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Vom Winseln der Hunde
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eBook238 Seiten3 Stunden

Vom Winseln der Hunde

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Über dieses E-Book

Eine kleine Mundharmonika, „Zigeunerbaron", alt, rostig, die von 1914 bis 2014 quer durch Europa wandert, und zwei Menschen – Kurt und Seka –, die jahrelang auf der Suche eben nach dieser Mundharmonika sind, stehen im Mittelpunkt dieser Geschichte. Doch auch wenn sich das fast romantisch anhört, Vom Winseln der Hunde ist ein Kriegsroman, der in der Geschichte einer rostigen Mundharmonika die Geschichte eines ganzen kriegerischen Jahrhunderts bündelt: Kurt hat in der Hinterlassenschaft seiner Mutter, einer 1944 aus dem Banat vertriebenen Deutschen, ein Foto gefunden, das ihn vermuten lässt, dass sein richtiger Vater womöglich ein jugoslawischer Partisan sein könnte. Obwohl er von diesem Partisanen nichts weiß – außer dass er mal eine Mundharmonika besaß –, hofft er trotzdem eine Spur von ihm irgendwo finden zu können. In Sarajevo lernt er Seka kennen und die gemeinsame Suche nach der Mundharmonika beginnt. Sarajevo, Belgrad, Zagreb, Wien, Szeged, Kikinda, Hof … Bald finden sie auch das erste Dokument, in dem die Mundharmonika erwähnt wird. Es scheint alles möglich zu sein. Auch, dass sie den Partisanen tatsächlich finden. Doch wir schreiben das Jahr 1992 und Bosnien ist gerade dabei, im Chaos des Bürgerkrieges zu versinken…

Der Roman basiert auf wahren Kriegsbegebenheiten. Einige davon hat der Autor im belagerten Sarajevo selbst erlebt und festgehalten.
SpracheDeutsch
HerausgeberWieser Verlag
Erscheinungsdatum10. Jan. 2017
ISBN9783990470602
Vom Winseln der Hunde

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    Buchvorschau

    Vom Winseln der Hunde - Milenko Goranović

    Glossar

    I.

    DIE WELT IST VOLLER ZAUBER, UND ALLES IST MÖGLICH.

    1.

    Als noch alles gut war. Oder: Das letzte Foto von Kurt und Seka. Die beiden neben ihrem Boot. Lumbarda, Kroatien, August 2008

    Ich kann mich noch immer ganz genau an den Tag erinnern als Kurt und Seka auf die dumme Idee kamen nach Syrien zu reisen. Ich wusste sofort, sie kommen nie wieder zurück. Allein: Sie haben mir davon nie etwas erzählt, ich wusste weder wo sie waren noch was sie vorhaben, ich war in Berlin, sie in Somalia, monatelang davor haben wir uns auch nicht gesehen, in der Zeit haben wir nicht einmal telefoniert, wie hätte ich es also wissen können; an dem Tag habe ich nicht mal an sie gedacht. Ich wollte nur Brötchen holen.

    Es war ein schöner Herbsttag, voller Licht, mild, klar, die Straße war voller Menschen, an solchen Tagen muss man eben raus, alles war gut. Noch. Aber dann hörte ich zufällig im Vorbeigehen, jemand lachte auf, eine unbekannte Frau, doch nicht leise, nicht nur für sich, sondern so wie es Seka immer tat, so laut, so herzlich, so ansteckend, aus dem Bauch, aus der Seele, und alle lachten dann auch mit, die ganze Straße, nur ich nicht, ich wusste sofort, etwas ist geschehen, ich werde meine Schwester Seka nie wiedersehen.

    Natürlich, dass ich mir zunächst nicht glauben wollte, das sei nur mein schlechtes Gewissen, oder Ängste, oder Gefühle, Befürchtungen, alles, nur eben kein Wissen, so was kann man gar nicht wissen, doch es kam, wie es kam, ich habe mich nicht geirrt. Was ich aber damals nicht wusste und nicht wissen konnte, ist, dass mich die Geschichte von Kurt und Seka auch so viele Jahre danach verfolgen würde.

