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3000 Plattenkritiken: Gute und schlechte Musik aus drei Jahrzehnten. Mit einem Vorwort von Jan Plewka.
3000 Plattenkritiken: Gute und schlechte Musik aus drei Jahrzehnten. Mit einem Vorwort von Jan Plewka.
3000 Plattenkritiken: Gute und schlechte Musik aus drei Jahrzehnten. Mit einem Vorwort von Jan Plewka.
eBook2.224 Seiten26 Stunden

3000 Plattenkritiken: Gute und schlechte Musik aus drei Jahrzehnten. Mit einem Vorwort von Jan Plewka.

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Über dieses E-Book

Das vorliegende Gebirge aus Albumkritiken hat sich mehr als 25 Jahre lang aufgetürmt. Die erste Rezension stammt aus der Zeit des Mauerfalls und beschäftigt sich bereits mit jenem Künstler, der sich heute – 2.829.523 Tastenanschläge später – auch als der meistrezensierte entpuppt hat: Bob Dylan. Die mehr als 3000 Rezensionen streunen scheuklappenlos durch die Genres, von Antifolk bis Techno, von Madonna bis Motörhead. Die Sammlung ersetzt trotz ihres Umfangs kein Lexikon. Doch sie bietet jenen, die Popmusik für die emotionalste Kunstform von allen halten und ein vorurteilsarmes Hören pflegen, die Chance auf Neu- und Wiederentdeckungen. Ähnliche Projekte wie dieses gab es in Deutschland nur wenige, etwa das mit 1827 Kritiken bestückte Zweitausendeins-Buch "Sounds. Platten 1966–1977", das die aufregendste Ära der Popgeschichte abdeckt. Doch die Jahre ab 1989 haben ebenfalls viel zu bieten, auch wenn sich viele Genres seit einiger Zeit eher durch Verschmelzung und Ausdifferenzierung erneuern als durch revolutionäre Umbrüche. Die Sammlung deckt aber nicht nur die von mir rezensierten Erstveröffentlichungen jenes Vierteljahrhunderts ab, in dem sie sich zum Gebirge auftürmte. Dank der Neuverwertung des Backkataloges wuchs der Anteil remasterter Klassiker zuletzt rasant, und für einen Nachgeborenen ist es von großem Reiz, sich neben pressfrischen Novitäten von Adele, Coldplay oder Neko Case auch kanonisierten Meisterwerken wie "The Dark Side of the Moon" widmen zu können. Das Vorwort zu diesem Mammutprojekt steuert der Hamburger Rocksänger Jan Plewka bei.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum22. Nov. 2016
ISBN9783741869433
3000 Plattenkritiken: Gute und schlechte Musik aus drei Jahrzehnten. Mit einem Vorwort von Jan Plewka.
Autor

Matthias Wagner

Matthias Wagner arbeitet seit Ende der 80er als Musikjournalist, was mehr als 3000 Albumkritiken abgeworfen hat. Sie sind seit Ende 2016 als sehr, sehr umfangreiches E-Book verfügbar – oder als deutlich dünneres, wenn man sich auf die „540 Verrisse“ beschränkt. Seit 2005 betreibt er zudem das erfolgreiche Weblog „Die Rückseite der Reeperbahn“, das sich (nicht nur) um das Leben auf St. Pauli dreht. Satirische Geschichten daraus sind in Buchform unter dem Titel „Die Frankensaga – Vollfettstufe“ erhältlich. Er übernimmt freie Aufträge als Korrektor und Lektor – Anfragen an mattwagner@web.de.

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    Buchvorschau

    3000 Plattenkritiken - Matthias Wagner

    Matthias Wagner

    3000 Plattenkritiken

    Gute und schlechte Musik aus drei Jahrzehnten

    Mit einem Vorwort von

    Jan Plewka

    Imprint

    Matthias Wagner

    3000 Plattenkritiken

    Copyright (Texte, Cover, Fotos): © 2016 by Matthias Wagner

    Verlag:

    Matthias Wagner

    Postfach 30 42 50

    20325 Hamburg

    mattwagner@web.de

    www.mattwagner.de

    Konvertierung: sabine abels | www.e-book-erstellung.de

    Alle Rechte vorbehalten. Verwendung der Rezensionen ab 2014 mit freundlicher Genehmigung der bunkverlag GmbH, Hamburg.

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

    Inhalt

    Über dieses Buch

    „Streichle niemals einen brennenden Hund!"

    Statistisches

    Die meistrezensierten Künstler

    Die meistvertretenen Plattenfirmen (1)

    Die meistvertretenen Plattenfirmen (2)

    Die häufigsten Genres

    Die extremsten Rezensionen

    3000 Plattenkritiken

    1989

    1990

    1991

    1992

    1993

    1994

    1995

    1996

    1997

    1998

    1999

    2000

    2001

    2002

    2003

    2004

    2005

    2006

    2007

    2008

    2009

    2010

    2011

    2012

    2013

    2014

    2015

    2016

    666 Bonustracks

    Plattenverzeichnis

    A

    B

    C

    D

    E

    F

    G

    H

    I

    J

    K

    L

    M

    N

    O

    P

    Q

    R

    S

    T

    U

    V

    W

    X

    Y

    Z

    Verzeichnis der Bonustracks

    Weitere Publikationen des Autors

    Über dieses Buch

    Matthias Wagner

    Das vorliegende Gebirge aus Albumkritiken hat sich mehr als 25 Jahre lang aufgetürmt. Die erste Rezension stammt aus der Zeit des Mauerfalls und beschäftigt sich bereits mit jenem Künstler, der sich heute – 2.829.523 Tastenanschläge später – auch als der meistrezensierte entpuppt hat: Bob Dylan.

    Die mehr als 3000 Rezensionen – fast alle verfasst für die Hamburger Zeitschrift kulturnews – streunen scheuklappenlos durch die Genres, von Antifolk bis Techno, von Madonna bis Motörhead. Sie sind vergleichsweise kurz, nähern sich ihren Sujets oft emotional und popimmanent, sind also – fachterminologisch gesprochen – eingängig. Aber hoffentlich nicht seicht.

    Neben Urteilen, die zu meiner nachträglichen Überraschung halbwegs standgehalten haben, stößt man natürlich auch auf viele Fehldiagnosen. Immerhin tragen gerade sie nicht wenig zum Unterhaltungswert des Ganzen bei.

    Die Sammlung ersetzt trotz ihres Umfangs kein Lexikon. Doch sie bietet jenen, die Popmusik für die emotionalste Kunstform von allen halten und ein vorurteilsarmes Hören pflegen, die Chance auf Neu- und Wiederentdeckungen. Mir ging es beim Korrekturlesen ähnlich: An viele Alben konnte ich mich schlicht nicht mehr erinnern. (Das gilt leider sogar für die Mehrzahl.)

    Ähnliche Projekte wie dieses gab es in Deutschland nur wenige, etwa das mit 1827 Kritiken bestückte Zweitausendeins-Buch „Sounds. Platten 1966–1977", das die aufregendste Ära der Popgeschichte abdeckt. Doch die Jahre ab 1989 haben ebenfalls viel zu bieten, auch wenn sich viele Genres seit einiger Zeit eher durch Verschmelzung und Ausdifferenzierung erneuern als durch revolutionäre Umbrüche.

    Die Sammlung deckt aber nicht nur die von mir rezensierten Erstveröffentlichungen jenes Vierteljahrhunderts ab, in dem sie sich zum Gebirge auftürmte. Dank der Neuverwertung des Backkataloges wuchs der Anteil remasterter Klassiker zuletzt rasant, und für einen Nachgeborenen ist es von großem Reiz, sich neben pressfrischen Novitäten von Adele, Coldplay oder Neko Case auch kanonisierten Meisterwerken wie „The Dark Side of the Moon" widmen zu können.

    Für alle 3000 Titel gilt, was Jan Plewka unten in seinem Vorwort schreibt: Eine Band, ein Gitarrist, eine Sängerin haben diese Alben irgendwann losgelassen und damit der Welt ausgeliefert. Unter anderem mir.

    Ich hoffe, ihnen öfter gerecht geworden zu sein, als ich insgeheim befürchte.

    Matthias Wagner

    „Streichle niemals einen brennenden Hund!"

    Jan Plewka

    Ich weiß gar nicht mehr, wer diesen Satz zu mir sagte oder wo es war. Aber er ist mir im Gedächtnis geblieben als ein gutes Bild dafür, wie ich nach einem Konzert mit Kritik umgehe.

    Nämlich gar nicht!

    Ich habe Jahre gebraucht, um zu lernen, dass man einem zu gesprächigen Konzertkritiker genau das sagen darf. Man darf sagen: Es ist gerade nicht der richtige Moment. Ja, man darf sogar weggehen. Aber manchmal, oh Wunder, entwickelt sich auch ein richtig gutes Gespräch aus der Kritik.

    Im Grunde aber war und bin ich ein recht kritikunfähiger Mensch. Ich habe Kurse belegt und Freunde und Psychologen zu dem Thema befragt. Schließlich bin ich zu dem Entschluss gekommen, dass es eine Zeit des Schaffens und eine Zeit der Kritik gibt.

    Wenn ich die Arbeit an einem Album beendet habe, muss ich es loslassen. Es macht sich auf den Weg, um seine Hörer zu finden, und ich kann nichts mehr tun.

    Hier kommen die Musikkritiker ins Spiel. Ich verstehe ihre Rolle als eine Art Vermittler. Im besten Fall erzählen sie dem Leser etwas über Künstler und Werk und machen ihn neugierig darauf. Die persönliche Meinung der Kritiker gibt es dann meistens dazu, und wenn diese weder gehässig noch kränkend formuliert ist, freue ich mich.

    Natürlich ist man als Künstler den schreibenden Kritikern – im Gegensatz zum gesprächigen Konzertkritiker von oben – in gewisser Weise ausgeliefert. Aber das muss man akzeptieren. Denn in dem Moment hat die Kritik ja nur wenig mit mir, dem Künstler, zu tun. Sie ist für die Rezipienten da.

    Als schaffender Mensch darf man sowieso nicht zu viel darüber nachdenken, wie die Arbeit, mit der man gerade beschäftigt ist, ankommen wird. Das ist für die Kreativität tödlich. Und in Momenten, wo ich es doch tue, sage ich mir: Wenigstens wird auf meinem Grabstein nicht stehen „Er starb bei dem Versuch, es allen recht machen zu wollen".

    Matthias Wagner ist einer der Kritiker, die mich über all die Jahre begleitet haben. Und alles, was er schrieb, hat mir gezeigt, dass ich richtig liege mit dem, was ich tue.

