Über dieses E-Book
Der süchtige Leser hat ein Jahr lang über das geschrieben, was er gelesen hat; er wandert von William S. Burroughs zu Wilhelm Busch, von James Joyce zu Henri Michaux, von Alfred Döblin zu Don DeLillo. Doch seine Notizen und Randbemerkungen, Reflexionen und Assoziationen sind weit mehr als ein schlichtes Lesetagebuch: Für "reife Leser" ist es ein Ausbruch bibliophiler Leidenschaft, ein Genuss für alle, die selbst schon einige Lesefrüchte in ihre Scheune eingebracht haben.
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Buchvorschau
Für reife Leser - Kurt Bracharz
Kurt Bracharz
Für reife Leser
Es gibt Leute, die ihre Bücher
in ihre Bibliothek stecken,
aber Herr von *** steckt
seine Bibliothek in seine Bücher.
Nicolas de Chamfort
Vorher
Bregenz, 30. November 2005
Vor drei Wochen sah es so aus, als würde eine seit geraumer Zeit gehegte Vermutung zur Gewissheit: dass ich nämlich als Schriftsteller – und möglicherweise auch sonst – gänzlich ausgebrannt wäre.
Ich habe seit langer Zeit nichts mehr zusammengebracht. Ein Romanprojekt geht ins vierte Jahr und besteht immer noch aus knapp 70 Seiten. Ein paar ausbaufähige Einfälle zu Sachbüchern verblieben im Ideenstadium. Ein Tagebuch wollte ich angesichts der Monotonie meiner Lebensweise nicht führen. Und ich verzettele mich mit meiner Brotarbeit, Zeitungs- und Internetkolumnen, die ich für eine andere Einkommensquelle jederzeit aufgeben würde. Mit 58 Jahren gibt es aber für einen freien Schriftsteller auch ohne Wirtschaftsdepression keine Alternative zum Schreiben.
Im vergangenen Jahr stand ich meistens um sieben Uhr auf, setzte mich nach dem Frühstück an den Computer und schrieb eine Kolumne oder eine andere Auftrags-arbeit, wobei ich für die verlangten druckreifen 1900 bis 3300 Zeichen sechzig bis neunzig Minuten brauchte. Als Stundenlohn wäre das Honorar dafür gar nicht so übel, aber es treibt mich nach diesen Morgenstunden ins Freie, und später mag ich nicht mehr am Computer arbeiten. Da reicht es dann nur noch zum Lesen.
Seit mein letzter Psion kaputtgegangen ist, mache ich mir nicht einmal mehr Notizen. Der britische Handheld-Computer war das ideale elektronische Notizbuch: Seine Tastatur war gerade groß genug, dass man darauf mit beiden Zeigefingern recht schnell tippen konnte, und – noch wichtiger – er funktionierte wochenlang mit zwei gewöhnlichen Stab-Batterien. Die Dateien ließen sich per Kabel übertragen und problemlos in Word öffnen. Das Gerät hatte lediglich eine Achillesferse: Die Leitungen von der Zentraleinheit zum Bildschirm litten unter dem dazwischen liegenden Klappmechanismus. Nach der Einstellung der Psion-Produktion ist kein brauchbarer Nachfolger auf den Markt gekommen. Ein Sony Clié, den ich trotzdem noch kaufte, hat zwar eine vollständige Tastatur, aber man muss sie mit Nachdruck bearbeiten, wo beim Psion Antippen genügte, und der Akku leert sich binnen weniger Tage.
Mit dem Rezensieren habe ich fast völlig aufgehört, nicht aber mit dem Lesen. In der Buchhandlung blätterte ich zuerst in Alberto Manguels „Tagebuch eines Lesers", dann las ich mich fest und dann kaufte ich. Nach der Erstlektüre sehe ich ein Buchprojekt vor mir, das nicht so aussichtlos scheint wie der Romantorso.
Manguel schreibt in der Vorbemerkung, er habe kurz nach seinem 53. Geburtstag beschlossen, seine alten Lieblingsbücher wiederzulesen. „Wenn ich jeden Monat ein Buch wiederlas, so dachte ich mir, würde daraus im Verlauf eines Jahres etwas zwischen einem privaten Tagebuch und einem Buch entstehen – ein Band mit Notizen, Reflexionen, Reiseeindrücken, Charakterskizzen, öffentlichen und privaten Ereignissen, alles hervorgebracht durch meine Lektüre."
