Richtisch beese Mäuler: Hessische Satiren
Von Alf Mentzer und Hans Sarkowicz
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Über dieses E-Book
"Die Rheingauer sind ein schöner und ungemein starker Schlag Leute. Auf den ersten Anblick sieht man, dass ihr Wein dem Geist und Körper wohlbekommt, sie haben sehr viel natürlichen Witz, und eine Lebhaftigkeit und Munterkeit, die sie von ihren Nachbarn stark auszeichnen. Man darf sie nur mit verschiedenen der letzteren vergleichen, um sich zu überzeugen, dass die Weintrinker den Bier- und Wassertrinkern, und die südlichern Völker also den nördlichern an natürlichen Kräften der Seele und des Körpers überlegen sind."
(Johann Kaspar Riesbeck, 1784)
Hessen, von jeher Durchgangsland mit wechselnden Landschaften und politischen Grenzen, oftmals Einfallstor, aber nicht unbedingt Zielpunkt von Reisen oder Völkerwanderungen, verfügt über eine lange satirische Tradition.
"Rischtisch beese Mäuler" spannt den Bogen satirischer Texte ausgehend von Lichtenberg, Börne und Büchner bis hin zu den Vertretern der neueren Frankfurter Schule. Klassiker wie "Der Datterich" von Ernst Elias Niebergall oder "Der fröhliche Weinberg" von Carl Zuckmayer finden sich ebenso wie Texte von Henscheid, Gernhardt oder Zippert.
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Buchvorschau
Richtisch beese Mäuler - Alf Mentzer
Alf Mentzer,
Hans Sarkowicz (Hrsg.)
Richtisch beese Mäuler
Hessische Satiren
Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag
© 2011 Frankfurter Societäts-Medien GmbH
Satz: Nicole Proba, Societäts-Verlag
Umschlaggestaltung: Nicole Proba, Societäts-Verlag
ISBN 978-3-95542-004-8
Inhalt
Vorbemerkung
TRANSITLAND IM MITTELPUNKT
HESSISCHE REVOLUTIONEN
Geschichte meiner Gefangenschaft nebst Beschreibung der herrlichen Wandgemälde, die sich in der Hauptwache zu Frankfurt befinden
ABC-Buch der Freiheit für Landeskinder
Handbüchlein für Wühler
Häusliche Nacht-Szene bei der Revolution
Bismarck
HESSISCHE ORTSBESICHTIGUNGEN
Brief über den Rheingau
Schreckensnacht auf der Landstraße
Rast in Hessen
HERR, LASS ABEND WERDEN – Chronik einer Heimsuchung
Schöne neue Heimat
HESSISCHE ORIGINALE
Patriotischer Beitrag zur Methyologie der Deutschen nebst einer Vorrede über das Methyologische Studium überhaupt
Moritzchens Tagebuch
Für alles ein Gewürz
Die Vollidioten
HESSEN-DARMSTÄDTISCHE NATIONALGESICHTER
Leonce und Lena
Bilder aus Arkadien
Der Datterich
Leberecht vom Knopf
HESSISCHE VISIONEN
Dämonische Reisen in alle Welt
Welt-Unnergang 1857
Der Hakenkreuzzug
Ein geglückter Auftakt
DIE WUNDERBARE TENDENZ ZUM NICHTS
Bio-bibliografische Notizen
Vorbemerkung
D
er Hesse (und natürlich auch so manche Hessin) ist leicht erregbar, leidenschaftlich aufmüpfig, habituell schlagfertig und unerbittlich scharfzüngig – kurz er hat ein ‚beeses Maul‘, und das hatte er schon, als Hessen als einheitliches Bundesland noch gar nicht existierte. Lang ist die hessische Satiretradition, die von Georg Christoph Lichtenberg über Ludwig Börne, Georg Büchner, Heinrich Hoffmann bis zu Eckhard Henscheid, Matthias Beltz oder Robert Gernhardt führt: „An keinem Ort Deutschlands hat diese Kunst des Spottes und des Humors einen so ausgiebigen Boden gefunden, als gerade in unseren Tagen hier in Frankfurt" – stellte 1848 der Reklameprospekt eines Frankfurter Verlegers fest. Zitiert hat ihn im Jahr 1998 eben jener Robert Gernhardt, der zusammen mit seinen Koautoren der in Frankfurt geborenen Zeitschriften Pardon und Titanic, den Zentralorganen der ‚Neuen Frankfurter Schule‘, wie kein anderer für das satirische Potential der 68er-Generation stand. 