    »Es gibt Geschichten, die einem keine Ruhe geben wollen«, hatte Kurt gesagt, als er das erste Mal nach Sarajevo kam, »Geschichten, die einen immer verfolgen, die immer wieder kommen, egal was man macht.« Damals habe ich ihm nicht geglaubt, jetzt kann ich das nur bestätigen. Aber auch jetzt weiß ich nicht, warum es so ist.

    Alles hatte wieder mal mit einem Streit zwischen mir und Seka begonnen. Der lag Monate zurück. Ich hatte mich wahnsinnig über sie geärgert, wie immer nicht grundlos, aber ich war zu laut, fast gehässig, hatte ihr auch das gesagt, was ich gar nicht so meinte, sie war beleidigt, wollte nicht mehr mit mir reden, ich hörte ewig nichts von ihr, und als ich schon dachte, das wird nie wieder was, erhielt ich im Sommer 2008 ein kleines Foto. Kein richtiges Foto, nur ein Selfie, das sie wohl mit ihrem Handy aufgenommen hatte: Kurt und Seka stehen neben der »Jadranka«, und lachen. »Jadranka« so hieß ihr Boot, eine alte löchrige Nussschale, kein richtiges Boot, nur eine Kulisse für ihre Filme; man hätte sich damit gar nicht aufs Wasser wagen dürfen. Aber sie stehen da und lachen wie zwei waghalsige Piraten. Habe ich mich gefreut! Ein klares Zeichen, dass meine Strafe vergeben und Seka nicht mehr beleidigt war, oder fast nicht mehr, denn es gab keinen Text zu diesem Foto. Einfach zwei lachende Köpfe und die »Jadranka« im Hintergrund. Wie schön, dachte ich. Drei Monate später, im Dezember 2008, ein Anruf aus Stuttgart. Kurt und Seka sind zurück, wieder im Lande, dachte ich, wer denn sonst sollte mich aus Stuttgart anrufen? Doch es war eine Immobilienfirma: Sollten die Mietrückstände für die Wohnung in der Heusteigstraße nicht innerhalb der nächsten 7 Tage beglichen sein, würde man die Sachen von Kurt und Seka versteigern und den Rest auf die Straße werfen, sowie weitere rechtliche Schritte unternehmen.

    Was das mit mir in Berlin zu tun hätte, wollte ich wissen. Die Antwort hatte es in sich: Immer wieder habe man versucht, die beiden zu erreichen, vergeblich, sie hätten sich bis heute nicht zurückgemeldet, auf Mahnungen nicht reagiert; jetzt sei Schluss, alles müsse sofort bezahlt werden. Das solle ich bitte Kurt und Seka ausrichten, sonst würde alles versteigert, um die Mietrückstände und Versäumniszinsen für 3 Monate zu kompensieren. Ein neues Schloss sei bereits angebracht.

    Ich rief sie dann tatsächlich an, einmal, zweimal, immer wieder, nichts, Kurt und Seka waren nicht zu erreichen. Im Zug nach Stuttgart hoffte ich noch, dass sich in ihren Sachen vielleicht ein Hinweis finden ließe… Doch die Immobilienverwaltung blieb hart: Nichts dürfe ich anrühren, schon gar nicht die Kiste mit den Papieren und den Fotos, auch nicht die Straßenkarten aus der jugoslawischen Zeit, bevor nicht alles bezahlt wäre. Also habe ich bezahlt. Doch damit war die Geschichte nicht vorbei, auch später nicht, jahrelang nicht, sie kam immer wieder, ließ sich nicht abschütteln, und so bin ich heute Abend hier.

    2.

    Ein Partisan mit einer Mundharmonika. Oder: Seka, Kurt, Sarajevo, Anfang April 1991

    Damals lag meine Schwester im Koševo Krankenhaus. Hoffnungslos, hatten die Ärzte gesagt, kein Medikament könne noch etwas bei ihr bewirken, nur palliativ, vielleicht, aber keine ernsthafte Chance mehr, aus, Ende.

