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Briefe aus Südamerika: Indianerherzen, wandelnde Bäume und rotlackierte Möpse
Briefe aus Südamerika: Indianerherzen, wandelnde Bäume und rotlackierte Möpse
Briefe aus Südamerika: Indianerherzen, wandelnde Bäume und rotlackierte Möpse
eBook407 Seiten4 Stunden

Briefe aus Südamerika: Indianerherzen, wandelnde Bäume und rotlackierte Möpse

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Über dieses E-Book

Man kann nach Südamerika ins indianische Herz fahren, kann die kargen, dennoch grünen Andengebirge auf sich einwirken lassen und von den tausenden Bananenstauden, Maultieren, Inkatrachten und den lächelnden Gesichtern mit den dunklen Magieraugen erzählen. Später daheim mit Diavorführungen vom Machu Pichu, dem Titikakasee und den Kathedralen von Cuzco und Cuenca seine Mitmenschen in den Schlaf wiegen und auf der Haben-Landkarte den südamerikanischen Kontinent abhaken. Kann man machen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum10. Juni 2011
ISBN9783860401736
Briefe aus Südamerika: Indianerherzen, wandelnde Bäume und rotlackierte Möpse

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    Buchvorschau

    Briefe aus Südamerika - Marco Gerhards

    22:01:55

    HOLA!

    Wer Zusendungen im elektronischen Postfach goutiert, wird in den nächsten Monaten von der Reiseberichts-Adresse gefüttert werden! Es handelt sich - wie der Name unschwer vermuten lässt - um Berichte einer Reise. Dahingestellt sei, ob es sich um die Reise zum Erholen, zur Erleuchtung oder zum Bäcker, der auch Brötchen von gestern im Angebot hat, handelt.

    Generell kennen wohl die meisten von Euch die bisweilen ultralangen Rundmails gewiefter Globetrotter, deren Lektüre leider häufig nach der Hälfte abgebrochen werden muss. Das liegt weniger an der interessanten Dichte der dort so überaus großzügig verschenkten Informationen, sondern am Paradoxon, gemütliche Reiseberichte - die am Besten im Kaffeehaus in angenehmer Jazz-Atmosphäre genossen werden sollten - im Porno-Highspeed-World-Wide-Web-Netz zu posten, also im Sinnbild einer Gesellschaft, die weder warten kann, noch Zeit für drei Minuten mehr hat. Die Berichte sind dort also so sinnvoll aufgehoben wie Altenheime auf Sizilien.

    Womit wir schon beim Thema wären.

    Es erwarten Euch Beobachtungen, die so genießbar sein wollen wie ein kleines Stück Haselnusstraum à la Giotto (oder auch eine ganze Stange von dem Zeugs, mjam!).

    Ihr dürft, sollt, müsst, könnt auf diese Beobachtungen aus der Ferne, die nicht näher sein könnten, antworten, in dem Ihr einfach auf Antworten klickt (Schau mal wie einfach das also geht ...). Nein, es handelt sich nicht um eine selbstzerstörerische Feed-for-you-Quelle, die gegen persönliche Kontakte immun ist.

    Auf die gleiche Art und Weise könnt Ihr Euch natürlich auch aus diesem Verteiler entfernen lassen, sei es, weil es im Internet schnell und pragmatisch zugehen muss, oder sei es, weil Euch der Schreiber dieser Zeilen zum Hals raushängt, wie des Hundes Zunge.

    Bis auf weiteres am Äquator zu erreichen ...

    Fri, 16. Nov, 18:58:43

    Auf dem Weg nach ...

    HOLA UNO!

    Kurz bevor ich mich auf eine Reise begab, schenkte mir ein lieber Mensch ein besonders schönes und edles Notizbuch aus schwarzem Leder und mit unendlich vielen weißen Seiten, wo ich Reisebeobachtungen bündeln und notieren könne. Auf der Verpackung betonte der Hersteller, dass auch schon Hemingway, Picasso und Chatwin in genau diese Sorte Bücher geschrieben hätten. Na so was! Im Bunde mit großen Abenteuern, Künstlern und Forschern - sitz ich dann auch rauchend in einem Straßencafe mit meinem heiligen Notizblock und werde zum unsichtbaren Observator, der weder Heimat noch Hilfe sondern nur die Wahrheit finden will?