1848 und 1968 – das sind zwei Kulminationspunkte der satirischen Aktivitäten in Frankfurt und seinem hessischen Umland – zwei Revolutionen, die, vom Protest gegen reaktionäre politische Zustände befeuert, zu einer Vielzahl von neuen Publikationsformen geführt haben, in denen sich das Selbstbewusstsein einer kritischen Öffentlichkeit artikulierte. 1848 und 1968 – das sind aber auch zwei Revolutionen, die früh an ihren inneren Widersprüchen scheiterten, die zeitweilig zu ihrer eigenen Karikatur zu werden drohten. Und so ist auch die hessische Satiretradition, wenn überhaupt, nur in ihrer Widersprüchlichkeit zu fassen: fortschrittlich und zugleich auch fortschrittsskeptisch, couragiert und manchmal erschreckt von der eigenen Courage. Die Satire war und ist in den hessischen Gebieten immer auch ein Mittel der bürgerlichen Selbstverständigung, die wiederum in der Aufklärung wurzelt, in einer Aufklärung allerdings, die neben dem intellektuellen Scharfsinn eines Lichtenberg immer auch die Volkstümlichkeit eines Friedrich Stoltze kannte. Sie hat das große Ganze im Blick und fühlt sich doch zugleich dem regionalen Hier und Jetzt verpflichtet. Sie ist kosmopolitisch und provinziell in einem, kennt das universalistische Revolutionspathos und die selbstbezogene Kneipengemütlichkeit. Wie alle Satire ist die hessische Satire gegen Macht, Obrigkeit und Traditionen gerichtet, aber sie nimmt immer auch gern die Spießbürgerlichkeit in den eigenen Reihen aufs Korn. Es gehört zur Liebenswürdigkeit des hessischen ‚bees Mauls‘, dass es die eigene Bissigkeit durch Witz, Humor und nicht zuletzt durch eine gehörige Portion Selbstironie zu zähmen versteht. Die schärfsten Kritiker der Elche – das gehört zur ‚Neuen Frankfurter Schulbildung’ wie der Handkäs zum Apfelwein – waren früher selber welche.
Dieser Band umfasst hessische Satiren aus vier Jahrhunderten, darunter auch Texte, die hier zum ersten Mal nach ihrem Erstdruck wieder in Buchform erscheinen, so zum Beispiel die Dämonische Reise des Johann Konrad Friederich: Verfasst im Jahre 1847, ist dies eine Utopie von nahezu unheimlicher Weitsicht, die schon im 19. die Katastrophen des 20. Jahrhunderts detailgenau vorausgesehen hat – ohne dass diese Visionen seinerzeit ernst genommen worden wären. Rückblickend gilt allerdings sowieso: Die hessischen Satiriker haben die Welt auf ihre je eigene Weise interpretiert – zu Revolutionen hat das nicht geführt. Aber das entspricht der hier vorzustellenden Geisteshaltung, oder wie Matthias Beltz, der nicht ohne Grund am Anfang und Ende dieser Sammlung satirischer Lebensweisheit steht, die Grundfragen hessischer Existenz zusammengefasst hätte: „Wo geht der Hesse hin? Wo kommt er her? Und warum ist er nicht dort geblieben?"