    Seka war mit einer unheilbaren Blutkrankheit zur Welt gekommen, doch anstatt irgendeinen sinnvollen Beruf zu wählen, hatte sie angefangen, zu schreiben. Zu allem Unglück war sie unheimlich begabt. Wie sie mit Wörtern jonglieren konnte, wirklich jonglieren, da konnte ihr kein Artist, kein Feuerschlucker auch nur das Wasser reichen. Genau das aber war ihr Problem. Sie nahm ihr Schreiben zu ernst. Für sie stand das Wort wahrlich am Anfang und am Ende, und das ausgerechnet in Bosnien, wo jeder Straßenverkäufer besser lebt als ein Dichter. Wenn sie sah, wie wenig sie mit ihrem Wort ausrichten konnte, wollte sie nur noch sterben, wirklich sterben, war wochenlang mehr tot als lebendig. Nach jeder Veröffentlichung hatte ich richtig Angst um sie.

    Eine Zeit lang ließ sie das Schreiben sogar sein, begann, als Dolmetscherin zu arbeiten, denn Sprachen lernte sie wie im Flug. Doch nicht zu schreiben war noch schlimmer als zu schreiben. Am Ende wog sie gerade noch 40 Kilo, konnte kaum mehr gehen, die Ärzte wussten sich keinen Rat und verlegten sie in ein Krankenzimmer ganz nah am Krematorium. Das war im März 1991. Zwei oder drei Wochen später wollte ich sie besuchen mit einem riesengroßen Blumenstrauß. Eine nette Geste kurz vorm Ende kann nicht verkehrt sein, dachte ich. Doch als ich ins Krankenhaus kam, staunte ich nicht schlecht: Meiner Schwester ging es unglaublich gut, sie lag gar nicht im Bett, sondern saß in einer Ecke an einem Tischchen. Ich sah nur ihr struppiges Strohhaar. Sie schrieb. Du schreibst wieder?

    »Wenn ich schon sterben muss, mache ich daraus wenigstens eine schöne Geschichte. Oder zwei. Oder drei. Oder tausend und drei, wie eine Scheherezade. So schnell wirst du mich nicht los«, lachte sie. Ein Witz à la Seka. Ich wusste nicht recht, ob ich mich freuen durfte. Ich wusste doch, wie das immer bei ihr endete. Zuerst alles gut und dann nur noch sterben.

    Diesmal nicht, sagte sie überzeugt. Sie hätte jetzt eine Liebesgeschichte in den Fingern, zwischen einem jugoslawischen Partisanen und einer deutschen Frau, wunderschön. Und vor allem – wahr. Sie hätte einen Filmemacher aus Deutschland kennengelernt, und gemeinsam wollten sie einen Dokumentarfilm darüber drehen. Allerdings müssten sie ihn erst finden, diesen Partisanen, von dem sie nicht mal den Namen kannten. Aber eine schöne Geschichte. Na, da könnt ihr lange suchen, meinte ich, doch Seka winkte lächelnd ab, ich sei ein alter Schwarzseher, sie würde mir schon zeigen, dass alles möglich ist wenn man es nur richtig will. Ihre großen grauen Augen wirkten noch größer als sonst, und überhaupt, meine ganze kleine, kranke Schwester war auf einmal groß. »Bist du verliebt?«, fragte ich. Seka schwieg, schrieb weiter, auch eine Antwort. »Wie heißt er?« »Kurt«, sagte Seka.

    »So unmöglich ist das gar nicht, wir wissen zwar nicht, wie der Partisan heißt, aber wir wissen, dass er aus Sarajevo stammt und dass er eine Mundharmonika besaß.«

    – »Was?«

    »Eine Mundharmonika, und er trug einen blauen Anzug.«

    – »Meinst du das ernst?!«

    »Ja, ja, das ist doch eine Menge, oder? Was sagst du jetzt?«

    Was sollte ich dazu sagen? Eine Woche lang durchforsteten Seka und ihr Kurt ein Archiv nach dem anderen, dann reiste Kurt ab. Vom Partisanen keine Spur. Wie auch? Doch Seka war Seka, die schnöde Realität konnte ihr einfach nichts anhaben. Ich solle nur den Mai abwarten, bis Kurt wieder nach Sarajevo käme, bis auch ihre neue Geschichte fertig wäre…Im Mai war Kurt tatsächlich da, er war begeistert von Sekas Geschichte, kein Wunder, das war ihr Thema, die Liebe und die Grenzen und die Menschen, die diese Grenzen nicht beachten, alles war gut, sie begannen wieder zu suchen, und sie fanden wieder nichts, kein Partisan, also reiste Kurt wieder ab.

