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Herr Rurka - Der Elefantenmann
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eBook992 Seiten15 Stunden

Herr Rurka - Der Elefantenmann

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Über dieses E-Book

Als Joseph Merrick 1890 starb, wusste niemand welche Krankheit ihn getötet hatte. Der als Elefantenmensch bekannt gewordene Brite litt seit seiner Kindheit an einer Krankheit, die ihn völlig entstellte.

Joseph Merrick wurde 1862 in Leicester, England, geboren. Im Alter von fünf Jahren bemerkte man erste Deformierungen. Bereits zehn Jahre später war er so schrecklich entstellt, dass seine eigenen Eltern ihn ablehnten. Er wuchs bei seinem Onkel auf. Joseph wurde bekannt als der "Elefantenmensch" und ist bis heute der am stärksten missgebildete Mensch in der Geschichte der Medizin.

In dieser Geschichte erzählt Jonathan Loewe von einem unbekümmerten, im Herzen reinen, engstirnigen und gleichzeitig weltoffenen, jungen Mann, der noch am Anfang seines Lebens steht, drauf und dran ist, die Welt für sich zu erobern, die Liebe entdeckt mit allen Höhen und Tiefen und dabei auf einen Menschen trifft, der eine maßlose Entstellung mit sich herumträgt.
Auch wenn die Wahrscheinlichkeit sehr gering ist, könnte mein "Elefantenmann" ein direkter Nachkomme des berühmten "Elefantenmenschen" Joseph Merrick sein.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum22. März 2017
ISBN9783745040906
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    Buchvorschau

    Herr Rurka - Der Elefantenmann - Jonathan Loewe

    JOSEPH MERRICK – DER ELEFANTENMENSCH

    Als Joseph Merrick 1890 starb, wusste niemand welche Krankheit ihn getötet hatte. Der als Elefantenmensch bekannt gewordene Brite litt seit seiner Kindheit an einer Krankheit, die ihn völlig entstellte.

    Joseph Merrick wurde 1862 in Leicester, England, geboren. Im Alter von fünf Jahren bemerkte man erste Deformierungen. Bereits zehn Jahre später war er so schrecklich entstellt, dass seine eigenen Eltern ihn ablehnten. Er wuchs bei seinem Onkel auf. Joseph wurde bekannt als der „Elefantenmensch" und ist bis heute der am stärksten missgebildete Mensch in der Geschichte der Medizin.

    Am auffälligsten war der stark missgebildete Kopf, der verknöcherte Wülste aufwies. Seine Wirbelsäule war mehrfach gebogen, was zu einer schiefen Haltung führte.

    Am Rücken hingen überschüssige Haut und schwammig aussehende Klumpen aus Fleisch herunter, deren Oberfläche mit verkrusteter Haut bedeckt war.

    Bald konnte sich Joseph Merrick in der Öffentlichkeit nicht mehr sehen lassen, die eigene Familie schämte sich für ihn, Ärzte wussten keinen Rat. Nach einem Leben voller Hoffnungen, Enttäuschungen, seelischen und körperlichen Schmerzen starb er im Alter von nur 27 Jahren in einem Krankenhaus.

    Doch auch über hundert Jahre nach seinem Tod beschäftigt Joseph Merricks Schicksal die Medizin. Ein Team von modernen Wissenschaftlern entnahm die DNA aus seinem Skelett und seinen konservierten Haaren, um so den Gendefekt zu entschlüsseln.

    Joseph Merrick selbst glaubte, dass seine Entstellungen davon herrührten, dass seine schwangere Mutter von einem Elefanten attackiert wurde. So lächerlich diese Erklärung erscheinen mag, war sie nicht minder falsch, als die Theorien, die seine behandelnden Ärzte entwickelten. Erst vor wenigen Jahren erklärten Wissenschaftler zum ersten Mal die Krankheit Neurofibromatosis zur möglichen Ursache.

    Lange Zeit hielt sich die Vermutung, der „Elefantenmensch" habe an multipler Neurofibromatose Typ 1 gelitten – einer erblichen Hirnsklerose, bei der das gesamte Nervensystem befallen wird. Die Krankheit, auch Recklinghausen-Erkrankung genannt, äußert sich in Form von Tumoren und Knochenanomalien. Sie kann von beiden Elternteilen vererbt werden, wobei die Wahrscheinlichkeit 50 Prozent beträgt. Das Risiko, mit der Krankheit geboren zu werden, ist etwa eins zu 3.000.

    Ursache der Neurofibromatose Typ 1 sind Mutationen im NF1-Gen auf dem Chromosom 17. Der Krankheitsverlauf ist sehr unterschiedlich: Bei den meisten Betroffenen treten jedoch nur leichte Hautveränderungen, sogenannte Café-au-lait-Flecken und gutartige Knötchen, die Neurofibrome, auf.

    Tatsächlich wies Joseph Merrick eine Menge Anzeichen auf, die auf Neurofibromatosis hindeuten.

    Vor einigen Jahren geriet eine weitere Krankheit in das Blickfeld der Forscher: das deutlich seltenere Proteus-Syndrom. Diese angeborene Krankheit führt zu Knochen- und Gewebswucherungen, warzenartigen Wülsten auf der Haut sowie zu inneren Tumoren, die existentielle Organe zerstören können. Ursache dieser Krankheit ist eine Mutation des PTEN-Gens, das der Tumor-Unterdrückung dient.

    Möglich ist auch, dass Joseph Merrick an beiden Krankheiten litt, vielleicht sogar an weiteren. Bei derart schweren Symptomen ist dies durchaus denkbar. Vorstellbar sind unter anderem: Feuerstein-Mims-Schimmelpenning-Syndrom und Mafucci-Syndrom.

    Gleichzeitig zur Analyse seiner DNA versuchte man, direkte Nachfahren von Joseph Merrick ausfindig zu machen.

    In dieser Geschichte erzähle ich von einem unbekümmerten, im Herzen reinen, engstirnigen und gleichzeitig weltoffenen, jungen Mann, der noch am Anfang seines Lebens steht, drauf und dran ist, die Welt für sich zu erobern, die Liebe entdeckt mit allen Höhen und Tiefen und dabei auf einen Menschen trifft, der eine maßlose Entstellung mit sich herumträgt.

    Auch wenn die Wahrscheinlichkeit sehr gering ist, könnte mein „Elefantenmann ein direkter Nachkomme des berühmten „Elefantenmenschen Joseph Merrick sein.

    Herr Rurka

    Der Elefantenmann

    Prolog

    Ich mag dieses ratternde Geräusch, dieses Rumpeln, das die U-Bahnräder auf den Schienen erzeugen. Diese ruckartigen Bewegungen der Wagen auf den Schienen, ausgelöst durch Weichen, Schienenstöße und Unebenheiten in den Gleisen, man fühlt sich ein wenig wie ein Kleinkind in Muttis Armen und wird ständig hin und her gewogt. Das Fauchen der Züge, wenn sie aus den Fahrröhren hinaus in die Untergrundbahnhöfe einfahren, das behagt mir nicht, ich bin aber trotzdem jedes Mal fasziniert. Das Geräusch, das sich wie das leise Winseln eines kleinen Hundes anhört, wenn die U-Bahn abbremst, mag ich. Die beengende Atmosphäre der schmalen Röhren, in die die U-Bahn gerade so hinein zu passen scheint, gefällt mir nicht. Die recht kleinen Bahnhöfe verstärken diesen ansonsten kaum hörbaren summenden Ton noch, den dieselbe Bahn unter freiem Himmel machen würde; ab und zu wäre wahrscheinlich beim Überfahren einer Weiche ein Klacken zu hören, aber sonst fast nichts.

    Die Erbauer haben sich zwar bemüht, einen Bahnsteig so zu konstruieren, dass die Schallwellen ihre Kraft beim Auftreffen auf eine Wand verlieren, aber ganz gelingt das vollständige Absorbieren der Schallwellen unter solchen Umständen scheinbar nicht.

    Ich liebe dieses Geräusch und würde mich höchstwahrscheinlich über die Erfinder solcher Bauwerke und Materialen, die jeden Laut auffressen, maßlos aufregen; die Bewohner eines Ortes nahe der Autobahn freuen sich sicher über derartige Konstruktionen. Ich finde, in einem U-Bahnhof, sollte man das Schnauben fahrender und bremsender Fahrzeuge zulassen.

    Meine erste Begegnung mit einer Bahn, in diesem Fall war es eine handelsübliche Eisenbahn, war ein D-Zug von Wolfen nach Magdeburg. Der Tag ist schon so lange her, dass ich mich nicht mehr daran erinnern kann. Nicht, weil mich mein Gedächtnis im Stich lässt, sondern viel mehr, weil sich kaum ein Mensch, um nicht zu sagen niemand, an sein erstes Lebensjahr erinnern kann. Auch, wenn ich mich noch so anstrenge und meine Gehirnzellen strapaziere, es will mir einfach nicht gelingen. Ich kann also nur auf das zurückgreifen, was mir meine Mutti erzählt hat (und sie beschrieb es so lebensecht und bildlich, dass es mir nicht schwer fiel, das damalige Geschehen vor meinem inneren Auge zu sehen) und was ich selbst bei Kleinstkindern auf Bahnsteigen beobachtet habe.