    Der gleiche liebe Mensch hat nebst dem Geschenk auch eine persönliche Widmung in das Heiligtum gekritzelt, mit der er mich großmütterlich darauf hinwies, stets wachzubleiben. Ich mag Großmütter und solcherart Hinweise, doch was ist eigentlich mit wachbleiben gemeint? Unbeabsichtigterweise, vielleicht intuitiv sehr wohl beabsichtigt, habe ich es zumindest physiologisch geschafft, die ersten fuffzig Stunden dieses Weges wachzubleiben. Das lag zum einen an der Nervosität in der kurzen Nacht vor der Reise (die ich mit abwechselnder Lektüre von Goethes Götz von Berlichingen und einem Simpsons-Comic-Megapack verbrachte) und darüber hinaus an nicht eingeplanten Flugverspätungen, einem daraus notwendig gewordenen Flugumweg und qualvollen Warteschlangen Ecuadors Amts wegen.

    Nach fünfundreißig dieser fünfzig Stunden hatte ich allerdings bereits verstanden, dass sich die Aufforderung wachzubleiben wohl auf meine physische Conditio Humana, aber nicht auf die Leuchtkraft meiner geistigen Wahrnehmung bezog. Diese, je mehr Zeit verstrich, sank und schwand wie die Sonne, der Du am Abend beim Untergehen zuschaust.

    Immerhin hatte ich genügend Muße, das ein oder andere in das schwarze Heiligtum zu pfeffern, und die Extrakte werden hier nun aufgetischt:

    Das erste, was mir ins Auge sprang, waren Toblerone-Schokoladen in der Größe von Fußbällen, die es am Startpunkt Schweizer Flughafen zu kaufen gab. Erstaunlich, in welchen Dimensionen handeln kann, wer über entsprechende Devisen verfügt - für mich ein erster Hinweis der Ambivalenz im Vergleich zu weniger entwickelten Ländern? Passend dazu berichtete die mir im Flugschiff freiherzlich überreichte Schweizer Tageszeitung, dass die Kriege im Irak und in Afghanistan die USA 1,6 Billionen Dollar kosten würden. Das sind 1600 Milliarden!! Kann man sich unter diesen Zahlen etwas vorstellen? Wie viele Tobleronen-Fußbälle kann ich mir dafür kaufen, und sind überhaupt die Einzigen, die sich drei Kilogramm Schokolade am Stück leisten wollen diejenigen, die Menschen in politische Ämter wählen, um andere kriegerisch zu bekehren? Huh, ich merkte gleich zu Beginn, das war kein Schülerausflug, bei dem ich von Bäumen und Schmetterlingen berichten werde sondern eine wirtschaftsglobale Katastrophen-Begegnung, die an meinen kommunistischen Adern saugte.

    Süd-Amerika, ich komme!

    Eine weitere nicht zu unterschätzende Nachricht stand ebenfalls im Zürcher Generalanzeiger: Der Kastanienbaum vorm Anne-Frank-Haus muss 150jährig gefällt werden, da der Kronenpilzbefall für die anwohnenden Bürger zu einer nicht mehr kalkulierbaren Gefahr ausgeartet ist. Hmm, ausgerechnete der Baum, so die Zeitungsnachricht, den Anne Frank vom Speicher ihres Verstecks vor den Nazis aus beobachtete und der ihr einen winzigen Schimmer natürlicher Größe und Schönheit offenbarte. Was muss diese Kastanie wohl gefühlt haben, hat sie die ihr entgegen gebrachte kollektive Memorial-Absicht wahrgenommen? Und was sagen die anderen Amsterdamer Kastanien dazu, die nicht wegen Pilzbefalls, sondern wegen McDonalds, Lidl, Kaufhaus und Betonstraßen gefällt werden?

    *Der Baum blieb übrigens doch erstmal erhalten, habe ich später mitgekriegt.

    Hach, schon wieder so eine Sozialkritik, dabei wollt ich doch eigentlich von der Reise ...