    Ende Juni war der Krieg schon da, vielleicht war er auch nie weg gewesen. Alle machten sich Gedanken darüber, nur meine Schwester dachte an nichts anders, als an ihre schöne Geschichte. Sie hat alles, die ganze Geschichte noch einmal geschrieben, noch besser, noch schöner. Kurt kam wieder, zum dritten Mal, und sie stellte ihn mir endlich vor. Schlaksig, ein netter Kerl, der oft blinzelte, wie die meisten Kurzsichtigen, ein bisschen verlegen. Die Geschichte hätte ihm sein Leben lang schon keine Ruhe gegeben, hat er gesagt, deswegen ist er nach Sarajevo gekommen. Ich schwieg. Warum gräbt so ein Journalist, oder Kriegsfotograf, vielleicht auch Filmemacher, jedenfalls nicht so recht einzuordnen, eine alte Liebesgeschichte aus dem Zweiten Weltkrieg aus, ausgerechnet jetzt, ausgerechnet in Sarajevo? Was hatte ihn überhaupt nach Sarajevo geführt?

    Seka kümmerte sich nicht um solche Fragen, hatte das nie getan, ihr reichte ein einziger Blick, um ja oder nein zu sagen. Bei Kurt hatte sie sofort ja gesagt.

    3.

    Ein Mann in einem blauen Anzug. Oder: Ludwigsburg-Eglosheim 1963

    Es muss am 10. Juni 1963, gewesen sein – ich habe im alten Kalender nachgeschaut,- also Pfingstsonntag, als Kurt, damals ein mageres Kerlchen in kurzen Hosen, in die Straße, in der sie wohnten, einbog und wie immer zuerst einen Blick durch den halb zugezogenen Vorhang warf. Er blieb auf der Stelle stehen, atemlos, er sah ein Wunder: Er hatte sich immer gewünscht, dass sein Vater einmal nicht mehr nach Hause käme, dass er sterben, dass es ihn einfach nicht mehr geben sollte, und siehe da, sein Wunsch war in Erfüllung gegangen! Und damit nicht genug, auch der große Bruder seiner Mutter war da!

    Jedenfalls stand neben seiner Mutter ein unbekannter Mann im blauen Anzug mit einer großen Brille und sah genauso aus wie ein großer Bruder aussehen muss, oder wie ein Vater, den man lieben konnte.

    Solche Wunschträume, wie die vom großen Bruder seiner Mutter, oder die vom Tod seines Vaters gingen ihm oft durch den Kopf.

    Wenn sein Vater zu Hause war, – er arbeitete in Böblingen am Flughafen, kam also nur sonntags und feiertags –, war seine Mutter gar nicht seine Mutter, sondern ein graues Ding, das in der Küche schwieg. Sonst war sie schön, sie war lieb, verspielt und verschmust, sie strahlte, sie sang, konnte zaubern, erzählen, ließ manchmal mit tutuut Rauchringe aufsteigen, als wäre sie ein blauweißes Schiff, doch sobald sein Vater nach Hause kam, war alles vorbei, war seine Mutter nur noch ein Schatten ihrer selbst, stand in der Küche und schwieg. Einmal hatte sie ihm gesagt, dass jeder früher oder später mal vor einer Mauer steht, die man nicht überwinden kann, vor der man in die Knie gehen muss, aber Kurt hatte ihr sofort geantwortet, oh, nein, er werde nie vor einer Mauer in die Knie gehen, denn er wusste ganz genau, wen sie mit der Mauer gemeint hatte.

