Pantomime vor Blinden: Prosa
Von Kurt Bracharz
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Buchvorschau
Pantomime vor Blinden - Kurt Bracharz
Eine Schlangengeschichte
oder
Der Traum des Maltesers
Jeden Morgen um acht tranken der Lehrer und der Philosoph in Pyrgi Kaffee, dann machten sie sich getrennt auf den Weg. Um halb zehn kamen sie in Emporios wieder zusammen. Jannis, der Philosoph, saß dann an einem Tavernentisch und trank seine zweite Tasse Kaffee an diesem Tag, und wenn er den Lehrer um die Ecke des Nachbarhauses biegen sah, bestellte er noch einen für ihn.
In diesem Sommer saß immer die Freundin des Lehrers bei dem Philosophen und hatte ein Glas Mineralwasser vor sich stehen. Sie hieß Beate, war fünfzehn Jahre jünger als er und Ergotherapeutin. Im Unterschied zum Lehrer, der eigentlich ein Studienrat war und Uwe hieß, verstand und sprach sie nur wenige Worte Griechisch. Sie hatte ein Appartement in Emporios bezogen, weil sie am Strand wohnen wollte, während der Lehrer ein Zimmer in Pyrgi gemietet hatte, da ihn das Dorfleben interessierte. In diesem Ort hatten die Leute vierhundert Jahre lang nur untereinander geheiratet, was viele bemerkenswerte Menschen hervorbrachte.
Die unterschiedlichen Ankunftszeiten des Philosophen Jannis und des Lehrers Uwe in Emporios erklärten sich daraus, dass der Philosoph alle Wege mit seinem alten Auto zurücklegte und deshalb die sieben Kilometer lange Asphaltstraße von Pyrgi nach Emporios benützte, während der Lehrer fand, es sei sinnvoll, an diesen wunderbaren Frühsommermorgen eineinhalb Stunden auf der eisenoxidroten Erdstraße durch die prächtige Landschaft von Pyrgi nach Emporios zu wandern.
„Die Olivenbäume, sagte der Lehrer. „Die Mastixbüsche. Der Salbei. Die Blumen. Lerchen. Rebhühner. Greifvögel. Manchmal liegen Schlangen auf der Straße. Der leichte Wind kühlt, wenn die Sonne schon am Morgen zu brennen beginnt.
Er schüttelte den Kopf. „Wie ist es möglich, Janni, dass du lieber in deinem stinkenden alten Klapperkübel die Asphaltstraße entlangfährst, die zwar durch eine fast ebenso schöne Landschaft führt wie mein Erdweg, auf der du aber auf den Verkehr achten musst?"
„Das kommt daher, dass ich ein Philosoph bin, sagte Jannis. Er trank das Glas Wasser zu seinem Kaffee aus. „Und außerdem achte ich nicht auf den Verkehr.
„Sagte nicht Nietzsche, er wolle keinem Gedanken trauen, der nicht unter freiem Himmel geboren wurde, und dass nur die ergangenen Gedanken Wert hätten?", fragte Uwe.
„Das sagte er, weil er zu früh starb, um ein Cabrio fahren zu können", erwiderte Jannis.
„Ich gehe zum Strand, sagte die Freundin des Lehrers. „Wer kommt mit?
„Ich komme mit, sagte Jannis. „Wenn mir die Sonne auf den kahlen Schädel brennt, kommen mir die besten Gedanken.
„Ich werde noch eine Weile hier sitzenbleiben, dann besteige ich den Profitis Ilias", sagte Uwe und zeigte auf den Burgberg von Emporios, auf dessen Gipfel 240 Meter über ihnen eine kleine weiße Kirche für den Propheten Elias stand. Sie war immer abgeschlossen und äußerlich schmucklos, und der zweieinhalb Kilometer lange Bergweg zu ihr lag in der prallen Sonne. Außerdem begann der Weg im Nachbardorf.
Der Lehrer blickte seiner Freundin und dem Philosophen hinterher, die zum Strand hinuntergingen. Es schien ihm, als sähen seine Freundin von hinten wie Claudia Schiffer und der Philosoph von hinten wie Pablo Picasso aus. Während sein Blick sich in Einzelheiten vertiefte, kam ihm der Gedanke, er selbst sähe von hinten aus wie ein deutscher Studienrat auf Griechenlandurlaub.
Aber bei der Besteigung des Profitis Ilias würde er ja auf den Weg vor sich achten müssen.
„Der Name Jannis ist für griechische Philosophen besonders geeignet", sagte der griechische Philosoph Jannis.
„Und warum sollte das so sein?", erkundigte sich der Lehrer.
„Weil es ein altes griechisches Sprichwort gibt, das besagt, dass fünfundvierzig Jannis zusammen so viel Verstand haben wie ein Hahn."
„Das soll eine günstige Voraussetzung sein?"