TRANSITLAND IM MITTELPUNKT
Matthias Beltz
H
essen hat nur deutsche Grenzen, es gibt keinen Übergang in ein fremdes Land. Hessen ist also umzingelt von lauter Deutschen und ist so extrem deutsch, denn auch Deutschland ist geprägt durch seine europäische Mittellage. Was die im einzelnen verursacht hat, darüber streiten sich die Historiker. Fest aber steht, daß Hessens Schicksal der Mitte dieses Land und seine tragische Verlorenheit bestimmt hat und weiter bestimmt.
Warum aber interessiert mich das, was das Hessische von, sagen wir: dem Badischen oder dem Bayrischen unterscheidet? Als gebürtiger Hesse, Mutter aus Gießen, Vater aus Kassel, habe ich früh gespürt, daß etwas mit mir nicht stimmt. Hesse sein heißt, einen unsichtbaren Fluch zu empfinden, ein Schicksal zu spüren, das einen anweht aus dem Raum, der Hessen heißt.
Nun liegt dies nicht daran, daß dieses Land eine unnatürliche und überhaupt nicht organisch gewachsene Geschichte und Form besitzt. Es geht nicht darum, daß es schwierig ist, eine hessische Identität zu bestimmen. Identität scheint mir wichtig in der Frage der Verbrechensbekämpfung, vielleicht auch zur Förderung des Verkaufs von Markenartikeln nötig – Identität aber erklärt nicht das Besondere der hessischen Mentalität.
Die rührt aus der Unwirklichkeit des Landes Hessen. Landschaft und politische Grenzen, die wechselten im Lauf der Geschichte, geologische Beschaffenheit – das sind wichtige Faktoren.
Entscheidend aber ist, daß Hessen ein Ort des Durchgangs ist, Völkerwanderungen und Kriegsbewegungen stapften hier durch, von Ost nach West und später mehr von West nach Ost, von Süd nach Nord und umgekehrt, aber nie war Hessen das Ziel, nie ist heute noch Hessen das Ziel, in Gießen an der Lahn war das letzte Durchgangs- oder Auffanglager für DDR-Flüchtlinge, aber für die war Gießen nie das Ziel, so wie Hessen nie das wirkliche Ziel ist derer, die hierherkommen und unsere Sprache verachten und unseren Dialekt furchtbar finden und über unseren Apfelwein lachen und über die Küche und darüber, daß selbst Goethe Hessen verlassen hat, so wie Büchner geflüchtet ist aus Gießen nach Zürich, um dort zu sterben.
Hessen ist Transitland, ist eine virtuelle Region, eine Cyber-Heimat vor der Erfindung der Elektronik. Es ist deshalb so unheimlich wie eine Poststation an einer wichtigen Wegkreuzung irgendwo im einsamen Land des amerikanischen Wilden Westens. Hessen haben einen Blick dafür, daß eigentlich niemand zu ihnen will, daß aber die Nacht und die Kälte und der Hunger es erzwingen, die Reise zu unterbrechen. Daher dieser mißtrauische Hessenwitz, schadenfroh bis in die Knochen, hier weht Häme mit im trauten Kneipengespräch.
Hessen ist drum auch ein bißchen katholisch, ein wenig mehr protestantisch, aber nichts Eigenes – Hessen hat schöne Täler und Höhen, Flüsse und Auen, aber Hessen ist kein Land. Deutschland gilt als verspätete Nation, Hessen ist ein noch nicht angekommenes Gebiet. Mit diesem Schicksal haben wir uns abgefunden, es gibt ja auch keinen Anlaß zur Klage, wenn man dauernd im Mittelpunkt steht. Zwar ist dieser Punkt nur die Kreuzung fremder Wege, aber wir sehen die anderen vorbeigehen, die glauben, sie wüßten, wo’s hingeht.