    Im März 1976 standen wir vier, meine Mutti, mein Vater, meine drei Jahre ältere Schwester und ich, in einem Babykorb liegend, auf dem Bahnsteig in Wolfen und warteten auf den Zug. Ich hatte vor acht Monaten das Licht der Welt erblickt und meine Mutti war der Meinung, es sei jetzt Zeit, dass ich auch meine anderen Großeltern väterlicherseits kennen lernen sollte. Also machten wir uns auf den Weg. Ein Auto hatten wir damals wie viele andere DDR-Bürger noch nicht und waren somit auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen. Damals hätte wohl niemand einen Cent darauf verwettet, dass mir heute die Zugfahrt so viel Freude macht und es kaum ein anderes Fortbewegungsmittel gibt, in dem ich mich so sicher und gut aufgehoben, fast heimisch, fühle. Meine Augen waren überall. Ich beobachtete die vielen Menschen, die um mich herumstanden, aus meinen Babykorb heraus. Mein Blickfeld war zwar durch die tiefhängende Mütze, den Babykorbrand und durch die fürsorgliche Hand meiner Mutti, die mich mit Sachen und Decken eingepackt hatte, als ob wir zum Nordpol wollten, eingeschränkt, aber selbst durch das kleine Fenster, das mir blieb, gab es viel zu sehen. So viel Neues, Fremdes und Interessantes, dass meine Augen und meine kleinen Hände nie still standen.

    Am Tag vor unserer Abreise, einen Tag bevor die Welt erfahren sollte, dass es mich gibt, war es verregnet, windig, der Himmel grau und wolkenverhangen und die Temperatur tagsüber um die fünf bis sechs Grad gewesen. Ein Wetter, bei dem man am liebsten im Bett bleiben möchte, als Erwachsener, als Baby war ich ja sowieso die meiste Zeit im Bett. Unter anderen Umständen hätte mich so ein Schmuddelwetter damals nicht aufgehalten, ich wollte die Welt erforschen und kennen lernen, sie für mich erobern. Und im Gegensatz zu erwachsenen Menschen, wie ich es heute selbst merke, wäre das Wetter damals nebensächlich gewesen; ich wollte die Welt um mich herum anfassen und erkunden. Kein Wetter unserer Erde oder irgendwelche anderen hinderlichen Sachen hätten mich aufhalten können, wäre da nicht die kleinkindliche Unbeholfenheit gewesen; der Geist willig, aber die Knochen und Muskeln und vor allem das Gehirn mit der Koordination der Selbigen war dazu nicht im Stande – noch nicht.

    Am Tag unserer Reise zu meinen Großeltern hatte sich das Wetter fast schlagartig geändert. Am Morgen waren es schon zehn Grad, die Sonne strahlte vom leicht wolkenbedecktem Himmel und Wind war kaum zu spüren. Die Sonne stand noch sehr flach über dem Horizont, sie schaffte es gerade über die Häuserdächer und die hohen Bäume hinter dem Bahnhof in Wolfen, aber sie war schon sehr warm und wohltuend. Meine Mutti stellte mich mit meinem Korb auf eine Bank und ließ mich genau in Richtung Osten, zur Sonne, gucken – was mein Blickfeld ebenfalls einschränkte. Ich musste zwar gelegentlich blinzeln, um meine Augen etwas zu schonen, der Wille, die Welt zu erfahren, war allerdings viel größer. Und hätte ich damals schon ein bewusstes Denken gehabt, hätte ich festgestellt, dass ich ein Sonnenmensch bin. Ich habe die Sonne genossen, jeden einzelnen Strahl aufgesogen wie ein Löschpapier die Tinte eines auslaufendes Füllfederhalters. Dieser Tag, dieses Wetter, gefiel mir viel besser als die Tage, die ich zuvor bei den Spaziergängen, die immer wetterbedingt sehr kurz waren, mit meiner Mutti erlebt hatte. Meiner Klapper habe ich an diesem Morgen keine Beachtung geschenkt; die Sonne, die vielen fremden Menschen und die fremde Umgebung haben mein Lieblingsspielzeug unsichtbar und uninteressant gemacht. Ab und an zog ein Wölkchen an der Sonne vorbei und meine Augen konnten sich etwas ausruhen; gleichzeitig hat sich mein Sehfeld vergrößert und es gab wieder viele neue Dinge, die es zu beobachten galt. Vögel auf den Stromleitungen und in der Luft und auf den Bäumen hinter den Bahngleisen, ein weißer Streifen, der sich am Himmel bewegte und immer länger wurde, mit einem glitzernden und funkelnden Punkt vor dem weißen Streifen. Und umso mehr man Richtung Ende des Streifens sah, desto breiter und durchsichtiger wurde er. Als der Punkt schon fast meinem Blickfeld entronnen war, gab es einen dumpfen und abgehackten Knall und das Flugzeug hatte die Schallmauer durchbrochen. Beziehungsweise, die Schallwelle, die das Flugzeug erzeugte, kam jetzt erst bei uns an. Der Knall war nicht besonders laut, die Vögel auf den Stromleitungen schreckten nicht einmal hoch, er genügte aber, um die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich zu ziehen. Die Leute, einschließlich meiner Mutti und meinem Vati, richteten ihre Augen zum Himmel und suchten ihn nach der Ursache für diesen Knall ab. Sie schauten für einen kurzen Augenblick alle in eine andere Richtung. Nach und nach senkten sich die Blicke wieder. Die einen sahen das Flugzeug nicht und wollten danach auch nicht mehr suchen, andere registrierten das Flugobjekt, waren mit der Ursache des Knalls ausreichend befriedigt und konzentrierten sich wieder auf andere Dinge. Wieder andere schienen durch den Knall aufgewacht zu sein und griffen nach der Suche am Himmel hektisch, aber sehr zielsicher in ihre Taschen, um Fahrkarten und Brieftasche zu kontrollieren; bei anderen sah es allerdings sehr panisch aus, weil sie offenbar vergessen hatten, wo ihre Fahrkarten waren. Meine Mutti wandte ihren Blick sehr schnell vom Himmel zu mir. Sie beugte sich zu mir herunter, um zu sehen, ob mich dieses Geräusch erschreckt hatte.

    »Nichts passiert, alles in bester Ordnung, war doch nur halb so schlimm!«, hätte ich zu ihr gesagt, wenn ich damals schon hätte sprechen können. Gott sei Dank konnte ich es damals noch nicht, sonst wären mir die Streicheleinheiten und der Kuss auf meine Stirn wahrscheinlich verwehrt geblieben, wenn ich die Gedanken ausgesprochen hätte. Neben den Zärtlichkeiten gab es nämlich noch den Vorteil, dass meine Mutti meine Mütze nach oben schob (um mir einen Kuss zu geben) und ich dadurch viel besser sehen konnte. »Danke, liebste Muttsch«, würde ich heute wohl gesagt haben, »für die Liebe und für die freie Sicht!«

    Nach den paar Sekunden der absoluten Stille, ausgelöst vom Knall des Flugzeuges, herrschte nun wieder reges Treiben und Erzählen auf dem Bahnsteig. Leute gingen an mir vorbei und raubten mir für einen Moment die so geliebten Sonnenstrahlen, die gerade wieder auf mich herabfielen. Manche Leute würdigten mich eines Blickes und manche gingen stur geradeaus an mir vorbei – es hätte wohl Miss Februar nackt neben mir stehen können, manch einer war so verbissener, dass er sie nicht bemerkt hätte. Erstaunlich war, dass alle Kinder bei mir reinschauten oder anhielten und mir zuwinkten. Von den großen Menschen, den Erwachsenen, waren es nur sehr wenige und dann meistens Frauen. Meine Anziehungskraft auf die Frauenwelt war damals schon sehr gut ausgeprägt, vielleicht lag es aber auch nur an dem Mutterinstinkt jeder Frau, durch den sich weibliche Wesen zu kleinen Kindern und Babys hingezogen fühlen, die sie liebevoll umsorgen möchten.

    Aus dem Lautsprecher tönte eine krächzende und kaum verständliche Stimme, bei der man nicht wusste, ob sie von einer Frau oder einem Mann stammte. Sie verkündete, dass der Zug fünfzehn bis zwanzig Minuten Verspätung hätte. Ein lautes Raunen und Brummeln war die Antwort. Die Wartenden äußerten so ihren Unmut.

    Ich finde das gut. Was ihr nur alle habt? Ich lerne heute die große, weite Welt kennen. Es stürzen gerade eine Million neue Dinge auf mich ein und ihr regt euch auf. Lasst mich das hier noch eine Weile genießen und regt euch ab, huschte mir durch den Kopf, doch leider konnte ich es noch nicht sagen.

    Dass man durch eine Zugverspätung vielleicht seinen Anschlusszug verpasst oder den Bus am Zielbahnhof, den man erreichen möchte, war mir zu dem Zeitpunkt noch nicht bewusst. Aber dafür ist ja so ein Tag da, dass man viele neue Sachen sieht und kennen lernt.

    Es war schön, acht Monate jung zu sein!

    Einige Sekunden nachdem meine Mutti mein komplettes Blickfeld wieder für mein Umfeld freigegeben hatte, kam ein kleiner Spatz angeflogen. Er setzte sich auf den Rand meines kuscheligen Korbes, schaute aufgeregt mit schnellen, ruckartigen Kopfbewegungen hin und her und flog dann genauso schnell wieder weg wie er gekommen war. Ich gab ein undefinierbares Geräusch von mir, das klang wie eine Kombination aus ersten Sprechversuchen und einem Lachlaut (ich war vor ein paar Wochen in einer Situation, da musste ich schnell auf eine Frage antworten, hatte aber noch einen halben Klops im Mund – das hat sich ebenso angehört). Es bewegte meine Mutter dazu, meinen freien Blick auf die Bäume, den Himmel und die Sonne zu unterbrechen. Sie beugte sich zu mir herunter, streichelte meinen Kopf, lächelte und sagte irgendwelche Worte zu mir, die ich aber damals noch nicht verstand. Wenn Babys sich treffen, können sie sich unterhalten wie in dem Film Guck mal, wer da spricht, aber wenn ein Erwachsener dazu kommt und redet, klingt das etwa so wie, wenn jemand ein Baby imitieren will – nur zusammenhanglose Laute waren zu hören. Meine Mutti schnatterte ein bisschen wie eine Ente, der man den Schnabel zuhält oder wie ich eben, als ich versuchte, mit dem Spatz zu sprechen. Meine Mutti nahm mich aus dem Kinderkörbchen in ihre Arme und schaukelte mich ganz sanft hin und her.

