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DIE NACHT IM ADAM
DIE NACHT IM ADAM
DIE NACHT IM ADAM
eBook1.062 Seiten14 Stunden

DIE NACHT IM ADAM

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Über dieses E-Book

Der athletische, psychisch aber instabile Adam Erdmann begegnet nachts in einem Club zwei Privatermittlern, die etwas ziemlich Ungeheuerliches behaupten: Er sei kein 29-jähriger Studienabbrecher, sondern ein vor zwei Jahren verschwundenes 16-jähriges Mädchen. Ob das sein kann und, wenn ja, dann wie, davon handelt der Roman DIE NACHT IM ADAM.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum20. Aug. 2019
ISBN9783748558927
DIE NACHT IM ADAM
Autor

Till Ipsum

Till Ipsum hat nach dem Studium der Literatur und Soziologie in verschiedenen Kommunikationsagenturen, Funktionen und Städten gearbeitet. Dabei hat er entdeckt, dass er viele Identitäten verkörpert. Er lebt in Osterode, auf Nordstrand, in Göttingen, Frankfurt, Oldenburg und Hannover.

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    Buchvorschau

    DIE NACHT IM ADAM - Till Ipsum

    0.

    Lobt ihn mit dem Schall des Widderhorns, lobt ihn mit Harfe und Leier! 

    Lobt ihn mit Trommel und Reigentanz, lobt ihn mit Saiten und Flöte! 

    Lobt ihn mit tönenden Zimbeln, lobt ihn mit schallenden Zimbeln! 

    Psalm 150

    Deus est intelligere.

    Eckhart von Hochheim

    Für Almut und Lars.

    Illustration und Cover-Artwork: Ralf Löhr.

    INSIDE/IN/INNEN

    1. Adam besucht mit Freunden einen Club, der seinen Namen trägt. 2. Das Loch 1993. 3. Bose, Einstein, Sound & Irina. 4. Adams Erwachen. 5. Funny Games with Hoffmann. 6. Es ist Krieg. 7. Irina liebt sich irgendwie. 8. Oh mother I can feel. 9. Scheußliche sexuelle Visionen. 10. Gute Nacht. 11. Don Schmitto, das Berndchen und die Tage danach. 12. Irina leuchtet. 13. Adam entdeckt eine Spur. 14. Lost. 15. Luca verstehen. 16. Sich verlieren und jemanden finden. 17. Das Almut-Dossier. 18. Bosnien nach dem Sex. 19. Überzeugungsarbeit. 20. So Probleme mit Luca. 21. Überdruss am Arbeitsplatz. 22. Bernard ermittelt im Sound. 23. Die Demo scheitert.

    1. Adam besucht mit Freunden einen Club, der seinen Namen trägt.

    Noch bevor er das Zimmer betritt, hat er zweimal die Runde gemacht, wurde gründlich durchgehechelt. 

    Fast alle kennen ihn noch von früher. Mit Jens und Mirko war er enger befreundet, gemeinsam waren sie das coolste Triumvirat der Szene rund um den Osho Club.

    Simon, der Physiker, hat eine kurze Zeit gemeinsam mit Adam und Juan im Umschlaglager einer Spedition gearbeitet. 

    Juan, guter Freund von Simon, konnte Adam schon damals nicht ausstehen. Er fand, Adam stellte seinen Körper zur Schau, mit den Tank-Tops und den knappen T-Shirts, die er immer trug. Juan sah darin eine Unwürdigkeit, von der auch heute noch einiges an Adam klebt, auch wenn er sich anders anzieht jetzt. Er bleibt ein sexy Boy, ein Blickspielzeug. 

    Simon verteidigt Adam.

    Tom gackert auf seine höhnische Art. Er vergnügt sich daran, dass es Adam nicht gelungen ist, aus seinen Möglichkeiten mehr zu machen, als an einem mobilen Grill Bratwurst zu verkaufen. Für Tom, der lebensgeschichtlich kurz davorsteht, seiner Professorin an die Uni Wien zu folgen und als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Mathematik in die akademische Karriere zu starten, ist Adam einfach nur ein Penner.

    Toms Gackern ist so aufdringlich, dass Simon ihn gerne schlagen würde. Simon war eine Zeitlang Toms bester Freund. Simon glaubte, hinter Toms hedonistischem Hohn verberge sich eine sensible, liebenswürdige Person. Bis er herausfand, dass Tom mit seiner, also Simons, Freundin ins Bett ging. Deswegen verteidigt er Adam gegen Toms Anwürfe. Simon hat Adam bei Hin & Weg als extrem hilfsbereiten Kollegen kennengelernt, Adam war einer, der sich nicht verpisste, wenn es schwer wurde. Adam ist integer und zuverlässig und – das an Juans Adresse – Adam ist nicht blöde.

    Nana sitzt im Kuhfellsessel. Um nicht unhöflich zu sein, lächelt sie über Toms fiese Witze. Sie kennt Adam nicht, genauso wenig wie ihr Begleiter Nils, der vor zwei Monaten aus Edinburgh zurückgekommen ist, wo er ein Auslandsjahr absolviert hat. Er ist älter als Nana, aber jünger als der Rest. Nils ist übers Kickern in die Clique hereingerutscht. 

    Alle Anwesenden verlieben sich tendenziell in Nana.

    Alle, selbst Nils, fragen sich, wie genau die Beziehung zwischen Nils und Nana aussieht.

    Tom platziert sich auf dem Kuhfellsofa so, dass Nana eine Ahnung von seinem muskulösen Bauch und dem darunter liegenden, ziemlich dicken Dong bekommt. Er gackert höhnisch über irgendetwas, über Adam?

    Nana hat nur einen Realschulabschluss. Sie absolviert eine Ausbildung bei ADT, einer Werbeagentur. Ihr gefällt es sehr gut, so begehrt zu werden von diesen Studenten hier. Sie interessiert sich für das Verhältnis zwischen diesem ominösen Adam und diesen Studenten. Sie kennen ihn alle schon lange?

    Nils: „Nein."

    Simon: „Kann man so sagen."

    Juan: „Was heißt kennen?"

    Tom: „Lieber nicht." Gacker.

    Jens: „Ja."

    Mirko: „Ja."

    Nur Jens und Mirko wissen, was da los war, als Adam vor Jahren plötzlich weg war. Doch davon reden sie in dieser Runde nicht.

    Eine Ahnung hat lediglich noch Benjamin, der an der rot gestrichenen Wand mit dem Carpe Diem-Schriftzug lehnt und konspirativ den Vorhang lupft, um auf die Straße zu sehen.

    „Adam kommt, sagt er, „ich mach schon auf.

    Ich hätte es nicht tun sollen, das merke ich schon, als die Tür aufgeht und Benjamin vor mir steht. Ich hätte sie alle schon lange in ihrer Welt begraben sollen. 

    Benjamin steht da mit einem Gesicht, als würde er Hilfe von mir erwarten. Statt Hallo möchte ich am liebsten sagen: Es tut mir leid, aber ich kann nichts für dich tun. 

    Es ist nur seine Physiognomie, ermahne ich mich, Menschen, deren Augenbrauen in der Mitte so deutlich nach oben weisen, haben immer etwas von Kreaturen, denen regelmäßig auf den Kopf geschlagen wird, oder von Kuscheltieren, die unbedingt gedrückt und geherzt werden müssen, damit sich ihre Existenz erfüllt.

    „Schön, dass du mal wieder dabei bist", sagt Benjamin sehr warm und zieht seine Augenbrauen noch ein Stückchen höher. Seine Stirn legt sich dabei in Falten, ähnlich denen einer Gehirnrinde.

    Ich sehe das frisch versiegelte Kirschbaumparkett und den beigen Flokati, auf dem ich wie auf dem Rücken eines großen Lasttiers zur Wohnzimmertür trabe. Ich rieche den intensiven Vanilleduft, der aus den Ölfläschchen zieht, die Jens, seit ich ihn kenne, sammelt und auf den Fensterbänken anordnet nach Farbe und Größe. Ich weiß: Dieser Gang, durch den ich Benjamin folge, während er mir, den Kopf umwendend, bröckchenweise das Programm des Abends zuwirft, Plaudern, Party, Paarungstanz, dieser Gang ist ein Lehrgang, das Thema lautet: In vier Schritten zur Selbsterniedrigung.  

    Das Licht ist mir zu stark gedämpft, zu sehr im Rotbereich. Tom liegt mehr auf dem Sofa, als dass er sitzt, so waagerecht habe ich ihn noch nie gesehen. 

    „Hallo, Adamski, was macht die Bratwurst?"

    „Hi, Tom, gut, und deine so?"

    Er wimmert: „Immer noch der alte Scherzkeks."

    Jens begrüßt mich per Kumpelhandschlag, bietet mir seinen Platz auf dem Sofa an, neben Tom, dessen Beine sich unter dem Tisch durchschieben, als würden sie Simon Fußpetting androhen. Ich ziehe es vor, mich auf dem flachen Sitzsack niederzulassen, weil es mich irgendwie beruhigt, das Parkett mit den Handflächen berühren zu können, es ist so schön massiv.

    Simon reicht mir wortlos eine geöffnete Flasche Bier. Ich lehne mich auf die Ellbogen zurück und schlage die Beine übereinander, nehme einen Schluck. Wenigstens sind sie so wohl erzogen, dass sie nicht erwartungsvoll oder befangen schweigen. Sie lassen mich artig ankommen, führen ihre Gespräche weiter. Das Mädel mit den kupferfarbenen Haaren ist neu.