    Also gut, in Madrid hatte ich nun sechs Stunden Aufenthalt, die ich dank Metro in der königlichen Stadt verbrachte und plötzlich vor dem angeblich schönsten und wichtigsten Fußballstadion, dem Bernabeu von Real Madrid stand. Oh, was für ein Tempel! Allerdings weigerte ich mich, Eintritt zu zahlen, um das leere Stadion von innen in Augenschein zu nehmen, denn es kostete so viel wie drei Heimspiele des SC Freiburg. Mehr habe ich von Madrid nicht zu berichten, außer von dem Zwergpinscher am Flughafen, der genau wie ich in das Flugzeug nach Ecuador stieg und exactément die Größe der Tobelerone-Schokolade vom Züricher Flughafen hatte. Futtern die in Ecuador eigentlich Hunde?

    Im Flugzeug sah ich kurz nach Sonnenuntergang über den Wolken das gesamte Regenbogenspektrum, die Einzigartigkeit und Schönheit, die uns die Atmosphäre schenkt, in einer derart berauschenden Intensität von Rot, Orange, Grün und Co, dass ich sogar dem anmutigen zunehmenden Mond, der schützend über diesem Schauspiel prangte, meine Aufmerksamkeit verweigerte. Diese bekam einige Stunden später der Himmelsreiter Orion, dieses wunderschöne, vielfarbige Sternbild samt Beteigeuze, Rigel und Schwert. Da staunte ich ihn von meinem Fensterplatz an und war ganz verwirrt. Der gute Orion lag nämlich schief und quer in der Luft, südlich am Himmel, dazu die Höhe von 10.000 Metern. Ist das wirklich so viel oder ist das völlig unerheblich, wenn einem - unterstützt durch scheinbar fehlende Erdanziehungskraft - wieder einmal die Nichtigkeit, die Zwergenhaftigkeit unseres Planten und der unermessliche Reichtum des Universums auf der anderen Seite gegenübertreten?

    Bevor ich dann meine Füße und den nach oben anschließenden Rest das erste Mal auf südamerikanischen Boden setzte, verlas ich mich noch in Eduardo Galeanos Die offenen Adern Lateinamerikas, einem schmerzhaften Wehgeschrei, einer unbarmherzigen Anklage über die Ausbeutung, die Unterdrückung und die Zerstörung eines Kontinentes, gedemütigt bis zum heutigen Tage durch Europäer und seit 200 Jahren auch durch US-Amerikaner. Da Buch ist fesselnder und aufrührender als viele andere; in seiner Intensität vergleichbar mit Onkel Toms Hütte.

    Komisches Gefühl, da am Flughafen, am Züricher Flughafen, meine Reise begann, dieses seltsame Gefühl von Traurigkeit und Hilflosigkeit, wenn mir bewusst wird, dass genau jetzt, genau heute, nicht nur Ecuador, sondern auch seine ganzen Brüder und Schwester im gleichen Kontinent, in Afrika oder in Asien, als billige Rohstoffquellen und Arbeitsquellen-Plantagen angesehen werden, auserkoren, reiche Wirtschaftsnationen noch mehr zu bereichern. Alle angeblichen Versuche, Gleichheit und Gerechtigkeit zu schaffen, waren und sind ein Alibiverhalten, das der Konsumierende zur psychologischen Reinwaschung verwendet. Ich wär so gerne einmal der 50-Euro-Schein, den Tante Elfriede an Weihnachten immer für Kinder in Afrika spendet. Diese Reise, ich also als 50-Euro-Schein, würde ich gerne in Angriff nehmen, und bin mir sicher, weit würde ich nicht kommen.

    Galeano schreibt völlig zu Recht, dass die meisten Menschen, hören sie von Amerika, an die USA denken und Lateinamerika als Unter- oder Secondhand-Amerika betrachten. Seit der Conquista hat dieser Kontinent, ohne gefragt zu werden, alles, alles, an Bodenschätzen, und davon hat er reichlichst, an Arbeitskräften, Europa und die USA gegeben. Das ist sein Verhängnis. Die den europäischen Kindern in jedem Geschichtsbuch, in jeder Fernsehsendung, erzählende Mär großer Entdecker wie Kolumbus, Vespucci oder Magellan, dieses zuckersüße, so beschwerliche und letztlich anscheinend erfolgreiche Abenteuer der Eroberung der neuen Welt, ist eine der scheinheiligsten Fabeln dieser Erde. Der Raubzug war so brutal und schlimm, dass dagegen sogar schon im 16. Jh, Leute wie Las Casas, ausgerechnet ein Pfaffe, beim spanischen König Beschwerde führten.