„Natürlich. Mit einem großen Verstand geht man gern verschwenderisch um, während ein kleiner Verstand intensivstes Nachdenken erzwingt. Es ist aber immer die Intensität des Nachdenkens, die zu brauchbaren Ergebnissen führt. Und ein besonders kleiner Verstand wird schließlich die Ergebnisse auch mehr zu schätzen wissen als ein großer, dem sie beiläufig vorkommen. Der kleine Verstand wird deshalb diese Erkenntnisse lieben, und Philosophie ist ja nichts anderes als die Liebe zur Weisheit."
„An unseren Universitäten würde man diese Definition erheiternd finden", meinte der Lehrer.
„Das griechische Fernsehen hat übrigens einmal die Probe aufs Exempel gemacht", sagte der Philosoph.
„Ob der kleine Verstand eine größere Liebe zur Weisheit hat?"
„Nein, ob ein Hahn so viel Verstand hat wie fünfundvierzig Jannis. Weil man ein Patt vermeiden wollte, nahm man nur vierundvierzig. Sie traten in einem Quiz gegen den Hahn an."
„Was ist dabei herausgekommen?"
„Ja, was wohl? Sie haben verloren."
„Worum ging es? Wie man eine Henne herumkriegt?"
Der Philosoph schüttelte den Kopf. „Die Frage lautete: An welchem Tag langweilen sich die Kinder am meisten? Die vierundvierzig Jannis dachten derart intensiv nach, dass der Hahn, vom Druck ihrer mentalen Emissionen gereizt, zu krähen begann. Und da hatte er auch schon gewonnen."
„Ich verstehe nicht."
„Die Antwort lautete natürlich Sonntag, und Sonntag heißt auf Griechisch Kiriaki."
„Und die Jury behauptete, der Hahn hätte Kiriaki gerufen?"
„Das hat er auch, mein Lieber, das hat er."
Jeden Abend aß der Philosoph Bohnen.
„Scheint dein Lieblingsessen zu sein", sagte der Lehrer.
„Es ist ein Protest gegen die Neo-Pythagoreer. Esoterik statt Philosophie, dagegen muss man auftreten."
Der Lehrer dachte eine Weile nach. „Ich wollte dich schon immer mal fragen, welchen philosophischen Standpunkt du eigentlich an der Uni vertreten hast."
Der Philosoph betrachtete eine einzelne weiße Bohne. Für den Lehrer sah sie gleich aus wie alle anderen.
Plötzlich war die Luft von einem Dröhnen erfüllt.
„Was ist das?", fragte der Lehrer.
„Es gibt mehrere Möglichkeiten, sagte der Philosoph. „Vielleicht bricht der Vulkan wieder aus. Nachdem schon Sedimentgestein über der Lava vom letzten Mal liegt, ist das eher unwahrscheinlich. Oder die Lesbenstampede auf der Nachbarinsel hat heuer ein ungewöhnliches Ausmaß angenommen. Die dritte Möglichkeit –
Drei Militärhubschrauber dröhnten im Niedrigflug über die Taverne hinweg.
„Ich war Pragmatiker, sagte der Philosoph Jannis, als man am Tisch wieder menschliche Rede verstehen konnte. „Weißt du, was William James über Bohnen gesagt hat?
„Dass sie Blähungen hervorrufen?"
Ohne diesen Einwurf einer Antwort zu würdigen, griff der Philosoph in seine Saubohnen und warf eine Handvoll auf den Boden. „Siehst du das Muster, das mein Wurf ergeben hat? Du siehst die Bohnen und glaubst in ihrer beliebigen Anordnung ein Muster zu erkennen. Die Wahrnehmung dieses Musters ist das, was William James als Wahrheit bezeichnet. Solange du erkennst, dass es von Bohnen gebildet wird, ist deine Erkenntnis weder falsch noch irrelevant. Warum soll man sie dann nicht Wahrheit nennen?"
Der Hund der Wirtin kam gelaufen und begann, die am Boden liegenden Bohnen aufzufressen.
„Ich kann solche Demonstrationen nicht oft durchführen, sagte der Philosoph, „sonst glaubt der Hund, es handle sich dabei um regelmäßig wiederkehrende Erscheinungen in der Gesamtheit seiner Sinneswahrnehmungen. Ich ziehe es vor, ihn sich mit Hans Reichenbach sagen zu lassen, dass dann, wenn er unablässig agiert und die Umweltdinge trotzdem stets in sturer Opposition zu seinen Wünschen und Anstrengungen bleiben, die Externalität der Umgebung im Verhältnis zum Selbst eine direkte Bedingung der Erfahrung ist. So verhindere ich, dass dieser ekelhafte Malteser den ungesunden Standpunkt des Solipsismus einnimmt.
Der Hund umschlang das Bein des Lehrers und rieb sich heftig daran.
„Nebenbei bemerkt, sprach sich Pythagoras nicht wegen Blähungen gegen Bohnen aus, sondern weil er glaubte, dass sie geil machen, sagte der Philosoph, „obwohl ich weiß, dass auch Blähungen zu den üblen Charakterzügen dieses Hundes hier gehören.