    Mirko kniet sich neben mich, ich spüre einen kritischen Blick. „Na, Adam, alles klar?" 

    „Alles gut."

    „Cool. Freut mich für dich."

    „Und bei dir so?" 

    Ich habe schon über Jens davon gehört, dass Mirko in einem Krankenhaus als Chirurg angefangen hat. Seine Rechnung geht allmählich auf. Früher habe ich ihn immer bedauert dafür, kurzfristig solche Mengen an Namen für Körperteile auswendig lernen zu müssen, nur um den ganzen Schrott einen halben Monat später wieder vergessen zu haben. 

    „Alles nice. Was machst du, bist du noch mit dem Grill unterwegs?"

    „Jep."

    Noch bevor ich ihm eine Perspektive ausmalen kann, nach der ich langfristig als Subunternehmer eigene Angestellte beschäftigen werde, erklärt Mirko, dass er gut findet, was ich tue, weil es konsequent wäre und weil es letztlich auch scheißegal wäre, wie man sein Leben auf die Beine stellt. „Hauptsache, man tut es."

    Das Mädel mit den roten Haaren leuchtet und lauscht herüber.

    Juan, der mit Tom über das ADAM spricht (und ich weiß, welcher Witz mich heute noch in den verschiedensten Tonlagen immer wieder langweilen wird), hat für mich nur latente Augenwinkel-Feindseligkeit übrig. Ich habe mich schon damals gefragt, was ich ihm eigentlich getan habe, doch war er mir auch nicht so wichtig, dass ich länger darüber nachgedacht hätte. Meistens geht es bei solchen Geschichten eh um Lover, Liebe und bzw. oder Sex.

    Juan denkt, dass Adam ihm leidtut mit seiner Fassadenwahrung. Er sieht nicht groß anders aus, hat vielleicht an den Augen ein paar Fältchen, die vor drei Jahren noch nicht da waren. Er sieht viel zu gut aus für einen, dem es so scheiße geht. Er behauptet, es würde ihm gut gehen, und das glaubt nicht mal Mirko.

    Jeder weiß, denkt Juan, wie beschissen das ist, plötzlich zu begreifen, dass man zu alt ist, um gewisse Vorstellungen, wie das mit dem eigenen Leben weitergeht und was da noch alles passieren wird, nicht als gescheitert anzusehen. Jeder kennt das, wenigstens als Ahnung. 

    Als Juan das Gefühl hatte, seine Diplomarbeit nicht fertigzukriegen, weil die Daten nicht ins theoretische Gerüst passten, und plötzlich sah das dann so aus: vergeigtes Examen, zweiter Versuch, von Versagensängsten gepeitscht, nix geht mehr, aus, raus, jobben in der Spedition, statt am oberen Rand des akademischen Betriebs oder als Chef einer Forschungs- und Entwicklungsabteilung aufgeschlagen am unteren Ende der Lohngesellschaft, ungelernter Lagerarbeiter, unterboten nur von echten Assis, an Liebe und Fortpflanzung nicht mehr zu denken, nur noch an stinkendes Rumficken auf nach Furz riechenden Sofas – als er das gefühlt hat, und zum Glück ist es anders gekommen, da wusste er genau, wie sich Adam jetzt fühlt.

    Juan denkt: Die alten Reflexe, sich in Pose zu setzen. Klappt ja sogar noch, zumindest im Ansatz. Die Rothaarige, die Nils mitgebracht hat, Nana, behält ihn im Auge. Mirko weicht nicht von seiner Seite. Simon versorgt ihn mit Bier. Jens ist stolz, dass er da ist. Tom überlegt, wie er ihn kleinkriegen könnte, auf dass er weint oder wenigstens wütend wird. Die Welt dreht sich immer noch ein bisschen um den kleinen Prinzen. Aber er fühlt sich scheiße dabei und beginnt, sich über Musik auszulassen. Juan denkt: Hat er schon immer gerne gemacht.

    „Wie fühlst du dich so, wenn eine Party in dir ist?"

    „Das ist aber mal ein origineller Scherz."

    Das rothaarige Mädel lächelt. Dahinter könnte sich Kapieren genauso verbergen wie Hohlheit. Gut sieht sie aber aus, die Zähne sind irgendwie so lecker.

    Ich frage sie: „Wollt ihr echt ins ADAM?"

    Sie beugt sich aus dem Kuhfellsessel nach vorne, offenbar spreche ich zu leise. Dann zuckt sie mit den Schultern, als würde sie sagen wollen: Tut mir leid, aber so sind wir.

    „Nichts anderes wollen wir, fällt Tom von der Seite herein, „aber sag uns deine Alternative.

    „Wir könnten in die Metro."

    „Kinderladen", schmettert er ab.

    Seit ich begonnen habe, lauter zu reden, den intimen Zirkel mit Mirko zu verlassen, sind alle Einzelgespräche verstummt. Ich spreche wie von einer Bühne herab.

    „Ich dachte immer, das gilt als Schwulenclub."

    Tom: „Ist das nicht dasselbe?"

    „Hä?"

    „Nur für katholische Priester", ruft der Junge, der neben dem rothaarigen Mädel sitzt, und alle lachen, außer Tom, der wimmert.

    Jens schaltet sich ein, schon von der ruhigen Gestik her der geborene Vermittler. „Was spricht denn gegen das ADAM? Ist doch ein schöner Name."

    Das hält jetzt auch das Mädel keines Lächelns mehr für wert. 

    Ich: „Das ADAM ist langweilig."

    „Finde ich überhaupt nicht!" Juan gibt den Überraschten. Seine Augen wandern, um Unterstützung heischend, zu Simon, zu Tom, zu Jens, zur rothaarigen Schönheit. 

    „Im ADAM passiert nix", variiere ich.

    „Oh, das ist aber schade", sagt das Mädel.

    Juan, vehement: „Das stimmt doch gar nicht!"

    Leider kann ich nicht sagen, was ich wirklich denke. Das ADAM ist zu studentisch, und jeder weiß, dass Studenten nicht feiern können, sondern nur ironisch so tun. In der Metro gibt es einmal im Monat samstags einen Studentenfreitag, da werden alle wieder nach Hause geschickt, die dem Türsteher wie Immatrikulierte vorkommen. Aber wenn ich jetzt sage: Das ADAM ist ein pisslangweiliger Hörsaal, dann saust sie auf mich nieder, die große, fiese Keule, niemand wird es aussprechen, alle werden es denken, klar, dass der Adamski Studenten und Akademiker doof findet, er hat ja als Student und Akademiker versagt.

    Also sage ich lieber: „Das ist immer so pseudointellektuell da."

    „Bitte?" Nicht zu Unrecht verlangt der Junge neben dem rothaarigen Mädel eine Erklärung.

    „Die Musik."

    „Aber da spielt heute eine wirklich ziemlich coole Band!" Jens, flehend.

    Ich habe mich reingeritten. Das Mädel kneift die Augen zusammen, steht auf, bewegt sich sehr spannend, sehr bewusst unter den Blicken. Die karierte Flanellhose sitzt am Po perfekt. „Komm schon, ungeduldiges Federn in den Knien, „beiß in den sauren Apfel für mich. Adam. 

    Gähn.

    „Wenn er nicht mitwill, muss er nicht", wirft Tom in die Runde, als wäre ich einer, über den verhandelt würde. Er spielt mit der Miniatur einer Skulptur von Niki de Saint Phalle, die er aus dem Regal genommen hat. Wie von sich selber überrascht, sieht er zum Mädel herüber.

    Was hatte er für eine große Klappe. Gehirnonanie, igitt, Kunstscheiße. Und jetzt steht er da auf der Tanzfläche und alle miese Stimmung ist flöten. Eigentlich ist er gerade gar nicht irgendwie gestimmt, eigentlich ist er nur aufgerissenes Auge, unschließbarer Mund und, wette ich, kapital blutgesättigter Schwanz. 

    Ich tippe Simon an, um ihm das zu zeigen, doch Simon ist in seiner eigenen Welt, vibriert wie so ein ominöses Quanten-String, indes ihm der Schweiß ausbricht und runterläuft. 

    Bei String muss ich jetzt an Nana denken, aber Nana ist nicht mehr zu sehen. Das läuft schon wieder genau wie die letzten Male, Finte oder Fehlinterpretation. Ich kann die sich abzeichnende Frustration, die es mit sich bringt, am Ende einer Ausgehnacht alleine am Fenster zu stehen und zum schwachen Trost eine Tüte zu rauchen, nur noch ganz schwer ertragen. Sie, da ist sie wieder, ist einfach so süß, so mega, wie sie sich dreht, dass sie jeder, aber auch jeder von allen Seiten sieht.

    Ich gehe ab zum Elektro-Peitschen-Soundtrack, wie geschrieben für mein Leben in dieser Nacht. Eine Nadel in der Vene der Party bin ich. Sowas Ähnliches shoutet der Sänger und stößt ein Heulen aus, mit dem das Tier und der Mensch die enge Verbindung bekräftigen, die im Alltag geleugnet wird. In meinem Schädel knistert das wie Feuer in einer winddurchtobten Wüste – und da geht es dann auch aus, ganz plötzlich, und die Nacht ist wieder so beschissen kalt und grenzenlos. Nana. Knutscht rum.