    Jan Plewka Hamburg, im Oktober 2016

    Jan Plewka (geb. 1970) gilt als einer der besten Rocksänger Deutschlands. Er wurde berühmt als Frontmann der Hamburger Band Selig

    Bob Dylan

    http://bit.ly/2fLww8q

    Statistisches

    Die meistrezensierten Künstler

    Die meistvertretenen Plattenfirmen (1)

    Die meistvertretenen Plattenfirmen (2)

    Die häufigsten Genres

    Die extremsten Rezensionen

    Bob Dylan

    3000 Plattenkritiken

    1989

    „Wären da nur nicht diese Sonntagsschulentexte, die plagen bis zum letzten Song. I wonder why, Van."

    aus der Rezension zu „Avalon Sunset" von Van Morrison

    Bob Dylan

    „Oh Mercy" (1989)

    Bob Dylan war immer eine schillernde Figur. Bei den Fans hat er auf der langen Skala der Gefühle zwischen Entzücken und Empörung kaum eine Position ausgelassen. „Don’t follow leaders hieß die prägnante Essenz seiner Jahre als Kultfigur der Bürgerrechtsbewegung der 60er. Die, die ihn verehrten, haben sich in seinem Fall nie daran gehalten. Klar, das er sie vor den Kopf stoßen musste. 1965 griff er auf dem Wellenkamm der Folkprotestbewegung zur E·Gitarre, ließ surrealistische Wortgebilde von schwerem Rock umwogen und hatte ein Genre geschaffen: den Folkrock. Er hängte sich nie an Zeitgeistströmungen an – er schuf sie. Bis in die späten 70er hat uns der Poet aus Minnesota mit Alben beglückt, die in der Mehrzahl zum Grundstock der Populärmusik gehören, darunter Klangunikate wie „Desire oder das brillante Album „Blood on the Tracks. Legendär auch seine Zusammenarbeit mit The Band oder die berühmte Konzertkarawane „Rolling Thunder Revue mit Größen wie Mick Ronson oder Roger McGuinn. In diesem Jahrzehnt aber ging es bergab mit dem einstigen Superstar. Der früher als „größter Dichter Amerikas Gefeierte verfiel missionarischem Eifer, ließ seinen Sound auf Mainstream trimmen. Flache Keyboards, süßliche Engelschöre und der einstmals originelle, inzwischen aber zur universal einsetzbaren Unverbindlichkeit verkommene Stil eines Mark Knopfler vergraulten die Fans. Man grämte sich nicht mehr über Dylans avantgardistischen Schritt voraus, sondern beklagte nun seine widerstandslose Vereinnahmung durch einen gehobenen Einheitssound. Zwar hat Dylan seinen Mut zur Veränderung oft genug bewiesen, doch warfen die letzten Platten ernste Zweifel auf. „Oh Mercy aber wischt sie beiseite – dank Daniel Lanois. Der Produzent aus New Orleans hat Dylans Musik zu den Wurzeln zurückgeführt, hat die introvertierten Songs in eine wohltuend erdige, sehr gitarrenlastige Instrumentierung gepackt, die „Oh Mercy zu einem unverwechselbaren Sound verhilft. Dylan selbst ist zwar noch immer vom Gauben beseelt, doch kehrt er ihn nur noch selten so plakativ heraus wie in „Ring them bells. Ob Gospel oder Blues, ob schwelgerisch-elegisch („Most of the Time) oder schwerblütig-rhythmisch („What was it you wanted?): Die Musik des Teams Dylan/Lanois bleibt kraftvoll und erdverbunden. Die Platte präsentiert schnörkellos und direkt alle Qualitäten des Robert Allen Zinmermann: den hechelnden Gesang, die pointiert „falschen Betonungen, die spröde Schönheit seiner klagenden Mundharmonika. Und sie wartet auf mit einem der besten Dylan-Songs überhaupt: „Man in the long black Coat, einer düsteren Geschichte um Liebe und Tod, beinah nekrophil und an Ambrose Bierce erinnernd. Lanois zaubert mit Grillengezirpe, hallenden Gitarreneffekten und Harmonika ein Wunder an Atmosphäre. „Courage is a thing of the past, klagt Dylan im ersten Song dieser Platte, „Political World. Ihn selbst muss man nach „Oh Mercy" ausdrücklich davon ausnehmen. Ein erstaunliches Comeback eines ausgeruhten Künstlers, der anscheinend in jedem Jahrzehnt seinen Platz zu finden vermag.

    The Rolling Stones

    „Steel Wheels" (1989)

    Klar: Solche Rockfossilien kann man als Spättwen nicht nur mit den Ohren der 80er hören. Eine neue Stones-Scheibe aufzulegen heißt auch, gerührt der knisternden Klassiker im Regal zu gedenken. Schließlich war „Satisfaction einmal die Hymne aller Unbefriedigten und somit ungefähr das wichtigste Stück der Welt – auch wenn man’s, wie ich, erst spät kennenlernte, weil bei der Erstveröffentlichung noch in dumpfer Kindheit musik- und ahnungslos dahindämmernd. Aber als pubertierender Teenager zu „Angie den Klammerblues getanzt zu haben, prägt fürs ganze Leben. Genau das jedoch macht es so schwer, „Steel Wheels gerecht zu bewerten: Man hat einfach zu viel im Kopf. Dennoch, selbst unter Berücksichtigung und anschließender Eliminierung dieses Faktums, klingt die Platte ziemlich fad. Das fängt beim leblos-nichtssagenden Außencover an, wird von einem brüllend erstarrten Mick Jagger auf der Innenhülle kurz revidiert, ehe die durchweg mittelmäßigen Tanzliedchen im immergleichen Takt den Eindruck bestätigen. Zwischendurch ein paar Balladen: mal angereichert mit Klassikgitarre („Almost hear you sigh), mal mit juchzendem Hintergrundchor, dem man jedoch eine gewisse Selbstironie zugestehen könnte („Blinded by Love). Aber Gänsehäute? Ewige Wahrheiten? Weder noch. Allenfalls der in karger Viererbesetzung eingespielte Hardrocker „Hold on to your Hat lässt erahnen, welche Energie und Kraft den englischen Rotzlöffeln der 60er einmal eigen war. Das Problem ist: Die Jungs von einst sind alt geworden, wollen aber partout noch up to date sein. Alle Songs sind darum modisch aufbereitet, es findet sich gar ein ganz im Trend liegender Ausflug in den Ethnobeat (kaschiert als Hommage an den lang verstorbenen Rolling Stone Brian Jones). Mick Jagger, Keith Richards, Charlie Watts, Bill Wyman und Ron Wood bilden nunmehr eine Rentnerband am Rande des musikalischen Mittelmaßes, die sich mit perfekter Routine über die Zeit rettet. Und weil die Kreativität längst flöten ist, Richards die genialischen Riffs und Jagger die zeitlosen Melodien ausgegangen sind (was ihnen nach 30 Jahren auch zugestanden sei), fügen sie der schier endlosen Reihe ihrer Klassiker keinen neuen hinzu. „All I want is ecstasy, singen sie auf „Shipping away und werden ihrer ebensowenig teilhaftig wie wir. Immerhin: Sie waren einsichtig genug, diesen Song, einen melancholischen Exkurs über Vergänglichkeit, ans Ende zu stellen.

    Tracy Chapman

    „Crossroads" (1989)

    Sie hatte eines der sensationellsten Plattendebüts der Popgeschichte: Rund zehn Millionen Exemplare ihrer schlicht „Tracy Chapman betitelten Scheibe wurden seit letzten Sommer verkauft – eine schier unerträgliche Hypothek für jedes Nachfolgewerk. Die junge Sängerin, die bis dahin in intimen Folkclubs die Saiten gezupft hatte, stand über Nacht im Rampenlicht, wurde herumgereicht, bestaunt, bewundert und beneidet. Plötzlich wollten sie alle, und wer Chapmans introvertierten Auftritt beim Mandela-Konzert in London gesehen hat, ahnt, wie fremd und unwirklich ihr dies vorkommen musste. Auf ihrer zweiten Platte „Crossroads tut sie darum das einzig Richtige: Sie thematisiert das Wunder ihres Erfolges, vor allem seine Schattenseiten. „Demons are on my Trail hat sie erkannt und meint all die Freundschaft nur heuchelnden Trittbrettfahrer des Ruhms. „Crossroads handelt von äußerer Bedrohung, von Verletztheit und von Verbitterung. Auf keinem der Coverfotos schaut Tracy Chapman uns an – als wolle sie so augenfällig machen, was sie im Song „Be careful of my Heart resigniert und trotzig zugleich bekundet: sich mehr Liebe für sich selber aufsparen zu wollen, statt sie an andere zu vergeuden. Natürlich fehlen auch die sozialkritischen Lieder im aufbegehrenden Duktus der 60er nicht: aggressionsgeladene Bestandsaufnahmen vom Leben in den Slums („Subcity), Solidaritätsbekundungen für Nelson Mandela („Freedom now) oder Attacken gegen Religion und weiße Dominanz („Material World). Frappierend, wie sie zu zeitlos einfachen Melodien ganz schlicht nach „Gerechtigkeit" verlangen kann, ohne sich je (wie etwa Sting, Simple Minds oder Bruce Springsteen) dem Verdacht eines modischen Betroffenheitsgestus auszusetzen. Wie auf der ersten Platte ist ihren mal persönlichen, mal politischen Balladen eine getragene Schwermut eigen, die, harmonisch und überwiegend akustisch instrumentlert, oft der Engagiertheit der Texte scheinbar zuwiderläuft. Doch genau diese Aura ist es, die sie bei aller Glätte der Produktion nicht scheitern lässt an der Erblast des genialen Erstlings. Tracy Chapman tat eben das einzig Richtige: zu reflektieren über das Jahr, das alles in ihrem Leben veränderte. Eine erneut meisterliche Platte also, die Rückzug und Isolation als Ausweg begreift, als letztes Mittel künstlerischen Überlebens. Eine konsequente Platte.

