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Das Orakel der Palmblatt-Bibliothek: Eine philosophisch-spirituelle Weltreise
Das Orakel der Palmblatt-Bibliothek: Eine philosophisch-spirituelle Weltreise
Das Orakel der Palmblatt-Bibliothek: Eine philosophisch-spirituelle Weltreise
eBook562 Seiten7 Stunden

Das Orakel der Palmblatt-Bibliothek: Eine philosophisch-spirituelle Weltreise

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Über dieses E-Book

Kann es sein, dass auf uralten getrockneten Palmblättern wichtige Ereignisse unseres künftigen Lebens aufgezeichnet sind? Dass die Namen unserer Eltern, genauso wie unser eigener Todestag bereits vor über 5000 Jahren von indischen Weisen auf diese geheimnisvollen Palmblätter geritzt wurden?

Der Besuch einer Palmblattbibliothek während eines Indienaufenthalts verändert das Leben von Sebastian und Franziska Lichtenberg. Beide sind Philosophie-Lehrer am Gymnasium. Bei beiden gerät das Weltbild kräftig ins Wanken. Ihr Gefühl rebelliert gegen den Verstand, der ihr bisheriges Leben stets in geordneten Bahnen hielt.

Ihr Leben erfährt eine radikale Wendung, als sie beschließen, sich für ein Jahr vom Schuldienst beurlauben zu lassen. Mit dem angesparten Geld für ein neues Auto planen sie eine Weltreise.
Das Motto: Philosophen, Heiler und Heilige.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum10. Sept. 2020
ISBN9783347111066
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    Buchvorschau

    Das Orakel der Palmblatt-Bibliothek - Christoph Unterhuber

    I

    Silvia

    Ein paar Jahre später sitzen Franziska und ich nach dem Mittagessen bei einem Latte Macchiato auf der Veranda unseres Hauses mit Blick auf die grün vorbeisprudelnde Salzach. Der Gebirgsfluss gab der berühmten Mozart-Stadt Salzburg seinen Namen und bildet die Grenze zwischen Österreich und der benachbarten oberbayerischen Kleinstadt Burghausen.

    »Stell dir vor, ich habe es ausprobiert und es hat funktioniert – ich habe einem Schüler die Prüfungsangst ausgeklopft!«. Begeistert berichte ich Franziska von meinem ersten Erfolgserlebnis als Geistheiler.

    »Wo hast du den Schüler behandelt?«, ihr Stirnrunzeln lässt leichtes Misstrauen und Unbehagen ob meines gewagten Vorgehens erahnen.

    »In der Schule, genauer gesagt in unserem Fitnessraum neben der Turnhalle!«

    »Bist du verrückt?«, ihr leichtes Unbehagen wechselt in eine besorgte Unruhe. »Du kennst doch die Einstellung unserer Gesellschaft gegenüber alternativen Heilverfahren. Von den meisten werden doch derartige Techniken als esoterische Luftnummer, wenn nicht gar als satanisches Hexenwerk abgetan. Und dann unsere Schüler-Eltern: Fama fert – ein Gerücht geht um, mir klingt dasselbe schon in den Ohren: Sebastian Lichtenberg betreibt Teufelsaustreibung im Fitnessraum.«

    »Jetzt bleib mal auf dem Teppich. Der Schüler ist volljährig und seit zwei Jahren in psychologischer Behandlung, weil er vor jeder wichtigen Prüfung von Angstattacken mit Schweißausbrüchen heimgesucht wird. Je näher das Abitur heranrückt, umso schlimmer werden diese. Deshalb habe ich ihm angeboten, seine Ängste auszuklopfen.«

    »Und er war sofort einverstanden?«

    »Wir haben natürlich vorher ein längeres Gespräch geführt, in dem ich ihm das Prinzip dieser Behandlungsmethode erläutert habe. Du weißt schon, die Verknüpfung der rechten mit der linken Gehirnhälfte.« Meine etwas lässig vorgetragene Antwort ruft bei Franziska wenig Bewunderung hervor.