    Wenn es nur irgendein Arsch wäre, könnte mir das egal sein, die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihn heute noch kickt, wäre eine mindestens 50%ige. Aber sie macht wieder mit der Frau von vor zwei Wochen rum, der Lesbe, die immer so wütend ist.

    Jens steht plötzlich neben mir oder schon die ganze Zeit, eine Flasche in der Hand guckt er sich mit mir das Schauspiel an. „Frag doch, ob du mitmachen darfst, sagt er und verzieht keine Miene, „oder wenigstens zugucken nachher.

    „Dafür sollte ich dir jetzt eigentlich eine reinhauen." 

    „Oh, oh." Er hebt die Hände und geht.

    Wie in Trance trabt Adam an mir vorbei, seine Augen fixieren die Bühne. Er rempelt zwei Typen, deren Gespräch er durchkreuzt, wie nebenbei zur Seite. Sie schimpfen, mehr trauen sie sich nicht, denn er sieht unheimlich aus, auch wegen des Schwarzlichts in seinem Gesicht. Sie denken bestimmt, er ist ein Tetra-Junkie und explosiv wie eine Tretmine. Geschichten über durchgeknallte Tetra-Junkies zucken ihnen durch das Hirn, vom alternden Irren, der seinem Sohn den Kopf abgeschnitten hat, weil er den Antichristen darin erkannte, sowas.

    Adam ... was glotzt der eigentlich den Sänger so an, der auch noch zurückglotzt? Läuft da was, ist Adam schwul? Was die anderen über ihn erzählt haben, klang mehr so, als wäre er passionierter Onanist und/oder hänge dieser verflossenen Liebe aus Studizeiten nach, Chrissy oder so, die ihm das Herz gebrochen hat und für die er nachts sogar auf einen Baum am Wall geklettert ist, im kalten, windigen Herbst, nur um in ihr warmes, helles Zimmer zu gucken und mitzukriegen, was sie so treibt und mit wem. Als er wieder runter vom Baum war, hat er ihr Rad in Stücke getreten, Chrissys, die ihm das Herz gebrochen hat, wie Nana gerade mir: Die Lesbe schiebt ihr beim Knutschen die Hände hinten ein Stück in die Hose, greift nach diesem supersüßen Arsch, nicht daran zu denken, wie fest und vielleicht ein bisschen schweißnass der sich jetzt anfühlt.

    Aber Adam, mein Held, bravo, rempelt rücksichtslos auch alle Liebenden entzwei, während der Sänger sich schon auf die Knie lässt. Die Lesbe mit den blöden Lederriemen um die Handgelenke – darunter versteckt, sagt Nana: Narben – baut sich augenblicklich auf und brüllt ihm was nach. Und Nana guckt ihm mit ihren dunkelsten Augen auf den Rücken, dessen Muskeln sich unter dem hellen T-Shirt überdeutlich abzeichnen wie Gebirge auf einer Landkarte, scheiße.

    Er ist in meinem Kopf. Sie ist in meinem Kopf. Alle sind in meinem Kopf, denn er ist keine Festung. Deswegen tanzen sie auch alle einfach da rein, ohne Hallo zu sagen, halten das für das Normalste von der Welt. Es ist ihnen nicht einmal bewusst, dass sie eine Schwelle überschreiten, dass es sensationell ist, in jemands Kopf zu tanzen und sich dabei auf so krasse Art zu verändern. Willkommen in meinem Reich. Ob es euch gefällt oder nicht, weiß ich nicht, ist mir aber auch egal, denn ihr seid da, ob ihr wollt oder nicht.

    Was eine oder einer will oder nicht will, wird in seiner Bedeutung eh gnadenlos überschätzt. Der Auftrag heißt einfach: Dringe in den Kopf des anderen ein, baue eine Kolonie da auf, breite dich so weit wie möglich aus.

    Wir können es sowieso nicht kontrollieren, weil du nicht weißt, was aus der Drehung deines so sanften Nackens in mir wird, und ich nicht weiß, was aus deiner Hand wird, die über deinen Po streicht, denn obwohl ich hier meine eigene Schöpfung bin, habe ich keine willentliche Kontrolle. Die Gesetze wurden nicht durch mich festgelegt und in einer sehr frühen Zeit, nach der sich alles wie von selbst weiterentwickelt hat. Ich bin gebunden daran, ich kann es mir nicht aussuchen, ich habe nicht die freie Wahl, es ist nicht meine Entscheidung, dass du in meinem Kopf rumfickst und dass ich weiß, wie das riecht, wenn du rumfickst. Ich will es mir nicht vorstellen, es interessiert mich nicht, aber ich kann es nicht ändern.

    Der Sänger stülpt seinen Mund über Adams. Nanas Hand verschwindet beim Knutschen in der Hose der Lesbe, und zwar vorne. Das Gesicht von Jens kommt von unten in mein Blickfeld, so hell wie eine Überbelichtung, die Pupillen winzig klein, die Euphorie riesig groß. 

    „Ist das geil hier oder nicht?", brüllt er und lacht hysterisch, bevor er wieder abtaucht. 

    Hinter ihm erscheint Simon, umgeben von der Gloriole eines Scheinwerfers, den er mit seinem stoppeligen Schädel verdunkelt. Er bewegt sich langsam wie ein großes Reptil in der Sonne, aber das Vibrieren, das ganz durch ihn geht, wird immer heftiger. Jens springt pornographisch grell, Simon schiebt sich heran, dann klebt mir Nana im Gesicht, alles wird gut.

    Ich habe eine Nische hier – es muss mal eine Abstellkammer gewesen sein oder ein großer Wandschrank. Da steht ein Bett. Wenn mir der Trubel zu viel wird, wenn ich zu breit bin oder einfach müde, lege ich mich hinein. Das ist unheimlich gemütlich. Nur einen Meter entfernt läuft die Party, sind die Frauen und Männer, flackert das bunte Licht. Ich gucke zu, als ob ich TV gucke, bis mir die Augen zufallen. 

    Ich habe hier schon mal 24 Stunden am Stück geschlafen. Sie haben mich einfach liegen lassen. Im Halbschlaf, einsickernd in den Traum, konnte ich das Klimpern der Gläser und Flaschen und das Getuschel der Bedienungen beim Aufräumen hören. Ich habe es nicht wirklich ernst genommen und mich zur Wand gedreht. Stille und Dunkel. Als ich wieder aufgewacht bin, frisch und ausgeruht, wie ich es kaum je war nach den ganzen Nächten mit den Einschlafstörungen und diesem ätzenden Herzklopfen, waren alle wieder da, die Frauen und Männer. Es war nicht ganz voll, ging grad so ab. Ich bin wieder dazwischen, habe erst einmal eine halbe Stunde getanzt. Da habe ich einen so muffigen Geruch an mir bemerkt, bestimmt ist die Nische ein kleines bisschen feucht und schimmelig, nicht schlimm, aber so, dass ich nicht wollte, dass mich wer so riecht. Deshalb bin ich nach Hause. Eigentlich habe ich erst da geschnallt, dass nicht mehr Freitag-, sondern schon Samstagnacht war. Schlafen konnte ich natürlich nicht mehr. Ich habe lange geduscht, dann war schon Sonntag.

    Heute, weil Vollmond ist, habe ich zum ersten Mal das Fenster gesehen. Es ist links oben in der Ecke, nicht viel größer als 50 mal 50. Ich bin auf die Rückwand des Betts gestiegen, im Augenwinkel einen Mann, der mir auf den Po guckte, soll er, dachte ich mir so, sieht er mal was Süßes – obwohl ich da auch wieder nicht so ganz unbefangen bin, hängt der ein bisschen? Nein, nein.

    Ich wollte wissen, was das für ein Lichtfeld da oben in der Ecke ist, das silbrige, und habe gleich mal so richtig in ein Gemisch aus Staub, toten Insekten und Spinnweben gepackt. Hier wurde schon sehr lange nicht mehr geputzt, die Scheibe war von Dreckwellen überkrustet. Trotzdem konnte ich im scharfschattigen Mondlicht draußen ein Stück vom Hinterhof sehen, der ganz anders war, als ich mir den Hinterhof des ADAM vorgestellt hätte, nämlich fast wie ein Urwald. Wären als Begrenzung nicht die Wohnblöcke mit ihren bunten Fenstermosaiken gewesen, dann hätte ich keinen Zweifel gehabt, in eine Naturwald-Wildnis hinauszuspähen, mit moosigem Bruch und Ästen, die zu Boden gehen wollen, so schwer von Blättern und Nadeln. Wegen des Staubs, der in der Nische herumwirbelte, musste ich ein paar Mal so heftig niesen, dass ich mich bog und wieder runterstieg vom Bettgestell.

    Erst wollte ich tanzen gehen, weil ich so aufgeregt war wegen der Entdeckung, schlafen hätte ich eh nicht mehr können. Aber der Junge, der mir auf den Hintern geguckt hat, saß am Bettrand, in Denkerpose mit überschlagenen Beinen. Er drückte ein Glas Bier gegen seine Schläfe, wippte im Takt und guckte dem Treiben zu. Er hatte schöne, kurze Haare.

    Du hübsches Ding, du sitzt auf meinem Bettrand. 