    »Ganz toll, so liebe ich das. Das könnte stundenlang so weiter gehen«, wollte ich sie loben, aber wie schon gesagt, meine Muskeln und Knochen, die ein starkes Eigenleben hatten, ließen das nicht zu – noch nicht.

    Das Dumme an der Situation war, dass ich jetzt mit meinen Augen zwischen Bahnhofsuhr, die ich aber auch nur von unten sah, der Bahnsteigüberdachung, einem Pfeiler, der das Dach hielt, und dem Gesicht meiner Mutter hin und her pendelte. Es war ein sehr langweiliger Anblick. Wo Pfeiler und Dach zusammenstießen, klebte zwar ein Schwalbennest, aber von den Vögeln war weit und breit nichts zu sehen Sie weilten wohl noch im Süden, im Winterquartier.

    Da waren die Sachen, die ich vorher angeguckt hatte, aber wesentlich interessanter und aufregender, als so ein Holzdach und eine Uhr von unten ansehen zu müssen. Kurz entschlossen nahm ich mir vor, die Sache zu ändern, ich wollte was anderes anschauen. Spontan, wie ich nun mal bin, legte ich mein Gesicht in Falten, drückte die Augen zusammen, öffnete den Mund ein Stückchen, ließ die Nase laufen und quetschte ein Weinen heraus. Gott sei Dank verstand mich meine Mutti und richtete mich auf. Mein Bauch und meine Brust lagen nun an ihrer Schulter und ich konnte über sie hinwegsehen.

    Schon besser! Moment, das ist ein guter Trick, muss ich mir unbedingt merken.

    Jetzt blickte ich über zwei weitere Bahnsteige auf einen gewaltigen Bau, das Bahnhofsgebäude. Zwar noch etwas, das sich nicht bewegte und nur still da stand, aber die Größe war faszinierend. Auf den Bahnsteigen gingen viele Leute umher und mein Verlangen nach Dingen, die sich bewegten, war erst einmal gesättigt. Und Dinge, die sich bewegten und dabei auch noch Geräusche machten wie meine Klapper, waren zur damaligen Zeit das, was heutzutage Jennifer Lopez und schnelle Autos für die Männerwelt sind – das Objekt der Begierde.

    Während der Entwicklung vom Baby zum erwachsenen Mann macht ein Mann keine großen Fortschritte: Mann mag Frauen – die Mutter, weil sie sich rund um die Uhr um einen sorgt; später andere Frauen, einerseits als Geliebte und andererseits als Kümmerin, die alles wegräumt, was Mann liegen lässt. Tja, und dann liebt Mann natürlich immer noch sich bewegende Dinge, die Lärm machen – erst die Klapper oder Rassel und später schnelle Autos. Natürlich gibt es auch viele Männer, die sich für beeindruckende Bauwerke interessieren, aber wenn ein schnelles, sportliches Auto vorbeifährt oder eine gutgebaute Frau vorübergeht, gerät das Bauwerk ganz schnell in Vergessenheit.

    Mit einem Knacksen ertönte die gleiche unverständliche und krächzende Lautsprecherstimme:

    »Achtung, Achtung, am Gleis 5 erhält Einfahrt der D-Zug R759 von Bautzen über Dresden, Leipzig, Bitterfeld, Wolfen, Dessau, Zerbst zur Weiterfahrt nach Magdeburg. Bitte treten Sie von der Bahnsteigkante zurück. Planmäßige Abfahrtzeit 10.02 Uhr. Voraussichtliche Abfahrtzeit 10.20 Uhr. Ich wiederhole. Achtung, Achtung, am Gleis 5 erhält Einfahrt der D-Zug R759 von Bautzen über Dresden, Leipzig, Bitterfeld, Wolfen, Dessau, Zerbst zur Weiterfahrt nach Magdeburg. Bitte treten Sie von der Bahnsteigkante zurück. Planmäßige Abfahrtzeit 10.02 Uhr. Voraussichtliche Abfahrtzeit 10.20 Uhr. Vorsicht bei der Einfahrt des Zuges!«

    Auf einem anderen Bahnsteig sprang kurz danach der Lautsprecher an und gab sicherlich Ähnliches bekannt, zu verstehen war es nicht. Einerseits, weil die schreckliche, rauschende Stimme aus der Entfernung ihre Kraft verlor, und andererseits, weil auf unserem Bahnsteig plötzlich alle Menschen und Haustiere in Bewegung gerieten und dabei eine Menge Lärm verursachten. Meine Mutti legte mich ganz sacht in mein Kinderkörbchen und deckte mich wieder schön zu, so dass kein kühles Lüftchen mich anwehen konnte. Vor mir gingen Leute auf und ab, mal Sonne, mal keine Sonne. Ich beobachtete die Welt und genoss es, diese Erfahrungen zu machen. Auf die Erfahrung, die ich in den nächsten Minuten machen sollte, hätte ich gerne noch ein Weilchen verzichtet (und die anderen Reisenden wahrscheinlich auch). Hätte ich diese Ereignisse in meinem fünften Lebensjahr erlebt, wäre ich bestimmt souveräner damit umgegangen. Nun sollte die ganze Welt erfahren, dass es mich gab.

    Die Leute traten tatsächlich ein Stück von der Bahnsteigkante zurück und die, die weiter vorn standen, richteten alle ihre Köpfe nach rechts, als ob sie in dieser Richtung etwas suchten oder als ob da hinten etwas sehr Interessantes wäre, irgendein Ding, das Geräusche machte und sich bewegte – wie meine Klapper.

    Was wusste ich damals schon? Nichts! Hätte ich damals geahnt, was da auf uns zugeschossen kam, ich glaube, ich hätte an dem Tag Laufen gelernt und wäre wieder heimgegangen. Zumindest hätte ich den Bahnhof verlassen, da bin ich mir ziemlich sicher. Dass es zu den Selbstverständlichkeiten des modernen Reisens gehörte, mit dem Zug zu fahren, wollte ich damals nicht verstehen. Ich hörte nur dieses grauenhafte Geräusch, das ein nahender Zug hervorbringt und das immer lauter wurde. Eine Abwechslung von Donnern, Knallen, Puffen und Verwindungsgeräuschen näherte sich mir. Als dieser monströse rote Eisenhaufen in mein Blickfeld geriet, kam der Zugführer auf die Idee, zu bremsen. Ein Geräusch stieß in meine Ohren, als ob sich die Erde auftat und der Teufel höchstpersönlich ans Tageslicht trat. Ein Quietschen und Rumpeln kam zu den Verwindungsgeräuschen von Stahl hinzu, die mir dermaßen in den Magen und in die Glieder fuhren, dass ich den Rest meines kleinen Körpers für kurze Zeit nicht mehr spürte. Die Lokomotive war schon fast an mir vorbei, als mich ein Windzug ergriff. Panik und pure Angst standen mir in den Augen. Ich verstand nicht, wie sich das all die anderen Menschen freiwillig antun konnten. Ich wurde ja hierher gebracht, ich hatte keine andere Wahl. Mein Herz raste. Vor Schock wurde ich kreidebleich und die Panik trieb mir Schweißperlen auf die Stirn. Ich war hilflos. Um dem ansteigenden Erstickungsgefühl Platz zu machen, riss ich den Mund auf und schrie, was das Zeug hielt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Durch die vertränten Augen konnte ich schwach erkennen, dass selbst meine Mutti und meine Schwester, die bei meinem Vater auf dem Arm saß, sich die Ohren zuhielten. Da der Krach durch mein Schreien nicht vertrieben wurde, beschloss ich, noch einen drauf zu setzen. Ich drückte die Augen fest zusammen, sammelte meine ganzen Kräfte, öffnete den Mund so weit ich nur konnte, holte tief Atem und machte meiner Angst Luft. Ich schaffte es immer noch nicht, dieses Ding mit dem grässlichen Geräusch zu verdrängen, wegzuscheuchen, aber zu hören war es nicht mehr. Nicht für mich und für all die anderen Menschen auch nicht. Stattdessen vernahmen sie jetzt ein Geräusch, das für viele Anwesende vielleicht schlimmer, grausamer klang als das Quietschen und Krachen, das das rote Monster mit dem grünen Schwanz vor uns erzeugte. Meine Mutti beugte sich wieder zu mir herunter und versuchte mich, durch Streicheleinheiten und sanftes Zureden zu beruhigen. Hoffnungslos. Ihre Stimme konnte ich nicht hören, wegen des Lärms, den der Zug und ich im Einklang erzeugten. Die warmen Hände meiner Mutti hielt ich, da ich ja immer noch meine Augen fest zukniff, für die Fangarme des lebendig gewordenen Teufels, der mich jetzt einfangen wollte. Um zehn bis zwanzig, vielleicht auch dreißig, Dezibel schoss meine Lautstärke nochmals in die Höhe. Die Köpfe der Leute drehten sich alle zu mir um. Sie wollten nicht glauben, dass ein Kind so erbarmungslos laut schreien konnte. Die meisten meinten bestimmt, dass dieses Körbchen in Wahrheit viel größer war und dass darin ganz sicher ein Schwein geschlachtet oder zumindest gequält wurde.

