Ich bin froh ein Alkoholiker zu sein!: Biographie eines Trinkers
Von Gerald Erdmann
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Über dieses E-Book
Abhängigkeitserkrankt und dennoch Selbstbewusst durch das Leben zu gehen ohne Arrogant zu wirken.
Es basiert auf den 12 Schritten der anonymen Alkoholikern, die mir in den letzten fast 22 Jahren ein täglicher Begleiter geworden sind. Sie stellen sich, jedem der sich ihnen gegenüber öffnet, als Ratgeber in nahezu allen Lebenssituationen zur Verfügung. Dieses Buch macht auf den lebenslangen Prozess der eigenen Persönlichkeitsentwicklung nach Abhängigkeitserkrankungen und auch auf drohende Gefahren, nach Bewältigung dieser Krankheiten, aufmerksam.
Gerald Erdmann
- Gerald Erdmann - geb. 03.06.1961 - in Lüneburg - 2 Mal verheiratet und 2 Mal geschieden - 1 Tochter aus erster Ehe - 1 Sohn und 2 Töchter aus zweiter Ehe - 4 Enkelkinder - mittlere Schulbildung mit Ausbildung zum Radio und Fernsehtechniker, - danach 8 Jahre Bundeswehr mit Ausbildung zum Beobachtungsfunkmeister und Dienstrang Oberfeldwebel - Rehabilitationsmaßnahme mit Ausbildung zum Kaufmann im Einzelhandel - Anstellung bis jetzt im öffentlichen Dienst als Schulassistent - 10 Jahre Ehrenamt als Leiter von zuletzt 3 Selbsthilfegruppen - Mitgestalter der Selbsthilfelandschaft im Landkreis Lüchow-Dannenberg - Ausbildung zum nicht zertifiziertem Seelsorger und Berater - Ich lese gern, Kirche und Glauben ist fester Bestandteil meines Lebens - Seelsorge und Begleitung von Menschen
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Buchvorschau
Ich bin froh ein Alkoholiker zu sein! - Gerald Erdmann
Unterstützung.
Auf ins Leben
Mein Leben hat wie jedes Leben angefangen: mit der Geburt. Am 03. Juni 1961 trat ich ins Leben, na ja - trat ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck, aber ich tat meinen ersten Atemzug. Den allerdings auch nicht ganz freiwillig, denn zu dieser Zeit war es noch üblich, dass dem Atmen mit einem Klaps auf den Hintern auf die Sprünge geholfen wurde. Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht wusste: Ich sollte später in dieser Disziplin durchaus eine gewisse Perfektion erlangen. Auch in anderen Übungen, wie in der Ecke stehen oder dem Stubenarrest, stieg ich ohne größeres Training schnell in die höheren Level auf. Ich glaube nicht, dass ich zu der Kategorie „schwer erziehbar" gehörte (den Eindruck könnte der eine oder andere Leser bei dem Vorausgeschickten durchaus gewinnen), doch brachten mich meine Neugier und mein Wissensdurst immer wieder in spezielle Situationen, die dann durch die oben erwähnten Maßnahmen gewürdigt wurden. In meiner ersten bewussten Erinnerung bin ich etwa 4 Jahre alt; sie steht im Zusammenhang mit einer Wohnungsbesichtigung. Diese Wohnung sollten wir dann später auch mieten. Es handelte sich um eine alte Bauernkate außerhalb von Neetzendorf. Ein alleinstehendes Vierfamilienhaus, in dem schon insgesamt zwölf Kinder lebten. Erwähnen darf ich noch, dass eine Familie keine und zwei Familien jeweils zwei Kinder hatten. Viele Interessen trafen in diesem Haus aufeinander und somit barg diese Konstellation auch ein erhöhtes Konfliktpotential in sich.