Im Kern dieses Plans – jeden Monat ein Buch zu lesen und darüber zu schreiben – erkannte ich eine Möglichkeit für mich, auch noch einmal etwas zu Stande zu bringen, ein richtiges Buch, kein Büchlein oder gar bloß einen Essay in einem Literaturmagazin.
Das mag nach Verzweiflung und Resteverwertung klingen, aber so schlimm ist die Lage nicht. Büchern gehört das älteste dauerhafte Interesse in meinem Leben. Dem Buch, und nicht etwa der Literatur, wie ich früher geglaubt habe. Dem Buch als Medium und als materiellem Objekt. Das ist das Thema, für das ich mein Leben lang Leidenschaft aufbringen konnte und noch kann. Leidenschaft scheint mir eine wesentliche Voraussetzung für Schriftstellerei zu sein.
Ich habe die Literatur immer als Myzel gesehen (und denke, auch die Strukturalisten hätten bei besseren Biologiekenntnissen diese Metapher statt ihres kümmerlichen Rhizoms verwendet), als ein ungeheures Geflecht (es gibt ja viele Quadratkilometer große Myzele, zum Beispiel vom Hallimasch) von unterirdischen, miteinander verbundenen, fadenförmigen Strukturen, die an der Oberfläche auffällige Verdickungen austreiben, beim Myzel die Schwämme, in der Literatur die großen Romane.
Die Neuronen des Gehirns mit ihren Synapsen würden ein ähnliches Bild liefern (wobei sich die Frage stellt, wem da die Gliazellen entsprächen), aber der Pilz-Vergleich gefällt mir besser, weil die Fruchtkörper der Pilze so ungeheuer vielfältige Formen annehmen wie die Hervorbringungen der Literatur. Es wachsen die Mousserons eines Heinrich Böll neben den Krötenstühlen des göttlichen Marquis aus demselben unterirdischen Geflecht, dessen Fäden alles jemals Geschriebene und dessen Zellen alle Wörter aller Sprachen sind.
Wer das lesen könnt’!
Heute Nachmittag habe ich eine Liste von zwölf Büchern erstellt. Die Frage war, in welcher Reihenfolge ich sie lesen solle, ich entschied schließlich, die alphabetische sei eine gute Zufallsordnung.
Das werde ich also in den nächsten zwölf Monaten wiederlesen:
William S. Burroughs: „The Naked Lunch" (1959)
Wilhelm Busch: „Der Schmetterling" (1895)
Elias Canetti: „Die Blendung" (1935)
Salvador Dalí: „Verborgene Gesichter" (1944)
Don DeLillo: „Mao II" (1991)
Alfred Döblin: „Berlin Alexanderplatz" (1929)
Witold Gombrowicz: „Kosmos" (1965)
George Herriman: „Krazy Kat" (ab 1913)
James Joyce: „Ein Porträt des Künstlers als junger Mann" (1916)
Christine Lavant: „Das Kind" (1948)
Henri Michaux: „Ein gewisser Plume" (1927)
Vladimir Nabokov: „Pnin" (1957)
Am 30. November 2006 wird das Manuskript fertig sein. Möge die Übung gelingen.
Januar
Sonntag
Das Jahr wird Unglück in der Liebe bringen. Morgens gegen eins wollte ich im Casino die fünf 5-Euro-Jetons, die man beim Eintritt bekommt, schnell loswerden, um in Ruhe an der Bar trinken zu können, setzte also zwei auf Rot und verlor, setzte zwei auf zwei Dutzend und verlor, und legte den letzten Chip auf die 28. Und gewann. 175 Euro.
Meiner Frau hingegen winkt 2006 wohl das Glück in der Liebe: Sie warf ihre Jetons aufs Tuch, als gerade eingesammelt wurde. Der Croupier hielt ihre Chips für Trinkgeld und entsorgte sie im „Pour-les-employers"-Schlitz.
Abends der grüne Untam Hulk im Fernsehen. Warum dreht ein Regisseur wie Ang Lee, der so beeindruckende Filme wie „Der Eissturm gemacht hat, einen solchen Quatsch? Spätnachts, als ich eigentlich nicht mehr weiterglotzen wollte, kam „Abgerechnet wird zum Schluss
(der deutsche Titel für Peckinpahs „The Ballad of Cable Hogue"), und ich sah mir diesen amüsanten Film doch zur Gänze an. Peckinpah ist einer der Regisseure, bei denen die letzten Filme die schlechtesten sind; Polanski hatte in der Mitte einen Hänger; Houston hat sich im Spätwerk noch einmal gesteigert; nur ganz wenige haben nie etwas unter ihrem Niveau gemacht, einer davon ist Buñuel.