    Die Menschen, deren Hände die Ohren vor ein paar zehntel Sekunden wieder freigegeben hatten, zuckten erstaunt zusammen, da ihrer Meinung nach, das furchtbare Geräusch hätte vorbei sein müssen, weil der Zug sich ja nicht mehr bewegte. Sie versuchten, die Quelle des haaraufstellenden Schreis zu lokalisieren und bewegten automatisch ihre Hände blitzschnell wieder zu den Ohren zurück.

    Vielleicht fünf Meter von mir entfernt stand ein kleines Bahnsteighäuschen, dessen Tür sich in meine Richtung öffnete. Ein Mann in blauer Uniform, mit Hut, einer roten Kelle und einer Trillerpfeife um den Hals trat ins Freie, gefolgt von einer Frau mit der gleichen Tracht nur ohne eine Pfeife. Entsetzt sahen sie zu dem blauen Körbchen und der Frau, die davor hockte, hin. Die Frau ging zielstrebig auf meine Mutter zu und fragte in sehr lautem Ton, da sie ja meine Stimme übertönen musste, ob alles in Ordnung wäre.

    Was für eine dämliche Frage! Diese lange grüne Schlange mit dem roten Kopf hat gerade nach mir gegriffen, bestimmt, weil sie Hunger hatte und mich fressen wollte, und du Henne fragst, ob alles in Ordnung ist? Ich versuche, mit meinem Geschrei dieses Ungetüm von mir fernzuhalten!, diese Gedanken und ähnliche hätte ich ihr am liebsten an den Kopf geworfen, doch leider konnte ich noch nicht sprechen – noch nicht.

    Als die Frau in der Uniform auch noch ihre Hand nach mir ausstreckte, vielleicht um mich zu beruhigen, vielleicht war sie aber auch ein verbündeter Untertan des Ungetüms, erreichte meine Angst ihren Höhepunkt. Und alle, die geglaubt hatten, dass ein so kleines Kind nicht mehr lauter schreien könnte, belehrte ich eines Besseren. Der Zug stand jetzt schon fast drei Minuten, der Bahnhof allerdings schien erstarrt zu sein. Kein Mensch bewegte sich, weder um in den Zug zu steigen, noch um den Zug zu verlassen. Die Fahrgäste, die den Zug verlassen wollten und erst durch das Öffnen der Türen mitbekamen, was sich auf dem Bahnsteig abspielte, blieben wie angewurzelt an den Türen stehen. Einige von ihnen schlossen sogar die Türen wieder und schauten gespannt durch das Fenster. Die Frau in der Uniform, die den Höhepunkt meiner Schreikultur ausgelöst hatte und ihn nun erleben durfte, schreckte wie von einer Tarantel gestochen hoch, als hinter ihr die Glasscheiben des Fensters und der Tür in tausend Teile zersprangen; man hätte meinen können, in dem Bahnsteighäuschen hätte es eine Explosion gegeben, so schossen die Glassplitter durch die Gegend.

    Viel später sollte ich erfahren, dass die Scheiben nie ersetzt wurden. Man nagelte die entstandenen Löcher einfach mit Holzplatten zu. In meinem 13. Lebensjahr hörte ich das erste Mal die Legende, dass ein Baby die Scheiben mit bloßer Stimmenkraft zerstört haben sollte. Damals wusste ich noch nicht, wer dieses Baby war und so wie es aussah, wusste der Bahnhofsmitarbeiter, der mir davon berichtete, es auch nicht.

    Die wartenden Fahrgäste auf dem Bahnsteig warfen schützend ihre Arme über den Kopf und sprangen aufgeregt drei, vier Schritte vom scheinbar explodierenden Häuschen zurück. Der Mann mit der Uniform und der funkelnden Pfeife kam schnellen Schrittes auf uns zu und verschwand hinter den zerstörten Scheiben in dem Häuschen.

    Kurz darauf ertönte der Lautsprecher mit einem Knacken, gefolgt von einer schnellsprechenden, aufgeregten Stimme, die uns mitteilte: »Sehr geehrte Fahrgäste, bitte steigen Sie in den Zug ein! Er fährt in zwei Minuten ab.«

    So langsam kam Bewegung auf dem Bahnsteig auf, vielleicht durch die Lautsprecheransage oder weil mein Geplärre wieder um ein paar Dezibel zurückgegangen war. Die Leute, die den Zug verlassen wollten, taten dies schnell und eilten zum Ausgang; es sah aus, als ob sie verfolgt wurden, so rasch bewegten sich manche. Dann stiegen die Leute ein, die in Richtung Magdeburg reisen wollten, genauso schnell und vom Verfolgungswahn getrieben. Meine kindliche Unwissenheit hatte mich wieder gepackt – ich wusste nicht, was für ein Ding das da vor uns war. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wieso die Menschen freiwillig in dieses Ding einstiegen, wo das Ungetüm doch so furchtbare Geräusche von sich gab.

    Der Mann mit der Uniform kam wieder aus seinem Häuschen heraus und ging auf einen Mann zu, der aus dem Zug gestiegen war und ebenfalls eine blaue Uniform trug. Sie unterhielten sich kurz und dann kam der uniformierte Mann aus dem Zug auf uns zu. Wir standen kurz vor der Tür, fünf, sechs Menschen waren noch vor uns. »Entschuldigen Sie bitte, ich habe vorn im ersten Wagen noch ein freies Abteil, das können Sie gerne nehmen, damit sich Ihr Kind wieder beruhigt«, sagte er zu meiner Mutter.

    Sie wechselte kurz ein paar Worte mit meinem Vater, dann folgten wir dem Mann. Am ersten Wagen angekommen, wollten mein Vati, in der einen Hand einen großen Koffer, an der anderen meine Schwester, und meine Mutti, die mich in meinem Körbchen trug, tatsächlich in dieses Monster einsteigen. Ich konnte es nicht fassen.

    Dieses Monster hat seine Klauen nach mir ausgestreckt und ihr wollt mit mir da rein? Die paar Dezibel, um die ich meine Stimme vorhin gesenkt hatte, packte ich jetzt wieder drauf – ich wollte da nicht rein! Ein paar endlose Sekunden später waren wir in unserem Zugabteil angekommen und meine Mutter bedanke sich beim Schaffner. Mein Vater ging noch mal zurück, um den zweiten Koffer zu holen. Ein Weilchen später war er wieder da, mit Koffer und genervtem Gesichtsausdruck. Meine Mutti verzweifelte. Sie wusste nicht, was sie noch tun konnte, um mich zu beruhigen. Sie zog ein Nuckelfläschchen aus der Tasche und bot es mir an, ich lehnte aber mit schreiender Stimme ab. Sie küsste mich auf die Stirn, streichelte mich, sprach mir liebevoll zu – nichts half. Sie nahm mich aus meinem Körbchen und musste feststellen, dass ich völlig durchnässt war. Ich hatte meine sämtlichen Sachen und das gesamte Bett durch Angstschweiß vollkommen nass gemacht. Sie schaukelte mich im Arm begleitet von beruhigendem Summen leicht hin und her. Das half aber auch nicht. Ich wollte mich nicht in diesem Monster aufhalten. Ich denke, wäre sie schnurstracks wieder ausgestiegen und vom Bahnsteig verschwunden, hätte ich sofort aufgehört, zu weinen. Aber sie blieb drin, und meine Gedanken und Gefühle zu dieser Entscheidung teilte ich ihr durch mein Geschrei mit. Nur leider verstand sie es dieses Mal nicht. Vielleicht kapierte sie es ja doch, sie war aber so stolz auf mich, dass sie mich unbedingt meinen Großeltern zeigen wollte – genauso wird es gewesen sein!

    Meine Mutti beschloss dann, mir erst einmal die Sachen zu wechseln. Sie kramte aus der Tasche eine Decke hervor und breitete sie mit nur einer Hand auf der Sitzbank aus, sie legte mich auf die Decke und kramte wieder in der Tasche herum. Nachdem sie ein paar Sachen herausgezogen hatte, fing sie an, mich auszuziehen. Dabei überlegte sie immer noch, wie sie mich beruhigen könnte; man sah es ihr richtig an. Draußen auf dem Bahnsteig ertönte ein lauter Pfiff. Mein Vater stand am geöffneten Fenster und sah hinaus. Der Zug setzte sich in Bewegung. Mein Vati schloss das Fenster und setzte sich hin. Er schloss auch die Augen. Vielleicht betete er, dass der Lärm, den ich erzeugte, endlich aufhören würde; vielleicht war er aber auch nur müde und wollte schlafen, was bei meinem Gebrüll schwer sein dürfte. Ta-dan, ta-dan, ta-dan, ein rhythmisches, leichtes, schnellerwerdendes Poltern hörte und spürte ich durch meine Decke hindurch. Ein vorsichtiges Brummeln, ab und an ein Knacken, verursacht von den Innenverkleidungen, die aneinander rieben, kamen hinzu. Schlagartig verstummte mein Geschrei und verwandelte sich in ein Lachen. Meine ersten beiden Mausezähnchen strahlten aus meinem Mund. Ich schnurrte wie eine Katze, die sich nach einem ausgiebigen Fressen auf der Erde lang ausstreckt. Meine Augen leuchteten, als ob es die letzten Minuten nie gegeben hätte. Ich genoss die Schwingungen, das Wackeln und die beruhigenden Geräusche des Zuges. Kein böses Schnaufen, Puffen, Quietschen und Fauchen war mehr zu hören, und so wie ich mich fühlte und wie ich dabei lachte, gab es das auch nie. Wir hatten Wolfen noch gar nicht richtig verlassen, da strahlte ich schon wie der Sonnenschein draußen vor dem Fenster. Was hier gerade passierte, war das exakte Gegenteil von dem, was noch vor ein paar Minuten los war. Erstaunt hat mich nur, dass es sich jedes Mal um das gleiche Objekt handelte; zuerst war es ein todbringender roter Teufel in Monstergestalt, der nichts weiter verlangte als mein junges Leben. Jetzt war es die Hand Gottes, der das gelang, was nicht einmal meine Mutter geschafft hatte: mich zu beruhigen und mir meinen Frieden wieder zu geben. Es war ein schönes Gefühl, das Geratter der Räder zu spüren. Meine Mutti zupfte an mir herum und lächelte mich mit bewegten Lippen an, die mir irgendetwas sagten. Ich strampelte mit Beinen und Armen und freute mich über meine neue Liebe zum Zugfahren.