    Van Morrison

    „Avalon Sunset" (1989)

    „Don’t wonder why beschwor er uns schon vor über 20 Jahren auf seinem Meisterwerk „Astral Weeks, das in seiner filigranen Leichtigkeit geeignet schien, die Gesetze der Gravitation aufzuheben. Er war jung, 23 erst, und sang schon wie ein Meister. Seine Gedichte verwandelte er in vokale Klanggebilde voll farbenprächtiger Phrasierungen und hypnotischer Wiederholungen, er schuf Songskulpturen jenseits aller Zeiten und Stile. Später, viele Jahre später – er war nun erdiger geworden, hatte die Einzigartigkeit der „Astral Weeks wohl selbst erkannt und keine Kopien abliefern wollen – beschäftigte ihn noch immer das Warum. „It ain’t why, it just is, hieß es 1980 ganz apodiktisch auf „Common one. Das war immer die Basis gewesen, von der aus er seine persönliche Mystik hatte entwickeln können. Von hier aus hatte er kommuniziert mit magischen Mächten, die auch seine Natur- und Liebeslyrik immer wieder beschwor. Es war die diffuse, geheimnisvolle Aura seiner Texte, die sie einer eindeutigen religiösen Zuordnung enthob und so auch die Rationalisten unter seinen Fans nicht vollends verschreckte. „It ain’t why, it just is: Das ging in Ordnung. Aber jetzt, nach „Avalon Sunset nicht mehr. Zwar ist des Iren Stimme noch immer für Gänsehäute gut; zwar hat er den Sound der letzten Platten (vom „Irish Heartbeat-Folkausflug mit den Chieftains einmal abgesehen) weiter kultiviert, lässt sich noch immer umwogen von einem melancholischen Klangmeer aus schweren, verhallten Drums, breiten Streicher- und Keyboardgrundierungen, perlendem Piano und Grummelbass. Doch die Morrison’sche Mystik ist dahin, er ist (reuig?) ins christliche Lager eingekehrt. Nun also: konkrete Bekenntnisse statt dunkler Ambivalenz. Wer das eröffnende Duett mit Cliff Richard noch überstanden hat, wird sich spätestens vom fast militanten Missionseifer einer Zeile wie „Whatever it takes to fulfill his mission, that is the way we must go schaudernd abwenden. Wie bewegend dagegen die anrührende Rezitation des Gedichtes „Coney Island, wenn Morrison sich ganz auf seine lyrische Sensibilität und Beobachtungsgabe verlässt – leider eine Ausnahme. „Avalon Sunset" ist ein vorwiegend balladeskes Album, dem vor allem Georgie Fames Hammondorgel und die pieksende Akustikgitarre des furiosen Arty McGlynn musikalische Farbe verleihen. Wären da nur nicht diese Sonntagsschulentexte, die plagen bis zum letzten Song. I wonder why, Van.

    Violent Femmes

    „3" (1989)

    Die Popmusik der 80er wird in die Geschichte eingehen als bloßes Konglomerat früherer Epochen. Wohin man auch hört, in jedem Riff dieser Dekade klingt ein Vorbild nach. Kein Wunder, dass Coverversionen Konjunktur haben, nicht erst seit Mare Almonds Anschlag auf Gene Pitney. Da lobe ich mir doch Nick Caves Methode, die alten Songs sorgsam zu zertrümmern, um ihre Substanz – und damit ihre Relevanz für die 80er – zu erkunden. Die Violent Femmes covern keinen; doch auch sie haben Vorbilder und leugnen sie nicht. Sänger und Texter Gordon Gano klingt manchmal wie ein domestizierter Johnny Rotten, und Bassmann Brian Ritchie hat viel von den Stray Cats gelernt. Sein energisches, treibendes Spiel prägt Tempo und Verve der meisten Songs weit mehr als Victor de Lorenzos zurückhaltende Trommelarbeit. Des Trios neues Album heißt „3, ist indes bereits das vierte; nicht der einzige Widerspruch auf einer Platte, die zweifellos die alten Fans wenn nicht vergraulen, so doch irritieren wird. Denn ganz gezähmt kommen die drei aus Boston plötzlich daher. So melodiös sind sie geworden, dass gleich das Eröffnungsstück „Nightmares geradezu Ohrwurmqualitäten hat. Jener verzweifelte Gestus, der sich noch auf „Hallowed Ground in energischen Dissonanzen Luft verschaffte, hat sich aufgelöst in sanfte Harmonien. Nur „Fool in the full Moon wartet noch auf mit wilden elektrischen Gitarreneinsprengseln. Ansonsten besinnt man sich auf die akustischen Wurzeln des Rock. So kann das hyperschnelle „Telephone book gewisse Bluegrassanleihen so wenig verhehlen wie „Lies seinen Skiffleeinfluss. Die Violent Femmes spielen nun Folk mit dem Punk nur noch im Hinterkopf: aufregend und eklektisch, mal wütend, mal depressiv, doch gemäßigter als je – selbst bei der Artikulation von Weltschmerz. „There’s nothing worth living for, heult Gordon Gano mit herzzerreißend brüchiger Stimme, doch der schier allumfassende Geltungsanspruch dieser Zeile wird sogleich relativiert, wenn er nach wohldosierter Pause ein Wörtchen nachschiebt: „ … tonight. Natürlich: Die Texte betreiben allesamt Nabelschau, sind selbstmitleidig und egoistisch („I hope you got fat/cause if you got really fat/you just might want to see me come back), doch der sparsam instrumentierte, nur sporadisch von Gastmusikern unterstützte Garagenfolk macht alles wieder wett. „Zwei Gitarren, Schlagzeug, Bass: Das ist das Wahre, sagt Lou Reed. Die Violent Femmes verwenden noch eine Gitarre weniger.

    1990

    „Am Prater kann man den Sekt schon mal kaltstellen: Nach dieser Platte reicht es für uns wohl nur zum Viertelfinale. Arrividerci Roma."

    aus der Rezension zu „Sempre Roma" von Udo Jürgens und der Deutschen Fußballnationamannschaft

    Frumpy

    „Now" (1990)

    Frumpy haben schon 20 Jahre auf dem Buckel und sind jetzt far away from the blues. „Now nennt sich bündig die Comebackscheibe der ausgezeichneten Band um die Ausnahmesängerin Inga Rumpf, deren Stimme einiges an Rauheit eingebüßt hat. Gleichwohl etabliert sie sich hier als deutsche Antwort auf Tina Turner; gut zu hören im Song „When I fall in Love: Zu melodiösem Rock mit Funkeinschlag und manchmal angeschrägten aggressiven Bläsersätzen singt Inga der Hippieära entlehnte (englische) Texte von heilen Welten, vom Happysein together und dass wir alle doch bitteschön uns lieben und vertragen sollen. Soviel Positives will unterstützt sein: mit einer beiliegenden Bestellkarte können Frumpy-T-Shirts, Frumpy-Schals, Frumpy-Feuerzeuge und vieles mehr geordert werden. Lieferung nur gegen Vorkasse.

    Joe Cocker

    „Joe Cocker live" (1990)

    Dem Typen kann man nichts übelnehmen, selbst den -zigsten Aufguss des Altbewährten nicht. Weswegen? Weil er einerseits ein Rockurgestein ist und außerdem, wenn er wild fuchtelt mit den Gliedern beim zähen Kampf um kathartische Schreie, zugleich auch verletzlich und schutzbedürftig. Das rückseitige Coverfoto seiner aktuellen Doppel-LP „Joe Cocker live, wo die eingefrorene Geste mehr an Dirigentenposen denn an Cocker-typische Bühnenspasmen gemahnt, entschädigt deshalb kaum für den leibhaftigen Anblick on stage. Die Musik, so professionell und makellos sie ist (oder genau deswegen), erst recht nicht. Cocker, das Woodstock-Fossil, hat seit 20 Jahren seinen Gesangsstil nicht verändert. Und warum auch? Schließlich ist er hart erkauft. Jahrelang hat er sich, für 15 Mark am Abend, in miesen Kaschemmen die Seele aus dem Leib geschrien und das entstandene Vakuum mit Bier wieder aufgefüllt – fünf Liter pro Nacht. So was hält vor. Doch was die Stimme an rohem Blues noch immer hergibt, glätten heute die Arrangements. Im seelenlosen Allerweltssound aus Keyboards, Drums, perfekt gesetzten Bläsern und Backgroundchören ist Cockers Röhre wie in ein Korsett gezwängt. Nur selten wühlt sie sich hervor aus dem kalkulierten, wie am Reißbrett entworfenen Klangraum – im unvermeidlichen „With a little help from my Friends etwa, das von jeher die eine atemlose Sekunde bereithält, in der die Musik stoppt und nur dieser markerschütternd heisere und hysterische Schrei zu hören ist. Doch der ist seit Woodstock der gleiche. Ein neuerliches Livealbum des Shouters aus Sheffield ist darum nicht unbedingt das, was die Rockwelt nötig braucht. Und wenn schon Cocker live als Konserve, dann lieber „Mad Dogs and Englishmen", eingespielt schon 1970.

    Kate Bush

    „The Sensual World" (1990)

    An ihr sind die Jahre, musikalisch gesehen, weitgehend spurlos vorübergegangen. Kate Bush steht auch mit „The Sensual World noch immer in der Tradition jener Stilrichtung, die in den späten 60ern etabliert und später von Gruppen wie Genesis oder Renaissance fortgeführt worden war: dem Klassikrock, der sein Ideal im komplexen Aufbau sinfonischer Werke sah. Es passt ins Bild, dass die englische Sängerin von Pink Floyd entdeckt und protegiert wurde – und dass ausgerechnet Ex-Genesis·Chef Peter Gabriel sie für die Single „Don’t give up zum Duett nötigte. Ihre eigene Musik blieb stets solchen Vorbildern verhaftet, und einer zwischenzeitlichen vokalen Experimentierlust schwor Kate bald wieder ab. Heute verlässt sie sich, wie in den Tagen ihres raschen Aufstiegs anno 78, erneut völlig aufs Rezept orchestraler Breite und fast Wagner’scher Opulenz. Zugeständnisse an den Zeitgeist fehlen dennoch nicht. Die Zutat des bulgarischen Chors Trio Bulgarka huldigt der Geschmacksrichtung Ethnopop ebenso wie die exotisch-würzigen Einsätze je eines Flötenvirtuosen (Davey Spillane) und keltischen Harfenisten (Alan Stivell). Mut gehört heute gar nicht mehr dazu, solche Folkheroen mit einem Gitarrero wie David Gilmour in einen Topf zu werfen; dazu darf Eberhard Weber noch eine Prise Jazzbass beisteuern, und Peter Greenaways Filmkomponist Michael Nyman arrangiert das Violinquartett: viele Köche … In dieser gewaltigen eklektischen Soundsoße, die der legendäre Bombastproduzent Phil Spector gewiss mit Freude goutiert, verlöre sich Kate Bushs vor allem in hohen Lagen ungewöhnliche Stimme schnell, hätte sie sie in Backgroundvocals und Duetten mit sich selbst nicht verdoppelt und verdreifacht. Dergestalt singt sie von der „sinnlichen Welt, konterkariert den Titelsong traurig und ironisch mit der Geschichte einer Frau, die vor lauter Einsamkeit und Frust beim verständnisvollen Computer Trost sucht („Deeper Understanding), oder gesellt sich im Geschlechterkampf den Männern zur Seite („This Woman’s Work"). Leider sind ihr dazu kaum originelle Melodien eingefallen. Kein Refrain bleibt haften, nichts prägt sich ein. Man gewinnt den Eindruck, überbordende Arragements und sinfonische Klangtiefe sollten die bloß mittelmäßige Qualität der Songs übertünchen. Vielleicht ist dies der Grund für das seltsame Gefühl, das sich nach durchgängigem Hören der Platte beim Gourmet einstellt: zu viel und zu fett gegessen zu haben, ohne satt geworden zu sein.