    Jetzt guck aber mal nicht so überrascht, als hättest du mich vorhin nicht gesehen, wo ich deine Augen doch auf mir gemerkt habe. 

    Ob das hier so was ist wie Sarah Wieners Tisch im Hamburger Bahnhof? Ey, ich hab mit dem ADAM nichts anderes zu tun als tanzen.

    Ob das hier öffentlich ist? Jedenfalls steht nirgends ein Schild, das was anderes behauptet.

    Ah, du schlägst deine Beine in meine Richtung um und stützt deine Hand in der Nähe meiner Füße auf. Deine Brille ist auch ganz cool. 

    Ob ich wen kenne? Roger Sisters? Fall? Delta 5? Chicks on Speed? Ich bin so schlapp, ich schlüpfe mal unter die Decke.

    Du findest die Musik also wahnsinnig inspirierend, du kennst nichts, was so aufregend wäre wie die späten 70er. Aber da waren wir beide doch noch nicht einmal geboren. Und der drückende No Wave-Bass und DNA, aha, aha, ich denke, du hast nichts dagegen, wenn ich es mir ein bisschen bequem mache und die Jeans ein Stückchen runterziehe. Die ist immer so eng da oben.

    Du kommst also fast jedes Wochenende her, aber hast diese Grotte, wie du das nennst, noch nie gesehen – ist das vielleicht das Meer da draußen? Du bist nicht der einzige.

    Erzähl mir ruhig von deinem Umzug mit dem Sprinter über die A7, und dass du zum Studium hergekommen bist, was war das noch gleich? Du solltest aber nicht glauben, dass ich nicht mitkriege, wie deine Hand jetzt unter die Decke kriecht, krabbelig wie eine Spinne.

    Macht nichts, wenn ich meine Augen ein bisschen zumache? Ich höre dir ja zu. Aha, deine Eltern wollten, dass du Jura. Weil das Baugeschäft. Manchmal muss man auch Scheiße bauen, ja, ich merke, dass dein Kopf gerade nicht mehr bei deinem Thema ist.

    Du kannst sie ruhig weiter nach unten ziehen. Du hast aber einen sehr langen Arm. Warte ich hebe meinen Po mal ein Stückchen an. Das ist schön. Eine Frau oder ihre Hand wären mir aber noch lieber.

    Sind wir beide peinlich berührt oder bin das nur ich? Die große Show ist vorbei, er, der Sänger, lehnt spröde wie ein Korken an der Theke und guckt mich mit dem Arsch nicht an, und wenn doch, dann nur kurz und verhuscht mit einer halben Backe.

    Ein Sog hat uns zusammengeführt, ein Körperwirbeln getrennt. Nie hat etwas meinen Willen so unterlaufen. Ich wollte nichts von ihm. Als sie mich weggezerrt und gestoßen haben und ich mitten unter ihnen war, kam mir das richtig vor. 

    Der Sänger ist gleich aufgestanden, zurückgetreten vom Bühnenrand, hat ins Mikro gebölkt, so laut, dass die Frau an den Reglern einen Anfall gekriegt hat, weil die Übersteuerung total war. So hört sich das an, wenn eine Maschine schreit, ein von Splitterfrequenzen grundierter, rau zerfetzter Schmerz, das Summen Tausender Stimmen gleichzeitig. Aus solchen Tiefen kam es. 

    Die Soundtechnikerin hat den Sänger mit aufgerissenen Augen angestarrt wie den Feind selbst und sich mehrmals hart vor den Kopf gehauen. Zum Glück ist sie heile geblieben, also die Anlage, wäre auch sehr schade gewesen, wenn er an diesem Punkt aufgehört hätte, der Sound, der mich rausgezogen hat aus der Menge und wieder reingespien, und so gut habe ich mich darin gefühlt, dass ich nicht mehr rauswollte. Ich war Abgesandter oder Ähnliches, auf jeden Fall von irgendwie höherer Weihe. Sie umtanzten mich ja und ich blieb stehen und konnte gleichzeitig nach allen Seiten sehen, als hätte ich überall Augen.

    Und jetzt benimmt er sich so derbe scheiße, selbst wenn das Befangenheit ist, geht es gar nicht. Er ist doch ein erwachsener Mann.

    „Ich glaube, ich gehe mal lieber", sage ich und werfe ihm einen möglichst abschätzigen Blick zu, um das idiotische Bild zu korrigieren, das er gerade von sich entwirft, mit seinem bauernsturen Glotzen auf das Flaschenregal und den Barkeeper, der aufräumt und ihn und mich längst wegwünscht. Ich merke, wie sich meine Körperspannung erhöht und die Entschlossenheit wächst, schnell hier abzuhauen.

    „Hä?" Blafft mich an wie der dämlichste Bauer, so undefiniert und innerlich unartikuliert. 

    Beschwichtigend hebe ich die Hände, als würde mir das alles im Grunde nix wirklich bedeuten. Aber während ich mich von ihm entferne, den Vorraum durchquere, die Sperrmüllatmosphäre und das kalte Nachpartylicht, wird das, was ich zurücklasse, so riesig, dass der Weg einmal durch das ganze Weltall führt, vorbei an ausgebrannten Sternen und Haufen von dunkler Energie. Ich muss die Größe verneinen, wie könnte ich das sonst aushalten, ich würde mich ja auflösen müssen vor Sinnlosigkeit. 

    Nach einer unendlich langen Zeit wie zwischen zwei Herzschlägen eines Schöpfergottes endlich eine Stimme: „Hey. Hey!" 

    Es ist zu spät, ich bin draußen und raus aus dem Zusammenhang. Alles, was ich noch spüre, ist ein unergründlicher Verlust, so schwarz, dass die Nacht draußen höhnisch hell dagegen ist.

    Sie lachen, sie sabbeln, sie tun betrunken. Sie lungern an Bordsteinen rum und spielen Teenage Wildlife. Sie wissen nichts. 

    Nicht zu ändern. Will ich auch nicht. Ich bin eine schöne schwarze Kolonie im Feindland der Banalität. 

    Das Verlorene wird von ihm fressen, sein Herz mit Säure überkippen und ausschlürfen. Sein Puls beschleunigt sich schon unter der Steigerung der Pein, die aus einem unterirdischen Sektor seines Bewusstseins, in dem still ein Seelenkarzinom wuchert, plötzlich ins nicht mehr Ignorierbare anschwillt. Schließlich wird er es im ADAM nicht mehr aushalten und sich in die nächtliche Stadt werfen wie einen scharfkantigen Stein.

    Der Sänger steigt in die U-Bahn am Schwarzen Bären, wo sie noch oberirdisch verläuft. Er steht zwischen Nachtschwärmern, Heimkehrern, Verliebten und Verlorenen. Einer quatscht ihn voll mit Fragmenten einer Partynacht, spürbar euphorisiert ... „was geht denn jetzt noch ab ... das ist wie ein Aquarium hier ... geilo, wir schwimmen durch den Bauch der Stadt." Bis der Sänger ihm sagt, dass er das Maul halten soll.

    Am Hauptbahnhof steigt er das erste Mal um, fährt in den Norden hoch. Hier ist die Bahn leerer, er sitzt am Fenster, verfolgt die Rohre und Gestänge, die Bahnhöfe, gleichmäßig ausgeleuchtet wie Pornos, gespenstisch in ihrer atonalen Leere.

    An der Endstation, wieder oberirdisch, stellt er fest, dass die nächste Bahn erst in einer Stunde fährt.

    Seit mehr als einem Lebensjahrzehnt fühlt er ihn wieder: Zweifel. Er hockt sich in ein moribundes Aufenthaltshäuschen aus angekokeltem, zerkratztem und rausgetretenem Plexiglas. Eine ekle Zähflüssigkeit auf den Gittersitzen, ein Wind, der etwas Stinkendes von den Ausläufern des Industriegebiets mitbringt, in dessen Mitte er prangt, der König der Nachtschicht.

    Er hat etwas verpasst. Wenn er wüsste, wie groß es hätte sein können, würde er den Rest seines Lebens heulen wie ein im verwunschenen Wald verlorenes Kind oder sich auf der Stelle vor ein Auto schmeißen aus Verzweiflung über seine Blödheit. Er hat eine einmalige Chance mutwillig ausgeschlagen, ausgetreten wie seine letzte Zigarette jetzt.

    Wenigstens das kann er tun: zurück in die Stadt gehen oder bis zur nächsten Station, von der wieder eine Bahn fährt, oder bis zum nächsten Zigarettenautomaten, mitten auf der Straße, als würde er den Mittelstreifen fressen in Herausforderung eines Schicksals, das ein Urteil sprechen soll: Ist er noch der Einzige, der Richtige, der Unwidersprochene? Das Urteil kommt als schwarzer Audi mit einem Vati drin, kurz hinter einer Kurve erwischt es ihn fast. Aber Vati manövriert quietschend einen Schlenker und fährt laut hupend und wild gestikulierend vorbei.

    Zigarettenautomaten sind rar heuer und er hat seine blöde Geldkarte nicht dabei. Wenigstens erreicht er zwei Haltestellen weiter eine Bahn, die aus dem Osten kommt, wo er eine erste Andeutung der bald aufgehenden Sonne sieht: eine zweite, hellere Konturlinie, die sich an die Häuserdächer schmiegt.

