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Geschlossene Gesellschaft
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eBook169 Seiten2 Stunden

Geschlossene Gesellschaft

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Über dieses E-Book

Nur scheinbar folgen die zwischen Realität und Traum oszillierenden Aufzeichnungen ihrer äußeren Chronologie, beginnend im November 2020 in Wien, sogleich nämlich emanzipiert sich der Text, führt zu einer tieferen Ebene in ein fantastisches Uhrwerk, dessen Zeiger stillstehen: Wir folgen der Erzählerin auf Spaziergänge im menschenleeren Prater und flanieren durch die nächtliche, gesperrte Stadt, genaue Beobachtungen wechseln sich ab mit kleinen scharfen Sequenzen und lyrischen Passagen. In welchem Paradies lebten wir – aus heutiger Perspektive betrachtet – und was wird im Sommer sein?
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum26. Aug. 2021
ISBN9783627023027
Geschlossene Gesellschaft

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    Buchvorschau

    Geschlossene Gesellschaft - Verena Stauffer

    Coverabbildung

    »Ich lebe in diesem Text, treibe von Zeile zu Zeile, spiele tote Frau. Nur hier in diesem Meer kann ich schwimmen, doch jetzt friert es von allen Seiten zu.«

    Die zwischen Realität und Traum oszillierenden Aufzeichnungen Verena Stauffers beginnen im November 2020 in Wien, doch folgen sie nur scheinbar ihrer äußeren Chronologie. Immer mehr emanzipiert sich der Text, führt zu einer tieferen Ebene in ein fantastisches Uhrwerk, dessen Zeiger stillstehen: Wir begleiten die Erzählerin auf Spaziergänge durch den menschenleeren Prater und flanieren mit ihr durch die nächtliche, gesperrte Stadt, genaue Beobachtungen wechseln sich ab mit kleinen scharfen Sequenzen und lyrischen Passagen. In welchem Paradies lebten wir aus heutiger Perspektive betrachtet, und was wird im Sommer sein?

    Witzig und frech, traurig und tröstend zugleich offenbart Verena Stauffer in ihren Aufzeichnungen ein Ich als Zentrum in einer Zeit, in der die Sehnsucht nach Berührung wächst. Ein Protokoll des »Wahnsinns, der jetzt all die Fehler in der gesamten Anlage der Gesellschaft offenbar macht« und ein Zeugnis, wie Poesie und Fantasie retten können.

    Verena Stauffer

    Geschlossene Gesellschaft

    Verlagslogo

    Inhalt

    7. November 2020

    14. November 2020

    15. November 2020

    16. November 2020

    17. November 2020

    18. November 2020

    19. November 2020

    20. November 2020

    21. November 2020

    22. November 2020

    25. November 2020

    26. November 2020

    1. Dezember 2020

    2. Dezember 2020

    4. Dezember 2020

    11. Dezember 2020

    12. Dezember 2020

    13. Dezember 2020

    17. Dezember 2020

    18. Dezember 2020

    19. Dezember 2020

    27. Dezember 2020

    31. Dezember 2020

    1. Januar 2021

    2. Januar 2021

    3. Januar 2021

    5. Januar 2021

    6. Januar 2021

    9. Januar 2021

    10. Januar 2021

    11. Januar 2021

    16. Januar 2021

    17. Januar 2021

    19. Januar 2021

    20. Januar 2021

    24. Januar 2021

    29. Januar 2021

    30. Januar 2021

    31. Januar 2021

    2. Februar 2021

    3. Februar 2021

    5. Februar 2021

    6. Februar 2021

    7. Februar 2021

    8. Februar 2021

    12. Februar 2021

    13. Februar 2021

    14. Februar 2021

    15. Februar 2021

    17. Februar 2021

    19. Februar 2021

    20. Februar 2021

    21. Februar 2021

    26. Februar 2021

    27. Februar 2021

    28. Februar 2021

    7. November 2020

    Gerade wohne ich in Wien-Ottakring, in der Wohnung eines Oberösterreichers namens F, der nach Kolumbien ausgewandert ist und eine dauerhafte Nachmieterin für seine hübsche, wie er selbst sagt, Maisonette sucht. Ich selbst bin nur übergangsweise hier, da ich ein für mich günstigeres Apartment gefunden habe, das ich bald beziehen werde.

    F schickt mir oft Fotos von seinem Haus in Santa Marta, von seinem Garten voll verschlungener Brotnussbäume, Kokospalmen, Fettkräuter, Maiblumen und Sonnentau. Von Kapuzineraffen, Kreischeulen, apfelgrünen Vögeln und Kindern, die auf dem feuchten Erdboden auf Blättern kollern und mit schwarzen Augen in die Baumkronen blicken, ganz verträumt, ohne Scham und Sorge.