    Klaus Doldinger’s Passport

    „Balance of Happiness" (1990)

    Klaus Doldinger versucht sich mit seiner Band Passport in den letzten Jahren erfolgreich an Filmmusik. Und auch sein neues Werk „Balance of Happiness" scheint – obzwar kein Soundtrack – Bilder zu illustrieren. Instrumentaler Rockjazz, der in routinierter Glätte vorüberfließt, geprägt von Doldingers elegischem Saxofon, das oft in oboenhafte Höhen aufsteigt. Manches Stück blubbert in federleichter Big-Band-Beliebigkeit dahin, ein andermal webt die Band ein sanftes Geflecht aus lyrischer Sologitarre und butterweichem Background – funktionale Hintergrundmusik für den anspruchsvoll sich gebenden Germanistikstudenten im siebten Semester, der einer jungen Kommilitonin seine Diskettensammlung zeigen will.

    M. Walking On The Water

    „Pluto" (1990)

    Auf ihr Konto gehen bereits eine ganze Reihe skurriler Sachen. Eine Single von 1987 war in ein Cover mit echtem Wasser eingepackt, und im Jahr darauf lieferten sie, gar nicht trendy, eine Mini-LP mit lauter Walzern ab. Dazwischen lag die erste Langrille, die schlicht den (seltsamen) Namen der Band trug: M. Walking On The Water – eine wilde Mischung aus Folk und Punk, auf der Akkordeon und E-Gitarren sich aufs Trefflichste vertrugen. Dieses Klanggerüst ist geblieben. „Pluto ist, um es vorweg zu sagen, die bisher beste Platte der Ruhrpottband, die sich mit schier diebischer Freude jeder schablonenhaften Kategorisierung zu entziehen sucht. Ihr Motto: stilistische Vielfalt, doch keine Beliebigkeit. So klingt’s manchmal, als hätte Kurt Weill einen Adrenalinschub zum Komponieren genutzt; dann wiederum weicht harter Gitarrenrock folkloristischer Anmut, oder eine liebliche Mundharmonika trifft auf hektische Bassläufe. Das mit geschlagener Akustikgitarre eingeleitete „Big Hole umgibt ein folkiges Flair, im überdrehten Folgestück –„Sigi’s Lovers – finden wir uns unter der Ägide der Band um Sänger Markus Maria Jansen plötzlich irgendwo auf dem Balkan wieder. In „Holy Night of Rosemarie bricht ein prächtiges Telecasterriff die von Mike Pelzers Akkordeon bestimmte sanfte Betulichkeit nachhaltig auf; dissonanten, wohl parodistisch gemeinten „Harmonie-Gesängen folgt ein kräftiger Rocker mit wiederum orientalisch anmutendem Refrain – schließlich versteht man sich ausdrücklich als „kosmopolitische Musikgruppe. Höhe-und Schlusspunkt der Platte aber ist das Titelstück „Pluto (Bassist Ulrich Kisters: „Das ist ein ganz herber Planet!). Monotone Gitarrensequenzen, suggestive Perkussion (Jürgen Jaehnke) und ein Chorus, der an katholische Liturgien erinnert, schaffen ein Fluidum von hypnotischer Kraft, dem man sich kaum entziehen kann. Ein ziemlich einmaliger 6-Minuten-Song, den, merkwürdig genug, gerade der gebetsmühlenartige Aufbau vor Abnutzung schützt – ein kleines Meisterstück, das die kreative Potenz der Band erahnen lässt. Ihre Texte singen sie übrigens auf Englisch. „Das ist die Sprache des Rock’n’Roll, sagt Markus Maria Jansen, und er hat Recht. Zweimal im Jahr spielen sie in England, trotz der Probleme, die eine Newcomerband vom Kontinent dort zwangsläufig hat – in Southampton etwa kamen nur vier zahlende Gäste. Doch es geht voran: Die Plattenindustrie hat bei der (noch) lndependentband schon angeklopft. Das große Ziel rückt also näher – Jansen: „Der einzige Grund für all dies ist es, berühmt zu werden. Meinen alten Freundinnen werden wir es noch beweisen. Nicht nur denen, wie mir scheint.

    Michelle Shocked

    „Captain Swing" (1990)

    Eine Frau sitzt am Lagerfeuer, irgendwo in Texas. Sie spielt Gitarre und singt dazu: freche und melancholische Lieder, im Duett mit den Grillen. Die Flammen prasseln, Funken stieben. Ein Mann hört ihr zu. Die Batterien seines Walkman sind schwach, und dennoch schneidet er mit. Er weiß: Magischen Momenten wie diesen kann selbst versagende Technik nichts anhaben. Zufällig besitzt dieser Mann ein Plattenlabel, und er findet., diese Musik sei es wert, von vielen gehört zu werden – trotz des Knisterns und Gezirpes und bedrohlich schwankender Tonhöhen. Er tauft die Platte schlicht „The Texas Campfire Tapes (wie auch anders), und sie ist eine Ohrfeige fürs CD-Zeitalter. Die junge Frau, sie heißt Michelle Shocked, ist inzwischen nach Europa abgereist; mit Reagans Amerika hatte sie so ihre Probleme. In Amsterdam erzählt ihr irgendjemand, ihre Platte erobere gerade die englischen lndependentcharts, und sie kann es kaum glauben. Im Frühjahr 1987 sind sie und ihr Grillenchor die Nummer eins, ein ganzes Jahr lang sorgen die Campfire-Tapes für Lagerfeuerflair in englischen Hitlisten. Die Plattenindustrie nimmt sich des texanischen Talents an, ein zweites Albumfolgt. Dem Profiproduzenten traut Michelle trotzdem nicht recht. Doch siehe da: „In spite of his car phone and satellite dish we completed a second album – Titel: „Captain Swing. Und in der Tat: Der Name ist Programm. Da röhren die Bläser, Bässe swingen und Besen fegen die Becken blank. Texas-Girl Michelle schwelgt nun so richtig in der Blues-und Jazzhistorie, mit Herz und GefühL Ihre eingestandenen Einflüsse lesen sich denn auch wie ein nostalgisches Who’s Who: Otis Rush, Fats Domino, Gershwin gar, Jerry Lee Lewis und viele mehr. Zum Glück hat sie sich trotz aufgemotzter Arrangements den Lausbubencharme des spröden Erstlings nicht abkaufen lassen. Ihre Texte: verschmitzt und keck, manchmal nachdenklich („Too little too late), manchmal verspielt („The Cement Lament). Die Musik klingt durchweg altmodisch – eine einzige Hommage an die gute, alte Zeit. Stilsicher bewegt sie sich zwischen Blues, Sintijazz und Dixieland, mit fließenden Übergängen und von allem immer etwas. Gut vorstellbar, dass selbst ein Woody Allen, ansonsten ausgewiesener Feind jedweder Musik nach 1950, bei „Captain Swing dahinschmölze – vor allem beim rasanten Oldtimejazzer „Must be luff". Gut gemacht, Michelle. Indes: Die originäre Musik der 90er werden andere kreieren müssen.

    Mike Oldfield

    „Amarok" (1990)

    Die irrige Ansicht, das einzig Beständige sei die Veränderung, widerlegt Mike Oldfield souverän. Mit „Amarok will er offenbar an Zeiten anknüpfen, da er für einen großen Komponisten gehalten wurde. Ja, ja, ihr Kids, die ihr nur Schlager a la „Moonlight Shadow mit Herrn Oldfield verbindet: Jene Zeiten gab’s. Mike nämlich schloss sich in den 70ern oft im Studio ein, um mannigfache Instrumentarien miteinander kopulieren zu lassen und dies mit unzureichender Technik aufzuzeichnen. Das ergab häufig einen ziemlichen Soundbrei, gebar aber auch nette Ergebnisse – zum Beispiel „Tubular Beils, ein stilistisch irgendwo zwischen Bach, Folk und Rock angesiedeltes Plattenunikum. Keine Ahnung warum, aber Oldfield hat solches jetzt neu versucht, mit besserer Technik zwar, doch schlechterem Resultat. „Amarok, gälisch für „Genie, mischt die alten Zutaten – Elfenstimmern, dumpf polternde Bassdrums, Wimmergitarren, sanfte Hirtenweisen –, wirkt jedoch zerrissen und unverbunden. Dies, weil Oldfield uns dreist die Versatzstücke seiner sämtlichen Monumentalwerke neu vor- und damit einer schieren Überdosis an Déjà-vu-Erlebnissen aussetzt. „Bestenfalls, schrieb SOUNDS einmal angesichts eines ähnlichen Opus, „kommt es zu einer Ejaculatio praecox. Das wäre ja immerhin etwas. „Amarok aber taugt nicht einmal als Aphrodisiakum.

    Prince

    „Graffiti Bridge" (1990)

    Computerrhythmisierte Funk-Rapsoul-Gospel-Dancefloor-Delirien, bis zum Bersten prall gefüllt mit skurrilen Soundgags und sich stets auf multiplen Ebenen entwickelnd: Musik für Kopf-Hörer, die dennoch ihre Tanzbeine noch zu schwingen wissen. Bei keinem anderen Studiotüftler passiert so viel im Hintergrund, lohnt sich das Tiefenhören mehr als bei Prince; er adaptiert alle Genres schwarzer Musik, modelt sie um, ironisiert sie oder nimmt sie einfach ernst, bekundet hingebungsvolle Liebe zur Kunst wie zum Kitsch. Ein in allen Regenbogenfarben schillernder eigenständiger Soundtrack, den niemand von vorn bis hinten mögen wird, der aber allen zumindest partikelweise was zu bieten hat. Gäste unter anderen: Der Funkpapst George Clinton und Mavis Staples als gospelnde „Melody Cool". Der Film wird übrigens bald nachgeliefert.