    Was für eine Drecksunruhe in ihm. Er weiß nicht, wie er das angehen soll, er sieht den Kelch nicht, den er füllen, nicht den aus Alpträumen gestiegenen Feind, den sein Zauberspruch bannen soll. Es ist absurd, dass es an einem versäumten Fick liegen soll, dass er wankt und laufen möchte in die Arme eines Trösters, wie damals aus dem von Rauchschwaden durchwallten, biermuffigen Hinterzimmer des Kiosks unter wieherndem Gelächter. Neli, Neli war wo?

    Die Unruhe ist stark und ziellos. Sein Körper weiß nur einen Rat: Von einer Sekunde auf die andere fällt sein Kopf in den Nacken, sinkt über die niedrige Rückenlehne, auf der er gleichzeitig seine Arme so ausbreitet, dass sie aussehen wie festgebunden. Die Augen blicken glasig zu der mit schlechten Tags bekritzelten U-Bahndecke hinauf, dann schließen sie sich, und wie bei einem Säugling geht der Mund auf. Er trinkt Fahrt. 

    2. Das Loch 1993.

    Der Junge geht über den Parkplatz zur Eingangstür des Supermarkts. Er will schon richtig cool wirken, kann aber den kindlichen Energieüberschuss noch nicht kontrollieren. Eigentlich möchte er laufen wie ein Gestörter.

    „Vater Teiresias, was sehen wir?" 

    Ich drehe das Radio an. Frisches aus den Charts in Heavy Rotation, die Klassiker der 70er und 80er und das Beste von heute. Eine Sängerin heult ihr Liebesleid heraus, wäre sie eine Schauspielerin, müsste ich sie eine Schmierenkomödiantin nennen, weil sie so sehr auf die Kacke haut. Das Leidgehauche wegen ein bisschen Liebe und Körpersaft kommt einfach zu heftig. Ich schäme mich beim Zuhören und bin froh, als Bernard wieder ausdreht.

    „Lass den Quatsch, ich brauche das jetzt nicht."

    „Ganz wie du willst. Ich wollte nur hilfsbereit sein."

    Das Mädchen, das den Jungen hergefahren hat, ist im Auto geblieben. Könnte seine Schwester sein, denn für eine volljährige Freundin ist er noch zu unreif. Sie hat den Führerschein aber noch nicht lange, selbst beim Parken hält sie das Lenkrad umklammert, als könnte der alte Ascona jede Sekunde durchdrehen und wegspringen wie ein Fohlen vor dem Blitz.

    „Heute war der letzte Schultag?" 

    „Zumindest der letzte vor Weihnachten."

    Der Junge ist jetzt im Markt, die Schwester, die ziemlich gut aussieht, trommelt mit den Fingern sachte auf das Lenkrad ein. Bernard brummelt etwas, hält den Kopf wie so viele Blinde, als wären die Ohren Augen. Schief, schräg und mieslaunig sitzt der etwas zu klein geratene Sphäroid auf der Wirbelsäule und wackelt zum Beat einer unhörbaren Musik.

    „Hm?" 

    „Ich fragte, ob ich dir schon das Verhängnis erläutert habe."

    „Nein, hast du nicht."

    Er seufzt, als wäre es ihm lästig zu reden. „Ein Verhängnis ist nicht nur eine Metapher für Unglück, wie viele meinen. Was jemand tut, hat Konsequenzen. Für ihn selbst, seine Mitmenschen, für alle, die in der Zeit folgen. Segen wird automatisch weitergereicht, Fluch aber auch."

    „Schon irgendeine Spur von dem Mädchen?"

    „Halte ich wohl irgendwelche Sachen zurück? Mache ich so was, ist das meine Art?"

    „Nein."

    „Also."

    Im Auto nebenan bewegt die Schwester komisch ihre Lippen. Sie greift auf den Rücksitz und holt eine türkisfarbene Stofftasche hervor, wühlt darin. Ich schalte das Radio wieder ein, um den Song zu finden, der zu ihren Lippenbewegungen passen könnte.

    „Ich habe doch gesagt, ich brauche das nicht! Hast du mich nicht verstanden?"

    „Aber ich brauche das jetzt, Bernard."

    Die Schwester reibt sich die Lippen mit einem medizinischen Labello ein, dann bemerkt sie, dass ich sie ansehe. Es gefällt ihr nicht, ich beunruhige sie, verdammt. 

    Ist es das hier: I blame you for the moonlit sky?

    „Oh, dein Geschmack wird immer völkischer", echauffiert sich Bernard. 

    „Na klar, und du bist die völkische Elite!" 

    Nicht dass mir der Schlager gefällt, und weiterhören ist eh sinnlos, weil die Schwester nicht mehr singt, stattdessen ihr Gesicht wegdreht und auf die gelbe Swatch an ihrem braunen Handgelenk blickt. Sinnlos ist logisch alles, wenn man sich nur ausreichend auf die alles negierende Idee des Todes fixiert. Würde ich so denken, könnte ich aussteigen, masturbierend über den Dorfplatz laufen und mich in einem Abwasserrohr zum Sterben niederrollen. Aber so bin ich nicht, sind wir nicht. Deswegen sind wir hier und wollen verhindern, dass ein 14-jähriges Mädchen weit vor der Zeit ins sinnlose Schwarz der Nichtexistenz geschleudert wird.

    Plötzlich presst Bernard die Fingerspitzen an die Schläfen und gibt einen Schmerzlaut von sich. Wie so oft, wenn die Visionen einsetzen.

    „Bernard? Alles klar bei dir, Mann? Kann ich ..."

    „Schnauze! Schnauze jetzt!"

    „Soll ich das Radio aus..." Meine Hand zuckt zum Drehknopf.

    „Ja ... Nein! Lass!"

    Ein Langhaariger geht in den Markt, Anfang bis Mitte 20, sehr feine Gesichtszüge, fast wie ein Mädchen. Er trägt einen knielangen Fischgrät-Mantel, ein Palästinensertuch und schwarze, kampfstiefelartige Boots zu Blue Jeans. Ich halte ihn nicht für einen perversen Killer, aber das ist reines Bauchgefühl.

    „Was siehst du, Bernard? Muss ich raus? Ist es ernst?" 

    Don’t blame this sleeping satellite.

    „Ich sehe ein Schwimmbad. Es ist Nacht. Ein Mädchen steht auf dem Sprungturm. Er entspannt wieder etwas, hält sich die Stirn und atmet röchelnd aus, wobei seine Unterlippe leicht zittert. „Schneehaufen liegen an der Liegewiese wie an geräumten Straßen. Das Mädchen steht ganz vorne am Brett und zupft sich den Badeanzug zurecht. 

    Ich fixiere den Eingang. Wenn er sich nicht beeilt, laufen wir Gefahr, den Entführer, falls er im Markt ist, wieder zu verlieren. Was angesichts des Drucks, der von Schwarzkogler inzwischen auf uns ausgeübt wird, nicht nur für das Mädchen sehr schade wäre.

    Fast ein Crash zwischen zwei Einkaufswagen. Ein Rentner scheißt mit verzerrtem Mund einen Knaben zusammen, der von Alter und Style her ein Freund des Jungen sein könnte, seinerseits von der Schwester immer ungeduldiger erwartet, denn sie zappelt im Auto rum, verdreht die Augen und steht kurz davor auszusteigen. Wieder der Blick auf die Swatch, die Lippen halb offen in sprachloser Empörung.

    „Ich sehe in das Becken herab, sagt Bernard nölig gedehnt, „da ist kein Wasser, aber das Mädchen wippt. 

    „Ist sie alleine?"

    „Ich versuche, sie zu warnen, bloß nicht zu springen. Ich versuche zu schreien. Er gibt einen Nasenfurz von sich. „Ich falle immer noch drauf rein.

    „Ähm, Bernardchen, wer ist da noch? Ist da wer?" 

    Etwas ist da, antwortet er gereizt, „du brauchst mit mir nicht zu reden wie mit einem Blöden. Glaub nicht, dass ich das nicht merke, und glaub auch nicht, dass es mich nicht ärgert.

    Dem Knaben wird das Rentnergezeter zu viel, er zückt den Mittelfinger. Weil er damit aber längst nicht so stark rüberkommt, wie er sich in seinem hochroten Kopf vielleicht ausmalt, rastet der Alte komplett aus, fummelt wild in einer der unzähligen Taschen seiner Multifunktionsjacke, derweil der Knabe unter maximal stoischer Gesichtswahrung seinen Abgang in den Markt anstrebt.

    „Bernard, bitte."

    „Das geht jetzt schon seit Wochen so, und ich möchte wissen, was ich dir getan habe, dass ich das alles abkriege. Ich sage dir schon, wenn ich Klarheit habe! Oder meinst du, ich habe weniger Interesse, die Sache endlich zu klären, als du, ausgerechnet du?"

    „Bernard."

    „Hä?" Er wendet mir sein Gesicht zu, tut so, als würde er mich eindringlich ansehen wie ein ernster Mensch in gerechtem Zorn, aber sein Blick geht logisch sonst wohin, haarscharf an meiner linken Schläfe vorbei und rein ins Seitenfenster gegenüber, wo die Schwester ihn genervt erwidert. Die dunklen Haarsträhnen rutschen ihr über die erhitzten Wangen, der dicke, flauschige Pulli liegt ihr an wie ein Versprechen von leicht feuchter Körperwärme, verdammt. 