    Die momentanen und in der Vergangenheit existenten Terrorregimes lateinamerikanischer Länder sind weniger selbstverschuldete Diktaturen, als stasihafte Zwischenhändler, die ihre eigenen Völker, ganz im Sinne der usurpierten Kapitalismussichtweise, an starke Devisen, Amerikaner und Coca-Cola verkaufen.

    Ja, schon wieder Sozialkritik und noch gar kein Wort verloren über die tollen Tieren der Galapagos-Inseln. Tja, aber das ist es, was meine Reisegedanken füllt, was meine Wegzehrung ist und was mein Herz bewegt. Ich weiß nicht, ob ich meine eigene Obsession ins Außen verlagere und dort kritisiere, aber die Gier nach Gold und Silber hat es nicht nur zur frühen Neuzeit gegeben.

    Wen wundert es da also, dass, als ich mit zehn Stunden Verspätung und wackeligen Beinen ziemlich erschöpft in Quito ankam, mein Gepäck verschwunden war, und ich weinend mein stoffliches Gold davonfliegen sah.

    Von den Menschen, ihren Augen, den Tieren und den Pflanzen, beim nächsten Mal.

    Hasta la libertad

    Ecuador

    Mon, 19. Nov, 00:40:32

    Quito

    SEGUNDO HOLA!

    Beobachtungen ganz in der Nähe der Mitte der Welt (el midad del mundo) ungefähr eine Autostunde entfernt.

    Dem Äquator so nahe ist der Mensch der Sonne mehr als anderswo ausgesetzt .Die Höhe von knapp 3000 Metern tut ihr übriges. Täglich kämpft die gelbe Göttin gegen unzählige Wolken, die jeden Tag ein Wechselbad der Temperaturen und meteorologischen Statements erzeugen. Kommt die Sonne am blauen Himmel durch, brennen die Strahlen wie kleine Feuerschwerter auf der Haut, trotz und vor allem ohne Sonnenschutz (Bitte nehmen Sie zumindest anfangs den höchsten Faktor, den Sie kriegen können) wird der Europäer rot, bewegt er sich dabei erkundend durchs Städele, wird er zudem mächtig müde und kaputti.

    Der geringere Sauerstoffpartialdruck sorgt obendrein für stockendes Keuchen, die geringere Sättigung an Sauerstoff verlangt eine schnellere Atmung und kann erst nach einigen Wochen so ausgeglichen werden, dass man sich nach einem kleinen Anstieg nicht mehr ausgelaugt fühlt. Ganz anpassen können sich Menschen an die Höhe aber nicht. Humanökologisch kann Homo Sapiens selbst im höchsten Norden an Kälte sowie in entsprechenden Regionen an Hitze anpassen, Höhe hingegen ist nur begrenzt assimilierbar. Biologisch äußert sich das darin, dass in Städten wie Quito oder La Paz kleinere, weniger resistente Menschen leben, die Säuglingssterberate und die Lebenserwartung, unabhängig von der ökonomischen Situation des Landes, sind vergleichbar schlechter als andernorts auf dieser Welt.

    Für späte November-Tage herrscht hier dennoch kein Grund zur Trauer, ganz im Gegenteil, es ist selten, und dann auch nur nachts unter 10 Grad, und tagsüber obsiegt der gelbe Feuerball, so dass man sich sich bisweilen bei 35 Grad wähnt. Auf fröhliche Sonnentage kann sich hier aber niemand verlassen, so dass bei jedem Außer-Haus-Flug ein paar weitere Zwiebelschichten mitzuführen sind, denn kommen die Wolken, kommt die Frische.