    Quiet Force

    „Smile" (1990)

    Humor glaubt er zu haben, der unter Quiet Force firmierende Steven Toeteberg, wenn er großmäulig (und gespielt selbstironisch) seine neue CD „Smile in mäßigem Deutsch anpreist als „bestes New-Instrumental-Music-Album was je in Europa entstanden ist. Das stimmt nicht. „Smile" erscheint bei Innovative Communications (IC), dem neben Erdenklang wohl rührigsten Label des Genres, und präsentiert verspielten Eklektizismus, der oft in flache Seichtheit oder gefällig Tanzbares mündet. Toeteberg zitiert Miles Davis wie Morricone, Jazzrock wie Soul, auch Ethnopop und selbst HR1-Nachmittagssound. Vielfalt, konturlos.

    Rio Reiser

    „Rio" (1990)

    Mit diesem Album erweist sich Rio Reiser endgültig als bester deutscher Songschreiber. Klar: Die Zeiten, da er einer jubelnden deutschen Studentenschaft „Keine Macht für niemand entgegenschrie, sie sind nicht mehr. Rio ist jetzt ganz Privatmann, singt – mal poetisch und metaphernreich, mal ironisch und schnoddrig – vom ganz persönlichen Sehnen und Sorgen, von verlorener Liebe und Jugend. Wird es doch mal politisch, dann kalauert er gleich sarkastisch „Helmut kommt vor dem Fall, ganz wie in späten Scherben-Zeiten. Dazu hört man exzellente elektronische Arrangements, die so ganz anders sind als die wabernde Synthieschleimspur, die sich von Genesis bis Grönemeyer durchgesetzt hat. Reiser nutzt den Computer kreativ, erzielt kammermusikalische Intimität genauso stilsicher wie vielfältig pulsierende, heterogene Klangmuster in den schnelleren Stücken. Eine originelle und ideenreiche Platte, der Charts- und Marktgesetze offenbar kein Dogma sind. Vielleicht liegt deshalb auch keine Bestellkarte bei.

    Roger Waters

    „The Wall live in Berlin" (1990)

    Was macht ein Kunstwerk aus? Originalität und handwerklich solide Ausführung: Das zumindest sollten zwei seiner Eigenschaften sein. „The Wall, das monumentale Pink-Floyd-Werk von 1979, wies beide auf – in welchem Maße, mag dahingestellt sein. Als erfolgreichstes Doppelalbum überhaupt hat es sich eh immunisiert gegen allzu sophistische Kritik. Doch am 21. Juli 1990 auf dem Potsdamer Platz in Berlin; da, wo Hitler einst seinen Führerbunker anlegen ließ, entlarvte es sich selbst. Das größte Pop- und Rockspektakel der Geschichte erwies sich als heiße Luft, als fader Abguss. Die Story, die „The Wall immer noch erzählt, ist armselig dünn, ist weh- und selbstmitleidig und das in gleichem Maß, wie der äußere Aufwand überbordend und anmaßend war. Ohren, Augen, alle Sinne sollten betäubt werden. Eine fast 170 Meter breite Bühne, die größten jemals hergestellten aufblasbaren Figuren (sic!), ein Stromverbrauch von glatten fünf Megawatt, riesenhaft projizierte Trickfilme und natürlich die obligaten zweieinhalbtausend Mauersteine aus Styropor: Alles bloß Blendwerk, um die Larmoyanz zu übertünchen. Aber das ging schief, der Komponist und Exekutor selbst, Roger Waters, hat es gründlich verbockt. Denn an jenem Juliabend forderte die Gigantomanie ihren Tribut: Der Strom fiel zeitweise aus, die Verständigung zwischen den Musikern klappte nicht und Roger Waters sang – will sagen: jaulte – zum Gotterbarmen. Auf den jetzt vorliegenden Tonträgern sind die wesentlichen Schnitzer eliminiert; man griff auf die mitgeschnittene Generalprobe zurück. Nur der größte Schwachpunkt blieb erhalten: Waters selbst. Und er hat die Einsamkeit des Studios nicht einmal genutzt, um seine vokalen Schwächen posthum zu kaschieren. Schräg, schief und überfordert in den hohen Lagen konmt’s auch aus der Rille, ganz wie im Konzert. Sicher: Die Konkurrenz, von ihm selbst eingeladen, war groß. Und es gibt nicht wenige, die im direkten Vergleich mit den Singkünsten eines Paul Carrack oder Van Morrison ausgesprochen alt aussehen. Doch Waters war schlicht überfordert, sein Versagen Symptom einer gewaltigen Selbstüberschätzung. So scheint die dritte wesentliche Eigenschaft eines Kunstwerkes das rechte Verhältnis zwischen Form und Inhalt zu sein. Eine Eigenschaft, die offenbar auch vom Ort der Präsentation abhängt. Wo vorher ein kilometerlanger Wall globale Systemgegensätze geradezu klassisch verkörperte, da errichtete nun Roger Waters eine Wand aus Styropor, die weiter nichts als die Isolation eines armseligen Egos versinnbildlichen sollte. Sage und schreibe 320.000 Leute, halb mal mehr als einst in Woodstock, wollten sehen, wie das grotesk-grandiose Symbol des Kalten Krieges gleichgesetzt wurde mit der Kontaktarmut eines fiktiven weinerlichen Buben namens Pink. Eine prätentiöse Anmaßung ohnegleichen. Denn was der Untergang des DDR-Sozialismus mit einem individuellen Psychodrama zu tun haben soll – außer der mehr als mageren Schnittmenge eines schiefen Symbols –, weiß nur Waters allein. Das ganze, modisch unter der Fahne des guten Zwecks segelnde Spektakel war von vornherein überflüssig. Sein einziger Zweck: Einen ins Abseits geratenen Musiker wieder ins Gespräch zu bringen. Was ihm nachhaltig zu gelingen scheint, wie die aktuellen Verkaufszahlen von „The Wall (auch der Studioversion) eindrucksvoll belegen. Wie schrieb doch der weise Macchiavelli einst: „Wenn ihn die Tat anklagt, so muss ihn der Erfolg entschuldigen. Oder immunisieren – gegen allzu sophistische Kritik.

    The Durutti Column

    „Vini Reilly" (1990)

    Es ist nicht schwer, Vini Reilly bislang überhört zu haben. Einem seiner Instrumentalstücke im Radio zu begegnen, ist ein absoluter Glücksfall, und die Hochglanzseiten der Fachpresse schmücken sich selten mit seinem Konterfei. Er ist offenbar ein scheuer Zeitgenosse, versteckt sich vorzugsweise hinter dem bizarren Gruppennamen „The Durutti Column, unter dem er nunmehr sechs Alben veröffentlicht hat. Erst das letzte trägt seinen Namen, verwirrenderweise als Titel. Das Cover ziert ein schwarzweißes Foto von ihm: ein überaus hagerer Mann mit markanten Zügen, der den Kopf aufstützt und auf verzwickte Weise haarscharf an uns vorbeischaut. Reilly spielt Gitarren aller Art, sein Stil ist beeinflusst von Avantgarde bis Minimal Music und doch völlig eigenständig, unvergleichlich. Seine großartigen Lautmalereien erinnern noch am ehesten an die Low-Budget-Platten, die das Cluster-Mitglied Roedelius in den 70ern veröffentlichte. Es sind traurige, zerbrechliche Miniaturen, meist dünn instrumentiert (Rhythmus- und Sologitarre) und selten nur unterstützt von John Metcalfs Viola, Andy Connells Keyboard oder Bruce Mitchells Schlagzeug. Reillys Stärke liegt in Variierung und Ausformung einer einzelnen Idee; seine impressionistischen Songs entwickeln sich kaum, sind repetitiv, gehen der Melodie auf den Grund. Sie muten an wie flüchtige Skizzen im Block eines Malers, der um die Vergänglichkeit des Augenblickes weiß und wehmütig dessen Schönheit festhalten will. Musik, die Bilder produziert, weil sie offenbar aus Bildern entstand. Schwer, eine dieser mikrokosmischen Klangwelten hervorzuheben – „Requiem again vielleicht, wo eine leicht verfremdete, wimmernde Gitarre vor einem elegischen Stringsynthesizer die Tonleiter abwärts steigt in Grabestiefe: schaurig-schön, mit maßvollem Pathos und leider viel zu kurz. Oder „Pol in G, ein leicht verhalltes Instrumental aus zwei verstärkten Gitarren; wer Pat Methenys frühe LP „New Chautauqua kennt, weiß, was ich meine. Reillys romantische Kompositionen scheinen Einsamkeit zu bebildern, doch wehleidig sind sie nicht. Auch die Sampletechnik, einziges Zugeständnis an aktuelle Strömungen, setzt er in diesem Sinne ein: fremde Stimmen, die er untermischt, scheinen einsamen Gestalten in großen leeren Hallen zu gehören („Opera II, „Otis). Wenn man diese Platte hört, scheint es kaum vorstellbar, dass Reilly einst in der Punkszene von Manchester reüssierte. Damals firmierte er unter dem Namen „Ed Banger and the Nosebleeds" und galt bereits als bester Gitarrist der Stadt. Und heute komponiert er Musik von herber Schönheit, die an Melodienreichtum ihresgleichen sucht. Eine Platte also, die es künftig schwerer machen wird, Vini Reilly noch zu überhören.

    The Rattles

    „Painted Warrior" (1990)

    Von deutschem Boden ist, im Gegensatz zu anderen Dingen, so gut wie nie ein wichtiger rockmusikalischer Impuls ausgegangen. Als Ausnahme sei die elektronische Musik erwähnt, die sich dank Tangerine Dream und Klaus Schulze europaweit und darüber hinaus verbreiten konnte. Ansonsten: sklavische Nachahmung angloamerikanischer Vorbilder, oft mehr schlecht als recht. Selten glänzte man mit originär deutschen Tugenden (?), beschränkte sich lieber auf chamäleonartige Mimesis. Das galt schon in den 60ern für die Rattles, die mit Achim Reichel immerhin über einen charismatischen und stimmgewaltigen Sänger verfügten. Damals war Beat angesagt; heute, auf ihrem zweiten Comebackalbum „Painted Warrior, liefern sie ebenso Zeitgemäßes: hundertfach gehörten Mainstreamrock, den man glatt vorüberrauschen ließe, säuselten einem Reichel & Co. nicht (manchmal gar in Prince’schem Falsett) unablässig gängige Chiffren der Rock’n’Roll-Historie ins Ohr. „Tutti frutti, „Suzie Q. und so weiter, alles gruppiert um neues, modisch aufgepepptes Material, das sich saft- und kraftlos, doch solide produziert dahinschleppt. Anbiederisch und ohne Belang. Und beim discohaft verhunzten Klassiker „Keep on running müsste man glatt über die Höchststrafe nachdenken.