    »Ehrlich gestanden weiß ich von dieser Verknüpfung nichts, obschon mir natürlich deine Technik nicht fremd ist. Aber mein süßer Schlaumeier wird mich sicherlich in kompetenter Weise darüber aufklären?«

    »Aber sicher. Francine Shapiro, eine amerikanische Psychologin, entdeckte zufällig bei einem Spaziergang im Park, dass durch das Hin- und Herbewegen der Augen von links nach rechts eine deutliche Entlastung von Ängsten und depressiven Gedanken erfolgt. Erklärt wird dieser Sachverhalt so: Nach einem Trauma werden in der rechten Gehirnhälfte Bilder prozessiert, die der Traumatisierte vor Augen hat, die er jedoch nicht in Worte fassen kann, da sein Sprachzentrum in der linken Gehirnhälfte aktiv unterdrückt wird. Es entsteht ein sogenanntes ›sprachloses Entsetzen‹, welches mir als deinem Ehemann nicht fremd ist.

    Dadurch dass der Patient das Geschehene nicht in Worte fassen kann, wird eine Verarbeitung des traumatischen Erlebnisses verhindert. Durch die bilaterale Stimulation mittels der Augenbewegungen von links nach rechts erfolgt eine Synchronisation der beiden Gehirnhälften. Dadurch gelangt die bildhaft gespeicherten Informationen der rechten Gehirnhälfte in die linke Hälfte und kann in Sprache ausgedrückt beziehungsweise mittels des Verstandes verarbeitet und damit therapiert werden.«

    Die ursprüngliche Skepsis meiner Gesprächspartnerin weicht einem echten Interesse. »Dann könnten doch mit dieser Methode auch verborgene emotionale Erlebnisse aus der frühen Kindheit ins Bewusstsein gebracht werden?«

    »Genau, das ist für mich das eigentlich Faszinierende an dieser Methode. Ich habe von einem hochinteressanten Fall einer Katzen-Phobie gelesen, die dadurch aufgelöst wurde. Der Patient bekam immer beim bloßen Anblick von Katzen Todesängste. Durch die Augenbewegungen konnten Bilder aus der frühesten Kindheit in die linke Gehirnhälfte transferiert werden. Dabei stellte sich heraus: Eine Katze legte sich in der Wiege auf den Patienten, als er ein Baby war. Er wäre damals beinahe erstickt. Keiner hatte den Vorgang beobachtet. Normalerweise kann sich der Patient weder an den Vorgang erinnern noch diesen in Sprache ausdrücken. Das Erlebnis war jedoch in der rechten Gehirnhälfte emotional gespeichert und Ursache der Phobie. Durch den Transfer der bildhaften Information in die linke Gehirnhälfte konnte die Ursache der Phobie erkannt und rational aufgearbeitet werden. Ist das nicht faszinierend?«

    Wohltuend registriere ich Franziskas Anerkennung. »Hoch interessant, was du dir da angelesen hast.«

    »Das finde ich auch«, ergänze ich eifrig. »Im Übrigen kann durch diese Methode auch sexueller Missbrauch in der frühen Kindheit ans Tageslicht befördert und so weit wie möglich therapiert werden.

    Aber zurück zu meinem Schüler: Ich habe ihn nach einer kurzen theoretischen Einweisung in einer Freistunde im Fitnessraum nach der Methode beklopft, wie Silvia es uns beigebracht hat. Und es hat funktioniert. Er war nach seinen Aussagen vor der letzten Klausur zum ersten Mal relativ angstfrei.«

    * * *

    Drei Jahre nach unserem Besuch der Palmblatt-Bibliothek hat sich unser Leben verändert. Eine geheimnisvolle Frau war in unser Leben getreten. Franziska hatte sich bei Silvia, einer Geistheilerin, zu einem Jahreskurs angemeldet. Das Programm umfasste zwölf Wochenendseminare und beschränkte sich nicht nur auf das Lernen von Heilmethoden. Es erforderte eine gnadenlose Bestandsaufnahme seiner selbst. Nur wer in der Lage wäre, seine gröbsten emotionalen Baustellen anzusehen und aufzuräumen, könnte nach Ansicht von Silvia ein guter Heiler werden.

    Das Unmögliche geschah: Franziska unterstellte sich der Bestandsaufnahme ihrer Lehrerin. Und obwohl es ihr oftmals schwer zu fallen schien – sie erzählte ganz entgegen ihren sonstigen Gewohnheiten auffällig wenig von der psychologischen Obduktion ihrer Persönlichkeit –, als Ehemann konnte ich eine eindeutig positive Veränderung ihrer Verhaltensweisen feststellen. Unsere bis dahin gute Beziehung wurde noch tiefgründiger.

