand, durch die er etwas sehen konnte. Schatten bewegten sich hinter den Birken auf einem abseitigen Stück Wiese, zwischen hohen Gräsern und wilden Pflanzen. Eine Oase inmitten der Stadt. Warum war ihm das noch nie aufgefallen?

    Ein Hund knurrte, Jarek zuckte zusammen. Hinter den Birken kamen zwei Schülerinnen hervor. Die eine mit hellblondem Zopf, die andere mit einem blauen Regenschirm, der ihren Kopf verdeckte. Wofür brauchte sie jetzt einen Schirm?

    Beide schienen angespannt zu lauschen. Nachdem der Hund verstummt war, zogen sie sich wieder zwischen die Bäume zurück.

    Ein Mann mit einem Dalmatiner baute sich breitbeinig vor ihm auf. »Dass Sie sich nicht schämen.«

    »Wofür?«

    Der Hundehalter betrachtete ihn aus zusammengekniffenen Augen, spuckte ihm vor die Füße und zog das Tier mit sich fort.

    Jarek stand auf dem leeren Parkweg. In seinen Ohren brauste es. Er spürte den Drang, nach Hause zu gehen und billigen Rotwein zu trinken, wie anfangs, wenn er solche Situationen erlebt hatte. Alles maßen die Leute am Beruf. Sogar viele, die keinen Beruf hatten oder einer privaten Arbeit nachgingen, wie er seine Tätigkeit nannte. Es war nicht nur die Lebenssituation, nicht nur das wenige Geld. Es war die Art, auf ein Leben herabzusehen. Was brachte es, ein Leben zu bewerten? Was nützte das Gefühl, versagt zu haben oder zu den Besseren zu gehören, je nachdem, welches Schicksal man zu haben glaubte? Was kam dabei heraus außer Neid oder Arroganz?

    Er rieb sich die Stirn und blickte sich um. Niemand war in der Nähe. Rasch stieg er durch eine lichte Stelle der Hecke und schlich näher an die Birken heran, bis er die Gesichter der Schülerinnen erkennen konnte. Die Hellblonde sah lebhaft in die Welt. Die andere, die jetzt unter dem Schirm hervorsah, wirkte apathisch. Sie hatte dunkles, kurzgeschnittenes Haar.

    Die Erinnerung an Mara überwältigte ihn.

    Das Mädchen von neulich.

    Es ist das Falsche. Es bringt mich um.

    Sollte er weiter hinsehen? Oder besser in seine Realität zurückkehren, in die kalte, nüchterne Wirklichkeit und den immer gleichen Tag?

    »Sie waren noch nie so böse«, sagte die Dunkelhaarige. Ihre Stimme klang belegt.

    »Vielleicht kommen wir besser nicht mehr hierher«, antwortete die andere.

    Er kam sich vor wie früher am Rand der Bühne.

    Stille. Die Hellblonde schien auf eine Antwort ihrer Freundin zu warten.

    Dann entdeckte sie Jarek.

    Sie stieß einen Pfiff aus und wies mit dem Kinn in seine Richtung. Das Mädchen mit dem Regenschirm sah ihn nun auch, ohne ihn wirklich zu fokussieren. Ihr Blick war leer wie nach schlaflosen Nächten.

    »Das ist keiner von denen. Der sammelt nur Pfand«, sagte sie.

    Keiner von denen. Als wollte sie einem Kind die Angst vor etwas ausreden. Oder sich selbst?

    Langsam hob er eine Hand zum Gruß.

    Die Hellblonde packte ihre Freundin am Arm und zog sie Richtung Parkausgang.

    Er ging zu der Stelle, an der die Mädchen durch das Gras gestreift waren. Die Birken warfen tiefe Schatten. Unter den Laubschleiern leuchtete weißgraue Rinde. An diesem Ort schien die Stadt nicht zu existieren.

    Mit der Schuhspitze bog er Grasbüschel beiseite, schob Steine weg, bohrte Mulden in die Erde. Unter einer Birke wuchsen Pilze in einem Kreis.

    Hexenpilze.

    Sonst fand er nichts.

    2

    AVA

    Die Schritte der Nachbarn waren ihr vertraut. Das Trampeln des Rentners über ihr, das Trippeln des Paares im dritten Stock, das Schleichen des Flaschensammlers unter dem Dach. Nur in der Erdgeschosswohnung blieb es immer still.

    Am letzten Nachmittag im April kam sie von der Arbeit nach Hause. Den Fernsehstimmen, die aus einer der Wohnungen ins Treppenhaus drangen, wich sie mit einer unwilligen Kopfbewegung aus. Sie erschrak: Auf der Fußmatte lag eine Lilie. Eine der weißen Blüten war geschlossen, auf den Blättern schimmerten Wassertropfen.

    Lange sah sie auf die Lilie hinab. Schließlich bückte sie sich und hob sie auf. Die Blume fühlte sich kühl und frisch an. Während Ava mit den Fingerspitzen über die Blätter strich, entstand in ihr selbst eine dunkle Stelle, dort, wo im Bauch der Atem ankam. Sie hatte niemandem von ihrem fünfunddreißigsten Geburtstag erzählt. Die Blume konnte, durfte damit nichts zu tun haben.

    Ich werde sie nicht mit nach drinnen nehmen. Aber in die Mülltonne gehört sie ebenso wenig.

    Sie fröstelte. Einen Moment lang kam es ihr vor, als bekäme sie weniger Luft. Sie lehnte sich gegen die Wand und schloss die Augen. Durch das gekippte Treppenhausfenster streifte ein Windhauch ihr Gesicht.