Das Hessische ist die Mentalität des verlorenen Subjekts, aber es juckt uns nicht, daß wir so unbedeutend sind. Die Hessen durchschauen vielleicht nicht die Geheimnisse der Welt, aber sie erahnen etwas von der Sinnlosigkeit des Hin- und Hergewanders. Die Sturheit und manchmal sogar die Dummheit, die uns andere andichten, ist unser Weg des Widerstandes. So hat Hessen etwas von dem, was auch Wien auszeichnet – das Wissen darum, daß die schönen Tage längst vorbei sind und nicht wiederkommen. Es kann mal sehr schlimm kommen, und es kann auch mal relativ ruhig sein. Die politischen Weltverhältnisse bestimmen es, ob Hessen ein melancholisches Bahnhofsrestaurant, ein militärisches Aufmarschgebiet oder ein Flüchtlingslager ist.
Diese schöne und praktische Weltsicht, die einen aus der Mitte kommenden Realismus verrät, wird neuerdings auch von in Hessen dann doch gebliebenen Menschen teilweise mit übernommen. So hat das Hessische auch etwas sehr Vorbildliches. Es erleichtert die Einsicht, daß ganz Europa bloß eine Halbinsel Asiens ist.
HESSISCHE REVOLUTIONEN
Geschichte meiner Gefangenschaft nebst Beschreibung der herrlichen Wandgemälde, die sich in der Hauptwache zu Frankfurt befinden
Ludwig Börne
A
m 22. März wurde ich wegen Anschuldigung etlicher demagogischer Umtriebe auf Ersuchen der preußischen Minister verhaftet. Der Verdacht, dass ich vom Tertianfieber angesteckt sei und daher unter Quarantäne gesetzt werden müsse, war wirklich nicht ohne Schein. Ich habe in der Tat mit einem Tertianer mehrere auffallende Ähnlichkeiten. Erstens bin ich von kleiner Gestalt, obzwar wohlgebildet. Zweitens laufe ich gern Schlittschuhe. Drittens bin ich im Griechischen noch unwissender als ein Tertianer; denn dieser kann es noch lernen, aber ich nicht; denn ich habe es bereits vergessen. Daher ist die Beschuldigung zu entschuldigen. Überhaupt ist der März zu jeder Zeit voller Verschwörungen gewesen – gegen den Menschenverstand und die Gerechtigkeit nicht allein, sondern auch gegen Fürsten und Völker. Die Märzluft ist von revolutionären Dünsten geschwängert, weswegen auch die Frauenzimmer in diesem Monate das Gesicht mit einem Schleier behängen, um nicht angesteckt zu werden. Am Idus des Märzes fiel Cäsar. Am 20. März kehrte Napoleon von Elba zurück. Am 23. wurde Kotzebue ermordet. Im März verschwor sich die französische Oligarchie gegen die Freiheit des Volks. Im März ward der König von Spanien gezwungen, die Alleinherrschaft niederzulegen. Noch viele Märzstürme wären anzuführen, da es mir aber in meinem Gefängnisse an der Aufwartung der Bücher, dieser unentbehrlichen Studier-Kammerdiener, fehlt und mein unbehilfliches Gedächtnis, ein schwächlicher Knabe, mich allein bedient, so muss ich es bei obigen Beispielen bewenden lassen. Der Grund, warum der März so voller gefährlicher revolutionärer Umtriebe ist, wird aus der „Preußischen Staatszeitung" leicht erklärt. Der März ist nämlich der Tertianer der Monate.
Es war nachts elf Uhr, da ich ins Gefängnis abgeführt wurde. Zuvor wurden meine Papiere zusammengerafft, in einen Sack gelegt, den ich dazu hergab, und versiegelt. Es war ein Nachtsack, den ich einige Monate früher von Paris mitgebracht hatte; er war also zum Obskurantendienste bestimmt. Diese Papiere machen mich sehr zittern für meine literarische Ehre. Der winzigste Autor verblüfft manchmal, wenn die Minerva fertig und gerüstet aus seinem Jupitershaupte hervorspringt und sich in ihrem Glanze zeigt. Kommt man aber in seine Werkstätte und sieht die Meißelabfälle und die rohen Blöcke, wie sie aus dem Schoße der Erde kommen; dann denkt man: an dem ist nicht viel. Besonders Angst macht mir ein Aufsatz, überschrieben Humoralpathologie, der sich unter meinen Papieren befindet. Ich habe darin den Kater Murr beurteilt, ein Werk des geistreichsten deutschen Schriftstellers, des Herrn Hoffmann in Berlin, der zur Belohnung seiner großen Verdienste zum Mitgliede der dort zur Untersuchung der demagogischen Umtriebe bestehenden Kommission ernannt worden ist. Das Buch wurde von mir aus Übereilung und Unverstand herabgehunzt, und es würde mich sehr schmerzen, wenn ein so großer, wichtiger Mann gelegentlich erführe, dass ich keinen Geschmack habe.