    Im Januar bot Silvia einen neuen Kurs an. Ein willkommener Anlass für Franziska, mich darauf hinzuweisen, wie gut auch mir eine achtsam begleitete Innenschau täte. Warum nicht? Wenn das Ergebnis gut ist, sollte man sich der Herausforderung nicht verweigern.

    Ich hatte in der Zwischenzeit meine Liebe zum Yoga und zur Meditation entdeckt und erntete bei meinen Sport-Kollegen und Fußball-Freunden ungläubige und mitleidsvolle Anteilnahme, als sie von meinen neuen Hobbies erfuhren. Gleichwohl taten mir diese Erfahrungen gut, ein Grund mehr mich auf den Vorschlag Franziskas einzulassen. Und so fand ich mich unvermittelt in einer Gruppe von achtzehn Leuten wieder.

    * * *

    Wir sitzen im Stuhlkreis, fünfzehn Frauen und drei Männer. Die übliche Vorstellungsrunde offenbart eine Ansammlung durchaus liebenswerter Zeitgenossen. Die gespannte Erwartung weicht nach und nach einer heiteren ungezwungenen Atmosphäre: Die Chemie scheint zu stimmen, dank unserer Seminarleiterin Silvia.

    Schon der erste Blick in ihre grünen – oder sind sie graublau? – Augen offenbart neben Souveränität eine gewisse wohltuende Verschmitztheit, die es mir erleichtert, Vertrauen zu fassen. Dies ist nicht unwichtig, denn das Damoklesschwert der Selbstoffenbarung schwebt nicht nur über mir, wie es scheint. Die heitere Stimmung kommt mir im nächsten Augenblick vor wie das Pfeifen im dunklen Walde.

    »Ihr werdet in nächster Zeit immer wieder mit einem Begriff konfrontiert werden, der eine zentrale Rolle spielen wird: das Gefühl.« Silvia schaut herausfordernd in die Runde. »Was fühlt ihr? Wie fühlt ihr euch? Welches Gefühl spürst du in dir hochkommen? Diese Fragen werde ich euch immer wieder stellen. Ihr müsst eine ehrliche Antwort geben, um voran zu kommen!«

    Erste Übungen – nämlich die eigene Aura und die der Mitmenschen zu erspüren – offenbaren mir meine eigene Gefühllosigkeit in einem erschreckenden Maße. Als reiner Kopfmensch ist das einzige Gefühl, das mich ständig beherrscht, das Gefühl der Überforderung, wenn ich etwas fühlen soll. Nachsichtig begleitet Silvia meine ersten Versuche, die Aura zu erfühlen und gibt mir augenzwinkernd zu verstehen, dass ich mich bald verbessern werde. Dankbar, wenn auch ungläubig, pflichte ich ihr bei.

    * * *

    Wir lernen bei Silvia alles Mögliche: Aura spüren, Familienstellen, Trauma-Behandlung, Ängste ausklopfen, Hände auflegen – Techniken, die zur Heilung im weitesten Sinne nützlich sind. Der ungezwungene Sitzkreis – manche, so wie ich, sitzen auf ihrem Stuhl, manche vorbildlich in aufrechter Haltung im Lotussitz und manche liegen, den Kopf auf den Händen aufgestützt, auf dem Bauch – wird zum immer wiederkehrenden Ritual unserer Gruppe.

    Dramatische Szenen spielen sich ab, als die ersten Teilnehmer ihren Gefühlen freien Raum lassen. Anfangs ist es mir ein Rätsel, wie es unsere Seminarleiterin anstellt. Aus einem belanglosen Gespräch heraus hat sie plötzlich einen von uns am Wickel. Eine scheinbar harmlose Bemerkung und schon bohrt sie nach – und der Angebohrte zappelt im Netz der Gefühle. Verwundert stelle ich fest, dass sexueller Missbrauch weitaus häufiger vorzukommen scheint, als ich bisher annahm. Unbeschreiblich, ja gerade furchterregend sind die Gefühlsausbrüche sexuell Traumatisierter, wenn der Bann des Schweigens gebrochen ist. Doch die überbordenden Ängste und Schmerzen weichen stets einem Gefühl der Erleichterung und des Friedens.