    „Ich hätte es dir schon gesagt, Mann, sobald ich gewusst hätte, was das da war. Aber du lässt mich ja nicht! Du musst es ja immer wieder unterbrechen, und jetzt ist es weg!"

    Ich erwäge physische Sanktionen. Es wäre so einfach: seine Hand nehmen und kurz zudrücken, dann wüsste er, dass es Zeit ist und das hier kein Spiel ist, nur weil er nix davon sieht. 

    Der Rentner hat etwas Ausweisähnliches aus der Tasche gezerrt und lässt seinen Wagen, aus dem ein Megapaket Klopapier wie eine Bank aus dem Frankfurter Stadtbild ragt, halb im Eingang stehen, um dem Knaben nachzusetzen, der ihm einen Vogel zeigt, eigentlich aber nichts anderes will als ganz schnell weg.

    „Warte mal." Plötzlich kommt mir ein Verdacht. „Was heißt: etwas war da? Ein Tier?"

    Bernard ertastet das Radio, schlägt meine Hand weg und dreht voll laut. Call me Mr. Wrong, call me Mr. Vain. „Quatsch! Mann oder Frau! Ich weiß es noch nicht! Er oder sie lag auf der Wiese, ist aufgestanden und rübergegangen. Irgendwie weiblich, aber auch muskulös."

    Ok, das reicht, Zeit zum Handeln. „Ich gehe rein." 

    Im selben Moment stoße ich die Autotür auf wie drüben die Schwester. Sie kriegt diesen typischen Gesichtsausdruck, irgendwas zwischen Schreck und Staunen. Eine Hand sucht nach dem Autodach, weil sie sich vergewissern will, dass das hier noch die bekannte Welt ist. Es fühlt sich normal an, sie kann sich darauf verlassen. Aber sie schluckt.

    Ich nicke ihr einen kurzen Gruß zu.

    Ihr Bruder drängelt sich zwischen dem Rentner und dem Knaben durch, sein Gesicht ein Feixen, bis er mich sieht, dann klappt sein Mund wie ein Müllschlucker auf, während die Augen an mir hochwandern. Die neue Bravo mit dem Grunge-Papst auf dem Titel rutscht aus seinen Händen und fällt wie ein abgeschossener Vogel zu Boden.

    Ich nicke auch ihm zu. „Deine Schwester wartet schon auf dich."

    Ohne mich aus den Augen zu lassen, fingert er nach seinem Magazin. Es hat Straßendreck abgekriegt, das weiße Longsleeve dieses Cobain sieht aus wie mit Kacke beschmiert.

    Bernard zwängt seinen Kopf durch den Spalt des heruntergekurbelten Fensters und schreit: „... Junge!" Oder so was. Immer muss ihm noch irgendwas nachträglich einfallen, er ist ein regelrechter Revisionist.

    Die Schwester betrachtet ihn, als wäre er ein Stellvertreter des Segens der Normalität. 

    Ich ... ah, er wird gleich Zeit genug haben, sich detailliert zu äußern.

    „Entschuldigung." 

    Der Rentner und der Knabe treten relativ sprunghaft zur Seite. Der Alte hält mir den Ausweis wie ein Kruzifix entgegen. Bei genauerem Hinsehen ist es ein Schwerbehindertenausweis oder sogar Kriegsversehrtenausweis, falls das in der Ecke da ein Eisernes Kreuz ist. Abartiger alter Kriegsprotz. 

    „Soldat, dein Krieg ist vorbei." 

    Er grient augenfeucht, halb entschuldigend, auf jeden Fall wie plötzlich die Sanftmut selbst. So einfach befriedet man Situationen.

    Böser Ort hier, alle schweineaggressiv. Merke ich es nicht sogar schon an mir selbst? Diese ungünstige Auswirkung, eine Ausblähung des Zorns aus dem nur notdürftig asphaltierten Bluthumus, ein Miasma des Hasses? Ich werde es herunterwürgen und verdauen mit meinen scharfen Magensäften. Es darf nicht einfach wieder raus und Unheil anrichten, hier spielt sich eh schon genug ab, auch wenn ich beim Abgehen der Wälder vorhin nichts entdeckt habe außer finsteren Ahnungen in mir. Bernard, der schlapp im Auto geblieben ist, hat von Gesichtsfeldkrebs berichtet und von Pilzen, die so schnell sprossen, dass er Angst bekam.

    Ich möchte zu den Leuten und der Kassiererin sagen: Hey, ich sehe nur so aus. Aber das würde es eher noch verschlimmern, weil sie es als bösartige Finte nehmen würden. Ich hasse meine Größe, mein hermaphroditisches Aussehen, selbst wenn es mir manchmal nützt. Ich hasse auch solche Dörfer, weil da alles, was ich bin, so derbe auffällt.

    Der Langhaarige steht an der Kasse und zahlt. Zwei Dosen Cola und eine Tüte Chips liegen auf dem Band, bei dessen ruckartigem Anfahren die Büchsen nach hinten wegzurollen drohen.

    „Du musst sie längs aufs Band legen, dann vermeidest du das."

    Der Markt verstummt. Sogar die elende Fahrstuhlmusik, jetzt gerade eine Coverversion von Imagine, ist wie ausgeblendet, überlagert von einem gewaltigen Spannungsfeld.

    Die Kassiererin blickt sich hilfesuchend nach Kollegen um, ihre Hand mit dem geknoteten Lederband am Gelenk legt sich um die Halterung des Marktmikros.

    „Mache ich das nächste Mal", sagt der Langhaarige und wendet sich in Erwartung der Ansage des Bons an die Kassiererin. Nervös zückt er sein Portemonnaie, das braun speckig und abgegriffen aussieht.

    Aufs Geratewohl sage ich: „Almut Schäfer."

    Die Kassiererin zuckt und nennt eine Summe. 

    Der Langhaarige kann es nicht vermeiden, berührt zu sein. Während er einen Fünfmarkschein herüberreicht, sieht er mich geheuchelt fragend an: „Bitte?"

    Die Kassiererin lässt Teile des Wechselgeldes fallen. Sie bückt sich in die Legebatterie der Kassenkabine herab und offenbart ein ordinäres Tattoo über den herausquellenden Backen. Ihr Mund kommt dem Kassenmikro sehr nahe.

    „Almut Schäfer", wiederhole ich.

    In der Schlange hinter dem Langhaarigen stehen eine Mutter mit einem blonden Kind, ein Handwerker im verschmierten Blaumann sowie ein Schönling mit zurückgekämmtem Haar und Schweizer Armeejacke. Die Mutter drückt das Kind hinter sich. Ich lächele ihr zu.

    „Bitte keinen Ärger", fleht die Kassiererin.

    „Keine Sorge, wiegele ich ab, „da draußen ist nur jemand im Auto, der möchte mit dem Mann hier kurz sprechen.

    Der Langhaarige nimmt das Wechselgeld. Er ist nicht bei der Sache, seine Finger zittern, als er den Druckverschluss am Hartgeldfach des Portemonnaies zusammenpresst, was nicht auf Anhieb gelingt. Eine Ratte rennt durch die labyrinthischen Windungen seines Gehirns auf der Suche nach einem Ausweg. Aus den Augenwinkeln checkt er, wie viel Platz zwischen mir, der Kasse und dem Käfig mit den Ramschwaren ist.

    Zu wenig. Er tritt mir entgegen, bleibt einen halben Meter vor mir stehen und blinzelt aus einem ungünstigen Winkel zu mir herauf. „Darf ich?"

    „Nur auf ein Wort, bitte."

    Zögerlich rückt die Mutter mit dem Mädchen nach.

    Ein Ausfallversuch, aber er kann mich nicht wegschubsen, wie er sich gedacht hat. Ich nehme ihn und lege ihn auf die Bodenfliesen. Die Kassiererin kreischt einen Namen, wobei ihre Frisur zu explodieren scheint.

    „Es ist nicht so, wie es aussieht, bemühe ich mich, ruhig zu reagieren, und dann zu dem am Boden Schockstarren: „Pass auf, es geht nur um ein kurzes Gespräch. Es passiert nichts. Aber ich kann es dir auch nicht ersparen.

    Er entspannt. Er würde jetzt gerne weinen.

    Etwas trifft mich hart im Genick.

    „Au."

    Da steht der Schönling in Kung Fu-Pose. „Lass den Jungen los."

    „War das eben deine Handkante?"

    Ein Provinzschläger, hat zu viel Roadhouse gesehen und fühlt sich schick wie Patrick Swayze. Dabei vernachlässigt er seine Deckung grandios. Die Hände und Unterarme kann er in schlangenhypnotischer Langsamkeit gegeneinander verschieben, so viel er will, die Lücken sind immer da, ebenso ist klar, wo sie in einer halben Sekunde klaffen werden, jetzt da, der Kerl kann sich gar nicht vorstellen, wie lesbar er ist, jetzt da. Ich werde es bei etwas mehr als einem Warnschuss belassen, wozu ich nicht erst aufzustehen brauche.

    Nur eine rasche Streckung.

    Es haut ihn in den Ramschwarenkäfig. 

    Das sollte mir nichts bedeuten, mein professionelles Verhältnis zur Gewalt muss ungetrübt sein von Egolalie und Eitelkeitsstolz, aber ich kann nicht leugnen, dass es auch Spaß macht, solche überheblichen Kampfsäcke ein wenig zu demütigen. 