    Die Augen der Menschen sind abgrundtief dunkel; kleine Sterne leuchten wie funkelnde Diamanten im Zentrum. Blauaugen gibt es nicht, nicht ein einziges Paar, dafür aber eine deutlich wahrnehmbare Vielfalt der hiesigen Population. Neben ursprünglich amerikanischen Völkern, den Indios (über die Hälfte in Ecuador)), finden sich die Mischlinge oder Mestizen (entstanden aus Mischbeischlafungen von Einwanderern und Ureinwohnern) und einem nicht zu unterschätzenden Anteil von Schwarzen, oder ganz korrekt: Farbigen, wobei dieser unsinnige Loyalismus hier, wo alles farbig ist, seine ganze Absurdität offenbart. Es ist nicht weiter verwunderlich und auch nicht eigens zu erwähnen, dass die Mestizen in allen ökonomischen und politischen Bereichen den Hauptteil der Macht innehaben. Bettelnde, Kranke, Arme - und davon gibt es hier in einer Stadt mehr als in ganz Mitteleuropa zusammen - sind Indios. Schwarze können sich wie überall nur in besonderen Kulturbereichen prädestinieren. So besteht die ecuadorianische Fußballnationalmannschaft fast nur aus Schwarzen.

    So weit weg von zu Hause, darf man sich dann endlich mal die Frage stellen, warum und wie die verschiedenen Menschentypen, die alle das gleiche Herz tragen, sich hier und dort vermischen, und flugs wird einem klar, dass Schwarze überall in der Welt deswegen eingebürgert sind, weil sie dort als Sklaven eingeführt worden waren. Auch wenn historisch klar, ist es, wird es einem bewusst, doch erschreckend.

    Als man im 17. Jahrhundert auch in Brasilien Gold entdeckte, sorgten die weißen Kolonialherren dafür, dass ein regelrechter Schwarm von Sklaven aus Westafrika in die entsprechenden Minen an der Ostküste Brasiliens verschleppt wurde. Dort kamen Millionen in den Minen um, eine entsprechende Durchschnittslebensdauer wurde mit vier Jahren kalkuliert. Das Einzige, was man ihnen zubilligte, war eine Taufe vor Betreten des Landes, verbot ihnen aber in den Kirchen sich auf die jeweiligen Bänke zu setzen, geschweige denn, sich einem Altar zu nähern.

    Nach der Entdeckung der Neuen Welt setzte das euphemistisch verbrämte „Handelsdreieck" ein, das von 1500 bis 1880 (oder bis wann wirklich?) Millionen Menschen aus Afrika in die fruchtbaren Zonen Lateinamerikas schaffte, um sie dort, weil besser ausbeutbar und körperlich kräftiger als die Indios, auf Plantagen schuften ließ. Zucker, Kaffee, Kakao und andere neu entdeckte Reichtümer sorgten dafür, dass ganze Regionen der Monokultur zum Raubbau fielen. Die Karibikinseln sind lebendes Beispiel.

    Noch heute lugen in der Amsterdamer Heerengracht Negerköpfe von einem der alten Häuser hervor, bis heute sichtbares Zeugnis des ausbeuterischen Geschäftsinns der Niederländer, einer der führenden Sklavenhändlernationen der frühen Neuzeit. Es ist eine unverkennbare Erinnerung an die Branche, die sie groß gemacht hatte. Sklavenarbeit und -handel bilden die dunkle, unbekanntere Seite des Goldenen Zeitalters. Die ethische Grundlage lieferte der Kalvinismus mit seiner rassisch durchwachsenen Prädestinationslehre. Aus den Negern müsse man die Lendenfäulnis herauspeitschen, denn der Herr im Himmel habe sie erschaffen, dass nur die Knechtschaft ihnen zum Heil gereiche, predigte der kalvinistische Theologe Johan Picardt. Die Lehre beinhaltet, dass Gott den einzelnen entweder zur Verdammnis oder zur Seligkeit vorbestimmt habe. Das Individuum habe darauf keinen Einfluß. Klar, dass die Sklavenhändler (fast) alle selig werden würden, denn die anderen hatten ja noch nicht mal den rechten Glauben.

    Wer heute in Ecuador Kaffee oder Kakao kauft, wird miesere Ware bekommen als in Mailand oder Brüssel. Das liegt an einem Logistik-Netz, das nach wie vor, von Europäern beherrscht wird, das zwar keine Sklaven, aber immerhin Hungerlöhnen engagiert, die diese Waren produzieren. Das ganze Zeug wird nach Europa geschifft, und der Abfall gelangt von dort dann wieder hierher.