Merkwürdig fand ich damals schon, dass wir Kinder das Ehepaar, welches keine Kinder hatte, nicht mochten und dass wiederum dieses Ehepaar die alleinerziehende Mutter mit ihren acht Kindern mied. Jedenfalls besichtigten wir diese Wohnung. Als wir durch die Haustür traten, standen wir schon in der noch werdenden Küche. Werdend deshalb, weil sie mit einem Gerüst als einzigem Möbelstück ausgestattet war. Dieses Gerüst erlangte sofort meine Aufmerksamkeit. Ich erkundete es genau, stieß mir mit aller Wucht, die mir zur Verfügung stand, den Kopf, schrie darauf folgend die ganze Hausgemeinschaft zusammen und vermittelte somit für das spätere Zusammenleben einen bleibenden Eindruck.
Als ich meinen Schmerz wieder einigermaßen im Griff hatte, erkannte ich, dass von der Küche drei Türen abgingen. Auf der linken Seite gab es gar keine Tür, sondern nur einen Durchgang in ein Zimmer. Die Tür geradeaus führte ins Elternschlafzimmer, um von dort aus in die Wohnstube zu gelangen, bis dieses Labyrinth in dem dahinter liegenden Kinderzimmer endete. Ein Fenster war in diesem Kinderzimmer. Es hatte die Form eines Rechteckes und die Tür war in etwa gegenüber dem Fenster angeordnet. Rechts vom Fenster, entlang der langen Seite, stand ein Etagenbett für meine Schwester und mich. Überflüssig zu erwähnen, wer oben schlief, schließlich war ich der Ältere. Entlang der linken, kurzen Seite stand ein Kleiderschrank. Später fand dann noch ein kleiner Schreibtisch, gleich links neben der Tür an der langen Innenwand seine Heimat.
Dieses Zimmer war für mich nicht sonderlich interessant. Ich wollte immer da sein, wo meine Eltern bzw. meine Mutter waren. Da, wo sie ihre Arbeit verrichtete, spielte ich. Also platzierte ich mich fortwährend so, dass sie fast über mich stolperte. Ich entwickelte eine besondere Vorliebe dafür, im Wege zu sein. Ich erinnere mich gern an ganz besondere Momente mit meiner Mutter. Genossen habe ich den Mittagsschlaf mit ihr. Sie legte sich auf das Sofa und ich durfte mich vor ihrem Bauch platzieren. Ich habe sie nie gefragt, ob sie es nur gemacht hatte, um mich in meinen Mittagsschlaf zu begleiten oder ob sie auch geschlafen hatte. Doch immer wenn ich aufwachte war sie schon wieder in ihre Hausarbeit vertieft. Von meiner Mutter erhielt ich meine Zuwendungen, während ich um die Zuwendungen meines Vaters kämpfen musste.
Ich hatte den Anspruch, das Wichtigste in seinem Leben zu sein. Leider musste ich ständig darum kämpfen, um nur annähernd eine Bestätigung für diesen Anspruch zu bekommen.
Er war LKW-Fahrer im Fernverkehr. Er war also in der Woche unterwegs und manchmal auch mehrere Wochen hintereinander. Wenn es hieß, Papa kommt nach Hause, fieberte ich diesem Augenblick schon weit vor dem Ereignis entgegen. Ich fragte meine Mutter ständig danach, wann es denn endlich soweit wäre und ob wir ihn abholen würden oder ob er mit dem LKW nach Hause komme. Auch musste ich jedem erzählen: „Mein Papa kommt heute mit dem großen Sattelschlepper nach Hause."
Meine Mutter kochte etwas Besonderes und freute sich auf ihn. Nun gab es damals kein Handy und wir wussten nicht genau, wann er kommt, aber irgendwann war das Motorengeräusch des Büssings nicht mehr zu überhören. Freudig und stolz lief ich dem LKW entgegen und kletterte zu meinem Vater ins Führerhaus, als er die Tür öffnete. Ich setzte mich auf seinen Schoß und fuhr mit ihm die letzten 3 – 4 Meter, bis er seine Parkposition fürs Wochenende erreicht hatte. Wir stiegen zusammen aus, er drückte mir seine Tasche in die Hand, gab mir einen Klaps auf den Hintern und entließ mich mit den Worten: „Geh schon mal rein und nimm meine Tasche mit, ich komme gleich nach."