    Ich gehe davon aus, dass jemand, der kämpfen will, damit rechnet, eventuell zu verlieren. Er nicht, er sieht mich an wie schwer betrunken. Er muss ihr aller König sein.

    Der Grunge-Knabe und der Rentner, die mir nachgerückt sind, stehen friedlich nebeneinander und fragen sich aus unterschiedlichen Gründen, ob es gut sein könnte, Beifall zu klatschen. Die Knabenaugen leuchten.

    Der Marktleiter oder ein anderes hohes Tier stürzt aus einem Gang, groß, früher einmal Sportler, dem Brust-Schulter-Bereich nach eventuell Handballer. Bauchansatz, Polizistenschnäuzer, im weißen Kittel erinnert er mich an den Pathologen aus der Charité, Dr. Hosang. Für die Kassiererin ist er der Engel mit dem Schwert.

    Erst sieht er den Schönling zwischen dem Weihnachtsmüll liegen, gequetschte Kartons mit zerdepperten Goldkugeln, dann mich. Die changierenden Falten auf der Stirn verraten Wut, aber auch Unsicherheit bzw. Furcht. „Raus, sofort, gibt er sich zunächst autoritär, dann ergänzt er: „Beide. Bitte.

    „Ich bin gleich weg, sage ich, „es ging mir nur darum, den Mann hier zu einem kurzen Gespräch abzuholen. 

    Ich hebe das langhaarige Elendshäuflein auf. Vermutlich habe ich nicht viel mehr als zehn Minuten, bis die Polizei eintrifft. Die genaue Zeit hängt davon ab, ob der Dorfpolizist und sein Nachfolger in spe vor Ort sind oder wieder bei der Almut-SoKo im Nachbarstädtchen abhängen (auch so ein Ort Stein gewordener Depression, von zwei mächtigen Bundesstraßen durchkreuzt wie hingerichtet; die Schlote eines ziegelroten Industriekomplexes gießen einen holzig stinkenden Nebel vor die dunkelgrünen Hänge des Harzes).

    „Ist alles okay bei dir, Ingo", fragt der Markleiter den Langhaarigen in meinem Arm. Um vor seiner Kassiererin als Held dazustehen, müsste er wenigstens zwei Schritte nähertreten. Er kämpft mit sich, aber er verliert, stattdessen bewegt er sich zurück, wenn auch nur um Zentimeter, und berührt mit den Fingerspitzen seiner haarigen Hand, an der ein Ehering nach Messing aussieht, die Aluverkleidung der Kassenkabine. Das helle Geräusch weckt Erinnerungen an meinen Deutschlehrer Konrad Helmswinkel, der bei den Klassenarbeiten immer mit seinem Siegelring an der Heizung herumgeklimpert hat.

    Der Langhaarige spricht leise, es klingt unendlich traurig. „Ist schon okay, ich gehe mit. Sagt meinen Eltern Bescheid."

    „He, dafür ist überhaupt kein Grund. Wie gesagt, vielleicht nur fünf Minuten." Mit einem nett gemeinten Winken in die Runde wende ich mich und den Langhaarigen zum Ausgang.

    Der Schönling berappelt sich und steigt aus der Gitterbox. Er sieht den Grunge-Knaben an, als würde er ihn am liebsten in den Rentner spießen.

    „Du heißt also Ingo?", frage ich, um die Stimmung aufzulockern, denn so was tun die Psychos, die er aus Filmen kennt, doch wohl kaum.

    „Ja", antwortet er mit dieser leeren Traurigkeit, die mich rührt. Sein Parfum ist etwas billig und zu süß, aber für einen Jungen in seinem Alter ganz okay, sogar anziehend. Die Angst und der mit ihr einhergehende Hitzeschub bringen es noch stärker nach vorne, es strahlt von seinem Hals ab wie von Keith Haring gemalt.

    Auf dem Parkplatz diskutiert der Junge mit seiner Schwester, zerrt ihr am Ärmel und fuchtelt. Als wir vorübergehen, sind beide sofort still. Die Schwester schluckt wieder so gebannt, dabei bilden die Auflageflächen der Lippen eine exakt horizontale Linie, auch schon wieder hübsch. 

    Bernard sitzt im Auto und zieht ein beleidigtes Froschgesicht. 

    „Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe", mault er los, kaum dass Ingo auf den Rücksitz gehuscht ist und ich mich daneben gequetscht habe. 

    „Das hier ist Ingo." 

    „Hallo", sagt Ingo hohltonig.

    Bernard knurrt. 

    „Ich glaube, dass Ingo, Entschuldigung, es ist. Leicht androgyn, schlank, langes braunes Haar, auffallend schmales Gesicht."

    „Und wenn schon, er hat nur dagestanden auf der Wiese und posiert!"

    Ich wende mich an Ingo, der sich in den entferntesten Winkel der Heckscheibe vor mir zu verdrücken versucht: „Du kennst Almut Schäfer?"

    „Wie denn nicht?"

    „Er war es nicht, Herrgott! Bernard haut sich auf die Oberschenkel. „Da war ein anderes Blag! Es stand plötzlich hinter dem Mädchen auf dem Sprungturm, hat obszön sein Becken geschwungen, und sein Mund war blutverschmiert! 

    „Das war Hamburgersoße."

    „Bitte?" Bernard und ich wie aus einem Mund.

    Vier Augen richten sich jetzt so radikal auf Ingo, dass er abwehrend die Hände hebt. Ob das bei Bernard Zufall ist oder ob er ihn tatsächlich sieht, nur anders als ich, wird er mir nicht verraten.

    „Soße von einem Hamburger, erläutert Ingo. „Ich erinnere mich an den Tag. Das war im Juli oder August. Der kleine Bertram aus den Zwölffamilienhäusern hat mit seinen Assikumpels ein Hamburgerwettessen gemacht und danach ins Wasser gekotzt.

    Ich gebe Bernard einen freundschaftlichen Buff gegen die Schulter.

    Ingo beugt sich konspirativ vor. „Ihr seid also echt keine von Onkel Stumpfs Leuten?"

    Ich sehe Bernard an. „Ich denke, nicht." 

    Rings um unser Auto ist die Zuschauermenge stetig angewachsen. Als Ingo aussteigt, drängen sie nach einem Moment der Höflichkeit heftig auf ihn ein: der Rentner, der Marktleiter, die beiden Jungs, die Mutter mit dem blonden Mädchen auf dem Arm. Nur der Schönling bleibt argwöhnisch auf Distanz und schickt scheele Blicke, während er sich eine Schachtel Marlboro aus der Brusttasche faltet.

    Gerade noch rechtzeitig, bevor der Polizei-Passat anrollt, kommen wir vom Parkplatz. Nicht, dass wir uns nicht hätten erklären können, ein sachter Hinweis auf Schwarzkogler hätte die Ordnungshüter schon davon abgebracht, uns nachhaltig im Weg zu stehen; Schwarzkogler ist immer noch ein Bullenmythos, da kann er noch so lange und aus zweifelhaften Gründen draußen sein. Aber ich brenne darauf, diesen Bertram zu befragen. Vielleicht ist da ja doch noch eine Chance, Almut Schäfer lebend wiederzufinden. Zeitvergeudung kann manchmal wie Töten sein.

    Deswegen wimmele ich auch die hübsche Schwester schnell ab. Als ich anfahre, kommt sie herbeigelaufen und patscht mit ihren flachen rosa Handflächen an mein Seitenfenster. „Wir haben es sehr eilig", rufe ich nicht sehr freundlich durch den Spalt der nur ein Viertel heruntergelassenen Scheibe. 

    „Ich will euch auch nur sagen, dass ich das toll finde, dass Ihr Almut nicht aufgegeben habt. Sie hat das alles hier nicht verdient."

    Ich nicke und zwinkere auch andeutungsweise.

    Mit den Händen in den Hüften sieht sie uns nach, bevor sie zu den anderen schlendert, in dieser lasziv coolen Art von Mädchen, die keine Tussi sein wollen. Ich behalte die Szenerie im Rückspiegel noch einen Moment im Auge. Ingo wiegelt mit beiden Händen wie ein Pantomime ab, als die Bullen aus dem Passat steigen und sich mit dem Gang verfetteter Tiger der Gruppe nähern. Da tritt auch der Schönling dazu und postiert sich breitbeinig.

    Dann erst merke ich, dass das Radio noch läuft. Bernard hat es nur leise gedreht. 

    Das einfache 3-Ton-Gitarrenriff eines 80er-Schlagers. Der Sänger setzt ein, seine Stimme reicht gut in die Höhe: Nobody on the road, nobody on the beach. Das Gefühl, das mich bei The summer is out of reach packt, ist von einer intensiven Fatalität, der ich sofort gegensteuern will, weshalb ich, Schritt 1, den Sender wechsele, hinein in ein Klassikprogramm mit der Sicilienne von Fauré, und, Schritt 2, so aufs Gas trete, dass den Bullen vor Schreck beinahe die Mützen ins Gesicht rutschen und Bernard ein Klagelied anstimmt, weil er noch nicht angeschnallt ist und gegen die Konsole gedrückt wird. 

    „Was hat er noch gesagt? Wie heißt die Straße?, unterbreche ich ihn ein bisschen gefühllos. „Sieberstraße 13? 