    Obwohl wir uns nicht kennen, schreibt F mir immer wieder, wir fühlen uns ein wenig verbunden, vermutlich weil ich in seiner Wohnung lebe, die noch voll mit seinen Sachen ist. Er erzählt mir, dass er in Kolumbien eigentlich ein Hotel bauen wollte, nun wird es nur ein Kiosk, denn es sei beschwerlich, die Baumaterialien müssten mit Eseln einen Hügel hinauftransportiert werden, und ich komme nicht umhin, an Werner Herzogs Film Fitzcarraldo oder auch an Schlingensief mit seinem Operndorf in Afrika zu denken. Auch F ist Musiker und Regisseur.

    Hier in Ottakring ist es ganz anders als bei dir, schreibe ich ihm, sei froh, dass du bist, wo du bist, und nicht hier, denn alle fünf Minuten heulen Sirenen der Polizei- oder Rettungswagen auf, sie rasen vorbei, ins nahegelegene Spital. In der Umgebung wurde ein radikal-islamistischer Verein aufgelöst, schreibe ich weiter, in dem sich der Terrorist vom 2. November und auch andere Terrorverdächtige regelmäßig aufgehalten hatten. An jenem Tag hörte das Heulen gar nicht auf. Im Wilhelminenspital verstarb ein Opfer des Anschlags. Zusätzlich werden viele Coronapatienten dahin gebracht, glaube ich. Nachts ist es aber recht still, und heute, Sonntag, auch.

    Ich bin in Österreich, lebe in Wien, es ist Terror und es ist Lockdown light, während F in Kolumbien in eine Passionsfrucht beißt, das bittersüße Gelee lässt ihn seinen Mund verziehen, stelle ich mir vor, ehe er schelmisch grinst.

    Die Wohnung hier in Ottakring hat bis auf eine große Terrassentür nur Dachfenster, und oft sitze ich und schaue in den Himmel. Kürzlich war so ein heller Vollmond, der meinen Körper im Bett strahlen ließ, so als wäre ich selbst der Mond und der eigentliche Mond eine weiße Sonne. Da war auch ein Satellit, der den Himmel entlang zog, doch dann blieb dieser mit einem Mal stehen, ich kam zu dem Schluss, dass es sich wohl um einen Stern handeln müsse. Wie wohl Mond und Sterne in Kolumbien aussehen? Ob Fs Haus da auch solche Dachfenster hat und er nachts in den Himmel starrt?

    Neulich habe ich mit ihm videotelefoniert, weil er mir zeigen wollte, wie ich in seiner Wohnung den Wasserdruck der Therme erhöhen kann, was ich auch erfolgreich erledigte. Ich trug einen dicken, grau melierten Strickpullover, er saß mit nacktem Oberkörper auf seiner Terrasse in Sierra Nevada de Santa Marta. Er fragte mich, ob es denn in Wien schon sehr kalt sei, ich sagte, es sei nicht sehr kalt, aber frisch, er meinte dann, er vermisse den Schnee.

    Gestern sagte ich ihm, dass ich wider Erwarten immer noch in seiner Wohnung sei, weil ich für meine neue Wohnung, in die ich schon bald langfristig übersiedeln werde, eine Matratze bestellt habe, diese aber nicht ankäme. Weder sei sie in die neue Wohnung geliefert worden, noch hat sie, obwohl ihre Retoursendung via Sendungsverfolgung nachzuweisen ist, nach Tagen wieder das Lager des Möbelhauses erreicht. Ich muss in einen Schildbürgerstreich verwickelt sein, sagte ich. Mittlerweile habe ich den Kauf der Matratze storniert und sie erneut bestellt, jedoch wurde das neue Modell bisher nicht der Post übergeben. Er fragte mich daraufhin, ob ich seine Frau und ihn nicht einmal in Kolumbien besuchen wolle, auch er habe hier schon viele Schildbürgerstreiche erlebt. Gerade sei er bei einer Familie der Arhuaco, einem indigenen Volk in Kolumbien – er schrieb »Indianer« –, zum Essen eingeladen und es sei völlig irre, inmitten des Regenwalds meine Sprachnachricht aus Wien zu hören.

    14. November 2020

    Rückblick: Moskau verließ ich nach Aufruf zur Heimkehr von Schallenberg im März. Mein liebstes Buch, ein großer Essayband von Montaigne, mein Feuerkleid und auch mein Fellmantel blieben zurück. Zurück ließ ich auch mein Rosenknospen-Ei, ein transluzid rotes und opak goldenes Fabergé-Ei, das auf meinem Moskauer Schreibtisch, neben Montaigne, auf schimmerndem Fuß thronte und glitzerte. Je mehr Zeit vergeht, desto stärker wird das Verlangen, zu diesen Dingen zurückzukehren.