    Es gibt nur einen Ort, an den sie passt. Am besten bringe ich sie gleich hin.

    Sie legte die Lilie neben dem Türrahmen ab, drehte den Schlüssel im Schloss, betrat mit Mantel und feuchten Stiefeln ihren Flur, ohne die Tür hinter sich zu schließen, und packte in der Küche die Einkäufe aus. Der schmale Raum war mit Holzschränken vollgestellt, übergestrichenen Küchenmöbeln, von denen die dunkelrote Farbe abblätterte. Neben dem Herd stapelten sich gebrauchte Teller, Tassen und Gläser bis zum nächsten Turnus, dem Zeitpunkt, wo es kein sauberes Geschirr mehr gab.

    Sie ging zum Klapptisch am Fenster. Ein matter Himmel verdunkelte die Häuserreihen. Über der Stadt lag feiner Dunst. Die Wiesen dehnten sich bis zum Robinienberg. Im Hinterhaus brannte Licht. Dort, hinter der dünnen Gardine im ersten Stock, putzte der Gebeugte seine Wohnung. Mit sparsamen Schritten führte er den Besen neben sich her. Der Gebeugte war ein ältlicher Herr mit Buckel. Jeden Morgen fuhr er seine Frau im Rollstuhl spazieren, einmal zum Park und zurück. Später hängte er Wäsche auf den Balkon und schälte am Küchentisch Kartoffeln. Unaufhörlich war er beschäftigt, mit krummem Rücken und langsamen, vorsichtigen Bewegungen, denen keine Mühe anzumerken war. Eine große Ruhe ging von ihm aus. Ava sog diese Stimmung jedes Mal dankbar auf, wenn sie ihn sah.

    Sie seufzte und spürte die dunkle Stelle im Bauch, bevor sie zurück zur Wohnungstür ging und sie einen Spalt weit öffnete. Sie hörte Schritte im Treppenhaus, feste Sohlen, deren Hall näher kam, sich entfernte und nach zwei Schlüsseldrehungen verschwand. Ava wartete ab. Dann nahm sie die Lilie und zog die Wohnungstür zu.

    Stets blieb sie auf ihrer Straßenseite, wo die geraden Hausnummern waren. Hier liefen die wenigsten Leute, hier kamen die meisten flüchtig und ohne aufzublicken vorbei. Auf der linken Seite der Grünen Allee schienen die Häuser bei jedem Wetter im Schatten zu liegen, auch an diesem verhangenen Tag. Sie zog den Kopf ein und sah sich nach allen Seiten um. Niemand war zu sehen, aber das bedeutete nichts. Jemand konnte aus einem Hauseingang kommen, hinter einem Fenster stehen, aus einem Auto steigen, um eine Ecke biegen. Überall waren Nachbarn. Hinter den Mauern der Häuser, unter Dächern, in Kellern, in sauberen oder schmutzigen Wohnungen. Sie lagen unter Bettdecken, saßen auf Polstersesseln oder hockten am Boden und schnürten ihren Kindern die Schuhe zu.

    Wer musste zuerst grüßen, wenn man sich kannte? Genügte ein Nicken als Reaktion? Ab wann sollte man stehen bleiben? Musste man sich vorher ein-, zwei- oder dreimal begegnet sein? Wie lange war Augenkontakt zu halten? Wie verhielt man sich, wenn der Abstand noch groß war und der andere gerade erst ins Blickfeld geriet? Ab welcher Entfernung war das Grüßen erlaubt, an welcher geboten? Fragen, die sie bedrängten. Trotzdem zweifelte sie nicht: Es war richtig gewesen, die Therapie abzubrechen. Sie musste das allein schaffen. »Es ist noch zu früh, Frau Luhn«, hatte die Therapeutin gesagt. Doch für Ava stand die Sache fest.

    Sie überquerte die Kreuzung und lief durch ein schmiedeeisernes Tor. Der Pfad mit den Gräbern auf beiden Seiten erinnerte sie an einen Dorfweg bei Tagesanbruch, wenn alle noch schliefen und in den Gärten die Vögel zu singen begannen. Sie malte sich aus, wie nachts die Stunden vergingen, wie es Morgen, Mittag und Nachmittag wurde und noch immer keine Leute schwatzten, keine Kinder spielten. Nur hin und wieder durchquerte jemand die Stille, wie jetzt sie selbst, als sie von einem Grabstein zum nächsten ging.

    Ihre Schritte führten sie zum nördlichen Rand des Friedhofsgeländes, wo die älteren Gräber lagen. Als von einem Seitenweg eine Frau in ihr Blickfeld trat, zuckte Ava zusammen, aber dann sah sie den Einkaufswagen voller Habseligkeiten und atmete auf. Während die Wohnungslose mit gesenkten Lidern an ihr vorbeiging, nahm Ava das Bild in sich auf: graue, mit einem Tuch zusammengebundene Locken, bis zu den Knöcheln reichender Rock. Sie stellte sich vor, wie die Frau den Einkaufswagen stundenlang durch die Straßen schob und verlegenen Blicken auswich, wie sie am Abend das Tuch aus dem Haar nahm und unter geflüsterten Selbstgesprächen auf einer verschlissenen Matratze einschlief, ohne die Taschenlampe zu löschen. Mit diesen Gedanken lief Ava weiter, vorbei an Kreuzen, Marmorplatten und Immergrün. Am Ende des Weges fiel ihr ein bemooster Grabstein

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