Wie oft hatte ich das schon gehört! Kam er jetzt noch bevor ich ins Bett musste oder danach? Musste ich gar noch einmal hinterher, um ihn nach Hause zu holen?
Auf der einen Seite hasste ich es, hinter meinem Vater her geschickt zu werden, um ihn aus der Kneipe zu holen. Doch nach der Erfahrung meiner Mutter erhöhten sich die Chancen, dass er mit nach Hause kam, wenn ich ging, um ein Vielfaches, als wenn sie es versucht hätte. Das heißt eine richtige Kneipe war es gar nicht. Die Männer trafen sich immer bei der Betreiberin eines „Tante-Emma-Ladens" in der Küche oder im Sommer vor der Küche im Hof und betranken sich.
In diesem Laden gab es nicht nur Lebensmittel, sondern auch Bier und andere Spirituosen. Ich glaube, eine Schanklizenz besaß die Frau nicht. Es war so ziemlich immer das gleiche Ritual. „Na mein Junge, setz' dich erst mal hin. Willst du eine Cola?" Na klar wollte ich eine Cola. Ich setzte mich also auf einen Stuhl, bekam die Cola und hörte mir die Geschichten dieser Männer an. An einzelne Themen erinnere ich mich nicht mehr, habe aber in Erinnerung, dass mein Vater nicht nur zu jedem Thema etwas beisteuern konnte, sondern sogar derjenige war, der am meisten wusste.
Das mag vielleicht daran liegen, dass er sich, wie ich selbst in meiner „Saufzeit", die Argumente an den Haaren herbeizog, nur um recht zu behalten oder es lag daran, dass er im LKW ständig Radio hörte und so die neusten Nachrichten mitbekam. Wie immer in diesem Spiel ging es um das ewige Männerding – höher, schneller, weiter, besser...
Irgendwann hatte ich auch die zweite Cola ausgetrunken und zog meinem Vater immer öfter am Hosenbein, um so seine Aufmerksamkeit zu gewinnen, damit ich ihm in Erinnerung rufen konnte, dass es Zeit war zu gehen. An dieser Stelle entschied sich der Abend. Entweder kam er jetzt mit, oder ich ging traurig und allein nach Hause.
Damals hatte ich nicht verstehen können, dass der Alkohol und seine Macht größer waren als meine Person und meine Überredungskünste. Natürlich ging ich mit Schuldgefühlen nach Hause, wenn er nicht mitkam. Ich konnte ihm und meiner Mutter nicht genügen. Ich sah nur, wie sie das Essen, welches sie bis zu diesem Zeitpunkt warm gehalten hatte, schweigend vom Herd nahm, mich enttäuscht anschaute und sagte: „Komm mach dich Bett fertig, ich schau gleich noch zu euch rein." Sie kam mit traurigen Augen zu mir, unterhielt sich noch einen Augenblick mit mir, in dem sie versuchte, uns zu beruhigen und bevor sie ging beteten wir dieses kleine Kindergebet mit dem damals wohl jedes Kind aufgewachsen war:
Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen, nur Jesus allein. Amen.
Meistens war es so, dass ich in der Nacht noch einmal aufwachte und Streit hörte, wenn Vater dann endlich genug getrunken hatte und nach Hause kam. Samstags lag er dann „in sauer", wie es meine Mutter auszudrücken pflegte. Er kam nicht aus dem Bett oder erst zum Mittagessen und dann hing der Haussegen schief. Es gab auch für diesen Streit zwei mögliche Ausgänge. Entweder er lenkte ein und beschwichtigte damit den Streit und wir hatten ein relativ entspanntes Wochenende, oder er nährte den Streit, indem er sich rechtfertigte, die Tat verniedlichte oder die Schuld zu übertragen versuchte. Im letzteren Fall flüchtete er dann wutentbrannt aus dem Haus, um sich wieder zu besaufen.