Der Umstand, dass ich in der Nacht verhaftet worden bin und jetzt schon vier Tage sitze, ohne den Grund meiner Verhaftung erfahren zu haben und ohne verhört worden zu sein, stellt die persönliche Freiheit, welche ein Frankfurter Bürger genießt, in das schönste Licht. In mehreren monarchischen Staaten, wie in Frankreich und England, erlaubt das Gesetz nur bei Tage zu arretieren. Wie grausam ist diese Einrichtung! Hierdurch erfährt jedermann sogleich das Verbrechen, und die Ehre geht noch früher verloren als die Freiheit. Wird man aber im Dunkeln ins Gefängnis geführt, so merkt es keiner; ja, man kann jahrelang eingesperrt sein, ohne dass es die Stadt erfährt, und sie denkt, der Vermisste wäre auf Reisen. Und wie wohltätig sind auch die übrigen Folgen der nächtlichen Verhaftung! Der Gefangene vermisst nicht gleich anfänglich seine Freiheit, da ohnedies bei Nacht jedermann in seinem Zimmer eingesperrt ist. Im Schlafe vergisst er seine Leiden. Der Anblick des gestirnten Himmels flößt ihm wie jedem Unglücklichen Trost ein; er denkt: über den Sternen sitzt ein Kassationsgericht. Er sieht die Menschen aus seinem Fenster nicht spazieren gehen, was ihm bei Tage Verdruss macht. Endlich weiß er aus dem tierischen Magnetismus und von seiner Amme her, dass man bei Nacht ohnehin dem Teufel gehört, und fragt sich: was verliere ich dabei? ... Die Einrichtung, viele Tag ohne Licht über die Anschuldigung und ohne Verhör zu bleiben, ist nicht weniger edelmütig, zart und menschlich. Hierdurch gewinnt der Verhaftete Zeit, sich auf alle möglichen Fälle vorzubereiten und sich auf die Beschuldigung aller nur erdenklichen Vergehen, von der Verbalinjurie bis zur Mordbrennerei, mit Antworten zu versehen, so dass auch der geschickteste Kriminalrichter ihn nicht wird überraschen können.
