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Traumpässe: Ein wahres Fussballmärchen
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Traumpässe: Ein wahres Fussballmärchen
eBook216 Seiten3 Stunden

Traumpässe: Ein wahres Fussballmärchen

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Über dieses E-Book

Über die Sehnsucht nach grossen Gefühlen, die nicht in Mord und Totschlag enden. Bruder Theo ist ein alter Missionar, der kaum noch an Gott glaubt und viel mehr an die Botschaft einer gut getimten Flanke. Er hat das indigene Volk der "Menschen" in der brasilianischen Savanne auf dem Weg von der Steinzeit in die Moderne begleitet. Er hat die Grammatik ihrer Sprache entschlüsselt, und er hat ihnen das Fussballspiel beigebracht. Jetzt gibt es noch zwei Wünsche in seinem Leben: Er möchte, dass sein Team, zum ersten Mal nach vierzig Jahren, die Mannschaft der weissen Siedler schlägt. Und er möchte die Urformel der Menschheit auf den Punkt bringen: Das, was alle Menschen, ob Steinzeitlichte oder Ziviliserte, zusammenhält und verbindet.
Der Junge ist ein begabter Fussballer, der von zu Hause abhaut, um Fussballprofi zu werden. In der Stadt lernt er die Einsamkeit der Strassenkinder kennen, und weil ihm ein paar Indio-Jungs den Ball wegnehmen, verschlägt es ihn in das Reservat der "Menschen". Hier verhilft er der Mannschaft der Eingeborenen zum historischen Sieg über die Siedler. Der Erfolg ist allerdings keine Befreiung, sondern lässt einen schwelenden Konflikt aufbrechen. Ein Teil des Volkes möchte sich wieder an den alten Stammestraditionen orientieren. Jetzt stellt der fremde Junge, der ihrer Mannschaft zum Sieg verholfen hat, plötzlich eine Gefahr dar. Die Alten des Dorfes konsultieren ihre Träume. Nur ein Traumpass kann das Leben des Jungen retten, vielleicht ein grobes Foul. Ein Mitbruder des Missionars wird umgebracht, die Tat ruft alte Geheimnisse wach.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum3. Sept. 2019
ISBN9783750200050
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    Buchvorschau

    Traumpässe - Ruedi Leuthold

    cover.jpg

    Kapitel 1

    Der Ruf des Streifenkuckucks

    Es ist Sonntagnachmittag, kurz vor Sonnenuntergang, als Bruder Theo den Engel sieht. Der Engel trägt kurze Hosen und ist barfuss.

    Nach dem Mittagessen hatte Bruder Theo auf einem Sportkanal ein Golfturnier gefunden und war darüber eingeschlafen.

    Er wachte mit dem Gefühl auf, sich selber fremd zu sein.

    Bruder Theo sah sich zu, wie er einen Tee machte. Er hörte den Bürostuhl stöhnen, als er sich darauf setzte. Lauschte dem Seufzer nach, der seiner Brust entwich. In der alten Missionsstation Nova Esperança, tief im Westen Brasiliens, umgeben von unendlichen Soyafeldern, verhallte die Anklage, im Duett vorgetragen, ungehört.

    Jaja, redete Theo sich selber zu, in diesem alpenländischen Tonfall, mit dem seine Mutter die Kümmernisse ihrer Kinder besänftigt hatte.

    Dabei hatte der Mann längst die Hoffnung verloren, dass es irgendwo, also auch dort oben, jemanden gab, der sich um das Flehen und Flennen da unten kümmerte. Mochte es noch so musikalisch vorgetragen sein.

    Soweit war es mit ihm gekommen.

    Auf dem lädierten Bürostuhl hatte er die linguistischen Studien und Thesen zur Sprache des eingeborenen Volkes verfasst, mit dem er den grössten Teil seines Lebens verbracht hatte. Vor einiger Zeit war eines der fünf eisernen Räder, die ihm Beweglichkeit verschafften, weggebrochen, und Bruder Theo hatte den Ersatz aus dem harten Holz eines Goldtrompetenbaumes selber geschnitzt. Das lief nicht besonders rund, aber wahrte das Gleichgewicht.

    Das Volk, dessen Laute, bestehend aus zehn Vokalen und zwölf Konsonanten, er zu einer Grammatik geordnet hatte, nannte sich selber„Die Menschen. Seine eigenen Schüler hatten die Lehrschrift aus seiner Feder verbrannt und triumphierend eine neue präsentiert. Seiner Meinung nach wies sie einige Fehler auf, aber seine Meinung zählte nicht mehr. Der Unterricht war den Klosterbrüdern von der Regierung verboten, „die Menschen hatten jetzt ihre eigenen Lehrer, ihr geschütztes Land, und Nova Esperança war ein Sanatorium geworden für alte Missionare und ein Trainingsplatz für junge Priester, die hier weitgehend schadlos daran arbeiteten, ihre hoffnungsvollen Ideale der Realität anzupassen.

