Ich will brennen: Flucht aus der heilen Welt
Von Jasmin Winter
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Buchvorschau
Ich will brennen - Jasmin Winter
Jasmin Winter
Ich will brennen
Flucht aus der heilen Welt
Roman
Texte: © Copyright by Kathrin Reinprecht
Umschlaggestaltung: © Copyright by Kathrin Reinprecht
Verlag:
Kathrin Reinprecht
kathrin.reinprecht@gmail.com
Vertrieb: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Für Christina
Schwieriger Start
Kapitel 1
„They tried to make me go to Rehab, but I said no, no, no" -
Amy Winehouse
Die Tür fällt zu. Jetzt ist es so weit: ich bin allein. Liege auf dem Bett in einem Zimmer der Klinik Roseneck am Chiemsee, das in den nächsten Wochen und Monaten mein zu Hause sein wird. Wie konnte es nur so weit kommen? Ich breche erst einmal in ein leises Schluchzen aus und steigere mich in einen nicht mehr enden wollenden Heulanfall. Verzweifelt, eingerollt wie ein Embryo, lasse ich mich völlig fallen und gebe mich meinem Elend hin. Ich hatte mir das Aufnahmeverfahren schlimm vorgestellt und so war es auch. Knallhart. Fragen, die ich zu beantworten hatte. Und ich habe Antworten gegeben über intime und persönliche Details, die ich noch nie zuvor laut ausgesprochen hatte und auch mir selbst gegenüber nicht eingestehen wollte. Ja, ich hatte definitiv ein Problem (oder mehrere?) und das galt es nun in den Griff zu bekommen.
Am Morgen war ich aufgeregt und müde nach einer schlaflosen Nacht angekommen. Mein Freund Andi hatte mich in die Klinik gebracht und meine zwei großen Reisetaschen hineingetragen. Verschiedene ärztliche Untersuchungen und „Befragungen" folgten, bis hin zum großen Moment der Wahrheit: das Wiegen. Die Waage sagte 41,2 Kilo. Wenig. Aber doch immer noch zu viel. Ich hatte es nicht geschafft grazil und zart zu werden. So war ich nun einmal: untergewichtig laut Definition, gefühlt aber immer noch zu dick und plump. Ein Foto wird gemacht, damit mich die Schwester und der seltsame Mann, der die Station C3 betreut, auch erkennen und dann bin ich erlöst. Zurück in meinem Zimmer verabschiede ich mich von Andi und bin nun auf mich allein gestellt. Ja, ich möchte etwas ändern und gesund werden, denn so kann es nicht weitergehen. Andererseits fällt es mir wirklich schwer, loszulassen und mein lang erkämpftes niedriges Gewicht aufzugeben.
Wieder einmal ein Zwiespalt, der mich quält. Wie so oft in meinem bisherigen jungen Leben fühle ich mich innerlich zerrissen. Gefangen zwischen Extremen, zwischen Schwarz und Weiß. Gesund werden oder krank bleiben? Doch warum wurde ich krank?
Rückblick
Es begann alles im Februar 1986. Ich wurde als Jasmin Winter geboren, ein Kind von zwei Akademikern. Meine Eltern hatten sich auf dem Gymnasium in meiner Heimatstadt kennengelernt, drei Jahre Altersunterschied. Nach dem Abitur studierten sie beide in München und lebten dort mit einem Freund in einer Wohngemeinschaft. Danach wurde geheiratet und ein Kind bekommen. Alles so, wie sich das nun einmal gehörte, wie „man das eben machte und es „normal
war – in einer Kleinstadt und zu dieser Zeit. Vier Jahre später kam dann mein Bruder zur Welt. Wir waren eine ganz normale Familie. Der Vater musste früh los zur Arbeit und kam spät wieder. Vermisst haben wir ihn nicht. Die Mutter war an der örtlichen Grundschule, die ich auch besuchte, als Lehrerin tätig. Zu Mittag wurde bei meiner Oma gegessen, die uns Kinder natürlich sehr verwöhnte. Wir bekamen immer, was wir wollten, mussten nie essen, was uns nicht schmeckte. Ich war ein schlankes Mädchen und stolz darauf. Auch hörte ich gerne, wenn meine Oma sich Sorgen machte, ich könnte magersüchtig werden. Das hieß, ich war schlank, ohne dass ich etwas dafür tun musste. Schließlich aß ich einfach alles, worauf ich Lust hatte, ich war ein Kind und es gab keinerlei Veranlagung zu Übergewicht.