    Ich halte mich lange zurück und beobachte, beruhigt, offensichtlich einer der wenigen in der Gruppe zu sein, die auf eine glückliche und geborgene Kindheit zurückschauen dürfen. Doch vor Silvia bin auch ich nicht sicher. Mit ihren unergründlichen Augen fixiert sie mich, als der mit Indianer-Federn behängte Holzstab bei mir angelangt ist. Dieser wird im Sitzkreis immer reihum weitergegeben und ist das auffordernde Symbol, seine Gefühle preiszugeben.

    »Mir geht es eigentlich gut. Ich bin in erster Ehe geschieden. Nach meiner Scheidung habe ich mich neben meinem Beruf als Gymnasiallehrer mit vollem Einsatz in der kommunalpolitischen Arbeit engagiert. Fast zwanzig Jahre bekleidete ich verschiedene politische Ämter. Als ich Franziska kennenlernte, zog ich mich vollkommen aus der Kommunalpolitik zurück. Seit sieben Jahren bin ich nun glücklich, ich möchte sogar sagen sehr glücklich verheiratet.«

    Soweit meine Kurzbiographie, die im Vergleich zu manch anderen wenig Anlass zum Jammern bietet, denke ich für mich und schaue Silvia zuversichtlich in die Augen.

    »Warum ›eigentlich‹?« Nicht mehr und nicht weniger kommt über ihre Lippen.

    »Wie ›eigentlich‹?«, frage ich verunsichert zurück.

    »Du hast gesagt ›mir geht es eigentlich gut‹.«

    »Na ja, es gibt natürlich auch Dinge in meinem Leben, die mich belasten und schmerzen«, gebe ich kleinlaut zu. »Ich habe zwei erwachsene Töchter, mit denen ich zwar ein gutes Verhältnis, aber in den letzten Jahren für mein Gefühl relativ wenige Kontakte hatte. Was mich noch mehr belastet: Während ihres Erwachsenwerdens konnte ich über lange Zeit nicht dabei sein.«

    Meine Töchter waren nach der Scheidung erst fünf und acht Jahre alt und wuchsen bei meiner Ex-Frau und ihrem neuen Mann auf.

    Silvia blickt mir tief in die Augen und fängt an zu bohren. »Die energetischen Bande zwischen Eltern und Kindern sind die stärksten in unseren menschlichen Beziehungen, stärker noch als die Bande zwischen Mann und Frau. Insofern ist dein Schmerz völlig normal. Es überrascht mich, dass du ihn nicht stärker verspürt hast.«

    »Ich habe ihn doch stark verspürt, sehr stark sogar«, entgegne ich. »Aber was sollte ich tun? Das Leben musste weitergehen.«

    Meine Gedanken schweifen zurück in diese Zeit. Ich war nach dem erzwungenen Auszug aus dem Familiennest plötzlich allein in einer Wohnung wie in Studentenzeiten, habe mich sehr schnell wieder in eine neue Beziehung zu einer alleinerziehenden Mutter gestürzt und wollte sozusagen am Wochenende, wenn meine Mädchen bei mir waren, eine Ersatzfamilie gründen. Doch bald merkte ich: Das funktioniert nicht. In einer Patchwork-Familie entsteht aus vielerlei Gründen unheimlich viel Stress. Letztendlich trennte ich mich deshalb von meiner neuen Partnerin und war wieder allein.

    Gewohnt mit einem Kinderlachen aufzustehen, nach dem Frühstück die Mädchen in den Kindergarten beziehungsweise zur Schule zu bringen, am Abend meiner älteren Tochter nach einer Gutenachtgeschichte die Augen zu schließen – die kleine war meistens vorher schon eingeschlafen –, zerriss es mir schier das Herz, als ich einsam in meiner Bude saß und mir meine Tränen verbiss. Aber es musste weitergehen: Und so stürzte ich mich in die Arbeit, merkte gar nicht, wie ich wie ein Hamster im Rad rannte und immer mehr fremdbestimmt war. Ich war kommunalpolitisch erfolgreich und wurde in verschiedenste Ämter gewählt. Bald hatte ich nur noch Termine. Meine Lichtpunkte waren immer die Tage, an denen meine Mädchen bei mir waren und einmal im Jahr der Urlaub auf dem Bauernhof, den wir immer zusammen mit Freunden verbrachten. Aber die Gelegenheiten des Zusammenseins nahmen immer mehr ab und irgendwann musste ich mir eingestehen, dass ich meine Vaterrolle an den Stiefvater meiner Kinder abgegeben hatte.