Montag
„Sin City folgt der Comics-Ästhetik auf andere, viel radikalere Art als etwa „Hulk
oder auch „Spider-Man", und meine anfänglichen Bedenken, eine solche Mimesis eines Mediums durch ein anderes könne doch nichts bringen, wurde bald von der Dynamik des Films weggespült. Er ist zumindest beim ersten Sehen erstaunlich, sowohl graphisch als auch moralisch.
Es gibt natürlich Ausnahmen von der Laokoon-Regel, dass Kunstwerke den Gesetzen ihrer Gattung folgen sollten. Vor ein paar Tagen sah ich Ozons „8 Frauen", ein verfilmtes Theaterstück, dessen Schauplatz auch im Film eine Bühne bleibt (aber nicht in eine Theaterhandlung eingekleidet, sondern als Einheit von Ort und Zeit unter dem Zuschauerblick der Kamera), und dieser Film ist perfekt.
Handke 1968: „Verächtlich von ‚abfotografiertem Theater‘ zu reden, habe ich schon immer ein bißchen leichtsinnig gefunden, weil das Filmen von theatralischen Vorgängen, im überlegten Kontext von Bildern eingeordnet, eine äußerst fruchtbare und kaum gesehene filmische Methode sein könnte, gesetzt den Fall, man verwendet die Methode nicht zur Darstellung von Identitätsproblemen wie René Allio in ‚Die Eine und die Andere‘."
Dienstag
Reiselektüre auf der wegen starken Schneefalls scheinbar endlosen Fahrt nach Wien: Bret Easton Ellis: „Lunar Park". Das Buch fängt pseudo-autobiographisch an, enthält dann einige gelungene satirische Partien, schwenkt auf Stephen-King-Motive um, wird immer zäher zu lesen und stürzt im letzten Drittel vollständig ab. Ich denke, es ist ein Schulbuch für den creative-writing-Unterricht als Beispiel für einen Roman von jemandem, der schon lange im writer’s block residiert und doch unbedingt etwas abliefern muss.
Dabei war mir „Glamorama damals gar nicht so schlecht vorgekommen – als Unterhaltung natürlich, nicht als Literatur. Aber „Lunar Park
ist nicht einmal unterhaltsam.
Ich erzählte H. von meinem Casinobesuch ungefähr mit obigen Worten und musste mich (zu Recht) belehren lassen, dass meine Umdrehung der Aussage „Pech im Spiel, Glück in der Liebe" nicht logisch sei. Selbst wenn es so wäre (ich hatte es ja auch nicht ernst gemeint), gälte das noch lange nicht für die Umkehrung. Und da gibt es Leute, die mich für einen Pedanten halten!
Aus der heutigen NZZ: Bei den Verhören von 28 Pakistanern durch den griechischen Geheimdienst in Athen im Juli 2005 waren M.I.5-Agenten anwesend, wollen sich aber nicht aktiv beteiligt haben. Die britische Sonntagszeitung „The Observer formulierte, die Verhöre seien ja ohnehin „unter der Foltergrenze
geblieben. Die Pakistaner haben also offenbar nur die üblichen Watschen bekommen (wie die Albaner in den Kriminalromanen von Petros Markaris), jetzt aber doch wegen Entführung und Folter geklagt. Übrigens mussten alle freigelassen werden. Die NZZ hat die Formulierung „unter der Foltergrenze" auch als Zwischentitel verwendet und mit einem Fragezeichen versehen.
Mittwoch
Bei Shakespeare & Co kaufte ich mir die 50th Anniversary Definitive Edition von „Junky, erschienen 2003 bei Penguin, mit einer Einleitung von Herausgeber Oliver Harris, Anhängen, Glossar und Anmerkungen. Warum gibt es Anmerkungen zu „Junky
, nicht aber zu „Naked Lunch"?