    Udo Jürgens und die Fußballnationalmannschaft

    „Sempre Roma" (1990)

    Es war einmal ein Udo Bockelmann, der sich aus verständlichen Gründen „Jürgens nannte und alsbald gehobene Schlager schrieb. Sogar blasierte Kultursnobs zuckten gelegentlich beeindruckt mit der Braue, wenn er Alltagsrassismus besang oder frivol der frostigen Nacht ins Bettchen einer gewissen Señorita entfloh. Solche Sachen schrieb Bockelmann, jawohl. In seiner besten Zeit war er fast das Missing Link zwischen Roy Black und Jacques Brel. Und außerdem, klammheimlich geradezu, Österreicher. Das aber war dem Deutschen Fußballbund (DFB) glattweg entgangen, als man Udo eines Tages – es war das Jahr 1978 n. Chr., und die Fußball-WM in Argentinien stand an – zum gemeinsamen Singsang mit bundesdeutschen Balltretern bat. Es kam, was kommen musste: die LP „Buenas Dias Argentina nämlich und damit das schnelle Aus der deutschen Elf. Zuerst traf ein Wiener (!) namens Krankl entscheidend ins deutsche Tor, daraufhin einen österreichischen TV-Reporter fast der Schlag („Dor! Dor! I werd narrisch!) und somit die bekannte Schmach von Cordoba die ganze hiesige Fußballnation – felix Austria, dank Udo. Zwölf Jahre gingen ins Land, in denen sich unser Fußball von Jürgens niemals ganz erholte. Weltmeister wurden immer die anderen, es reichte höchstens mal zum Vize – immerhin. Aber jetzt, man glaubt es kaum, haben sie ihn wieder aufgestellt (oh, deutsches Gedächtnis …!) „Sempre Roma heißt sein neuer Anschlag auf unseren Lieblingssport. Und Udo macht seine Sache wahrlich wieder gründlich. Mit einer Häme ohnegleichen lässt er da die Halbgötter in Shorts zu seichter Supermarktmucke etwas singen, das der Spiegel beschönigend „sinnarmes Geträller nennt, in Wahrheit aber auf schwachsinniges Kalauertum hinausläuft. Und das Schlimmste: Die offenbar nur hüftabwärts starken Männer scheinen es nicht zu merken. Ein Beispiel? Bitte sehr: „Der Teufel hat den Straps gemacht/um Spieler zu verführen. Das wird auf dieser Platte gesungen, ernsthaft. Von Möller und Mill, von Reuter und Riedle; selbst Klinsmann schämt sich nicht. Verballhornungen wie „Trainer lügen nicht oder „Wenn es kracht, Signorina folgen stante pede. Selbst Handke kriegt den Kasten voll mit „Die Angst des Schützen vorm Elfmeter. Alles Hirnkleister, um unsere Jungs mental lahmzulegen, damit sie die Taktik nicht mehr kapieren und wieder gegen Österreich verlieren – und der tumbe Teamchef tut mit, statt den Saboteur umzugrätschen. Am Prater kann man den Sekt schon mal kaltstellen: Nach dieser Platte reicht es für uns wohl nur zum Viertelfinale. Arrividerci Roma. Unseren Kickern, deren chorähnliches Trachten ein verdienstvoller Tonmeister wenigstens gnädig ins akustische Abseits mischte, bleibt nach dem absehbaren Flop nur ein Trost: Italien bietet, Udos Primanerlyrik zufolge, viel mehr als Fußball, nämlich „Spiele am Strand/Mädchen zur Hand. Das wird auf dieser Platte gesungen. Ernsthaft.

    Verschiedene Künstler

    „Erdenklang Music Vol. 11" (1990)

    Instrumentalmusik gibt sich heute, im heilsversprechenden „New Age des Wassermanns, gern esoterisch. Den Computern scheint konservative Musik zu entströmen, sie scheinen trotz eines vor die Hunde gehenden Planeten ungerührt Innenschau zu predigen. Vorwürfe, die Ulrich Rützel, Chef des Hamburger Erdenklang-Labels, in die Defensive drängen. Er flüchtet nach vorn. Die Spreu, sagt er (und meint „musikalische Stangenware mit pseudo-meditativer Attitüde), habe sich längst vom Weizen getrennt; und das Bedürfnis nach Entspannung durch Musik hält er angesichts einer komplexen, vom Ökokollaps bedrohten Welt ohnehin für legitim. So steht’s im Vorwort seines Labelkataloges, der einer neuen Sampler-CD beiliegt: „Erdenklang Music Vol. 11. Das Spektrum, etikettiert als „Neue Instrumentalmusik, ist überaus breit. Es finden sich die Pioniere des Fairlight-Computers, die leichthändigen Gitarrenläufe Erlend Krausers, Achim Gieselers nervös-urbane Klänge oder fiebrige Perkussionsexkursionen der indophilen Formation Tri Atma. 15 Interpreten, fast ebenso viele Konzepte; doch bemühen sich alle um die Verquickung elektronischer und natürlicher Klänge zu „computerakustischer Musik – wie auch Gerd Bessler, dessen Geige als durchaus humorvolle Versöhnung eines alten Instruments mit modernster Klangtechnologie klar und hell über elektronischen Soundteppichen thront. Wenn denn schließlich überhaupt vorläufig Gemeingültiges zu destillieren wäre aus dieser kleinen Auswahl, so dies: „Neue Instrumentalmusik gibt sich gefällig, kokettiert mit Pop und Rock, hält akustische Ergänzung für unverzichtbar, hütet sich panisch vor Dissonanzen und läuft stets Gefahr, vor lauter Harmonie in einlullendem, leicht konsumierbarem Schönklang zu erstarren. Die Perfektion moderner Synthesizer entbindet offenbar noch nicht von schöpferischer, melodischer Fantasie – sie macht ihr Fehlen gar um so schmerzlicher bewußt. „You have to have melody", weiß Ulrich Rützel zwar und meint sicherlich ein Konzept, das kompositorische Qualität hochhält und den Computer als Werkzeug ihrer Umsetzung begreift – doch den Vorwurf der Weltflucht, der Schaffung schöner neuer Klangwelten, entkräftet dies nicht. So könnte ein reflektierender Umgang mit dieser Musik vielleicht jener sein: den esoterischen Ballast ignorieren, ihre manchmal reine Schönheit genießen – und dennoch das hässliche Außen im Blick behalten. Schwierig, doch es könnte gelingen.

    Verschiedene Künstler

    „Music for the 90’s – Volume 2" (1990)

    Bravo, Rough Trade! So lieben wir’s: massenhaft gute Musik und das für wenig Geld. Der Sampler liefert einen sorgfältig ausgewählten Querschnitt des aktuellen Labelrepertoires – ein buntes, 20 Titel umspannendes Spektrum, das mit House und Rave anfängt, bei melodiösem Gitarrenpop länger verweilt, mit Souled American einen Hauch von Country verbreitet, Neopsychedelia streift und auch Exoten wie Momus und die Einstürzenden Neubauten aufzubieten hat. Für Partys genauso geeignet wie für einsame Abende im Reich des Kopfhörers. Charmant auch die Bescheidenheit des ansonsten wahrheitsgetreuen Booklets, das 70 Minuten Musik ankündigt, obwohl es glatte sechs mehr sind. Als Einstieg empfiehlt sich „Rave on (Club Mix)" der Happy Mondays – ein rechter Muntermacher, vor allem nach allzu langen Nächten.

    Vox

    „Diadema" (1990)

    Hildegard von Bingen, eine mittelalterliche Mystikerin, hat einen umfangreichen Fundus an Schriften und Kompositionen hinterlassen. Die deutsch-italienisch-amerikanische Gruppe Vox hat den Versuch unternommen, die voluminösen Melodiebögen Hildegards authentisch wiederzubeleben – mit größtem Erfolg. Drei Frauenstimmen, uralte Instrumente und behutsame Elektronik, die dramatische Akzente setzt, ohne auf Effekte aus zu sein: Das sind die Ingredienzen einer faszinierenden CD, die einige Assoziationen an Eberhard Schoeners „Trance formation" weckt, in ihrem ernsthaften Bemühen um kongeniale Adaption gregorianischer Musik jedoch weit darüber hinausgeht.

    1991

    „Es kann passieren, dass man diesen Soundtrack zwanghaft dreimal in Folge auflegen muss. Keine Vermutung: Erfahrung."

    aus der Rezension zu „The sheltering Sky" von Ryuichi Sakamoto

    Al Di Meola

    „World Sinfonia" (1991)

    Al war früher ein Gitarrist, dessen Up-Tempo-Saitengewichse immer dann schrecklich anödete, wenn er sich in der eigenen Virtuosität suhlte und das Wesentliche vergaß: Emotion. Das geschah allzu oft. „World Sinfonia", ein Gruppenprojekt, steht nun für Meolas diesbezügliches Aha-Erlebnis, was nicht nur in der Widmung an den Bandoneon-Meister Piazzolla zum Ausdruck kommt. Meola hat die Latino-Gefühlswelt für sich entdeckt und, was noch wichtiger ist, sie nachempfunden und behutsam (!) adaptiert. Mit Hilfe von Leuten wie Dino Saluzzi freilich, der das noch immer von selbstverliebten Technizismen nicht völlig freie Spiel Di Meolas mit warmen Bandoneonklängen kontrastiert. Eine furiose, brillant abgemischte Nord-Süd-Fusion. Und 63 Minuten lang.

    Chris & Cosey

    „Pagan Tango" (1991)

    C & C haben die Noiseschiene bereits mit ihrer Abspaltung von Throbbing Cristle verlassen. „TG schockte vor zehn Jahren die halbwegs heile New-Wave-Welt mit Ekelvideos und einem Sound, der sich vom Lärm einer Autofabrik nur noch in Nuancen unterschied. Nach dem Split machten Chris & Cosey als Duo weiter, begannen der kalten industriellen Welt nunmehr eine ausgesprochen spröde Schönheit abzugewinnen. „Pagan Tango wartet jetzt mit den bezauberndsten Technogrooves auf, die sie je zustandebrachten. Alle Wärme wurde der Musik rigoros ausgetrieben. Cosey haucht im Sprechgesang postmoderne Depressionen, Chris sorgt für die eiskalte Synthiebasis. Manchmal brechen zerbrechlich-zarte Melodien die tanzbare Monotonie der computerisierten Fließbandklänge auf. Eine Platte mit dem Charme einer Tiefkühltruhe, geeignet zur Berieselung von Robotern, die in den menschenleeren Fabriken der Zukunft ihren Dienst tun. Und sie könnten sich dabei ineinander verlieben.