    Diese extreme ökonomische Abhängigkeit ist überall in der Stadt spürbar. Stundenlöhne liegen bei rund ein bis zwei Dollar, also siebzig Eurocent! Ein Friseurbesuch schlägt mit einem Dollar zu Buche, in der Bäckerei kann man sich die Tüte mit vierzig Cent richtig vollladen, ein Mittagessen gibt’s für unter einem Euro. Viele fliegende Händler verkaufen scheinbar unnötiges Zeug wie Wäscheklammern, Räucherstäbchen, Bonbons und anderen Kram für wenige Cent auf der Straße. Diejenigen, die es, aus welchen Gründen auch immer, auf der Karriere- und Geldleiter nach oben geschafft haben, ziehen in echte Häuser und leben in von einer 24-Stunden-Seguriad (Nachbarschafts-Wachen) abgesicherten Vierteln. Die Häuser dort weisen zum Teil obskure Begrenzungen auf. Alle Zäune oder Gitter sind an ihrem oberen Ende mit aus metallenen Nägeln oder Spitzen versehen. Im Mittelalter hätte man gesagt, wer sich hier nähert, wird gepfählt. Besonders sympathisch ist die Idee, in den noch frischen Putz einer hochgezogene Mauer Glasscherbensplitter, sonst nur von Dorfdisko-Pöbeleien bekannt, einzuzementieren, so dass den interessierten Einbrecher eine Scherbenreihe erwartet, die schon gedanklich Aua verursacht.

    Wer Erich Fromms großartiges Buch Haben oder Sein gelesen hat, muss hier dennoch oder gerade deshalb ganz andere Maßstäbe ansetzen. Denn das Haben bedingt das Sein und philosophische Pseudo-Gutherzigkeiten interessieren im Kampf ums Dasein nicht; können sie auch nicht, wenn der Neunjährige die Schuhe putzt und die Lehrerin die zwei Dollar, die sie sich von Dir geliehen hat, erst zu Ende der Woche erstatten kann, weil es dann Lohn gibt.

    Die Schuhe übrigens müssen besonders blank sein, wenn der Besuch der Kirche ansteht. Das einzige Gold, was die Weißen den Indios gelassen haben, steckt in den unzähligen Kirchen dieser Metropole, eine bezaubernder, schöner, bunter, aufregender und vielfältiger als die andre. Für die Menschen hier ist die Religion unentbehrlich und wichtigster Bestandteil des sozialen Lebens. Mit 15 Mann auf dem gebraucht gekauften amerikanischen Pick-Up wird vorgefahren, eingetreten, die Kinder dürfen schreien, spielen, malen, die Musik kommt nicht von der Orgel und dem tonsierten Eunuchen, sondern schwungvoll von der selbstgespielten Gitarre oder vom CD-Spieler, im innigsten Gebet, klingelt das Handy, das nicht aus Scham abgestellt wird, sondern neben murmelnden Ritualsformen, bearbeitet wird. Die SMS im Ave Maria!

    Ein jeder kommt und geht, wann er will, ein kunterbuntes Durcheinander, herrlich! Wenn da nur nicht diese Anbetung des Leidens wäre ...

    Was auch immer sie tun, sie tun es hier ganz, mit einer Selbstvergessenheit, die an Magie grenzt, die Diamanten-Augen, egal ob beim Bodenputzen, Maisschälen, Verkehrregeln, Häuserbewachen, Tanzen, Fußballspielen oder Scherbeneinzementieren ist kraftvoll, lebendig und voller Daseinsenergie. Staunend kann man sich an diesen Augen, die sich ganz und gar der Tat hingeben, ergötzen, das schüchterne Lächeln, das nebenbei erhascht wird, als Geschenk würdigen.

    Komisch, dass so angeblich hochangesehen Persönlichkeiten wie Voltaire (dumme und faule Indianer), Bacon, Montesquieu, Bodin (degradierte Menschen) und Hegel (die körperliche und geistige Impotenz Amerikas ist Europa unterlegen) dieser magischen Kraft des Daseins die Adjudanz verweigerten, und das, obwohl doch Papst Paul III. 1537 offiziell bestätigte, die Indianer seien wirkliche Menschen.