    Letzten März, im Jahr 2003, war ich mit einer Freundin, Constanze ist ihr Name, zur Buchmesse nach Leipzig unterwegs. Mein Freund Rene hatte uns am Vorabend vom Zug aus Halle abgeholt, weil er uns zu seiner Geburtstagsfeier in die Gaststätte „Zur alten Eiche" in Rödgen eingeladen hatte. Wir waren etwas früh dran (vielleicht kam er auch etwas später) und verbrachten einige Zeit auf dem Wolfener Bahnhof. Ich musste Constanze wieder die Geschichte von meiner ersten Zugfahrt erzählen. Obwohl sie sie schon sehr oft gehört hatte, fragt sie immer wieder nach dieser Geschichte. Für mich ist es jedes Mal ein schönes Gefühl, in einem Zug zu sitzen (vielleicht auch, weil es heute nicht mehr so oft ist), die Schwingungen zu spüren, die Fahrgeräusche zu hören, die Landschaft zu beobachten, durch die wir hindurchsausen und die Ruhe zu genießen. Man kann dort gut vom Alltag abschalten, finde ich.

    Im August hat Constanze mich noch einmal zum Bahnhof nach Wolfen gefahren. Sie brachte mich auf den Bahnsteig und lief bis zum Ende des Bahnsteiges. Ich hatte mir im Fahrplan die Zeit heraus gesucht, wo dort am wenigsten los war und es noch hell war.. Ich saß auf einer kunstvoll geschwungenen Bank, genau an der Stelle, an der damals die Holzbank stand, auf der ich mit meinem Körbchen lag, und ließ die ganze Szenerie Revue passieren. Ich sah mich auf dem Bahnsteig um, auf dem seit damals wenig Bautechnisches geschehen ist. Heute ist er ziemlich kaputt und verkommen, Bahnpersonal gibt es auch nicht mehr – das wurde alles durch Technik ersetzt. Die Bahnhofsuhr, die ich zur damaligen Zeit nur von unten sah, hängt noch an derselben Stelle, steht aber still. Der Pfeiler, der das heute zerlöcherte Dach stützt, ist inzwischen ein verrostetes Abbild seines früheren Ichs geworden. Das Häuschen, in dem zu jener Zeit so reger Verkehr herrschte, ist heute völlig verlassen; die Tür ist aufgebrochen und wird bei Wind ständig auf- und zugeschlagen. Die Wände des Häuschens sind mit Graffitis übersät – manche recht kunstvoll und kreativ, die meisten allerdings sehen schrecklich aus und einige spiegeln sehr stark die Sympathie des vermeintlichen Künstlers zu Adolf Hitler wieder. Der Bahnsteig ist mit Kaugummis zugekleistert, viele Ölflecken sind zu sehen und in den Ecken, an den Pfeilern und am Bahnsteighäuschen liegen Bierdosen und zerborstene Flaschen. Vor den großen Bäumen auf der gegenüberliegenden Seite des Bahnhofsgebäudes steht eine scheinbar endlose Kette von Güterwagons, völlig mit Efeu zugewachsen, und zeigt die letzten Tage der DDR-Wirtschaft. Die Wagen scheinen wie Dornröschen auf einen Prinzen zu warten, der sie wach küsst und das verwunschene und zugewachsene Schloss aus den Fängen der Hexe befreit.

    Ich war in meinen 27 Jahren nun schon so oft hier, aber wie stark der Bahnhof am Zerfallen ist, wie sehr die Zeit an ihm genagt hat, das ist mir nie so sehr ins Auge gestochen. Wie er in den letzten zehn, fünfzehn Jahren an Attraktivität verloren hat, ist mir nie richtig aufgefallen. Erst die Erzählungen meiner Mutti und die Legende, die sich die Leute über die zersprungenen Scheiben des Bahnwärterhäuschens erzählen, hat mich zum Nachdenken angeregt und dazu geführt, dass es mich einfach nur so zum Bahnhof hinzog, ohne jemanden abzuholen oder hinzubringen.

    Am anderen Ende des Bahnsteigs, in Richtung Dessau, Magdeburg, steht ein großer schmaler Turm, der von hier aus genauso zerfallen aussieht wie das Bahnsteighäuschen und der gesamte Bahnhof.

    Als ich mir gerade vorstellte, wie es damals gewesen sein könnte, ging an dem Turm eine Tür auf und ein dicklicher Mann mit Hut und Fahrrad kam heraus. Er schob sein Fahrrad den Bahnsteig entlang, eine Tasche über der Schulter, in Richtung Treppe und beäugte mich aufmerksam. Kurz vor mir, ich konnte sehen, dass er sich ein paar Tage nicht rasiert hatte, machte er eine scharfe Kurve und stieg die Treppe hinab, raus aus meinem Blickfeld und meinem Kopf.

    Ich versuchte mir wieder vorzustellen, wie es 1976 hier war und was am 27. März des gleichen Jahres geschah. Es war merkwürdig, ich sah mir noch mal all die Dinge rund um und auf dem Bahnsteig an und fühlte mich plötzlich wie in einer Zeitmaschine. Nur für einen kurzen Augenblick – auf dem Bahnsteig herrschte urplötzlich wieder reges Leben. Durch die Erzählungen meiner Mutter, die stellenweise so lebendig waren, lief vor meinen Augen ein scheinbarer Film von den damaligen Ereignissen ab. Das Bahnsteighäuschen sah aus wie neu gebaut. Der Bahnsteig war sauber, flankiert von vielen Menschen, die sich bewegten und miteinander redeten. Aus der Metallbank im modernen Stil wurde wieder die Holzbank. Ich konnte ganz klar das blaue Körbchen neben mir auf der Holzbank stehen sehen. Die Leute um mich herum sprangen voller Panik und Verzweiflung an mir vorbei. Ich drehte mich um, um den Grund für die Unruhe zu ergründen und sah gerade noch die Glasscherben zu Boden fallen. Als die letzte Scherbe zersprang, war der Film zu Ende.

    Ich hörte Schritte, musste mich aber erst mal sammeln und verarbeiten, was geschehen war, was ich eben gesehen hatte. Jetzt drehte ich mich um, in der realen Welt angekommen. Auf dem Bahnsteig gegenüber, in Richtung Bahnhofsgebäude, kam ein junger Mann mit Sporttasche und Trainingsanzug die Treppe hoch, ging die paar Schritte zur Bank, die genauso aussieht, wie die auf meinem Bahnsteig. Er setzte sich nieder. Die Füße weit von sich gestreckt, ziemlich weit auf dem Sitz nach unten gerutscht und die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Die Tasche hatte er neben sich auf die Bank gestellt, ein Griff von einem Tennisschläger oder Ähnlichem ragte oben aus der Tasche raus. Seine Augen schloss er im selben Augenblick wie er die Hände hinter den Kopf legte.

    Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich durch das Fenster eines Zuges, an dem ein Mann stand. Hinter ihm war deutlich eine Frau mit einem kleinen Kind zu sehen, das den Mund weit aufgerissen hatte.

    Der junge Mann mit der Sporttasche stand abrupt auf. Er ging die Treppe zum großen Bahnhofsraum hinauf, wo bis zur Wiedervereinigung und kurz danach Fahrscheine verkauft wurden und sich ein Zeitungskiosk, Mitropa-Speiseraum, Warteraum und Souvenirladen befanden. Er nahm immer zwei Stufen auf einmal, auf dem Weg zu dem Raum, wo die große Bahnhofsuhr an der Wand hing. Als er oben angekommen war, musste ich wieder an Herrn Rurka denken. Ob es an dem weit fortgeschrittenen Zerfall des Bahnhofs lag, der einen zweifellos an einen sterbenden Menschen erinnern könnte oder ob es dieselbe Ursache wie immer war, wenn ich an ihn denke, vermag ich nicht zu sagen.

    Seit über sechs Jahren quälen mich jetzt die ständigen Gedanken an ihn. In regelmäßigen Abständen muss ich dauernd an Herrn Rurka denken – man könnte es als chronisch bezeichnen. Meistens grübele ich darüber nach, ob er wirklich ein Mensch war. Ganz sicher war er ein Mensch, aber während seiner letzten Zeit auf dieser wunderbaren Erde hätte ich keinen Cent darauf verwettet.

    KAPITEL 1: Hauptmann Göde

    Montag, 02.07.1996, ich stand mit meinem gesamten Bundeswehrgepäck auf dem U-Bahnsteig des Hamburger Hauptbahnhofes und wartete auf meine U-Bahn. Nach Wandsbek-Gartenstadt musste ich. Ich wurde vom dritten Sanitätsbataillon in Hildesheim zum Bundeswehrkrankenhaus nach Hamburg-Wandsbek versetzt, um an einem Sanitäterlehrgang teilzunehmen. „San2" war die Bundeswehrabkürzung dafür und ich musste lange kämpfen, um daran teilnehmen zu können.