    »Du musst keine Sorge haben«, beruhigt mich meine Lehrerin. »Die energetischen Bande zu deinen Töchtern sind so stark, die können von niemandem gelöst werden. Aber du hättest damals deinen Gefühlen mehr Raum geben müssen, anstatt sie durch allerlei Aktionismus zu verdrängen. Wir werden ihnen deshalb jetzt diesen Raum verschaffen. Schließe deine Augen und versetz dich in das Gefühl, als du gezwungen warst, deine Kinder zu verlassen.«

    Ich schließe meine Augen und augenblicklich überkommt mich eine Welle des Schmerzes und der Trauer. Ich sehe meine kleine fünfjährige Tochter, wie sie in der Zeit der Trennung um zwei Uhr nachts an mein Bett kommt – ich war zu dieser Zeit meist allein mit meinen Töchtern zu Hause – die Nachttischlampe anknipst, mich mit ihren großen blauen Augen anschaut und fleht: »Papa, du darfst nicht gehen! Warum willst du ausziehen?«

    Ich konnte und wollte ihr keine Antwort in der Art, ›Weil die Mama einen anderen liebt‹, geben. Stattdessen versuchte ich sie zu trösten, dass sie ja am Wochenende immer bei mir sein könnte, bis sie schließlich friedlich in meinen Armen einschlief. Ich sehe die dunklen braunen Augen meiner älteren Tochter, wie sie mich traurig anblicken und höre die Musik, die sie immer auflegt, wenn ich in ihr Zimmer komme. Es ist die Titelmelodie des Winnetou-Films, neu vertont unter dem Titel ›Ich will zurück zu dir‹. Die Welle des Schmerzes wird zu einer Flutwelle, ich kann nicht mehr an mich halten und breche hemmungslos in Tränen aus. Der ganze seit Jahrzehnten zurückgestaute Schmerz scheint wie in einem Sturzbach aus mir herauszuströmen. Keine Scham kann ihn aufhalten, ich weine hemmungslos wie ein kleines Kind. Und nach gefühlt endlos langer Zeit bemerke ich, dass mich jemand in den Arm genommen hat. Es ist meine Nachbarin, die ebenfalls Tränen in den Augen hat, und mir mit dieser Geste Trost spendet. Ich spüre die bedingungslose Liebe, die sie mir entgegenbringt und merke, wie sich meine Trauer langsam auflöst und in eine friedvolle Stimmung übergeht.

    * * *

    Der gefiederte Indianerstab kreist oft während unserer Seminare bei Silvia und lässt die unterschiedlichsten Gefühle bei uns hochkommen. Gleichzeitig entsteht eine wohltuende Vertrautheit zwischen den Gruppenmitgliedern. Wir lernen, dass mit dem Loslassen von Gefühlen eine ungeheure Energie frei wird, die zur gleichzeitigen Auflösung des belastenden Problems führen kann. Andererseits kann sie auch als positive Energie umgelenkt und nutzbringend eingesetzt werden. Allmählich verlieren wir die Angst vor dem Gefühl und lernen dieses sinnvoll zu nutzen.

    Auch heute noch kommt mir immer wieder das Bild vor Augen, als uns Silvia in einer der ersten Sitzungen in die Geheimnisse der Heilung einweiht:

    Ihre graugrünen Augen unergründlich in die Ferne gerichtet, die braunen, da und dort leicht angegrauten Locken gleichsam als geordnetes Durcheinander zu einem Pferdeschwanz gebändigt, sitzt sie in aufrechter Haltung vor uns. Eine unsichtbare Aura umgibt sie, welche sich immer mehr auszudehnen scheint und der wir uns nicht entziehen können und wollen. Gleichsam eingebettet in diese friedvolle Atmosphäre entspannt sich unser Geist. Wir werden zu stummen Zeugen dieser Situation. Allein der bloße Anblick unserer Lehrerin verspricht Heilung: Würde strahlt sie aus, Würde und Weisheit.

    Ein leichtes Zucken um ihre Mundwinkel verrät uns ihre innere Konzentration und nachdem sich ihre Augäpfel unter halb verschlossenen Lidern ein paarmal nach oben bewegen, beginnt sie wie aus weiter Ferne in einer ganz eigenen Modulation zu uns zu sprechen:

    »Heilung passiert immer ganzheitlich und ist nur in seltenen Fällen auf mechanische Operationen zurückzuführen. Um dies zu verstehen, müssen wir uns zunächst vergegenwärtigen, wie Krankheiten entstehen. Die meisten – nicht nur die psychischen – haben ihre Ursachen oftmals in unserem Geist, sprich in unseren Gedanken. Achtet also genau auf eure Gedanken!