    Ja wirklich?

    Neben mir schaffen es zwei junge Mädchen tatsächlich gleichzeitig, das Internet, ihre Handys, eine Zeitschrift und sich selbst per Konservation zu bedienen, so dass ich hocherfreut über die Auswirkungen der Globalisierung bin. Wir sind alle gleich:

    Herzlichkeiten und fliegende Besos:-)

    Tue, 20. Nov, 19:51:15

    Einen Orden für ...

    TERCERO HOLA!

    Heute verteilen wir einen Orden für ...

    die Ordnung! Und dieser Orden geht nach Deutschland, dem Land der korrekten Angaben, der minutiösen Ausgaben und der geradlinigen Vorgaben.

    Selbst angelsächsische oder skandinavische Länder können da nicht mithalten, was irgendwie auch daran liegt, dass die Baumaterialien leichter und damit anfälliger sind. Den bombastischen Beton, die akkurate Falz und die bündige Leiste, die existieren nur in Karlsruhe und Kassel.

    In Ecuador gibt es das, was auch in Tunesien, Thailand und Turkmenistan anzutreffen ist, nämlich ein Fünfe gerade sein lassen, ein Hauptsache Dach überm Kopf, ein Schulterzucken.

    Das äußert sich in zerstörten Straßen, aufgerissenen Gehwegen, verranzten Blechkarren und vor allen Dingen behelfsmäßigen Behausungen. Das Abklebeband zur akkuraten Malerarbeit kennt man hier nicht, es wird gepinselt, so weit das Auge reicht, und der ein oder andere Strich geht da gerne mal daneben. Fugen im Kachelwerk sind ja gut und schön, aber müssen die alle ordentlich gezogen sein? Und einen Boden legen, egal ob Estrich oder PVC, ist keine Angelegenheit fürs geometrische Raumverständnis sondern funktioniert wie ein Besuch auf dem Ort der Stille. Fallenlassen, abputzen, abziehen - fühlt sich gut an, muss aber nicht gut aussehen. Der Putz, der Mörtel, die Fassade, die hochgezogene Mauer, sie alle fristen hier ein fragmentarisches Dasein, hier fällt was runter, da guckt was raus, am liebsten Leitungen für Wasser, Strom und Gas. Kein Anblick für Ästhetiker, schon gar nicht für Silikon-Fanatiker, die mit der Kartusche in der Hand alles zudichten wollen.

    Sollte das jemand in Quito versuchen, er wäre bis ins Jahr 4287 beschäftigt und wurde doch nicht fertig, weil in der Zeit so viele neue, unfertige, das lethargische Loch in der Wand vorziehende Wohnungen gebaut würden, dass Kartuschen-Karlo nicht nachkäme und sich vor Gram suizidieren müsste.

    Welche Qualität hinter Ordnung und Sauberkeit, welche hinter Laisser-faire und Praktikabilität steht, kann sich jeder beim nächsten Anblick einer weißen, ordentlichen, fleckfreien Mauer selbst fragen.

    Dass Kartuschen-Karlo durch den massiven Zuwachs an Neuwohnungen zum Suizid gezwungen wird, liegt in erster Linie daran, dass Kinder hier so reichhaltig wachsen und gedeihen wie Äpfel in Tirol. Ein pfiffiger Spaziergang, gerne mit Pfeifliedern garniert, durch dieses oder jenes Viertel, beschert dem Betrachter mehr Schulen als in einer kompletten deutschen Gemeinde (samt Eingemeindeten). Da streunen und toben sie, lachen und spielen, bestückt mit ihren unterschiedlichsten, aber für ihr Colegio durchaus einheitlichen, Schuluniformen (gerne in Jogginghose - mir als Polen-Sympathisant überaus sympathisch diese Kleiderwahl) und sorgen für Bevölkerungswachstum, dass Mitteleuropa zur Zeit nicht mehr kennt.