    In der letzten Woche im Juni 1996 kam unser Bataillonsführer Hauptmann Göde aus dem ehemaligen Jugoslawien zurück, wo er die internationalen Friedentruppen ein halbes Jahr lang unterstützt hatte. Er hatte nach seiner Rückkehr nur zwei Tage Urlaub genommen und war dann sofort wieder zum Dienst erschienen. Vorher wurde er uns als absolut fanatischer Soldat angekündigt. Er galt als gnadenlos, brutal und herzlos. So einer, der von jedem zu jeder Sekunde alles verlangte. Einhundert Prozent. Als ich von dem dreimonatigen Lehrgang zurückkam, wurde mir klar, dass es sich nicht nur um Sprüche zum Einschüchtern handelte. Nur laut, das ist er nie geworden, und ich glaube, das hat den Eindruck von einem herzlosen Halbmenschen noch verstärkt.

    Aber an dem Tag, als ich um die Teilnahme an dem San2-Lehrgang bat, habe ich das nicht festgestellt. Da zeigte er sich absolut entgegenkommend. Er stimmte meiner Bitte sofort zu.  Danach fing er gleich an, mit mir ein ganz offenes Gespräch zu führen. Er bot mir den Stuhl vor seinem Schreibtisch an, lehnte sich bequem zurück und erzähle mir von seinem Einsatz im Kosovo: »Der Flug da runter war schon stressig. Eigentlich sollte es vom Kölner Flughafen runter nach Skopje gehen. Kurzerhand wurde der Flug geändert und wir sind über Hannover-Wunstorf geflogen, um da noch Soldaten abzuholen. Die haben mich allen Ernstes mit der Bahn von Hildesheim nach Köln fahren lassen, um dann wieder zurück nach Hannover zu fliegen. Die hätten mich auch gleich hier einsteigen lassen können. Aber sonst war der Flug gut. Die TransAll ist nicht besonders komfortabel eingerichtet. Flugpersonal, das einem Frühstück bringt, gab es nicht, aber der Flug und die Aussicht waren sehr gut, zumindest solange ich vorn beim Piloten saß. Hinten war nicht viel zu sehen, die Konstrukteure hatten die Fenster vergessen. Nach zwei Stunden und fünfzehn Minuten hatten wir wieder festen Boden unter den Füßen. Von Skopje wurden wir mit einem Bus abgeholt und der brachte uns über schlechte Straßen nach Prizren. Straßen konnte man sie nicht wirklich nennen. Aus Skopje raus ging es noch ziemlich gut, aber umso weiter wir uns von Skopje entfernten, desto mehr wurden die Straßen zu Feldwegen ...«

    Hauptmann Gödes Zimmer war sehr fade und grau eingerichtet. Es wirkte kühl, vielleicht lag es daran, dass er für ein halbes Jahr weggewesen war und seine ganzen Sachen irgendwo eingelagert hatte. Vielleicht war das aber auch der typische Bundeswehrstil. Die zwei Stühle vor dem Schreibtisch bestanden aus einfachen Sperrholzplatten, die auf vier graue Metallfüße montiert waren. Die Lehne war ein schmales Brettchen, das mit zwei Schlitzschrauben an ebenfalls grauen Metallstäben angeschraubt war. Direkt vor ihm auf dem Schreitisch lagen einige Zettel und daneben standen ein Marmeladenglas, aus dem Stifte ragten, und ein physikalisches Kunstwerk aus einem Kitschladen. Kugeln, die dicht gedrängt nebeneinander herabhingen. Die letzte Kugel stieß immer die gegenüberliegende Kugel an, ohne dass sich die dazwischenliegenden Kugeln bewegten. Keine Fotografie von seiner Frau, seinem Kind, seinem Hund oder seinen Eltern.. Keine Zimmerpflanzen, keine Bilder an den Wänden, nur eine strategische Landkarte von Hildesheim und Umgebung hing gegenüber dem Fenster. Die Wände waren in einem grüngelben Farbton gestrichen, der einem die letzte Mahlzeit wieder bewusst machte. Das einzige Möbel, das nach Komfort aussah und ein bisschen von Geschmack zeugte, war der Sessel von Hauptmann Göde. Er war kein Prachtsessel, man hätte ihn auch noch gut als Schreibtischstuhl bezeichnen können und wahrscheinlich gibt es ihn in jedem Baumarkt. Der Stuhl war von ziemlich einfacher Bauart, aber im Gegensatz zu den anderen Dingen um mich herum, wies dieser schwarze Schreibtischstuhl das Höchstmaß an Geschmack und Wärme in diesem Raum auf. Wenn er hier vor seinem Auslandseinsatz nichts ausgeräumt hatte, konnte man seine kalte Art gut erkennen. Aber er war freundlich, ja, sogar nett zu mir. Er erzählte jetzt schon vierzig Minuten von dem Leben in Jugoslawien beziehungsweise von dem, was davon übrig geblieben war, und er machte keinerlei Anstalten aufzuhören.

    Ein Platz für den Sanitätslehrgang in Hamburg war frei geworden, weil ein anderer Soldat, der dafür vorgesehen war, nicht teilnehmen durfte. Er hatte auf seiner Stube während des Grundwehrdienstes eine Tränengas-Pistole abgefeuert und musste nun für den Rest seiner Bundeswehrzeit in einer Zelle darüber nachdenken. Ob ich deswegen so schnell und problemlos den Lehrgangsplatz bekam oder weil Hauptmann Göde sich für mich eingesetzt hatte, wusste ich nicht. Ich wollte auch gar nicht fragen, ich war froh darüber. Allerdings waren zwei Bedingungen damit verbunden, ich musste vorher noch das Sportabzeichen bestehen und den San2-Lehrgang sollte ich mindestens mit „gut" beenden.

    Das letzte Wochenende vor meinem Lehrgangsbeginn in Hamburg mussten wir alle in der Kaserne bleiben, um am Wochenende unser Sportabzeichen zu erkämpfen. Das Klima in der Kompanie war dementsprechend rosig. Die Woche über rissen die Soldaten der anderen Kompanien Witze auf unsere Kosten und feixten darüber, dass sie nach Hause durften und wir das ganze Wochenende lang Sport treiben mussten. Im Nachhinein muss ich sagen, wir haben das Beste daraus gemacht und im Endeffekt war es sogar recht lustig. Die meisten von uns bekamen das Sportabzeichen und abends haben wir gemütlich alle gefeiert. Den ersten Abend, am Freitag, verbrachten wir in der Kaserne. Die Ausbilder sponserten Bier und stellten den Grill. Den Rest mussten wir selbst besorgen. Kein Problem. Wir schmissen alles Geld zusammen und einige marschierten los, um Whisky, Wodka, Braunen, Cola und so weiter sowie Würstchen und Steaks zu holen. Ein bisschen Senf, Ketchup und Knabberzeug brachten sie auch mit und es wurde ein recht schöner Abend ohne Zwischenfälle. Das Einzige, das uns Kopfzerbrechen bereitete, im wahrsten Sinne des Wortes, waren die weitverbreiteten Kopfschmerzen am nächsten Morgen. Einige wollten echt sterben, so dreckig fühlten sie sich. Aber schon nach einer Tasse schönen schwarzen Kaffees und einem ordentlichen Frühstück ging es den meisten wieder gut. Bei drei Kameraden habe ich mich aber sehr erstaunt gezeigt, als sie ihre Sportdisziplinen am Samstag sehr gut überstanden und am Samstagabend, den wir in einer Disco in Hildesheim verbrachten, schon wieder tüchtig trinken und tanzen konnten. An diesem Abend feierten wir bis vier Uhr in der Früh. Die zwei Stunden Schlaf hat man mir am Sonntagmorgen beim Frühstück angesehen. Zu meiner Beruhigung sahen die anderen aber nicht besser aus. Und selbst die Unteroffiziere wirkten, als ob sie die ganze Nacht durchgezecht hätten. Genauso erstaunt wie am Tag zuvor über die drei Kameraden war ich an dem Sonntag über mich selbst. Trotz Schlafmangels und vielleicht einem Bier zu viel, bestand ich mein Sportabzeichen.

    »Erstaunlich!«, sagte Hauptmann Göde zu mir (immer noch sehr freundlich), »wirklich erstaunlich. So wie du heute Morgen ausgesehen hast, hätte ich gedacht, du brichst bei deinem ersten Kugelstoß zusammen. Meinen Glückwunsch im doppelten Sinne für die sportliche Leistung und unter welchen Umständen sie zustande gekommen ist.«

    Hauptmann Göde schritt den ganzen Platz ab, auf dem wir uns in unserer normalen Dienstkleidung frisch geduscht nach dem Sport versammelten und Aufstellung nahmen. Er gratulierte jedem, der bestanden hatte, persönlich mit Handschlag – einen ähnlichen Spruch wie bei mir sagte er sicher jedem. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und ging zielsicher in Richtung unseres Kompaniegebäudes davon. Wiedergesehen habe ich ihn dann erst am 23. September gleichen Jahres.

    An dem Abend bin ich schon um 22 Uhr schlafen gegangen. Einerseits war ich noch kaputt vom Vorabend, andererseits wollte ich am Montag ausgeschlafen sein, da ich mich schon zeitig auf den Weg nach Hamburg machen musste. Ich hätte zwar Zeit gehabt, mich bis 18 Uhr in Hamburg im Bundeswehrkrankenhaus in der Sanitätsschülerkompanie bei Oberfeldwebel Mennich zu melden. Frau Unteroffizier Schüler, in Hildesheim stationiert, hatte mir aber den Tipp gegeben, etwas zeitiger dort einzutreffen. Dann hätte ich einen Vorteil bei der Stubenwahl. Und da ich Nichtraucher und Asthmatiker bin und Zigarettenqualm mir immer arge Schwierigkeiten bereitet, wollte ich versuchen, in eine Nichtraucherstube zu kommen. Außerdem wäre ich bei frühem Eintreffen auch etwas zeitiger mit der Stuben- und Spindeinrichtung fertig und könnte mir noch einen ersten Eindruck von Hamburg holen, waren so meine Gedanken.