Donnerstag
Vormittags Goya im Kunsthistorischen. Die in den Medien stets als „groß bezeichnete Ausstellung war weniger umfangreich, als ich erwartet hatte, und bei manchen Be-schilderungen wünschte ich mir, das in der deutschen Übersetzung 2004 erschienene, damals gleich gekaufte, aber immer noch in Schrumpffolie verpackte Buch von Hughes vorher gelesen zu haben. Dann müsste ich mich jetzt nicht fragen, warum eine klar erkennbare Darstellung der Susanna im Bade (mit zwei geilen Alten) als „Junges Mädchen wäscht sich am Brunnen
angeschrieben ist. Oder ob die Wiener Beschreibung zu dem Ölbild des Priesters, der Öl auf die Lampe eines widderhörnigen Dämons mit weiblichen Brüsten gießt, tatsächlich zum Dargestellten passt.
Beeindruckt war ich vom „Flug der Hexen" (die eher zu schweben als zu fliegen scheinen; auch werfen nicht nur sie, sondern auch ihr Opfer keinen Schatten).
Schlenderte danach noch durch die Ägypten-Abteilung und fragte mich, ob nicht vielleicht hier Burroughs seine erste Begegnung mit den western lands hatte. Er war 1936/37 in Wien, wo er für Medizin inskribierte (aber nach einem Semester aufgab), seine in Harvard zugezogene Syphilis mit Arsen behandeln ließ und sich einer Blinddarmoperation unterziehen musste. So steht es zumindest in Ted Morgans „Literary Outlaw. Dort heißt es auch, WSB habe im „Dianabad Hotel
gewohnt, das eine Kombination von Hotel und Türkischem Bad gewesen sei, und er habe oft den Prater aufgesucht (den Morgan offensichtlich mit dem Wurstelprater gleichsetzt).
Erstaunlich, dass man den Titel von Goyas berühmtester Radierung nicht eindeutig übersetzen kann: „El sueño de la razón produce monstruos besagt Unterschiedliches (eigentlich fast das Gegenteil), je nachdem, ob man „sueño
mit „Traum oder mit „Schlaf
übersetzt. Das spanische Wort hat beide Bedeutungen.
Freitag
Reiselektüre auf der Rückfahrt: „Out of the Inkwell", Richard Fleischers Buch über seinen Vater Max. Bemerkenswert darin nicht nur, was Max Fleischer alles erfunden hat – von technischem Gerät wie dem Rotoskop über Techniken wie den Bouncing Ball und Gestalten wie Betty Boop und Rudolph the Red-Nosed Reindeer bis zu Popeyes Spinat-Konsum (bei Elzie Segar streichelte er stattdessen den Kopf der Magic Whiffle Hen) oder Sprüchen wie „Look! Up in the sky ... It’s a bird! It’s a plane! It’s Superman! –, sondern auch, mit welchen kriminellen Methoden der Paramount-Konzern Fleischer ab 1941 in den Bankrott getrieben hat. Das Wort „Erpressung
ist zu harmlos dafür.
Richard Fleischer erzählt, dass sein Vater ihn im Alter von sieben Jahren in „The Cabinet of Doctor Caligari geschickt und ihn der Film, den er „a surrealistic masterpiece
nennt, tief beeindruckt habe. Ein Bild daraus, das eines großen, bleichen, dünnen Mannes mit schwarz umrandeten Augen, der in einem langen schwarzen Mantel in einem engen Korridor mit schiefen Wänden steht, habe er immer noch im Kopf (er wird dieses Jahr 90). Er habe nie herausgefunden, warum sein Vater wollte, dass er den Film („by no stretch of the imagination a film for children) anschaute, vermutet aber, es habe vielleicht eine Initiation in die geistige Welt Max Fleischers sein sollen. „His animated cartoons always relied heavily on surrealism for their effect.
Die Beeinflussung des US-amerikanischen Surrealismus durch den europäischen würde mich interessieren, aber Fleischer führt das Thema nicht weiter aus (abgesehen davon, dass das „Kabinett" ja kein surrealistischer Film war). Hat sich z. B. Dalís Siegeszug durch die amerikanischen Medien erkennbar in Trickfilmen niedergeschlagen? Oder gibt es vielleicht einen umgekehrten Einfluss? Das schnelle Morphing in den Animationen war ja wohl schon früh in Europa zu sehen.
Sonntag
Heute wollte ich die neue „Junky-Ausgabe mit der alten vertauschen und musste feststellen, dass ich den ganzen vorigen Monat hindurch beim Herummachen mit meiner Burroughs-Sammlung nicht bemerkt hatte, dass ich gar keine englische Ausgabe von „Junky
besaß. Das ist mal was anderes als der übliche unabsichtliche Doubletten-Kauf.