Mit der Zeit, etwa als ich zwölf Jahre alt war, entglitt diese vermeintlich heile Welt. Ich bemerkte, dass mein Vater, wenn er abends nach Hause kam, ein Bier nach dem anderen trank. Ich hörte das Zischen beim Öffnen der Erdinger Weißbier-Flasche und vernahm das Klackern des Getränkekastens, als er eine leere Flasche zurückstellte, um sich daraufhin eine neue zu holen, um diese wieder zu öffnen. Bei jeder Mahlzeit zierte ein Weizenglas unseren Esstisch. Außer beim Mittagessen an den Wochenenden. Da wurde gerne auch einmal eine Flasche Wein geleert. Mein Vater hatte Probleme. Deutlich bewusst wurde mir dies, als sich der Standort seines Arbeitsplatzes um ca. 100 Kilometer weiter weg verlagerte. Nun stand eine Entscheidung an. Sollte die ganze Familie umziehen? Wir weigerten uns. Ich hatte Freunde gefunden, war fest eingebunden in die Musikschule der Stadt und auch meine Mutter wollte bleiben. Für meinen Vater hieß das nun, dass er noch weniger zu Hause bei seiner Familie sein konnte als bisher. Er nahm sich ein kleines Appartement auf dem Gelände seiner Firma, wo er als Bauingenieur unterrichtete und zudem die Position des stellvertretenden Chefs innehatte. Dort war er jemand. Er hatte Macht und genoss diese auch, was man an seinen Geschichten aus der Arbeit, die er zu jeglichen Feiern erzählte, erkennen konnte. Einmal während der Woche und dann an den Wochenenden kam er nach Hause zu seiner Familie und sorgte dort für Anspannung. Vor seiner Ankunft wurde fieberhaft das Haus in Ordnung gebracht und aufgeräumt. Schon allein das Geräusch, welches das Garagentor, direkt unter meinem Zimmer gelegen, verursachte, ließ in mir das Gefühl von Panik aufkommen. Streit über die Unordnung meiner Mutter und die Untätigkeit meines Vaters an den Wochenenden stand regelmäßig auf dem Plan. Sie wollte etwas erleben, hinausgehen und Unternehmungen mit Bekannten vereinbaren, während er lieber zu Hause bleiben und in seinem Garten oder auf der Terrasse relaxen wollte. Die Atmosphäre war angespannt und ich verließ mein Zimmer nur zu den gemeinsamen Mahlzeiten, die natürlich Pflicht für alle Familienmitglieder waren.
Heute
Auch hier in der Klinik sind die drei Mahlzeiten am Tag Pflicht und ich werde dabei nun akribisch beobachtet. Die ca. 25 Mädels (inklusive zwei Jungs) unserer Station sitzen an drei Tischen, davon einer der Familientisch für die Fortgeschrittenen. Es ist beim Frühstück und Abendessen genau festgelegt, welcher Tisch welcher Station wann aufstehen und Essen fassen darf (oder besser muss?). Heute bei meinem ersten Abendessen in der Klinik sind wir vier Neuankömmlinge. Wir sind uns auf einen Schlag sympathisch, die neue Situation schweißt uns zusammen. Da gibt es einmal die zehn Jahre ältere Daniela (Bulimie), die beim Finanzamt arbeitet und mit ihrer Vergangenheit als Pflegekind zu kämpfen hat. Sie scheint eine lustige Person mit trockenem Humor zu sein, was mir auf Anhieb gut gefällt. Daniela ist weder dick noch dünn, sondern wie man so schön sagt: normal gebaut. Ungefähr im gleichen Alter ist Liane, eine groß gewachsene junge Frau, die ihr Haar auch kurz trägt. Liane hat bereits einen längeren Klinikaufenthalt hinter sich und möchte ihre Magersucht und die damit verbundene Sucht nach Sport völlig überwinden. Im richtigen Leben arbeitet sie als Lehrerin und nach einiger On-Off-Zeit hat sie auch schon ihren Mann fürs Leben gefunden. Dann ist da noch Laura, eine pummelige 18Jährige, die nur eben mal die drei Wochen Auszeit hier mitnehmen will, bevor ihr neues Leben in London beginnt. Laura macht einen sehr sympathischen Eindruck und versichert uns mit fester Überzeugung, dass sie eigentlich keine „richtige Essproblematik habe und irrtümlich hier gelandet sei. Diese drei Mädels schließe ich sofort in mein Herz und ich bin einfach nur froh, nicht die einzig Neue hier zu sein. Vor und nach dem Essen wird „geblitzt