In meinem Gefängnis angelangt, durchdrang mich sogleich ein wohltuendes romantisches Gefühl. Ich hatte am nämlichen Abende Kotzebues Ubaldo gesehen, und ich dachte den sechsten Akt zu spielen. Was hätte ich nicht darum gegeben, wenn eine Spinne dagewesen wäre, an die ich wie der Herzog eine schöne Rede hätte halten können! Ich sah aber keine andere als die hypochondrische, die mir schon viele Jahre vor den Augen schwebt. Da ich früher noch nie in männlicher Gefangenschaft war, so erfuhr ich jetzt zum ersten Male, welch ein herrliches Leben man in einem Justizpalaste führt. Die zarteste Aufmerksamkeit, die man sich nur wünschen kann. Als mir mein Bett aus meiner bürgerlichen Wohnung gebracht wurde, untersuchte und durchknetete es der Gefängniswärter aufs sorgfältigste, um zu fühlen, ob der Flaum weich genug wäre und nicht etwa ein stechendes Federchen mich im Schlafe stören könnte. Anfänglich hatte ich den Argwohn, es geschehe, zu untersuchen, ob nichts Gefährliches darin versteckt wäre, etwa ein befreiender Tertianer im Kopfkissen; da ich aber den wahren Grund entdeckte, ward ich gerührt. Ein Stiefelknecht wurde mir versagt, um das traurige Bild knechtischer Dienstbarkeit von mir entfernt zu halten. Messer und Gabel durfte ich nur im Beisein der Aufseher gebrauchen, damit ich mir kein Leid antue. Stahl und Stein sowie selbst ein chemisches Feuerzeug wurde mir abgeschlagen, doch durfte ich Tag und Nacht ein angezündetes Licht haben, und wirklich brannte wie vor einem Heiligen beständig ein Licht vor mir. Schreibzeug und Papier wurde mir erst auf wiederholtes Bitten verabreicht und Letzteres zugemessen. Man fürchtete, ich möchte durch vieles Sitzen und Schreiben meiner Gesundheit schaden. Jeden Abend untersuchte ein Wächter mit einer Laterne den Ofen, um zu sehen, ob er nicht etwa rauche und meinen schönen Augen lästig fiele, und das Gitter an den Fenstern, damit kein Dieb von außen hereinsteigen könne, mich zu bestehlen. Während dieses geschah, standen fünf Soldaten vor der aufstehenden Türe in Reihe und Glied, um zu verhindern, dass die Zugluft eindringe. Das Geld wurde mir bei der Verhaftung abgenommen, weil ich als Mann von Verdienst, den der Staat im Prytaneum verköstigt, keines nötig habe.
ABC-Buch der Freiheit für Landeskinder
Wilhelm Sauerwein
Non Scholae sed Vitae!
Der Adel
Eiobobeio - schlag’s Göckelchen tot;
Es legt mir kein Ei, und doch frisst mir’s mein Brot.
Der Adel (nobilitas) hat rotes, edles Blut, lange Finger, lebt auf einem großen Fuß, trägt die Nase gar hoch, geht im Trüben seiner Beute nach, bringt hoch- und hochedelgeborne lebendige Jungen zur Welt und ist größtenteils mit Wappen und Titeln bedeckt. Die gemeinen Leute (Kanaille) sind nur eine Seitenlinie des echten Menschenadels: denn sie haben nur Haut und Knochen, niedrige Gesinnungen, essen im Schweiß ihres Angesichts ihr Brot, können sich nicht hoch aufschwingen; sie gebären viele Jungen und säugen sie selber. So groß der Unterschied zwischen Adel und Kanaille ist, so waren doch einige Naturforscher blind genug, selbigen ganz und gar zu leugnen, und zu behaupten: alle Menschen, frei geboren, sind ein adeliges Geschlecht. Es wurden wichtige gelehrte Streitigkeiten über diesen Gegenstand geführt, und noch heutzutage bekämpfen sich die Parteien der Aristokraten und Demokraten, ohne dass noch eine definitive Entscheidung der Frage zu Stande gekommen wäre. Ich will meine Meinung über die dunkle Sache frei vortragen. Leider muss ich als ABC-Lehrer kurz sein – indes, ihr Landeskinder, wer wird auch bloße Hypotheken mit allzu großer Weitschweifigkeit vortragen mögen?
Das ist nicht zu leugnen, dass der Adel viele Vorzüge vor den gemeinen Leuten voraus hat. Der Adel trägt den Ring am Finger, die Kanaille in der Nase, und das hat eine tiefe symbolische Bedeutung. Der Fingerring bedeutet die Kultur, die Bildung, die Weisheit; der Nasenring bedeutet die Unkultur, die Ungeschliffenheit, die Wildheit ... Der Adel und die Kanaille sind also wirklich von Natur unterschieden. Ersterer ist die Weisheit, Klugheit, Tapferkeit und der Verstand. Ohne Adel wären diese Tugenden gar nicht in der Welt, sondern es wäre ein wilder Zustand von dummer Gleichheit und sinnlicher Freiheit. Ohne den Kopfring des Adels, im gemeinen