    Christian Redl

    „14 und ein Viertel Jahr" (1991)

    Christian Redl ist Schauspieler in Hamburg. Er mag François Villon, vor allem in der Übersetzung von Paul Zech. Die hat er genommen, hat hochkarätige Musiker dazu aufspielen lassen und sodann die uralten, ewigjungen Balladen rezitiert – mit Hingabe und Anteilnahme, ganz so, als seien sie eben erst entstanden und der Pariser Dichter und Heißsporn nicht schon tot seit 500 Jahren. „14 und ein Viertel Jahr heißt die CD, und genau so alt war die Geliebte, der gleich im ersten (und schönsten) Stück, „Cylea, wehmütig gehuldigt wird. Villon war ein Poet des Windes und des Sommers, einer des prallen Lebens und vor allem: einer des Eros. Derb und zärtlich zugleich preist er die Freuden körperlicher Liebe, giert lüstern nach dem roten Erdbeermund der Gespielin, seufzt in fließenden Jamben: „Die Luft erbrach sich fast vor Fruchtbarkeit/Und unsereins hat Gott wer weiß wie lang nicht mehr/Sich in ein Weiberfell hineingewühlt.Vieles passiert im Freien, Wind, Gras und Vögel mischen immer mit beim Liebesakt. Uns, auf Ökozide stets gefasst, wird da schnell ganz weh ums Herz bei so viel unschuldig-hymnischer Naturbeschwörung, bei so viel Synonymität von Sex und sommerlichen Wiesen. Redl beschwört die reiche, ganz diesseitig gewendete Sprach- und Sinnenwelt Villons mit zittriger, bittersüß gefärbter Stimme; sie spiegelt gut die dunkle Ahnung von Vergänglichkeit und Tod, die den lebenstrunkenen Versen stets eingewoben ist. Dieser Dichter wusste: „Nur der, der lebt, lebt angenehm. Exmusiker der Gruppe Ougenweide legen den saftigen Texten mit vorwiegend akustischem Instrumentarium behutsam ein zart-filigranes, mal verhalten rhythmisches, mal statisch ruhendes Klanggewand um. Diese Hommage an den poete maudit, an den Mörder, Dieb und Verseschmied Villon, der 32-jährig auf Nimmerwiedersehn verschwand, ist ein wundersames Kleinod. Villon, hätte er Ende der 60er-Jahre unseres Jahrhunderts gelebt, er wäre ein Kultstar geworden, einer jener faszinierenden, lasterhaften Exzentriker, berüchtigt für Drogenexzesse, wilde Schlägereien und demolierte Hotelzimmer.

    Cusco

    „Water Storys" (1991)

    Es ist an der Zeit, gegen den entsetzlich glitschigen, klebrig-süßen, hirn- und hörgangverkleisternden, reaktionär harmlos „schönen, übelkeitserregenden Synthieschleim zu wettern, den Cusco seit nunmehr werweißwie vielen CDs absondert. In Japan fahren sie voll ab auf den seichten Schmuh, in den Billboard-New-Age-Charts taucht er auf, aber hierzuland wollen wir, bittschön, verschont werden davon. Hinter dem unsäglich substanzlosen Geseiere steckt übrigens Exschnulzenheini Michael Holm, manchen noch in Erinnerung als vergebens nach dem Mädchen aus „Mendocino suchend. Such weiter, Michael. Sing Schlager.

    Die Lassie Singers

    „… helfen Dir" (1991)

    Okay, setzt Jonathan Richman in eine Zeitmaschine, gabelt bei einem Zwischenstopp in 1980 Nena und die Doraus auf, reist zurück in die 50er, sucht nach Connie Francis und bringt sie dazu, zu Jonathans Musik loszuträllern, im Chor mit Nena und den Doraus. Teenielieder im Geist der 60er natürlich, mit pubertärem Touch, einem Hauch von Dr. Sommer und ersten Pickeln, kindlich schräg und begleitet von akustischen Gitarren, Zupfbass und holprigem Schlagwerk. Und nennt dieses genialisch-dilettantische Amalgam aus Neuer Deutscher Welle, BRAVO-Erotik, Bubblegumpop und Itsy-Bitsy-Teenie-Weenie-Honolulu-Strand-Bikini meinetwegen „Lassie Singers". Genau: nach dem Hund. Einem Collie. Und wisst ihr, was dann passiert? Die Platte wird Scheibe des Sommers. Und nicht nur, weil die Lassies (übrigens aus Berlin) endlich die Frage beantworten, warum nette Mädchen niemals glücklich werden können. Weil sie sich nämlich immer nur in wilde Kerls verlieben. Darum.

    Die Toten Hosen

    „Learning English Lesson One" (1991)

    Wisst Ihr noch, wie Mami anno 77 Zeter und Mordio schreiend die Sicherung rausriss, weil die Sex Pistols wie ein Erdbeben aus den Boxen dröhnten? Hach … – Nun, auch die Toten Hosen sind Nostalgiker, und sie haben die Punkzombies von einst wiederbelebt und die wenigen Überlebenden zum Mitpunken animiert. Herausgekommen ist das lauteste und beste Punkalbum seit „Rocket to Russia; Joey Ramone macht den „Blitzkrieg Bop, Johnny Thunders den letzten Seufzer (er starb kurz nach der Session), viele andere (wie die Lurkers) sind in toto dabei. Eine grandiose Reminiszenz an die Vergangenheit – Sicherungen, duckt euch!

    Edie Brickel & The New Bohemians

    „Ghost of a Dog" (1991)

    Irgendwas in Edies Stimme, man mag es mir nachsehen, erinnert mich an Nena. Manches auch an Suzanne Vega. Trotzdem hat sie ein eigenes Profil, dank origineller Texte und abwechslungsreichem Stil, der von Folkrock bis Texmex reicht. Mittendrin finden sich kostbare kleine, rein akustische Perlen, alle ultrakurz und hingehaucht, impressionistische Shortstorys, von intimem Charme und skurriler Thematik (etwa „Oak Cliff Bra, das es durchaus aufnehmen kann mit Vegas Cafégeschichte „Tom’s Diner). Ganz am Ende dann die krönende Einsamkeitsballade „Me by the Sea", die so tief unter die Haut kriecht, dass man sie nie mehr los wird. Und das ist gut so.

    Edward Ka-Spel

    „Tanith and the Lion Tree" (1991)

    Ohne seine Legendary Pink Dots stößt der holländische Artrocksänger weit in bizarre Bereiche vor, doch geht ihm im Sample- und Effektegestrüpp die Stringenz verloren. Minutenlang zirpt da die Elektronik wie zu Zeiten des Mellotrons, und den manchmal wie wundersam aus dem Noise aufsteigenden, vocoderverfremdet gesungenen Melodien hätte man ein weniger zerfasertes Kleid gewünscht. Die Stücke auf „Tanith …" sollen sich wohl zur Collage fügen, doch wirken sie oft nur wie Füllsel, wie halb ausgegorene Ideen. Edward Ka-Spel, das steht fest, braucht das Korsett der Dots, um sich nicht zu verzetteln.

    Grant W. Mc Lennan

    „Watershed" (1991)

    Früher war Grant bei den Go-Betweens, für die er einige der wichtigsten Lieder geschrieben hat. Sein erstes Soloalbum glänzt denn auch mit den Stärken eines gestandenen Songwriters: großartige Melodien, nachdenkliche Texte und eine folkinspirierte Instrumentierung, die für Puristisches genauso Raum lässt wie fürs Rockige. Das selbstbewusste, optimistische Album strahlt die Gelassenheit und Ruhe einer sommerlichen Landpartie aus. Außerdem ist Grant ein einfühlsamer Interpret seiner selbst, der auch kargen, intimen Folksongs wie „Black Mule Gefühl und Leben einzuhauchen weiß. Eine Platte wie aus einem Guss, die an Jorma Kaukonens Meisterstück „Quah! erinnert.

    Happy Mondays

    „Pills’n Thrills and Bellyaches" (1991)

    Rock’n’Roll war schon immer die Musik des Proletariats – oder gebärdete sich so. Soziale Brennpunkte gebaren in Zeiten wirtschaftlicher Krise junge Rebellen, die schließlich Rockgeschichte schrieben. In den 60ern war es Liverpool, in den 70ern London, heute ist es Manchester, eine Kloake von Stadt, der in den letzten Dekaden 40 Prozent der Bevölkerung davonliefen. Die Happy Mondays, Kultstars des Rave, sind geblieben. Ihre Mischung: Sixtiesbeat, Seventiesrock und HipHop der 80er. Musik, so lange durch den Mixwolf gedreht, bis man sich dem Groove nicht mehr entziehen kann. Da vergisst man glatt, dass Frontmann Shaun Ryder ein allenfalls mittelmäßiger Sänger ist.

    Jack Nitzsche

    „The hot Spot" (1991)

    Miles goes Blues – und es klingt, als hätten beide nur auf dieses Rendezvous gewartet. Eine echte Supergroup hat sich hier zusammengefunden, um Jack Nitzsches Soundtrack musikalisches Leben einzuhauchen: neben dem Jazzkultstar Davis und seiner flirrenden, unverwechselbaren Trompete noch die Blueslegende John Lee Hooker und sein jüngerer Kollege Taj Mahal. Dazu spielt Roy Rogers eine wunderbare Slidegitarre, die an Ry Cooders träumerisch-bedrohliche Instrumentals erinnert. Seltsam nur, dass ausschließlich Scatgesang zu hören ist – als wäre das Album versehentlich als unfertige Instrumentalspur auf den Markt gerutscht.