    Was ist ein Gedanke? Nichts anderes als eine Ausprägung feinstofflicher Energie, die eine gewisse Form angenommen hat. Aus Energie und innerer Vorstellung entstehen Gedanken, aus Gedanken ausgedrückt in einer bestimmten Sprache entstehen Worte, aus Gedanken umgesetzt in Handlungen entstehen Werke. Wir Menschen interagieren in Gedanken, Worten und Werken, welche alle einem ursächlichen Zusammenhang unterliegen.

    Durch das Zusammenspiel von vielfältigen Gedanken, Worten und Werken werden wiederum unzählige Wirkungen hervorgerufen, die flüchtig oder langanhaltend, positiv, aber auch negativ sein können. Nach dem Gesetz der Kausalität wirkt sich beispielsweise die Intensität der Worte und Werke auf die Ergebnisse aus oder es rufen negative Gedanken negative Wirkungen hervor.

    Positive Gedanken befördern das Zusammenleben und halten uns jung und gesund, negative Gedanken bewirken das Gegenteil. Leider haben negative Gedanken die Eigenschaften, sich sehr leicht zu potenzieren.

    Ein schlechter Gedanke, dem man nicht weiter nachhängt, hat wenig Wirkung. Meist erzeugen selbst banale Gedanken jedoch eine Fülle von anderen Gedanken, die sehr schnell zu negativen gedanklichen Verstrickungen führen können. So hätte der Gedanke ›Es regnet vielleicht‹ zunächst keine Relevanz, wenn er nicht weitergesponnen würde: ›Ich habe keinen Schirm bei mir. Ich könnte pitschnass werden. Ich erkälte mich ohnehin so leicht. Was, wenn ich krank werde? Nächste Woche beginnt der Urlaub. Wir müssten dann den Flug stornieren. Gerade jetzt würde der Urlaub unserer abgeschlafften Ehe so guttun. Und ich liege im Bett anstatt am Strand. Unsere Ehe ist ernsthaft in Gefahr!‹

    Schon an diesem einfachen Beispiel könnt ihr erkennen, wie wichtig Gedankenhygiene für uns Menschen ist!

    Negative gedankliche Energien können sich, vor allem dann, wenn sie noch durch daraus folgende Worte und Handlungen intensiviert werden, im grobstofflichen Körper manifestieren, d.h. sie werden zunächst als Gefühle gespeichert. Diese bestimmen nicht nur über unser emotionales Erfahrungsgedächtnis unbewusst unsere weiteren Handlungen, sondern führen zu Anspannungen, muskulären Verspannungen oder im schlimmsten Fall auch zu Erkrankungen des Bewegungsapparats und der Organe. Bei jeder Krankheit steckt also ein negatives Gefühl dahinter, welches gleichsam wie in einer harten Nussschale eingepackt in unserem Inneren versteckt ist. Diese Nüsse gilt es zu finden und aufzuknacken. Dadurch könnt ihr den Selbstheilungsprozess in Gang setzen!

    Bevor wir uns als ›Nussknacker‹ auf die Suche machen, will ich euch zwei wichtige negative Gefühle, nämlich Angst und Schuld etwas näherbringen. Diese Emotionen sind die Grundlage für viele andere negative Emotionen wie Wut, Hass, Eifersucht und Stolz. In ihnen sind sehr viele Energien gespeichert, welche in unserem Dasein viele negative Wirkungen entfalten können. Lenkt sie deshalb in die richtige Richtung und löst sie auf!

    Die Angst basiert auf Wahrnehmung und ist mit dem Überlebenstrieb eng verknüpft. Denn jede Angst ist eine Ausprägung der Todesangst. Die Todesangst wiederum fungiert in unserem Dasein als die notwendige Gegenspielerin zur Todessehnsucht. Diese muss unterdrückt werden, da sie verhindern würde, dass wir unsere Aufgaben in diesem Leben erfüllen.

    Ängste entstehen sowohl bei Menschen als auch bei Tieren mit den ersten Wahrnehmungen. Der laute Knall eines Feuerwerkskörpers erschreckt einen Hund oder ein Kleinkind gleichermaßen. Beim einen kann er sich zu einem dauerhaften Angstgefühl manifestieren. Beim anderen kann er mittels des Verstandes aufgelöst und sogar in ein positives Gefühl der Freude umgewandelt werden, wenn das Kind nach dem Knall die glitzernden Lichtfunken am nächtlichen Himmel bestaunt.