Eigentlich wollte ich mich in diesem Monat ja mit Wilhelm Busch beschäftigen; heute lese ich aber Manuchehr Iranis „Der König der Schwarzgewandeten. Das Büchlein ist eine gute Erinnerung daran, wie schwer man sich mit Literatur tut, die ein anderes Bezugssystem hat als die eigene, europäische (und vielleicht auch noch die US-amerikanische – obwohl wir gerade vor drei Tagen in Wien im Gespräch feststellten, dass hier niemand z.B. Washington Irving gelesen hat, den in den USA jedes Kind kennt). Da nützen die Anmerkungen auch nicht viel. Von den Dichtern, auf die der pseudonyme Irani anspielt, kenne ich gerade mal Ferdousi, Nizami und Hafiz, und auch die eher nach dem Namen als vom Werk. Aber der ob seiner Schwierigkeit berüchtigte Khagani, der anti-arabische Beshar-ibn Tabarestani oder der berühmte „Liebhaber der Schönheit
Farrokhi stehen bislang weder in meiner physischen noch in meiner imaginären Bibliothek.
Das Vordergrundthema des 1982 handelnden Buches ist Folter, ein zentrales Problem im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts (und wohl auch darüber hinaus). Der Iran hat da wie alle orientalischen Diktaturen eine lange Tradition, sicher schon vor dem Schah und seinem Geheimdienst SAVAK begründet, und bis heute nie abgerissen.
Durchkämmte meine DVD-Sammlung nach Max-Fleischer-Filmen und fand etwa zwei Dutzend auf vier verschiedenen DVDs. Auf „American Cartoons of the 30’s–40’s–50’s von Icestorm beispielsweise zeigen nur zwei oder drei Filme die Original-Credits der Fleischer Studios, die anderen sind nach wie vor als Produkte von „Famous Studios
deklariert (das ist der Name, unter dem Paramount nach der feindlichen Übernahme vom 24. Mai 1941 die Fleischer-Cartoons vertrieb; Maxens Name war vollständig getilgt worden). Der Umschlag und das Leaflet enthalten – wie bei DVDs allerdings üblich – keinerlei Angaben über die Produzenten, Regisseure usw.
Montag
Abends bei zehn Minusgraden nach Dornbirn ins Kino, um mir Cronenbergs „A History of Violence anzusehen. Ich gehe seit Jahren nicht mehr ins Kino, mit ganz wenigen Ausnahmen, das letzte Mal 1999 in Zürich, ebenfalls ein Cronenberg-Film, „eXistenZ
.
Heute war ich der einzige Besucher, also wurde nicht gespielt. Ich bekam aber eine Freikarte für morgen, da liegen nämlich schon zwei Platzreservierungen vor.
Dienstag
Diesmal gab es eine Vorstellung, und der Film enttäuschte mich. Ich hatte voriges Jahr den gleich betitelten graphic novel von John Wagner und Vince Locke gelesen, den Cronenberg verfilmt hat, und ihn bemerkenswert gefunden, bemerkenswert monströs nämlich, vor allem gegen das Ende hin. Da war ich neugierig, wie Cronenberg das optisch in den Griff bekommen würde.
Der Film folgt der Handlung des Buches zunächst einmal ziemlich genau, von der Veränderung der Rolle des Sohnes abgesehen: Der Besitzer eines kleinen Diners erschießt zwei Killer, die ihn überfallen wollen, wird als amerikanischer Held gefeiert und ist folglich eine Zeitlang ständig im Fernsehen. Daraufhin erkennen ihn ein paar Mobster als Ex-Konkurrenten und suchen ihn heim, was drei weitere Tote zur Folge hat. Dann stellt sich in Buch wie Film heraus, dass der Mann tatsächlich der ist, als den ihn die Gangster erkannt haben (er hat das die ganze Zeit bestritten), und dann erfolgt die Bifurkation der Handlungen, der Film erzählt jetzt eine ganz andere Geschichte weiter als das Buch, und zwar eine vielleicht realistischere, aber jedenfalls viel simplere. Mir kam das Handlungsmuster vor wie das vieler anderer Gangsterfilme von „Point Blank bis „The Limey
, der Unterschied ist, dass es hier nicht wie sonst meistens um einen Rachefeldzug geht und der Protagonist nicht ganz so übermenschliche Kampfkraft hat wie so viele andere.