    Wenn Heribert nach Hause kam, ging Kurt nicht zur Mutter in die Küche, er schaute trotzig zu, wie seine Mutter schweigend das Essen für Heribert auf den Tisch stellte, wie Heribert aß, sich dann mit der Zeitung hinlegte, lange an die Decke starrte, bis er merkte, dass Kurt ihn die ganze Zeit scharf beobachtete. »Was gibt es zu glotzen«, fragte Heribert, und rief in die Richtung, wo seine Mutter die Teller abspülte: »Dein Kind ist nicht normal«. Aus der Küche kam keine Antwort. Natürlich nicht. Aber Kurt wusste, dass die Mutter alles gehört hatte, aus dem kleinen Fenster in der Küche irgendwohin starrte, in die Ferne. Also phantasierte Kurt, wenn er sich sonntags an seinem Lieblingsplatz auf der Enteninsel versteckte, von einem besseren Leben: Seine Mutter und er würden nicht mehr lange in Eglosheim bleiben, müssten nur noch auf einen Bruder der Mutter warten, um gemeinsam nach Amerika auszuwandern, denn Heribert wäre sowieso nicht sein richtiger Vater…

    Und an diesem Pfingstsonntag 1963 sah Kurt durch die Küchengardine – alle seine Wünsche in Erfüllung gegangen. Sein Vater war nicht da, und neben seiner Mutter stand ein unbekannter Mann: Ihr großer Bruder, wer denn sonst! Beide weinten, wie das Erwachsene tun, wenn sie jemandem begegnen, den sie lange vermisst haben, und dann zeigte die Mutter dem Unbekannten sogar die Blechdose, die immer oben auf der Kredenz stand. Wegen dieser Dose, – eigentlich ein Feldgeschirr –, hatte seine Mutter dem Vater einmal fast die Augen ausgekratzt. Heribert wollte das russische Ding nicht mehr in seinem Haus dulden, wollte es raus schmeißen. Doch da sprang die Mutter, dies kleine Wesen, den großen Heribert wie eine Katze an, bohrte ihm ihre Daumen in die Augen: »Du, Dreckskerl, du, die bleibt hier! Die! Bleibt! Hier! Das ist meine, das ist meine, und die bleibt bei mir. Solange ich lebe, hast du gehört, solange ich lebe.«

    Kurt hatte seine Mutter noch nie so gesehen, nie so fauchen gehört, weder so laut noch so schrill. Die Dose krachte auf den Boden, und Heribert wiederholte nur jämmerlich, klein und verängstigt: »Bist du wahnsinnig, bist du wahnsinnig?! Lass mich doch los, du, Frau, du, Mensch, Ogottogott!« Erst als die Dose wieder oben auf der Kredenz stand, gab sich die Mutter zufrieden. Kratzt man jemandem die Augen aus für Dinge, die keine Bedeutung haben? O nein, in dem Ding, in dieser leeren Blechdose, musste ein Geheimnis stecken. Und jetzt schauten seine Mutter und der Unbekannte gemeinsam hinein, als wäre sie ein Guckkasten, in dem man die Zukunft sehen könnte. Oder die Vergangenheit. Seine Mutter strahlte, mehr noch, sie leuchtete, weinte, redete, lachte…

    »Die Welt ist voller Wunder, und alles ist möglich«, dachte Kurt, traute sich aber nicht ins Haus, und am Abend traute er sich nicht, die Mutter nach dem zu fragen, was er gesehen hatte.

    Am nächsten Tag war in der Schule nichts so wie sonst. Sonst war es ihm immer peinlich, wenn er etwas vor der Klasse aufsagen musste. Er hatte schiefe Zähne, schlechte Augen, eine hässliche Brille. Außerdem stotterte er. Er war ein Dahergelaufener, ein Russe, ein Neger, und wie sie ihn sonst noch verspotteten. Doch seit gestern war ihm alles egal, er war jetzt frei. Als er nach vorne ging, blickte er nicht zu Boden, nahm sogar seine Brille ab, sprach auch nicht leise, sondern erzählte, selber überrascht, was ihm alles über den blauen Anzug des Unbekannten einfiel: Sein richtiger Vater sei tot, und sie zögen jetzt zu dem reichen Bruder seiner Mutter, mit einem Schiff und tutuut und Tod und Teufel und Amerika. Aber kaum eine Woche später war alles vorbei. Herr Kohler, sein Klassenlehrer, der für Geschichte und Deutsch zuständig war, musste der Mutter etwas gesteckt haben, denn seine Mutter war verärgert, dass Kurt schon wieder mit den Lügengeschichten, wie sie es nannte, angefangen hatte, von dem großen Bruder im blauen Anzug gab es keine Spur mehr, sein Vater wieder da, und die Blechdose stand auch wieder oben auf der Kredenz…