    Bruder Theo klappte das Laptop auf, klickte auf das Dokument mit dem Titel Formel eins. Er schrieb: Wenn ich auf etwas stolz bin in meinem Leben, dann darauf, dass die Menschen mich zu einem der ihren gemacht haben. Er machte sich einen Kaffee, setzte die Menschen in Anführungszeichen. Er hörte dem Stück einer brasilianischen Sängerin zu, und als sie fertig gesungen hatte, kam ihm sein eigener Gesang plump vor und unfertig. Er löschte den Eintrag. Aber dabei, stritt er mit sich selbst, ist es ein wahrer Satz! Was willst du denn, hörte sich Bruder Theo rufen: Schönheit oder Wahrheit? Er holte sein Wort aus dem Land des Ungesagten zurück.

    Dann weinte er.

    Wenn alles anfängt, schrieb er, weiss man nicht, wer man ist. Man weiss nur, wer man sein möchte. Als es anfing, wollte er einer sein, der das Schöne und Gute verteidigt. Und er wollte Fussballer werden. Das war ungefähr das gleiche.

    Den Kopf in beide Hände gestützt, flog ihm eine weitere Erkenntnis zu. Er schrieb. Das Leben ist schön. Schönheit ist grausam. Des Dichters hartes Brot sie ist. Er bedachte die Formel von allen Seiten und kam zum Schluss, sie stehen zu lassen. Morgen konnte er sie wieder ins Nirgendwo verbannen. Es erforderte Geduld, die Grammatik der eigenen Existenz zu erforschen. Und er erinnerte sich, wie lange es gedauert hatte, bis er dem ungewohnten Sprachbau seiner wahren Menschen auf die Spur gekommen war und er verstanden hatte, dass sie das Objekt dem Subjekt und dem Prädikat voranstellten. Die Liebe gestorben sie ist.  

    Er klappte sein Laptop zu und suchte seinen Sportkanal.

    Es war Sommerpause in Europa, die grossen Ligen machten Pause und Borussia Dortmund spielte gegen irgendein amerikanisches Team, dessen Name sich Bruder Theo nicht auch noch merken mochte. Bruder Theo begeisterte sich an Testspielen. Sie waren wie eine unerprobte Liebe. Man bleibt bei jedem Gegentor entspannt und denkt, wenn es ernst wird, wird es schon klappen.

    Sonst war Bruder Theo Anhänger von Borussia Dortmund. Auch von Manchester United, von Barcelona und der AS Roma. In Wahrheit wechselte er seine Lieblinge häufig. Was Bruder Theo brauchte, war ein Name für eine schwer zu fassende Sehnsucht. Möglicherweise nichts anderes als die Sehnsucht nach wahren Gefühlen, die nicht in Mord und Totschlag enden.

    Fussball.

    Fussball war einmal seine Offenbarung gewesen. Das war, als ihm die Träume seiner Jugend vorgaukelten, das Leben sei ein Doppelpass und der Himmel ein Fussballfeld. Pele, Rivelinho. Wegen ihnen war er in Brasilien. Weil er zu viele Indianerbücher gelesen hatte und wegen der Weitsicht einer klugen Mutter. Der Vater hatte ihm die Literatur um die Ohren geschlagen. Weil es doch so viel zu tun gab, draussen auf ihrem kleinen Hof in den Voralpen. Und weil er der Älteste war, der einmal das Gut übernehmen würde. Und dabei hatte der Jüngere doch so viel mehr Talent und Interesse.

    Jetzt noch, eine Ewigkeit später, konnte der Sohn nicht anders als die sanfte Intelligenz zu bewundern, mit der die Mutter seine Schritte in die Kirche lenkte, zu einem Pfarrer, der Verständnis hatte für seinen Durst nach Weite und für ihre Hoffnung auf einen gottgefälligen Sohn, dessen Kampf für verlorene Seelen ihrem eigenen Leiden einen Sinn geben würde. Der Pfarrer verhalf ihm zum Eintritt in eine Klosterschule. Nach der Ausbildung zum Lehrer trat er dem Orden der Salesianer bei. Die führten Missionsstationen bei den Indianern. Der Jüngere übernahm den Hof. Der Vater hielt ihn für schwul, die Mutter für einen Heiligen.