    Du kannst dem Gefühl der Angst durchaus auch als Freund begegnen, denn es kann dich zur Vorsicht anregen und damit beschützen. Übermäßige Angst bereitet jedoch nach dem Gesetz der Resonanz oftmals den Boden für gefahrvolle Momente. Die geben anderen Lebewesen Macht. Gerade unbewusste, fiktive Ängste binden ungeheure Kräfte und können zu anderen negativen Emotionen wie Hass, Wut, Verzweiflung, Unterwerfung bis hin zu Depressionen führen.

    Anders als die Angst basiert die Schuld nicht auf Wahrnehmungen, sondern auf Handlungen. In unserer westlichen Gesellschaft spielen Schuldgefühle deshalb eine so dominante Rolle, weil wir einen hohen Machtanspruch haben. Denn wir meinen, durch unsere Handlungen sehr viel bewirken zu können. Hinzu kommt unser unerschütterlicher Glaube, unser Handeln basiere auf unserem selbstbestimmten freien Willen. Dem ist nicht so. Unsere Handlungen sind maßgeblich durch unser unmittelbares soziales Umfeld, z.B. berufliche und familiäre Zwänge bestimmt. Neuere Erkenntnisse der Gehirnforschung zeigen, dass unsere Handlungen in erster Linie über das emotionale Erfahrungsgedächtnis im Hypocampus gesteuert werden. In Sekundenbruchteilen werden all unsere gespeicherten emotionalen Erfahrungen durch unsere vorangegangenen Gedanken, Worte und Werke abgeglichen. Dieser Abgleich findet im Unterbewusstsein statt und ist die eigentliche Entscheidungsgrundlage, ob wir eine Handlung ausführen oder nicht. Hinzu kommen karmische Erfahrungen aus früheren Leben, die in unserem Energiefeld gespeichert sind und ebenfalls Einfluss auf unsere Handlungen haben. Das ist uns jedoch nicht bewusst. Nur zu einem kleinen Teil sind unsere Handlungen durch unvoreingenommenes Denken, also durch unseren freien Willen bestimmt.

    Die Quintessenz ist also folgende: Unser Ego glaubt zu entscheiden, in Wirklichkeit ist die Entscheidung durch unser Umfeld, unsere Gewohnheiten aufgrund vergangener Erfahrungen und durch karmische Einflüsse bestimmt.

    Wer glaubt, durch seine aus freiem Willen bestimmten Handlungen machtvoll wirken zu können, und aufgrund seiner Persönlichkeit auch in der Lage ist, seine eigenen Interessen dominant durchzusetzen, ist besonders anfällig für Schuldgefühle. Wenn ihr euch häufig schuldig fühlt, kann das ein Zeichen von Arroganz und Macht sein. Wer zu ständigen Schuldgefühlen neigt, hat einen übermäßigen Drang zur Machtausübung und einen ständigen Hang zur Kontrolle, da er meint, alles regeln zu können und zu müssen. Je mehr Machtstreben, umso stärker der Kontrollzwang, umso größer die Schuldgefühle. Schuld hat insofern eine wichtige Funktion, sie fungiert als Machtbremse.

    Weniger machtvollen Menschen werden Schuldgefühle oftmals von außen aufoktroyiert. In der frühen Kindheit können bereits Traumata entstehen, falls manipulative Personen durch Erzeugung von Schuld das Kind ›klein halten‹.

    Eine besonders irrationale Variante der Schuld entsteht bei Schmerz, der nicht wahrgenommen oder verdrängt wird. So manifestieren sich bei sexuellem Missbrauch infolge des verdrängten Schmerzes beim Opfer häufig Schuldgefühle. Das ist wahrlich absurd!

    Ob nun Angst oder Schuld, beide Gefühle sind durch die Vergangenheit bestimmt und haben eines gemeinsam: Je intensiver diese Gefühle, desto mehr versucht unser Körper-Geist-Mechanismus diese zu verdrängen. Sie werden gleichsam wie in Nüssen verpackt aus unserem Bewusstsein verbannt. Im Unterbewusstsein wirken sie aber fort und beeinträchtigen unsere Gesundheit.