    Und das wäre eigentlich alles gewesen, aber es gab eben diesen Herrn Kohler, er wollte diesem sonderbaren Jungen irgendwie helfen, er empfahl ihm Mitglied im Filmklub der Schule zu werden, Kurt wollte es tatsächlich ausprobieren, fand es gut, nein, fand es großartig, es gab sogar eine richtige Filmkamera, alles war wieder gut, doch als sie einige Jahre später beschlossen hatten, aus der Geschichte von Edek und Mala, den zwei Liebenden in Auschwitz, die ihnen Herr Kohler x-mal erzählt hatte, einen Film zu machen, begann alles von vorne. Nur diesmal wurde alles noch schlimmer.

    Nach dieser Geschichte, in der am Ende das Mädchenorchester von Auschwitz ein lustiges Liedchen spielte, und die Mitgefangenen im Takt dazu klatschten, während Edek und Mala hingerichtet wurden, hätte Kurt eigentlich ein Drehbuch schreiben sollen. Dafür hatte aber Kurt keine Geduld, Bilder waren sein Metier, nicht Worte. Also hatte Herr Kohler selbst alles bis ins letzte Detail beschrieben, und hatte auch echtes Dokumentarmaterial aus der Zeit besorgt. Alles schwarz-weiß. Alles tragisch. Doch das tragische Ende war für Kurt nicht akzeptabel, das war ihm zu brutal, zu banal, zu ungerecht, er musste etwas ändern, und weil er in der Schule auch einen richtigen Schneideraum zur Verfügung hatte, tat er es auch. Dass er Spielszenen und Dokumentaraufnahmen so geschnitten hatte, dass aus dieser Geschichte ein Film geworden war, in dem Edek und Mala am Ende fröhlich aussahen, als hätten sie überlebt, wäre noch irgendwie in Ordnung gegangen. Doch dass Kurt am Ende Edeks Anzug blau eingefärbt hatte, damit hatte er den Bogen überspannt. Der Schuldirektor war empört, die Premiere wurde abgesagt, Herr Kohler sogar versetzt und Kurts Mutter ins Krankenhaus eingeliefert. Eine Katastrophe folgte der anderen: Nicht nur, dass die Premiere in der Schule abgesagt wurde, und die Schulkameradin Simha, in die Kurt unsterblich verliebt war, seinen Film daher nicht sehen konnte; es kam noch schlimmer: Heribert nahm Kurt von der Schule und steckte ihn bei einem befreundeten Fotografen in die Lehre … vorbei die Liebe, vorbei die Träume, alles vorbei.

    Im Fotogeschäft in der Schulstraße hatte ein Lehrling keine Zeit für Duseleien, man musste Passfotos machen, den Laden putzen, jeden Kunden höflich begrüßen, Werbezettel verteilen, und überhaupt war Kurt sich nicht mehr so sicher, dass die Welt voller Wunder und alles möglich ist, er fürchtete eher, seine Mutter könnte mit der Mauer Recht behalten. Was er nicht ahnte, war, dass die Geschichte mit dem blauen Anzug für ihn noch lange nicht vorbei sein sollte.

    Immerhin hatte Kurt eine Kopie seines Films behalten können, und siehe da, eines Tages, etwa Mitte Juni 1975, – auch das habe ich im alten Kalender nachgeschaut, – wurde im Stuttgarter Osten ein Theater eröffnet. Der Gründer, Emil W.S. war ein Tausendsassa und spielte außerdem fabelhaft Trompete. Dabei fehlten ihm an der linken Hand zwei Fingerkuppen, weshalb man ihm an der Musikhochschule freundlich angeraten hatte, die Trompete zu vergessen und was Nützliches zu machen. Doch anstatt den Familienbetrieb zu übernehmen, mietete er

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