    In Brasilien lernte Bruder Theo, dass keines von beiden zutraf.

    Fussball blieb ein Trost. Bundesliga am Samstag, englische Liga am Sonntag, spanische Liga samstags und sonntags. Bruder Theo war mit wenig zufrieden.

    Aber seiner Mutter machte er keine Vorwürfe, auch wenn er ihren Glauben an die himmlischen Zinsen einer irdischen Entsagung nicht mehr teilte. Aber mit diesem Versprechen war ihr der Frieden gelungen im Haus. Sonst hätte er, der Älteste, wer weiss, den Alten umgebracht. Oder der Vater ihn. Oder der Jüngere alle beide.

    Bruder Theo schloss seine Klause ab. Den Schlüssel band er an den Gurt. Er war so klobig und zackig, dass er ohne Weiteres auch eine Verwendung als Mordinstrument finden könnte. Wie komme ich bloss auf solche Gedanken, befragte er sich, als er ins Freie trat. Er sah die Schotterstrasse, die in die Missionsstation und ins Reservat der Menschen führte, und weil sich dahinter die gleichförmigen Soya-und Maisfelder ausbreiteten, gezüchtet in den Labors des Fortschritts, wollte ihm die Buschlandschaft des Indianerlands daneben wie ein altes biblisches Land vorkommen, ein Paradies vor der Vertreibung.

    Ein schönes Land, in dem so viele Vögel in der Luft schwirrten wie Lieder, mit genügend Schlangen für mehr als einen Garten Eden, mit einer schönen Anzahl von Säugern, und nicht wenige dieser Mitbewohner hatte Bruder Theo, zusammen mit seinen Menschenbrüdern, schon eigenhändig gejagt und am Feuer in Stücke gerissen, die Riesenschlange noch zuckend, das Gürteltier im eigenen Panzer gebraten, das Affenhirn aus dem eingeschlagenen Schädel geschlürft.

    Anfänglich hatte Bruder Theo die Lebensweise der Menschen, die ihm als Gipfel der Freiheit und Ursprünglichkeit erschien, mit Begeisterung geteilt. Mittlerweile musste er sich eingestehen, dass die Menschheit doch einige Fortschritte gemacht hatte in der Bemühung, ihre Mordlust zu tarnen, und er schätzte wie nichts anderes einen weiss gedeckten Tisch mit Messer und Gabel an der richtigen Stelle.

    Allerdings war es nicht der Jagdeifer seiner Leute, die den Tierbestand der brasilianischen Savanne gefährdeten. Die Sprühflugzeuge der Sojabauern verteilten ihr Gift grosszügig auch über den kleinen Rest des Landes, das noch nicht domestiziert war.

    Die Kleinen, hatte Bruder Theo seine Schüler aufzuklären versucht, begehen kleine Verbrechen.

    Die grossen Verbrechen geschehen im Namen des Fortschritts. Deshalb werden sie erst viele Jahre später aufgedeckt.

    Eine Rotbauchdrossel quetschte ihr Lied in den blauen Himmel, grell und ungeölt. Die Kraft der Sonne liess nach, das Land erwachte und Bruder Theo stapfte über den Pausenhof des Schulhauses, hinüber zu den flachen Dienstgebäuden.

    Hier, wusste er, hatte Schwester Bertha immer ein Bier für ihn versteckt.

    Die Gesten ihrer Verbundenheit waren etwas kühler geworden, aber nicht weniger zärtlich, und ihre Vorhaltungen nahm er als Bitte um ein bisschen Zuspruch.

    Aber jetzt schon ein Bierchen, Bruder Theo, ist doch erst vier.

    Ach, Schwester Bertha, seien Sie nicht so streng mit mir. Ich bin zur Unzeit eingeschlafen und möchte Gewissheit haben, wach zu sein. Ich fühle mich so fremd und ausgesetzt.

    Aber ihre Verwirrung, Bruder Theo, ist gewiss keine Neuigkeit, und ich möchte wetten, ein Bier macht sie nicht besser.

    Keine Verwirrung, meine Liebe, nur das Gefühl, dass das Leben viel grösser ist als wir selber, und dass es schwierig ist, ihm mit Worten beizukommen. Noch weniger mit Geboten. Warum soll ich denn kein Bierchen trinken an einem schönen Nachmittag, Schwester Bertha?

    Weil es der Doktor doch empfohlen hat.