    Für die Heilung ist es im ersten Schritt erforderlich diese Nüsse im Körper aufzuspüren. Je intensiver die negative emotionale Erfahrung war, umso kleiner und umso härter ist die emotionale Nuss, die es zu finden gilt. Dabei hilft uns das Gesetz der Resonanz. Wenn wir auf eine Situation besonders stark ansprechen, ist das eine sprichwörtlich harte Nuss.

    Ist diese gefunden, muss sie geknackt werden, d.h. die abgekapselte Emotion muss in einem zweiten Schritt freigelassen werden. Dadurch kann es zu heftigen Gefühlsausbrüchen kommen. Diese mögen für euch zunächst irritierend sein. Doch schämt euch eurer Gefühle nicht: Je heftiger die emotionale Reaktion, desto besser die Heilung.

    Im dritten Schritt hilft uns der Verstand: Die im Unterbewusstsein gespeicherten negativen Gedanken- und Handlungsmuster müssen mit positiven Mustern überschrieben werden. Dazu bedienen wir uns verschiedener Methoden: Ängste werden wir ausklopfen, Traumata können auf verschiedene Weise gelöst werden, Schuld kann durch Auflösung von Machtansprüchen oder durch Verzeihensarbeit abgebaut werden.

    Bei diesem Heilungsprozess muss euch eines immer bewusst sein: Die Liebe spielt die wichtigste Rolle! All die negativen Gefühle wie Ängste, Wut, Hass, Schmerz, Schuld usw. befinden sich im Raum der Liebe. Sie können mittels des Verstandes austariert oder aufgelöst werden, aber immer im Lichte der Liebe! Das Schiff der Gefühle wird gesteuert vom Verstand im Licht der Liebe!«

    Die Ausführungen dieser weisen Frau hallen lange in meinem Inneren nach und verändern meine Sichtweise im Hinblick auf die moderne Medizin. Sicher, der medizinische Fortschritt der letzten Jahrzehnte ist gewaltig. Unzählige Menschenleben konnten dank moderner Gerätemedizin gerettet werden. Das Wissen um Krankheitsursachen und erfolgreicher Heilungsmethoden ist exponentiell angewachsen. Aber ein wichtiger Aspekt der Heilung scheint in unserer Apparatemedizin zu kurz zu kommen: das Gefühl. Der Verstand allein ist bei der Heilung überfordert, nur wenn das wichtigste aller Gefühle, die Liebe, dem Verstand beisteht, kann wirkliche Heilung erfolgen.

    * * *

    »Und du bist wirklich damit einverstanden?« Franziska drückt mir unvermittelt ein liebevolles Küsschen auf die Wange. »Du überraschst mich immer wieder!«

    »Na ja, erst müssen wir noch beurlaubt werden, dann sehen wir weiter.«

    Ein lang gehegter Traum beschäftigte uns in letzter Zeit immer mehr: Ein Jahr lang vom Schuldienst beurlauben lassen und um die Welt reisen. Doch immer gab es Gründe, dieses Vorhaben aufzuschieben. Die Kinder konnten nicht so lange allein gelassen werden. Das Haus musste abbezahlt werden. Im Schuldienst war man angeblich unentbehrlich. Der Leasing-Vertrag von meinem Auto war noch nicht abgelaufen…

    Nun ist es so weit: Das Auto meiner Frau ist in die Jahre gekommen und der Leasing-Vertrag endet im nächsten Herbst. Sollen wir uns ein neues schickes Auto kaufen oder ein Jahr auf Weltreise gehen? Als Geografin präferiert Franziska natürlich das Letztere, dem ich mich zunächst zögerlich anschließe.

    Doch je näher das Vorhaben heranrückt, umso komplexer scheinen die Probleme zu werden. Selbst wohl gesonnene Freunde äußern ihre durchaus gutgemeinten Bedenken: Wollt ihr euer Haus ein Jahr lang unbewohnt lassen? Wer versorgt dann euren Garten? Wer mäht den Rasen? Was macht ihr mit eurer Post? Könnt ihr überhaupt beide gleichzeitig beurlaubt werden? Wie wollt ihr das finanzieren? Ihr habt eure Fixkosten zu Hause und die Reisekosten zu bewältigen! Was, wenn ihr krank werdet? Seid ihr bei eurer Rückkehr überhaupt versichert? Auslandskrankenversicherungen für ein Jahr sind sehr

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