. Das heißt, wir benennen unsere Gefühle und was uns heute beschäftigt. Zwei Brote mit Butter und Belag sind die Auflage, die es zu bewältigen gilt. Einige Mädchen weinen. Als „Neue" muss die Mindestmenge noch nicht gegessen werden, erst in den nächsten Tagen soll gesteigert werden. Ich esse ein Brot und habe noch Hunger. Aber ich unterdrücke es, schließlich will ich nicht zu viel zunehmen und drin bleiben sollte es auch. Die Angst vor der Waage am nächsten Tag dominiert meine Gedanken, bis ich endlich erschöpft in den Schlaf falle.
Kapitel 2
„I am beautiful, no matter what they say!" - Christina Aquilera
Die nächsten Tage in der Klinik plätschern ruhig dahin, schließlich ist es kurz vor Weihnachten und das Personal läuft auf Sparflamme. Auf dem Programm stehen ausnahmslos die Mahlzeiten, beginnend mit dem Frühstück. Dabei wird streng überwacht, dass jede die erforderliche Menge (zwei Semmeln mit Butter und Belag) zu sich nimmt. Das Mittagessen wird bereits portioniert an den Platz gebracht und es ist bei einigen stark untergewichtigen Mädchen sogar erwünscht, dass sie Nachschlag verlangen. Auch die Nachspeise, meist ein Pudding mit sehr unangenehmer Konsistenz, bei dem mir schon übel wird, wenn ich nur daran denke, muss zumindest mit drei Löffeln probiert werden. Ich halte mich an die Regeln, nehme mir aber fest vor, niemals Nachschlag zu verlangen und vom ekligen Pudding nie mehr als zwingend erforderlich zu essen. Abends läuft es dann ähnlich wie beim Frühstück, nur dass es statt zwei Semmeln nun drei Brote (bei neuen Patientinnen sind vorerst auch zwei Brote erlaubt) mit Belag sind. Da es sonst keine anderen Termine gibt, bleibt viel Zeit zum Grübeln. Wo stehe ich gerade in meinem Leben?
Rückblick
Nach dem Abitur 2005, also vor gut drei Jahren, bin ich nach Hannover gezogen und habe mein Studium begonnen: Pädagogik und Soziologie. Ich bin eine fleißige und zuverlässige Studentin und hatte eigentlich auch vor, meinen Abschluss vor Ablauf der Regelstudienzeit zu schaffen. Das kann ich nun auf Eis legen, weil ich hier in der Klinik bin, was als Urlaubssemester wegen Krankheit gilt. Während der Semesterferien habe ich Praktika absolviert, um mich von meinen immer stärker werdenden Depressionen abzulenken. Es fehlt nur noch meine Magisterarbeit und die Prüfung, dann wäre ich fertig. Es ärgert mich sehr, dass ich so kurz vor dem Ziel nun eine Zwangspause einlegen muss. Aber Andi und dessen Mutter haben mich quasi erpresst. Im Laufe meiner Beziehung mit Andi hat sich meine Essstörung manifestiert, was sicher auch damit zusammenhängt, dass in meiner eigenen Wohnung mein Essverhalten von niemandem kontrolliert wurde. In den letzten Wochen und Monaten war es wirklich so schlimm, dass sich alle meine Gedanken nur noch um Essen drehten: „Woher bekomme ich viel Essen für möglichst wenig Geld? Was esse ich wann? Wann habe ich „Zwangs-Esspause, weil ich die Pille nehme und mich die Stunden danach nicht übergeben darf? Was ist eine normale Portion, die ich in der Öffentlichkeit vor anderen essen darf?