    KAPITEL 2: Der Riesenteddy

    Am nächsten Morgen habe ich dann doch verschlafen und konnte erst mit einem späteren Zug fahren. Rick Lobe, mein Zimmergenosse in Hildesheim, weckte mich gegen sieben Uhr. Gott sei Dank, hatte er mir schon Frühstück mitgebracht. Ich bin bloß noch in meine Sachen gesprungen, warf das Brötchen ein und putzte mir schnell die Zähne. Ich schnappte meinen ganzen Krempel, der so ungefähr eine Tonne wog, und hetzte zum Bahnhof, der zirka einen Kilometer von der Kaserne entfernt lag. Kurz vor acht Uhr kam ich schweißnass und völlig außer Atem an. Ich bin den Weg schon einige Mal gegangen, aber so lang wie an diesem Tag war er, glaube ich, noch nie – er wollte einfach nicht enden. Der Zug, mit dem ich ursprünglich fahren wollte, war natürlich weg. Ich wollte standesgemäß fahren, da die Bundeswehr die Bahnfahrten bezahlte. Ich hatte mir einen ICE ausgesucht. Der ICE sollte aus Frankfurt (am Main) kommen und ohne dass ich hätte umsteigen müssen, nach Hamburg durchfahren. Der Zug wäre wirklich perfekt gewesen, aber nun war er weg. Kurz nach acht Uhr fuhr noch eine Regionalbahn, das genaue Gegenteil von einem ICE, nach Hannover. Von dort aus sollte es 14 Minuten später mit einem Interregio weiter bis Hamburg gehen.

    Auf dem Bahnhof in Hildesheim holte ich mir Brötchen und einen Kaffee und habe mich dann in die Regionalbahn nach Hannover gesetzt, was eine hohe Kunst an Körperbeherrschung verlangte. Auf dem Rücken einen viel zu schweren Bundeswehrrucksack, in der rechten Hand meinen noch schwereren Seesack, in der linken Hand meinen Kaffee und die Brötchen. So quetschte ich mich durch die enge Zugtür. Die Minuten bis Hannover verbrachte ich mit Essen. Es kam nicht einmal ein Schaffner, um die Fahrkarten zu kontrollieren, so kurz war die Strecke.

    In Hannover vertrieb ich mir die Zeit damit, den Bahnhof anzusehen. Weit bin ich aber nicht gekommen, da meine schmerzenden Arme mir mitteilten, dass sie die schweren Sachen nicht mehr tragen konnten. Ich ging nur vom Bahnsteig, auf dem ich ankam, in den Verbindungstunnel hinunter und sah mir die Geschäfte links und rechts bis zu dem Bahnsteig, von wo aus ich nach Hamburg fahren sollte, an. Die meisten Läden waren allerdings Fressbuden, wie man so treffend in Sachsen-Anhalt sagt. Ein Geschäft, ein Glaskasten mitten im Tunnel, erregte meine Aufmerksamkeit. Rings um den Glaskasten waren mehrere Ständer aufgebaut, an denen unzählige Teddys hingen. Normalerweise schaue ich mir solche Geschäfte nur an, wenn ich ein Geschenk für ein kleines Mädchen oder meine Schwester suche, die zwar drei Jahre älter ist als ich, aber einen großen Sammeltick für Plüschtiere hat (ihre Sammlung zählt irgendwas um die 500 Plüschtiere). Ein unglaublich großer Teddy stand direkt neben der Eingangstür. Er war bestimmt (meine erste Größeneinschätzung) anderthalb Meter hoch, richtig schön dick und knuddelig mit ganz weichem Fell. Er entlockte mir sofort ein Lächeln. Mit meinem schweren Gepäck ging ich zu dem Laden hinüber, stellte es vor dem Geschäft ab und betrachtete den Bären aus der Nähe. Der Bär hatte es nicht nur mir angetan, zahlreiche Kinder mit ihren Müttern oder Vätern oder beiden Elternteilen wuselten um den Teddy herum und einige von den ganz kleinen Knirpsen kuschelten sich in seinen Schoß. Natürlich bedrängten dann alle Kinder ihre Eltern, dass sie dieses braune, knuffige Kuscheltier mit dem riesigen, lieb dreinschauenden Kopf haben möchten. An dem Morgen wurde keinem Kind dieser Wunsch erfüllt und so mancher Knirps trottete mit Tränen in den Augen und bockigem Gesichtsausdruck hinter seinen Eltern her, als sie sich vom Geschäft entfernten. Ich fand ihn auch süß, muss ich ehrlich zugeben. Ich hielt noch kurz nach einem Preisschild Ausschau und ging dann mit meinem schweren Gepäck zum Bahnsteig, von wo aus mich der Interregio nach Hamburg bringen sollte.

    Ich wollte den Teddybären nicht kaufen, sondern nur wissen, was man dafür hätte ausgeben müssen. Ich hatte schon einige Plüschtiere gekauft, hauptsächlich als Weihnachts- oder Geburtstagsgeschenk für meine Schwester, und daher wusste ich, wie teuer schon ganz kleine Teddys sein konnten.

    Ich hätte die sehr hübsche Verkäuferin in dem Geschäft, die Anfang bis Mitte 30 sein mochte, blonde, lange Haare und eine sehr ansehnliche Figur hatte, fragen können, tat es aber aus Zeitmangel nicht. Später im Zug ärgerte ich mich, nicht weil ich den Preis unbedingt wissen wollte, sondern, weil die Frau in dem Geschäft bemerkenswert gut aussah; die verpasste Chance, vielleicht ihre Telefonnummer zu bekommen, wurmte mich am Meisten. Am liebsten hätte ich den nächsten Zug in Hamburg genommen, der mich zurück nach Hannover gebracht hätte, so beschäftigte sie mich.

    Im Interregio nach Hamburg musste ich eine Weile suchen, um einen Platz zu finden. Nach drei Wagen und mittlerweile gefühllosen Schultern landete ich bei zwei gutgekleideten älteren Damen: »Entschuldigen Sie bitte, ist hier noch ein Sitzplatz frei?«

    »Ja, nehmen Sie ruhig Platz junger Mann«, antwortete die Frau am Fenster mit den helllila gefärbten Haaren.

    »Warten Sie, ich mache Ihnen Platz«, bot die andere Frau, rechts von mir, an und sprang ruckartig auf.

    Den Seesack stellte ich auf die Sitzbank am Gang und den Rucksack hievte ich auf die Ablagefläche über meiner eroberten Sitzbank. Ich kreiste zweimal die Schultern, ließ mich schnaufend in den Sitz fallen und lächelte den beiden Frauen zu.

    »Sind Sie Soldat?«, fragte die Frau am Fenster, deren lila Haare immer wieder meine Blicke auf sich zogen.

    »Ja, ich bin eigentlich in Hildesheim stationiert, bin aber für fast drei Monate nach Hamburg versetzt worden.«

    Jetzt meldete sich wieder die Frau, die mir den Platz am Fenster angeboten hatte: »Sie müssen aber ganz schön viel Gepäck mit sich herumtragen, kann die Bundeswehr das nicht mit der Post nach Hamburg schicken?«

    »Es ist verdammt schwer und unhandlich. Eigentlich verschickt die Bundeswehr das Gepäck ja auch, aber meine Versetzung kam sehr kurzfristig und da hätte ich meine Sachen nicht rechtzeitig in Hamburg zur Verfügung gehabt, also musste ich sie so mitnehmen«, entgegnete ich.

    Ein kurzes Schweigen entstand, das ich dazu nutzte, mein Buch aus der Seitentasche meines Seesacks herauszuholen. Eine Zeit lang zweifelte ich, ob die beiden Frauen sich kannten, doch nun vertieften sie sich in ein Gespräch, das meine Unklarheiten beseitigte. Sie unterhielten sich über Gerd, was er so machte und wie er den Unfall überstanden hatte; wie alt die Kinder von Gertrud schon waren; sie redeten über den Tod des Pfarrers Hans Neumeier, der sich lange vorher angekündigt hatte, und was für ein hervorragender Mensch und gutherziger Mitbürger er doch war; so ging es weiter. Zwischendurch wechselten sie immer mal schlagartig das Thema, wenn draußen vor dem Zugfenster etwas Aufregendes, Sonderbares oder einfach nur etwas Schönes auftauchte. Wie zum Beispiel ein hübsches Bauernhaus mit großem Gehöft mitten in der Landschaft, wo sonst weit und breit kein anderes Haus zu sehen war, geschweige denn ein ganzes Dorf. Für einen kurzen Augenblick wurde auch die Politik angeschnitten. Ausgelöst durch einen Windradpark, an dem wir vorbeifuhren, schimpften sie über die Politiker, die solche landschaftsverschandelnden Bauwerke genehmigten. Ganz besonders die Grünen gerieten ins Schussfeuer der beiden Frauen. »Es ist ja gut, dass die Grünen die Atomkraftwerke abschalten möchten, aber muss man solche hässlichen Dinger in die Landschaft stellen? Vor denen sucht ja sogar jeder Vogel das Weite!«, wetterte die eine.