    Eine kleine Sünde nur, Schwester Bertha, während vor unseren Augen eine Welt verschwindet, nur weil der Appetit der Chinesen anspruchsvoller geworden ist, ich spreche nicht einmal von Forellenbäcklein oder Gänseleber, nur Hühnerfleisch zum Reis, und jetzt verschwinden unsere Wälder, umgibt uns draussen ein Meer von Soja, wir pflanzen Viehfutter für China, und wann hast du das letzte Mal den Wildhund gesehen, weißt du noch das Männchen, das uns aus der Hand frass, wenn wir uns abends unter dem grossen Mangobaum trafen, der Mähnenwolf kommt nicht mehr, den letzten Königsgeier haben die Menschen am Christfest vor zehn Jahren verzehrt, die Sintflut, Schwester Bertha, und wie könnte Gott etwas dagegen haben, wenn zwei seiner Kinder sich angesichts der Katastrophe die Hände reichen. Ein Bierchen macht die Welt nicht besser, aber doch etwas erträglicher.

    Du bist mir einer! Sagst, dass Worte nicht reichen? Wo du nichts anderes kannst als schöne Worte machen! So geht sie brummelnd zum Kühlschrank.

    Und die andern können sich dann ein Gewissen machen!

    So ist es, hörte sich Bruder Theo murmeln.

    Die Türe zum Refektorium stand offen, doch statt Schwester Bertha traf er auf seinen Mitbruder Wilhelm, der vor halbvollen Regalen mit Tomatenbüchsen, Süsskartoffeln, Zwiebeln kniete und sich Notizen machte. Bruder Theo registrierte, wie die Tiefen seines Bewusstseins dem Gedanken, der ihm beim Anblick des Schlüssels gekommen war, unvermittelt einen Sinn und ein Ziel gaben. Er schrieb diese intuitive Eingebung seiner seelischen Verwandtschaft mit der primitiven amerikanischen Urbevölkerung zu und entschied augenblicklich, ihr mit Toleranz und Nächstenliebe zu wehren.

    Er lächelte Bruder Wilhelm zu. Beschäftigt wie immer, lobte er. Tatsächlich war Bruder Wilhelm, seit er vor fünf Jahren aus Gründen, über die gemunkelt wurde, in die Mission gekommen – oder geschickt worden war?, – immer beschäftigt, und mit dieser Emsigkeit hatte er sich innert kurzer Zeit unentbehrlich gemacht. Er war nicht nur Herr über die Vorratskammer und Choralmeister geworden, er war der Kämmerer, dessen verführerische Gabe, in der alten Welt Spendengelder locker zu machen, den Betrieb am Leben hielt.

    Der Betrieb bestand aus drei jungen brasilianischen Priestern, welche sich der Aufgabe widmeten, Land und Kultur der indianischen Bevölkerung vor einer Gesellschaft zu schützen, der sie selber angehörten, ein Gutsverwalter, einiges Hauspersonal, dazu ein Dutzend alter Schwestern und Brüder, die viel Zeit hatten um sich zu fragen, ob sie mit ihrem Wirken mehr zum Segen oder zum Fluch dieses Ortes an der letzten Zivilisationsfront der Menschheit beigetragen hatten.

    Bruder Wilhelm, so hiess es, hatte selber eine Pfarrei geführt, irgendwo im Bayrischen. Weshalb ihm das Priesteramt entzogen wurde, wusste niemand, ein ungesundes Verhältnis zu gewissen Internetseiten, hiess es, oder vielleicht doch der Alkohol, aus politischen Gründen, sagten andere, ohne dass klar war, ob er wieder lateinische Messen gehalten oder die Befreiung auf Erden gepredigt hatte.

    Jedenfalls hatte ihn der gütige Schoss der Kirche nicht völlig ausgestossen, sondern ihm die Aufgabe zugewiesen, einer darbenden Kirchgemeinde weitab von den Versuchungen des modernen Lebens moralischen und administrativen Beistand zu leisten.

    Wilhelm drehte mit der ihm eigenen Feierlichkeit den Kopf, schaute seinen Besucher über die Brille hinweg an und rief: Ah, der Theo. Hat wohl die Schwester Bertha erwartet. Er gluckste ein bisschen und wandte sich seinem Inventar zu.

    Jetzt, von der Seite betrachtet, hatte sein Gesicht mit den hängenden Backen und den leicht geröteten Wangen etwas Joviales, wenn nicht gar Gutmütiges. Und Theo fragte sich, woran es wohl lag, dass er eben, als er es direkt vor sich hatte, darin etwas Nilpferdähnliches gesehen hatte, eine dumpfe Freundlichkeit, zu der die kleinen, aufmerksamen Augen nicht recht passten.