Zudem stellte ich mich nach jeder Mahlzeit auf die Waage, um sicher zu gehen, dass ich nicht zugenommen hatte. Dieses Spiel „Essen - Wasser trinken - Kotzen - Wiegen - Wasser trinken - Kotzen - Wiegen" beschäftigte mich den ganzen Tag bis zur völligen Erschöpfung. Klar muss das aufhören! Aber trotzdem wollte ich zuerst mein Studium beenden. Doch diese Wahl ließen mir die beiden (Andi und seine Mutter) nicht. Auf der Feier von Andis 30. Geburtstag im August setzten sie mir das Messer auf die Brust: Entweder ich lasse mir jetzt helfen oder sie werden meine Eltern über meinen Zustand informieren. Puh, Horror! Meine Eltern sollten natürlich auf keinen Fall etwas von meinen Problemen mitbekommen, das würden sie sowieso nicht begreifen können und – was viel ausschlaggebender als Verständnis ihrerseits ist – was würden denn da die Nachbarn denken? Das geht doch gar nicht! Die gute heile Familie, in der alles in Ordnung ist und dann so was! Die Tochter in einer Klinik? Nein, niemals!
So war das. Psychische Probleme existierten in meiner Familie nicht. Dabei gab es inzwischen allen Grund dazu, sich damit auseinander zu setzen. Ich war zum Zeitpunkt meiner Abiturprüfungen sehr instabil und wusste mit dem Druck und sämtlichen anderen Belastungen nicht mehr anders umzugehen als mich selbst zu verletzen. Lange habe ich versucht meine Schnittwunden zu verstecken, doch es wurde Sommer und meine Eltern konnten schließlich Blicke auf meine Arme und Beine erhaschen. Von seitens meiner Mutter kam nie eine Reaktion, wohingegen mich mein Vater zum Gespräch zitierte. Ich solle doch damit wieder aufhören und auch die Tabletten (Antidepressiva, die ich mir heimlich vom Neurologen und Psychiater meines Vertrauens habe geben lassen) nicht mehr nehmen. Keine Fragen, kein Interesse, wieso ich das tat, wie es dazu gekommen ist. Es zählte nur der äußere Schein. Also hörte ich damit auf. Aus Angst vor meinem Vater. Besser ging es mir dadurch natürlich nicht. Im Gegenteil! Es war mein Ventil gewesen, das mir Erleichterung schaffte. Ein tiefer Schnitt mit der Rasierklinge, dann das fließende Blut und der Adrenalinstoß mit dem Schmerz und ich fühlte mich lebendig. Am liebsten zelebrierte ich meine Selbstverletzung – auch Ritzen genannt – in der Badewanne, wo sich das Wasser dann langsam rot färbte und das heiße Wasser in den frischen Wunden noch einmal zusätzlich schmerzte. Aber nun tat ich das nicht mehr, das Ritzen war Vergangenheit und somit hatte ich keine sichtbaren Wunden mehr, also ging es mir wieder gut. So ist das in unserer Gesellschaft.
Eine weitere Geschichte, die eindeutig auf psychische Krankheiten in unserer Familie hinweist, war mein Cousin. Dieser hatte bereits im Alter von 19 Jahren versucht sich das Leben zu nehmen, indem er sich zu viel (oder zu wenig?) Insulin spritzte. David war Diabetiker und wurde zum Glück zufällig am Morgen noch rechtzeitig gefunden. Dass dies ein Suizidversuch war, wurde natürlich vertuscht und nicht thematisiert. Stattdessen tat man das als Unfall ab und ging nicht mehr weiter darauf ein. Von nun an nahm er Medikamente und war besonders gut drauf. Er lebte noch weitere 4 Jahre, bis es dann bei seinem zweiten Versuch geklappt hat. Die ganze Familie fiel aus allen Wolken, als wir erfuhren, dass sich mein 23jähriger Cousin vor einen Zug geworfen hatte. Auch bei mir löste diese Nachricht im Januar dieses Jahres eine Verschlechterung meines Zustandes aus. Ich konnte nicht mehr weinen und war von nun an