    Ich versuchte mich da raus zu halten und gar nicht hinzuhören, was mir im Allgemeinen aber sehr schwer fällt, wenn es um Politik geht. Also widmete ich mich wieder meinem Buch. Seit acht Tagen las ich Garp und wie er die Welt sah" von John Irving. Das Buch hatte mich sagenhaft gefesselt und ich war fasziniert von der Schreibkunst des Autors. Bis heute kann ich sagen, dass es das beste Buch ist, das ich je gelesen habe. Es war so gut, dass ich es mir ungefähr ein Jahr später noch einmal vornahm, was ich bis heute mit keinem anderen Buch getan habe. Die größte Überraschung, die mir das Buch bot, war, dass es mich ein Jahr später noch genauso mitriss.

    Wie nebensächlich er den Tod des einen Kindes von Garp schildert und wie ergriffen man doch von der scheinbaren Beiläufigkeit ist, während der sein anderer Sohn ein Auge verliert, das treibt einem Tränen in die Augen. Wie er die Mutter von Garp beschreibt, wie er die ersten und weiteren sexuellen Erfahrungen von Garp wiedergibt, wie trocken er von Garps Vater und seinen Problemen berichtet, wie er von den krassen und sogar komischen Umständen erzählt, unter denen Garp gezeugt wurde, das alles ist schon sehr beeindruckend. Das Buch wirkt so lebendig und farbenfroh. Andererseits ist es so grau und stumm, an den Stellen, von denen man sich genau das Gegenteil erhofft, dass es dem Leser eiskalt und gleichzeitig erbarmungslos heiß den Rücken hinunter läuft. Man möchte das Buch stellenweise in die Ecke feuern, weil man keine Luft mehr bekommt und zu ersticken droht und schon eine Sekunde später holt man „Garp" wieder hervor, weil man so stark davon berührt ist und nur noch wissen möchte, wie es weitergeht. Man kann nicht aufhören, wenn man auch nur ein Wort dieses Buches gelesen hat!

    Hellen, Garps Mutter, und Ellen, die aus Protestgründen ihre Zunge vor langer Zeit abgeschnitten hatte, rätselten (Ellen mit einem Stift auf einem Block Papier und Hellen mit ihrer Stimme), ob Champagner zu Hummer und Muscheln passen würde, als mir die Augen langsam schwer wurden. Mit Wiederwillen rang ich mich dazu durch, nach dem Abschnitt das Buch wegzulegen. Sie hatten Muscheln und Hummer schon bei sich, als sie ihre Frage, ob Champagner dazu passt, bejahten und mit dem kleinen Duncan, dem Sohn von Hellen und Garp, Champagner kauften.

    Sie fuhren in Dog’s Head Harbor vor, um Roberta zum Essen einzuladen.

    „Wann kommt Dad zurück?" fragte Duncan.

    „Ich weiß nicht, wo North Mountain, New Hampshire, ist, sagte Hellen, „aber er hat gesagt, er würde rechtzeitig zum Essen zurückkommen.

    Das hat er mir auch gesagt, schrieb Ellen James.

    Ich hatte fast vierzig Seiten gelesen. Ich legte mein Lesezeichen, eine alte Busfahrkarte, auf die Seite 568 und klappte es zu.

    Mein Lesezeichen, die alte Busfahrkarte, hatte ich durch Zufall von Julia, eine meiner Nachbarinnen in Thalheim, bekommen, als ich mir von ihr den Medicus" ausgeliehen hatte. Sie hatte mit einigen Freunden eine Tour durch Schottland gemacht, ein Jahr vor meiner Bundeswehrzeit. Am 27.07.1995 ist sie, laut Fahrkarte, von Glasgow nach Aberdeen gefahren und während der Busfahrt hat sie höchstwahrscheinlich das Buch gelesen. Vielleicht besaß sie kein Lesezeichen und verwendete das Erstbeste, das ihr in die Finger kam. Vielleicht hatte sie aber auch nur die Busfahrkarte im Buch abgelegt, einfach so – es gibt ja immer wieder Situationen, da packt man Dinge grundlos irgendwo hin, ohne zu wissen, welchen Zweck sie erfüllen sollen. Meistens hat man den Gegenstand auch schon vergessen, sobald man das Buch zuschlägt.

    Auf dem Fenstertisch legte ich „Garp und wie er die Welt sah" ab und rieb mir die Augen, die ich danach noch eine Weile geschlossen hielt.

    So langsam stieg Nervosität bei mir empor. Bis jetzt war ich innerlich durch die ganze Hektik ruhig geblieben. Doch die ersten Gedanken an Hamburg und was mich da wohl erwartete, ließen mich unruhig werden. Durch das Lesen hatte ich etwas das Zeitgefühl und die Entfernungsorientierung verloren, aber es konnte nicht mehr weit bis zu der großen Hafenstadt sein.

    Nach einigen Sekunden schlug ich die Augen wieder auf und sah die beiden Frauen, immer noch erzählend, vor mir sitzen. Vor dem Fenster war ein gigantisch großes Schienenmeer zu sehen, ein großes Geflecht aus Stahlsträngen. Die beiden Damen erzählten mir, das wäre ein Gütersortierbahnhof und Güterumschlagplatz, auf dem die einzelnen Güterzüge, die das Material, das im Hamburger Hafen ankommt, auf Deutschland und die Nachbarstaaten verteilen, für die jeweilige Region oder Stadt zusammengestellt werden würden. Jetzt waren es nur noch einige Minuten und die Aufregung stieg weiter an. Ich hatte Bedenken, ob ich mich auf dem Hauptbahnhof zurechtfinden, ob ich die richtige U-Bahn nehmen, ob ich das Bundeswehrkrankenhaus gleich finden würde und was da wohl auf mich zukäme. Würde ich den Lehrgang mit „gut" bestehen können, so wie es Hauptmann Göde von mir forderte?

    Frau Unteroffizier Schüler hatte auch in Hamburg den San2-Lehrgang besucht und mir den Weg und die U-Bahnnummer und -strecke recht gut beschrieben, trotzdem fühlte ich mich innerlich sehr aufgewühlt. Sie hatte mich gebeten, einen Typen, den sie von Zuhause kannte, einen gewissen Marko Harras, zu grüßen. Er sollte den gleichen Lehrgang wie ich besuchen. Aber daran dachte ich in diesem Moment nicht.

    Kurz vor 11 Uhr fuhren wir im Hamburger Hauptbahnhof ein. Mit meinem schweren Gepäck drängte ich mich durch die Zugtür und versuchte herauszufinden, in welche Richtung ich musste. Mit Schrecken sah ich, dass auf beiden Enden des Bahnsteiges Treppen nach oben führten. Eine Hälfte der Fahrgäste bewegte sich auf die eine Treppe zu, die andere Hälfte auf die gegenüberliegende Treppe, nach dem Mehrheitsprinzip konnte ich also nicht gehen. Ich hätte sicher beide Wege nehmen können, wollte aber wegen des schweren Gepäcks keine Umwege machen. Also suchte ich den Bahnsteig nach Hinweisschildern ab. Zuerst fiel mir nur die Werbung, die überall zu sehen war, in die Augen, doch nach einer Weile wurde ich fündig. Nun war es ganz einfach, ich folgte nur noch den U-Bahn-Hinweisschildern durch endlose Gänge.

    Am Bahnsteig der U-Bahn versuchte ich, Herr über den Fahrkartenautomaten zu werden. Herauszufinden, welcher Betrag und welcher Knopf der Richtige war, bereitete mir Kopfzerbrechen. Ich hatte von der Bundeswehr einen Fahrschein nach Hamburg bekommen, ich hätte sogar den ICE nehmen können, aber ob ich mit der städtischen U-Bahn fahren durfte, wusste ich nicht. Einen Moment lang habe ich sogar darüber nachgedacht, nicht zu bezahlen. Frau Unteroffizier Schüler hatte mir aber schon vorher gesagt, dass in Hamburg sehr stark kontrolliert werden würde. Ich besaß zwar die Fahrkarte der Bundeswehr, entschied mich aber dann doch fürs Bezahlen. Allerdings war ich mir ziemlich sicher, dass ich zuviel bezahlte, wie sich später auch herausstellen sollte.

    Nun stand ich da, den Fahrschein in der linken Hand zusammengerollt, lauschte auf die Geräusche der anderen U-Bahnen, die nicht für mich bestimmt waren, und wartete auf die U-Bahn U1 in Richtung Ohlstedt oder Großhansdorf, oder auf die U2, die genau bis Wandsbek-Gartenstadt, laut Fahrplan und Frau Unteroffizier Schüler, fahren sollte.

    Am Bahnpersonalhäuschen auf dem Bahnsteig fand ich einen Fahrplan, der mir nach dem Uhrenvergleich mit der Bahnsteiguhr verriet, ich müsste noch 16 Minuten warten. Ich hätte auch mit einer anderen Bahn fahren können, wie mir der Streckenplan neben dem Fahrplan zeigte, da hätte ich aber umsteigen müssen. Neben dem Fahrplan hing auch eine Karte. Auf der einen Seite war die Hamburger Innenstadt und auf der anderen Seite das Schnellbahnennetz des HVVs (Hamburger Verkehrsverbund) abgebildet. Darunter klebte ein mit Filzstift beschriebenes Schild mit der Aufschrift „Drei Mark". Freundlich wandte ich mich an den Mann in der blauen Uniform, der seinen Blick stur auf vier Überwachungsmonitore richtete.

    »Entschuldigen Sie, ich möchte gern die Karte für drei Mark kaufen!«

    »Klar«, kam kurz und knapp zurück. Er griff nach hinten in einen Karton und zog eine zusammengefaltete Karte heraus.

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