    Neil Young & Crazy Horse

    „Weld" (1991)

    1zehn Minuten Blut, Schweiß und Tränen von der besten Rock’n’Roll-Band der Welt. Exfolk- und -countryrocker Neil Young („Heart of Gold) ist seit „Live Rust (1980) zum fanatischen Schmutzfink geworden, der mit Hingabe endlose Gitarrenschlammschlachten ausficht – so anachronistisch und dröhnend laut, dass es schon wieder hip ist. Alle paar Jahre schüttelt er die dahindösenden, verlorenen Junkies von Crazy Horse aus dem Drogendämmer, und wie elektrisiert stehen sie stante pede stramm, um loszurocken wie nach einer Adrenalinüberdosis. In eigener Sache haben sie es nicht mal zu einem Eintrag im Rocklexikon gebracht, aber mit Young sind sie genial. Allen voran Ralph Molina, der zu jedem Bassdrumschlag synchron die Becken drischt und Young gnadenlos vorwärtstreibt. Dies ist live noch dreimal schärfer, härter, dreckiger als im Studio – und länger: „Like a Hurricane etwa, die ultimative Young-Hymne, läuft eine knappe Viertelstunde (ärgerlich: ein blödes Break nach der Hälfte). „Weld bietet eine Auswahl aus 20 Jahren Young und ist die beste Liveplatte, die der Mann aus Toronto bis dato vorgelegt hat. Dank der verlorenen Junkies von Crazy Horse.

    Paradise Lost

    „Gothic" (1991)

    Uff … Wer diese Attacke überstanden hat, ist entweder reif für die Klapse – oder süchtig. Noch während sich die Journaille den Kopf über die Schubladisierung der Debüt-LP zerbrach, haben Gruftiesänger Nick Holmes & Co. das zweite Album hingelegt: ein brachiales, düster-aggressives Gitarrenwerk mit Zombiegesang und manch schrillem, hohem Riff, das man nie mehr vergisst („Shattered). Paradise Lost klingen ungefähr so, als hätten die Untoten aus Romeros Kinoklassiker „Night of the living Dead in einer Fresspause eine Rock’n’Roll-Band gegründet. Wenn dann aber wie aus dem Nichts eine zarte elfengleiche Frauenstimme dem monströsen Sound die Schranken weist, dann ist es so weit, dass man sich mit Grausen abwendet – oder süchtig wird. Für mich ist das Zombiecore oder Nekrothrash, vielleicht auch Cemeterypunk. Irgendsowas.

    R.E.M.

    „Out of Time" (1991)

    Wir melden: einen Klassiker der künftigen Rockgeschichte! Michael Stipe ist der charismatischste US-Sänger seit Jim Morrison, und die Aufrichtigkeit, Klarheit und Authentizität von R.E.M. ist allenfalls noch mit den frühen Aufnahmen von The Band zu vergleichen. Schwermütige Gitarren und brillanter Harmoniegesang, Spinette und Orgeln, Streicher, Saxofone und treibende Drums: Alles hat seinen (richtigen) Platz. Ein Meisterwerk zwischen Pop und Rock, das Bestand haben wird. Anspieltip: „Country Feedback, die melancholischste Gitarren-Slow-Motion-Ballade seit Neil Youngs „Out on the Weekend von 1972.

    Ryuichi Sakamoto

    „The sheltering Sky" (1991)

    Wie Bernardo Bertoluccis Film bezeichnet der Soundtrack einen Reiseverlauf: von Nord nach Süd, von orchestralen Elegien in Moll zu pulsierenden afrikanischen Rhythmen, verbunden durch Lionel Hamptons „Midnight Sun". So existentialistisch wie der Film ist auch die Musik der ersten Hälfte. In sinfonischer Breite entfaltet Sakamoto ein schweres, bedrohliches und doch betörend schönes Trauergewand – zweifelsohne wird er sich endgültig als Morricone des Ostens etablieren, zumal ihm mit dem Titelthema eine schier zeitlose Hookline gelang. Ganz am Ende stehen fiebrige, hypnotische Flöten und ferne Frauenstimmen, die Paul Bowles, Autor der Romanvorlage, 1955 in Marokko aufgenommen hat. Dank dieser Kontraste ein Soundtrack von eigentümlicher Faszination. Es kann passieren, dass man ihn zwanghaft dreimal in Folge auflegen muss. Keine Vermutung: Erfahrung.

    Sylvia Anders

    „Tango Alemàn" (1991)

    „Tango Alemàn heißt zwar die CD, doch beschränkt sich die Schauspielerin Sylvia Anders keinesfalls auf bloß eine ethnografische Spielart des weltberühmten Tanzes. Gemeinsam mit dem Bandoneonstar Juan José Mosalini, dem Marburger Komponisten, Texter und Pianisten Justus Noll und weiteren hochkarätigen Musikern singt, schreit, stöhnt und chargiert sich die grandiose Interpretin durch sämtliche Tangofacetten: vom lasziven, streng reglementierten Tanz über ironisch gefärbte Chansons („Kriminal-Tango) bis hin zu Brecht/Weillschen Varianten und klassischen Adaptionen eines Strawinsky oder Kagel. Die Anders sprüht geradezu vor Engagement und Fabulierlust. Eine exzellente Aufnahme.

    The Doors

    „Original Motion Picture Soundtrack" (1991)

    Neu an dieser brillanten Kollektion ist „nur die Abmischung. Das reicht aber schon, weil die alten Doors-Titel noch nie besser klangen als hier. Den Fans, die von „Light my Fire bis zu den posthum vertonten Gedichten natürlich längst alles im Regal haben, werden glatt die Ohren übergehen. Denn es ist, als stünde „Lizard King" Morrison persönlich in der Stube, um uns seine bizarre Lyrik ins Ohr zu flüstern und zu schreien. Und musikalisch gibt es in diesen Zeiten nichts, was den Doors-Songs auch nur annähernd das Wasser reichen könnte. Was den ganzen Rummel ums Morrison’sche Todestagsjubiläum glattweg rechtfertigt.

    The Pogues

    „Best of" (1991)

    Eine seltsame Dramaturgie verwandelt diese Kollektion gleichsam zum Epitaph: Shane MacGowan, charismatischer und stets guinnessgetränkter Sänger der Pogues, wurde vom Rest der Band gefeuert – seine Wachphasen zwischen den Delirien wurden immer kürzer. „The Best of führt uns noch einmal vor Ohren, wie sehr das besoffen um die Melodien schwankende Organ MacGowans den Sound der Pogues prägte, die der Rotzigkeit des Punk so viel zu danken haben wie der bierseligen Aura irischer Pubs. Sie waren die Antithese zu den Dubliners, ihr „Dirty old Town war wirklich rußverdreckt. Bin gespannt, ob der Ersatzsänger Joe Strummer (Ex-Clash) das so hinkriegt.

    This Mortal Coil

    „Blood" (1991)

    Lass dich fallen in diese Musik, sie ist weich wie ein Daunenkissen. Und wenn dich, sehr selten, ein Federkiel etwas zu pieken scheint, dann ist das nur ein kurzes E-Gitarrensolo, aus dem so etwas wie ein Bezug zur Rockgeschichte vage herauszudeuten ist. Ivo Watts-Russell, Spiritus Rector dieses Projektes, feiert zum nunmehr dritten Mal zeitlupenhaften Schönklang und die harmonische Verschmelzung entrückter Frauenstimmen mit Kammermusik und süffiger Breitwandelektronik. Prätentiöse Songs, die U- und E-Musik auf einen gemeinsamen Nenner bringen: den der Melancholie. Entweder man hasst „Blood" als 76-minütiges selbstmitleidiges Getue, oder man verfällt ihr als gelungener akustischer Umsetzung eines großen Weltschmerzes. Trauer jedenfalls trug nie ein samteneres Kleid.

    Verschiedene Künstler

    „Harry Chapin Tribute" (1991)

    Noch eine Tributentrichtung. Den Anlass liefert diesmal nicht ein Todes-, sondern der 45. Geburtstag von Harry Chapin, dem 1981 tödlich verunglückten Songdichter. Keine Beerdigungsparty also, sondern eine durchweg lustige Sache. Bruce Springsteen erzählt davon, wie Harry ihn immer schrecklich zugelabert hat, und das Publikum ist entzückt. Pat Benatar gibt ähnlich herzige Geschichten zum Besten, und die längst verschollen geglaubte Judy Collins darf den einzigen Chapin-Hit „Cats in the Cradle in üblicher Manier intonieren; selbst Peter, Paul & Mary haben zur posthumen Gratulation kurzfristig das Mausoleum der Popgeschichte verlassen. Richtig rund und rührend, diese von Chapins Hymne „Circle würdevoll eingerahmte Liveperformance. Der den Barden zum Heiligen stilisierende, hochnotpeinliche Booklettext dürfte den zeitlebens bescheidenen Harry allerdings vor Scham zur 180-Grad-Drehung im Grab animiert haben. Auszug: „The hungry people of the world lost perhaps their most impassionate advocate. This country lost a champion of freedom and peace." Im Mittel- oder im Schwergewicht … ?

    Verschiedene Künstler

    „I’m your Fan – A Tribute to Leonard Cohen" (1991)

    Der kanadische Lyriker, Romancier und Songinterpret Leonard Cohen war der schwarze Romantiker der Hippieära. Seine bittersüßen sonoren Songs sind Reisen in Welten des Eros, voll verstörender politischer Bezüge und widersprüchlicher Metaphern; Lieder mit dunkler Aura, die sich der schnellen Abnutzung souverän entziehen. 18 Bands und Popstars, darunter R.E.M. und Nick Cave, gingen auf „I’m your Fan" das Risiko ein, diese eigentümlichen, aus allen Schemata herausfallenden Poeme zu covern. Ihre Interpretationen schwanken zwischen kreativen Anverwandlungen und – viel seltener – bloßen Imitaten. Eine schaurig-schöne Reise durch den Cohenschen Worte- und Melodienkosmos.

    Verschiedene Künstler

    „Looking East – Elektronik aus Ostdeutschland" (1991)

    Elektroniker hatten es in der DDR immer schwer, waren doch die erforderlichen Gerätschaften zu teuer oder überhaupt nicht lieferbar. Jetzt konnten die Ostdeutschen in Ulrich Rützels Erdenklang-Studio an modernstem Equipment ihrer Kreativität freien Lauf lassen. Und höre da: von Entwicklungsrückstand keine Spur, im Gegenteil. Geradezu erfrischend, welche Vielfalt etwa Rainer Lakomy an den Tag legt, wenn er einerseits in naiver akustischer Malerei die Schönheit des Nanga Parbat beschwört, sich andererseits mit „Ein gotischer Fall gar in die Nähe konkreter Musik vorwagt. Die Jungs aus dem Osten brauchen sich nicht zu verstecken. Die CD ist übrigens Teil zwei der verdienstvollen Serie „Looking East, die elektronische Musik des ehemaligen Ostblocks vorstellen will. In Vorbereitung: Bulgarien, UdSSR, Ungarn und CSFR.

    1992

    „Das Cover der Platte ist in den USA verboten. Mord auch."

    aus der

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