Während der Lehrer den Malteser von seinem Bein zu lösen versuchte, aß der Philosoph die restlichen Bohnen in seinem Teller auf und sagte: „Ja, ich war also Pragmatiker, aber die Obristen waren hintendran und vertraten eine Art Nominalismus, obwohl sie von den Amerikanern unterstützt wurden, dem Volk, das praktisch alle wichtigen Pragmatiker hervorgebracht hat."
Er versetzte dem Malteser, der neuerlich sein Glück auf dem Bein des Lehrers versuchen wollte, einen Tritt.
„Ich wusste gar nicht, dass die Obristen philosophisch gebildet waren", sagte der Lehrer.
„Waren sie auch nicht. Ich bekam keine Probleme wegen meiner Vorlesungen. Erstens fanden sie nicht mehr statt und zweitens hätte sie ohnehin niemand verstanden. Meine Entlassung war auf ein persönliches, aber durchaus philosophisches Gespräch mit einem Oberst zurückzuführen, das sich in einem Kafenion ergab. Der Oberst vertrat die Meinung, wenn niemand mehr da wäre, der ihn wahrnehmen könnte – weil er zum Beispiel alle anderen umgebracht hätte –, dann besäße er keinerlei Eigenschaften mehr. Das war natürlich der typische Esse-percipi-Quatsch des alten Berkeley, der ja auch ein irischer Anglikaner war, statt der griechisch-orthodoxen Kirche anzugehören, die keinerlei Philosophen hervorbringt. Ich hielt dem entgegen, dass meiner Auffassung nach der Oberst selbst dann, wenn er das einzige Objekt in einem sonst vollkommen leeren Kosmos wäre, immer noch die Eigenschaft hätte, ein entsetzlich dummes Arschloch zu sein, gleichgültig ob diese Eigenschaft von einem Bewusstsein wahrgenommen würde oder nicht. Das war Mitte Juli 1974, und glücklicherweise drohte die Türkei fünf Tage später mit Krieg – nicht meinetwegen, sondern wegen des versuchten Staatsstreichs auf Zypern – und die Obristen mussten am 23. Juli einpacken, weshalb die für jenen Monatsletzten angesetzten Folterungen ausfielen."
„Was ist aus dem Oberst geworden?"
„Er hat sich in eines der Metéora-Klöster zurückgezogen und denkt dort darüber nach, ob die Welt hinter ihm tatsächlich da ist oder verschwindet, sobald er ihr den Rücken kehrt."
„Dann kann er ja nicht ein ganz so entsetzlich dummes Arschloch sein wie angenommen", meinte der Lehrer.
„Ich hatte jenes Urteil auch nicht ex cathedra verkündet", sagte der Philosoph.
Als der Lehrer am nächsten Morgen von Pyrgi nach Emporios wanderte, sann er über Solipsismus nach.
Diese Landschaft bringt mich dazu, dachte er. Man ist allein und es ist ganz still. Das gibt es bei uns gar nicht mehr, man hört immer irgendwo eine Autobahn rauschen oder sieht ein Flugzeug oder trifft jemanden. Aber hier gehe ich eineinhalb Stunden, ohne etwas anderes zu hören als den Wind und die Vögel und etwas anderes zu sehen als Felsen, Pflanzen und Tiere. Das bringt mich zum Nachdenken darüber, ob ich derjenige sein könnte, der alles hervorbringt.
Zwei Rebhühner flatterten aus einem Gebüsch neben dem Lehrer auf, was ihn so erschreckte, dass er einen Luftsprung machte.
Darüber musste er lachen. Er verfolgte die Tiere mit seinen Blicken, bis sie sich wieder niedergelassen hatten, dann sagte er zu sich: Was würde es bedeuten, wenn ich der Meinung wäre, ich hätte diese zwei Vögel hervorgebracht? Sollte ich dann nicht in der Lage sein, gleich noch einmal zwei auffliegen zu lassen? Ich weiß, dass ich das nicht kann. Aber warum soll das Kontinuum meiner Sinneswahrnehmungen eigentlich wie ein Traum funktionieren? Das Modell könnte ja auch die Paranoia sein. Dann müsste alles kontingent bleiben und es wäre möglich, dass ich derjenige bin, der es hervorbringt. Aber wenn ich es in keiner Weise kontrollieren kann und alles unbeeinflussbar zu sein scheint, ist der Solipsismus eine Annahme, die zu keiner Änderung des Handelns führt. Ich glaube, das ist es, warum Jannis sich als Pragmatiker bezeichnet. Auch wenn ich ein Solipsist wäre, könnte ich mich immer nur wie ein naiver Realist verhalten.
Der Lehrer wäre vor Geistesabwesenheit beinahe auf eine Schlange getreten, die sich mitten auf der Straße sonnte. Die