    Die unfreundlichen Gedanken, die ihn angesichts seines Mitbruders immer wieder überfielen, entsprangen bestimmt den verborgenen Quellen der eigenen Bösartigkeit, die zu erforschen, so redete er sich zu, ihm noch bevorstand.

    Der Herr der Vorratskammer trug Jeans, die ihm, obwohl grosszügig geschnitten, um das Gesäss etwas zu eng waren. Zu sehen, wie der Mann diesen dicken Hintern mit kleinen Trippelschritten in Bewegung brachte, war für Theo immer wieder eindrücklich, verbarg sich hinter der Behäbigkeit doch eine erstaunliche Beweglichkeit. Ein Elefant in Ballettschuhen? Ein Falke, der sich als Huhn tarnte? Ach wo, tadelte sich Bruder Theo, bloss ein alter Gockel, und bestimmt keinen Mord wert.

    Geh doch rüber ins Dorf! Wieder drehte sich Bruder Wilhelm um, er trug ein Lächeln im Gesicht. Kannst dort bestimmt deine Studien fortführen, du alter Frauenversteher.

    Oder soll ich dich besser Bruder Eigentor nennen? So wie deine alten Freunde dort.

    Bruder Theos Blick fiel auf eine prächtige Süsskartoffel im Regal, die in Form und Grösse exakt an die Knüppel erinnerte, mit denen sich die Steinzeitmenschen in den Comics seiner Kindheit gegenseitig totgeschlagen hatten. Rasch drehte er sich um und trat an die Sonne.

    Bruder Wilhelm, das gestand er ihm zu, besass einen ausgesprochenen Sinn für die Schwächen anderer Menschen.

    Er hingegen, Bruder Theo, besass, wie alle geschlagenen Kinder, einen Sinn dafür, wer es gut mit ihm meinte und wer nicht.

    Aber bei diesem seinem Mitbruder zeigte sein Sensorium weder in die eine noch in die andere Richtung. Vielmehr hatte er es mit jemandem zu tun, der ihm auf unerklärliche Weise überlegen war. Was Bruder Wilhelm mit grossem Ernst aussprach, konnte immer auch Spiel und Verstellung sein, hinter einem Spässchen liess sich eine Drohung erahnen, und das war alles so raffiniert abgewogen und mit einem Lächeln serviert, dass man tatsächlich selber von Bosheit erfasst sein musste, wenn man dahinter Verdächtiges erspähen wollte.

    Der Mitbruder war beliebt, und sogar Schwester Bertha, seine Freundin, war voll des Lobes; widerspruchslos hatte sie ihm die Herrschaft über die Vorratskammer übergeben.

    Aber er tut doch so viel für uns, sagte sie, und er ist nett. Er redete mir zu, ich solle etwas ausruhen, so viel wie ich gearbeitet hätte ein Leben lang. Das hast du mir nie empfohlen.

    Weil es dir eh nicht gelingt! Aber das ist einer, sagte Theo dann, der sucht etwas, und ich weiss nicht, was es ist.

    Sei doch einfach etwas freundlich zu ihm! Das ist ein Mensch, der lachen kann. Mit uns Schwestern ist er fröhlich.

    Und er hat etwas zu verbergen!

    Wer hat das nicht?, pflegte Schwester Bertha zu fragen, und damit hatte sie bestimmt recht. Wie Bruder Theo bewohnte Wilhelm ein Zimmer im alten Konventsgebäude. Aber als Chorleiter hatte er auch ein Büro neben dem Gesangsraum, und darin verschwand er jeden Nachmittag um zwei Uhr hinter eine verschlossene Tür. Tag für Tag sah man ihn, pünktlich um vier Uhr nachmittags, mit einem in blaues Leder gebundenen Buch unter dem Arm über den staubigen Weg zurück in sein Zimmer gehen.

    Bruder Theo fragte sich, ob überhaupt etwas drin stand in diesem Buch. Tatsächlich konnte er sich fast nicht vorstellen, dass ein Mensch wie Wilhelm die Andacht aufbrachte, weder einen schönen noch einen wahren Satz auf Papier zu bringen. Die Buchhaltung, wahrscheinlich macht er nichts als seine Buchhaltung, so hatte Theo längst entschieden.

    Trotzdem beschäftigte ihn das blaue Buch. Und wenn es doch Gedichte waren?

    Du blöder alter Sack, hörte Bruder Theo sich rufen, hör auf damit, und das war eine Aufforderung an seine eigene Person. Er verliess das längst gerodete Land der Mission. Die Lehmstrasse ins Dorf der Indianer führte durch niedrigen Busch. Bruder Theo stolperte. Als die Drossel wieder ihr Blech verzapfte,

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