„A History of Violence" ist ein gut gemachter Gangsterfilm; aber von Cronenberg ist mir das zu wenig. Das Feuilleton geheimnist irgendwelche Widerhaken hinein, die ich nicht sehen kann.
In der NZZ steht heute in einer Besprechung von James Hamilton-Patersons Roman „Kochen mit Fernet-Branca unter dem Titel „Turbulenzen in Chiantishire
über die beiden Hauptfiguren, sie wüchsen einem nicht ans Herz, dafür seien sie zu blasiert. „Doch dass sie einander zum Schluss in einer Art von gedämpftem Happy End doch noch grün werden, nimmt man mit Genugtuung zur Kenntnis."
Ich hatte Sampers besoffene finale Landung in Marthas Bett für die ultimative Bosheit dieses sehr witzigen Romans gehalten und halte sie eigentlich immer noch dafür; ich wundere mich nur, wie man alles so ganz anders verstehen kann.
Amüsant ist die Illustration der Rezension mit „Cuisine à la Hamilton-Paterson-Sushi: California Rolls, auf deren Breitseite der Fotograf Skorpione gelegt hat. Als Copyright ist leider nur „Reuters
angegeben.
Mein weißrussischer Übersetzer Dmitri M. schreibt mir aus Brasilien auf meine Frage, ob Burroughs auf Russisch vorliegt: „Yes, Burroughs was recently translated a lot into Russian. Azbooka had a hand in this too. Actually, there was an avalanche of translations. I have tried to repeat my Steinbeck‘s feat and translate ‚Murphy‘ by S. Beckett (such a teeth-shattering task it was, really) – only to discover that it was published when I have just finished first three chapters."
Mittwoch
Habe mit der Lektüre von Robert Hughes Goya-Biographie begonnen. Das offenbar titellose Bild mit dem Öl gießenden Priester ist darin abgebildet, der Begleittext weicht aber von dem in der Wiener Ausstellung weit ab. Im Vordergrund rechts ist ein Buchtitel angeschnitten, dessen Buchstaben
LAM
DESCO
sich zu „Lámpara descomunal ergänzen lassen, was ein Fragment aus einer Textzeile in dem Stück „Bezaubert durch Kraft
von Antonio de Zamora sein soll. Da glaubt ein Priester, er sei verzaubert und seine Seele werde ihm entzogen („Ungeheuerliche Lampe / Deren übles Licht / Als wäre ich ein Docht / All mein Lebensöl vernicht), und Hughes meint, es handle sich um „das scherzhafte Bild eines Künstlers, der die Fesseln des Aberglaubens fast völlig abgestreift hat
, und interpretiert die Geste, dass der Priester die Hand auf den Mund presst, so, dass er „drauf und dran ist, sich zu übergeben". Warum sollte er erbrechen? Weil der Dämon so stinkt? Oder aus Angst? Er könnte auch verhindern wollen, dass ihm die Seele aus dem Mund entflieht. Diesen Ausgang nimmt sie ja nach alten Vorstellungen.
„Ich weiß ein Märchen hübsch und tief. / Ein Hirtenknabe lag und schlief. / Da sprang heraus aus seinem Mund / Ein Mäuslein auf den Heidegrund ..." (Busch)
Entweder bin ich blind oder in diesem Buch ist tatsächlich nirgendwo der Übersetzer angegeben.
Freitag
Nochmals Dmitri zu WSB: „A bit about translations into Russian: in fact, we are like a sponge taking all things of literary fashion in a moment. Translation was and is in Russian a quite respectful branch of writing. So, to discover and translate something of classics previously non-translated is a rare feat. Some gaps were left in Soviet times due to ideological reasons. It was absolutely inpossible to translate, for example, ‚Naked lunch‘. It was considered a worst kind of western degradation."
Samstag
Meine häufige saltatorische Wilhelm-Busch-Lektüre endete recht plötzlich, als ich die „Historisch-Kritische Gesamtausgabe der Bildergeschichten", hrsg. von Hans Ries, kaufte bzw. glaubte, nach dem Erwerb dieser ultimativen Edition meine handliche, vierbändige Bohne-Ausgabe ins Antiquariat bringen zu sollen. Der Schuber der dreibändigen Gesamtausgabe hat die Dimensionen 31 × 27 × 18 cm und das Ganze ein Gewicht von 14 Kilogramm. Das heißt, man könnte die 4,7-Kilo-Bände nur an einem Stehpult angenehm lesen. So ein Möbel habe ich aber nicht.