    Eingelebt hatte ich mich nach sechs Monaten in der russischen Metropole noch nicht. Moskau ist größer als New York, und ich mag nicht behaupten, die Stadt zu kennen. Aber fühle ich mich ihr verbunden, auch wenn sie zugleich meine Möglichkeiten, sie zu erfassen, übersteigt, es gibt Dinge dort, die ich auf Anhieb verstehe und andere, die ich nicht verstehen kann, wie das Gefühl, in China zu sein oder umgekehrt in einem futuristischen, dennoch abgewrackten Spaceland. Das Grau, die Rauheit und Brutalität, die mir entgegengebracht wurde, verdrängte ich, und irgendetwas in mir verband sich mit einer fehlgeleiteten Romantik, denn ich bin so dumm und idealisiere das einfache Leben für den Staat, die Gleichmütigkeit der Gesichter in der U-Bahn, deren Wagons eisern rattern, als führe man mit Hochgeschwindigkeit direkt in das Werk eines tiefliegenden Bergstollens. Jeden Abend schlief ich ein, und noch ehe ich erwachte, war die Stadt erwacht. In Berlin war das umgekehrt, und Wien liegt genau dazwischen.

    Das knusprige Brot mit Korianderkruste, das süßsaure Beerenkompott als Limonade, die Syrniki, Piroschki und Wareniki, das alles waren Licht- und Anknüpfpunkte, die den Tisch mit Wärme füllten. Der Bauernmarkt im Außenbezirk bildete tausend Plateaus, nicht Moskau ist Russland, dachte ich, sondern dieser Ort als ein Wald aus gestapelten Pilzen, Honig in Waben, Nüssen, Beeren, fetten Fischen, weißem Fett und Fellen, Mandarinen und Bergen an Melonen, er stand für den Staat ein. Als orale Impfung verkaufte mir eine Bäuerin Honig gegen das Virus. Ich schleckte einen ganzen Topf aus und knabberte dabei getrocknetes Bärenfleisch. Ich aß Schokoladensalami und trank Schnaps aus Zapfen, und wenn er mir angeboten würde, dann ließe ich mir auch den russischen Impfstoff in die Venen jagen.

    Nun schwebt Moskau mir nur mehr vor. Einzelschicksale versinken in dieser Stadt wie eine Prise Salz im Schnee und bleiben doch unvergessen, das macht die Gemeinschaft, die nicht gespalten ist. In der Uniformität liegt die Schönheit der Gerechtigkeit als Maske obenauf. Diese möchte ich tragen, so dumm bin ich.

    Einmal hatte ich das Gefühl, in einer Schneekugel zu stehen, ich sah nicht mehr, wo oben und unten war, die Kristalle wirbelten in alle Richtungen. Ich stand mitten auf der Straße, konnte weder wegsehen noch weitergehen. Die Zeit verwirbelte mich, und plötzlich existierte ich nicht mehr, ich hatte mich aufgelöst, die Flocken und die Größe ihrer gemeinsamen Ausdehnung, die fremden Worte und die Weite des Lands hatten mich wie ein Stäubchen verschluckt. Deshalb ist es gut, vorerst wieder zurück zu sein. Nun lebe ich in Wien. Und ich lebe in Wien, wie ich nie zuvor in Wien gelebt habe. Das Nicht-ausreisen-Können hat mich in die Stadt eintauchen lassen, bis in die Donau.

    15. November 2020

    Meine Zeit in Fs Wohnung ist nun auch abgelaufen, ich schrieb auf, dass ich fortwolle, auch ohne Bett, mit oder ohne Matratze, ich wolle nun meine vier Wände beziehen, raus aus seiner Welt, seinen Utensilien, Sammelsurien, die seine Geschichte verdeutlichten und meine auf ein Neues verwischten. Doch was eignete sich als Ersatz, um mich soft zu betten? Wie sollte ich schlafen? Ich könnte Zeitungen entfalten, knittrige Magazine stapeln, doch das wäre zu knarzig, spießig wie auf Toilettenpapier. Zudem die Artikel, die ich lesen müsste, sobald ich zu Bett ginge, was mich eines jeden Schlafs berauben würde. Sollte ich das Möbelhaus Piringer kontaktieren? Mit einem Mal seufzte ich schwer, ließ mich in meinen Sessel sacken. So eine Matratze aus virtuellen Buchstabenblumen, so ein Datenbett, ich weiß nicht, dachte ich, ob das etwas taugt? Bestimmt wäre es auch völlig überteuert.

    Da fiel mir etwas ein. Schnell lief ich zu einer Kaffeerösterei, fragte, ob ich Jutesäcke haben könne, die größten und festesten. Es gab sie nur mit Kaffee gefüllt, egal, ich trinke die Brühe ohnehin literweise, die Bohnen würde ich einfach in die Badewanne schütten. Da

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