    Die guten Kleinen sehen natürlich niedlich aus, weil sie ja gute kleine Kinder sind, und gute kleine Kinder überall niedlich aussehen - muss aber nicht unbedingt heißen, dass sie dadurch besonders brav oder umgänglich seien.

    Vielleicht bewirkt ja auch das Pausenbrot die ein oder andere Aufgedrehtheit, das in der Regel aus Chips, Kleinkuchen oder der Extraportion Milch besteht. Macht Zucker nervös und unruhig? Trifft auch hier der anthropologische Grundsatz zu, je ärmer die Bevölkerung, desto ungesünder die Ernährung, desto weniger bewusst das medizinische Selbstverständnis?

    Jawoll, der Grundsatz tut es, mit Hola und Hallodrio. Verhältnismäßig viele dicke Menschen, vor allen Dingen Frauen (auch dies eine anthropologische Konstante, als wohlgeformte Herd- und Heimhüterin noch mehr der unbewussten Schlemmerei zugetan), dazu eine offensichtliche Art von Fettleibigkeit (aber deutlich geschmeidiger als hüben unter den metallenen Skylines Europas und der USA) trotz Armut und dem ungezählten Straßenverkauf und Bestellen von einem Bier in der Kneipe für einen Dollar, mit nem Fünf-Dollar-Schein zahlen und eine Viertelstunde aufs Rückgeld warten, weil der Barkeeper, erst die ganze Straße nach so viel (!) Wechselgeld abklappern muss.

    Zurück zur Schule: Nestle, die freundliche Schweizer Firma,, die uns auch in Mitteleuropa mit kerngesunden Flocken nährt, und gleichfalls für solcherart Ideen zuständig ist, Milch, Hafer und ein bisschen Honig in den Kühlschrank zu stellen (oii, herauskommt ein Riegel direkt aus Mutter Naturs Busen!), wirbt hier auf einem Monster-Riegel von Zucker und Fett, dem fantastischen Galak (weiße Schokolade mit Smarties! muy dulce!) folgendermaßen: Lo Divertido de comer la leche - das heißt so viel wie, die Freude am Essen von Milch.

    Danke Nestle, für diese Sonderportion Freude, auf dass wir die Welt verstehen und uns selbst etwas Gutes tun. Und wieder einmal ein Zeichen von globalisierter Gleichheit aller menschlicher Herzen. Ich denke mit Lächeln an Milchschnitte, Anke Hubers Zähne und die Weisheit der Weißheit.

    Unvergesslich übrigens das Interview von Erwin Wagenhofer mit Nestle-Chef Peter Brabeck im Film We feed the World. Der Konzern versuchte vergeblich, das Interview im Film zu verhindern, aber der Regisseur hatte sich vorher rechtlich gut abgesichert. Wagenhofer: Meine Hypothese war, wenn ich ihn lang genug sprechen lasse, kommt irgendwann der Punkt, wo er das sagt, was er als Mensch auch wirklich denkt. Und was er wirklich denkt, das kann sich jeder denken, der schon mal Managergehirne hat denken spüren.

    Für diejenigen Naschkatzen, die mal wieder richtig heiß gemacht worden sind: Bei Lidl gibt’s das teutonische Gegenstück, Weiße mit Smarties im 200-Gramm-Bomben-Pack und dazu frisch geputzte Böden und saubere Leitungen ...

    Noch was zur Lage der Nation:

    Heute ist´s schon wieder so heiß, der Himmel blau (mit den üblichen Wolkenbändern), und die ganze Stadt wird aufgrund der fehlenden Regentristesse sichtbar umringt von schönen, großen Bergen, die mit Irlands Grün, Urwalds Bäumen und Colorados Gebirgsstruktur so aussehen, als dass ich nicht anders kann, als versessen draufzustarren und mich per Traum auf eine kleine Reise dorthin zu begeben. Das grünste Grün am seidigsten Berghang zu kosten und wie ein Schaf herunterzupurzeln, trollend, lachend ...

    Ja. per Traum. Spazierengehen funktioniert hier nicht, es sei denn, man möchte eine Stunde durch Abgase laufen, um dann vor einem Zaun zu stehen, der die grünbergigen Wunderwälder flankiert.

    Immerhin, Man hört, am Wochenende

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