Meine Mutter versuchte, den Betrieb aufrecht und den Garten in Ordnung zu halten und uns Kindern gerecht zu werden. Sie war sehr um uns bemüht und versuchte, uns die Entwicklungsmöglichkeiten zu geben, die wir brauchten. Sie nahm alles auf sich, um uns irgendwie ein Familienleben zu bieten. Wenn das Geld mal wieder nicht reichte, besorgte sie sich eine Hilfsarbeit, um etwas beiseite zu legen, damit wir auch mal etwas außerhalb der Reihe bekamen. Ja sie opferte sich nahezu für uns auf. Vielleicht auch, um ihre eigenen Schuldgefühle als Co-Abhängige abzumildern.
Wenn er die andere Variante wählte und einlenkte, dann machte er sich zu Hause nützlich. Er mähte Rasen oder bastelte irgendetwas am Auto.
Diese Wohnung hatte kein Badezimmer. Über dem Hof im Stall gab es ein Plumpsklo, und gebadet wurde am Samstagabend. In der einen Stallhälfte war eine Waschküche mit einem beheizbaren Waschkessel untergebracht. Dort wurde das Badewasser angeheizt und dann in die alte Zinkwanne abgeschöpft. Im Sommer badeten wir in der Waschküche und mussten dann über den Hof ins Haus laufen, und im Winter wurde die Badewanne in der Küche aufgestellt. Es war immer das gleiche Ritual. Erst badeten wir Kinder, dann meine Mutter und als letztes mein Vater, wenn er denn zu Hause war. Später wurde von dem Zimmer links neben der Küche ein Durchbruch ins Hausinnere zur großen Hausdiele gemacht. Von der Hausdiele wurde dann ein Raum von 3m mal 7m abgetrennt. Es wurde ein Fundament gegossen, zwei Wände wurden hochgezogen, der Raum noch einmal durch eine Wand geteilt, eine Decke eingezogen und schon war das Badezimmer fertig. Auch wurden vorher die Nutz-, Abwasser- und Stromleitungen gelegt.
Nun hatten wir zu unserer Wohnung noch einen Abstellraum, in dem eine Kühltruhe untergebracht werden konnte und ein Badezimmer bekommen. Auch wurde das Badewasser in einem großen, elektrischen Boiler beheizt. Dies dauerte eine ganze Weile und fiel immer mit dem Rasenmähen zusammen. Das an sich wäre nicht so schlimm gewesen, nur leider kam zur selben Zeit meine Lieblingssendung im Fernsehen: Raumschiff Enterprise.
Da die Stromversorgung in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts nicht so perfekt war, brach die Spannung zusammen und das Fernsehbild verkleinerte sich um 30%, es wurde erheblich dunkler und der Ton hörte sich nur verzerrt an. Wir hatten noch ein schwarzweiß-Fernsehgerät mit Röhrentechnik. So ist es nun mal: Wenn die Röhren nicht mit der richtigen Spannung versorgt wurden, brachten sie auch nicht die richtige Verstärkung der einzelnen Signale und somit verkleinerte sich das Bild, wurde dunkler und der Ton schnarrte. Ich hatte es immer wieder beklagt, doch es wurde auf meine Belange keine Rücksicht genommen.
Ich hätte noch eine Alternative gehabt: meine Großeltern. Sie wohnten in einem alleinstehenden Bahnerhaus, an der Bahnstrecke Dannenberg – Lüneburg. Mein Opa kaufte es für 5000,- DM der Deutschen Bahn ab. Ich konnte das Haus auch gut durch den Wald erreichen. Wenn ich lief, war ich in 10 Minuten da. Leider gab es dort keinen Strom als mein Großvater das Haus kaufte, und so mussten sie aus dem etwa einen Kilometer entfernten Ort Süschendorf ein Erdkabel verlegen, damit das Haus mit Strom versorgt wurde. So weit, so gut. Leider wurden zur gleichen Zeit, da meine Sendung lief, in Süschendorf die Kühe mit den elektrischen Melkmaschinen gemolken. Also brach auch bei meinen Großeltern die Spannung zusammen und ich blickte wieder im wahrsten Sinne des Wortes in die Röhre.
Ab und zu bekamen meine Eltern samstags auch Gäste: Tante Gitti und Onkel Harry. Ich glaube, mein Vater ist mit Onkel Harry LKW gefahren