    „Zwölf! Du pathetisches Arschloch!"

    Dennis Bertram ist kein Gegner. Unter seinem Bett liegt eine tote Maus, vermutlich ist er ihr Mörder. Seine Mutter, in einer blau gepunkteten, gelben Leggins, die Haare nicht unbedingt gestern gewaschen, versucht uns rauszuschmeißen, obwohl sie uns zunächst unbedingt in ihrem Wohnzimmer haben will, wo es abgestanden nach gekochten Kartoffeln riecht und der Ausblick über den Balkon auf ein schmuddelig verwildertes Flussufer mit altem Wehr Depressionspotenzial entfaltet.

    Der kleine Bertram, vielleicht 13, etwas fett, zittert, aber leugnet. Bernard erlebt einen so intensiven Flash, dass er sich setzen muss, mitten rein in einen Stapel Schmutzwäsche, deponiert in einem Cordsessel auf blinden Chrombeinen, der im Kinderzimmer in der Ecke steht, unter einem Poster mit dauergewellten Schreifressen und dem Schriftzug Megadeath, bei dem mir von der Vorstellung her übel wird.

    „Sie ist im Wald, stammelt Bernard, „in einem Erdloch.

    Der Bertram zieht ein so doof arrogantes Unschuldsfresschen, dass ich ihm die Instrumente zeige, natürlich im übertragenen Sinn, worauf die Mutter Unverständliches kreischt, noch lauter als ihr Sohn, der aus dem Fenster springen will und brüllt: „Ich war es nicht! Es war Niko!" 

    Er flennt, dass ihm der grüne Rotz nur so über die Lippen schlabbert, als er uns im Beisein seiner wie erstickt wirkenden Mutter durch den Wald führt.

    Tatsächlich bin ich gestern schon an diesem Platz gewesen, aber der Eingang in den Boden ist hinterhältig gut versteckt. Wir müssen uns wie im Märchen durch eine dichte Hecke kämpfen und gelangen dann auf eine unerwartete Lichtung. Da führt in einem abgestorbenen, hohlen Baum eine Strickleiter nach unten in die Erde.

    Almut Schäfer geht es den Umständen entsprechend gut, wie man so schön sagt, wobei die Umstände höllisch sind. Sie bittet uns, dafür zu sorgen, dass sie nicht wieder ins Dorf zurückkehren muss, nicht eine Minute, und setzt das meines Wissens auch bei ihren Eltern durch. Sie muss allerdings sowieso erst eine Weile stationär behandelt werden, und das nächste Krankenhaus steht im gruseligen Nachbarstädtchen.

    Die Eltern sind Geächtete, keiner weiß genau, warum. Vor einigen Jahren zugezogen, isoliert bzw. nach verschiedenen Aussagen in freiwilliger Isolation lebend. Bei der Pressekonferenz, die Schwarzkogler medienwirksam am Eingang zum Verlies abhält – und sie wäre perfekt verlaufen, wenn es nicht kübelweise geregnet hätte – hört man, dass sie das Dorf bereits mit unbekanntem Ziel verlassen haben, mutmaßlich in das nächstgelegene Hotel, um Almuts Transportfähigkeit abzuwarten. Manche meinen, der Vater wäre schon direkt zurück in die waldhessische Heimat.

    Die hübsche Schwester ist da, hält sich durchsichtige Abdeckfolie über den Kopf gegen den Regen, der große Ovale auf die ausgewaschene Jeans an ihren Oberschenkeln tropft. Sie bedankt sich noch einmal so herzlich, ich müsste misstrauisch werden und wenigstens nachfragen, verschiebe das aber, weil Schwarzkogler private Kontakte zwischen uns, insbesondere mir, und beliebigen Einheimischen äußerst skeptisch sieht. Es entspricht nicht dem Bild der quasi marvellesk entrückten Superheldeneingreiftruppe, das er uns aus Marketinggründen aufgedrückt hat. „Wir müssen Mythos sein", meint er.

    Der kleine Bruder reckt mir aus der Ferne den Top-Daumen entgegen und grinst. Später steht er mit seinem grungigen Kumpel bei mir, der ein schwarzes Deadhead-Shirt trägt und sagt: „Ich würde so gerne kämpfen können wie du. Mit einem Seitenblick auf Schwarzkogler entgegne ich: „Üben, üben, üben.

    Unser Chef ist der Brain-Hero. Bernard und ich haben unser Auskommen für die nächsten Jahre auf jeden Fall gesichert. Bernard gibt schmatzende Geräusche von sich.

    Dennis Bertram und sein zwei Jahre älterer Stiefbruder Niko werden in die forensische Jugendpsychiatrie gestopft, wo man ihnen die schmutzigen kleinen Gehirne reorganisiert. Ich werde sie im Auge behalten, weit über die Zeit ihrer Entlassung hinaus.

    3. Bose, Einstein, Sound & Irina.

    An einem Abend im September 1980 zuckte der Geist der Nervosität über die Bühne. Noch bevor sie überhaupt angefangen hatten zu spielen, war die Stimmung schon im Arsch. Doch keiner sah einen mit den Bedingungen des Auftritts unmittelbar zusammenhängenden Grund dafür.

    Lutz Lindner, Halbbruder des seinerzeit von der Kritik schwer beharkten Eloy-Kopfs Frank Bornemann (wobei beiden die Verwandtschaft unbekannt war und bleiben sollte), glaubte stattdessen Würmer in seinen Därmen am Wühlen und imaginierte Wurmweibchen, die aus seinem Anus lugten, um Eier da abzulegen. 

    Jaques „Jacke" Bendler, Gitarre, spürte den Drang, sich politisch zu engagieren. Als sie auf der Anreise an einem schon frühabendlich verdunkelten Neubaugebiet vorbeifuhren, verschränkte sich der Mariacron-Himmel über den antennengespickten Dächern mit einer Radiomeldung auf NDR 2, in der es um einen Bombenanschlag auf das Münchener Oktoberfest mit 13 Toten und Hunderten von Verletzten ging. Bendler kam maximal fatal drauf. Beim Betreten der Bühne schlug dann die weltpolitische Lage mit großer Wucht über ihm zusammen: Zunahme faschistisch motivierter Gewalttaten, Bologna, München, ?, Atomraketen auf die BRD, Wettrüsten & Nato-Doppelbeschluss + Umweltvernichtung durch Kapitalismus und Staatskapitalismus: schaumige Flüsse, verschlackte Ebenen, Strahlenkrebs. In Großbritannien leitete diese fiese Frau eine dunkle politische Trendwende ein, der die USA wahrscheinlich in Kürze mit einem Schauspieler folgen würden ... und dann die ganze Welt?

    Dieter Degowski (Tasten) war dieses wimmerige Politjammertum absolut fremd und verhasst. Dieser Pathosscheiß. Er fand es schleimig und ekelig, und das war noch nicht das einzige an jenem Abend. Er schiss im Grunde schon lange auf die ganze Idiotenbande, auf Lindner, diese mürbe Birne, und Bendler, der genauso wenig kapierte, dass Braumeister dabei war, THE BEK OF SOUND zu reiner Kommerzscheiße zu verwursten. An diesem Abend penetrierte das Degowskis Seele sodomitisch ganz besonders hart, weshalb er stichelte, wo er nur konnte, aber, wie sich schon länger abzeichnete, immer weniger Beachtung fand, von Julius Braumeister sogar ganz ignoriert wurde.

    Braumeister kam euphorisch drauf. Ein Auslandstipendium der Musikhochschule hatte ihn vor einem halben Jahr für drei Monate in die USA und eines Nachts mit Kommilitonen in Chicago ins WAREHOUSE geführt. Dort hatte er eine Musik gehört, wie sie ihm weder als E noch U bislang untergekommen bzw. in Beine und Unterleib geschossen war: rhythmisch, hypnotisch, manisch, krautig, tanzbar und willenserlösend. Er hatte sich eingestöpselt gefühlt in eine große Anlage, aus der die Soundeinheiten gleichzeitig zu kommen und in die sie von den Tanzenden eingespeist zu werden schienen. Braumeister kombinierte den Style mit Elementen des Rap, den er zeitgleich zunehmend medial vermittelt bekam, was seine ursprüngliche Einschätzung, die Sache mit Rappers Delight ließe sich nicht so abstrahieren, dass eine interessante Struktur oder Antistruktur ableitbar wäre, rasch einer Revision zuführte.

    Jedenfalls: Das war der Abend dafür, eine Energie war spürbar, mit der sich die heterogenen Elemente auf eine intensivere Art verschmelzen lassen würden als durch bloße Amalgamierung. Braumeisters Kopf drohte zu explodieren unter der Fülle an Impulsen.

    Das Publikum war trottelig. Norwegerpullis und Batiktücher, der Qualm von selbstgedrehten Zigaretten hing wie ein Gespinst unter der Decke und überlagerte das Patschuli, das dick aufgetragen wurde, um die üblichen körperlichen Ausdünstungen nach duschfreien Perioden zu neutralisieren. Gekommen war die große Mehrheit, um sich von einer gemütlichen Mischung aus Tago Mago und Mahavishnu nicht irritieren zu lassen. Zwei, drei vielleicht dazwischen mit offenen Ohren.

    Degowski versuchte zu sabotieren, kam aber genau dadurch auf Braumeisters Linie, weil sich dessen monoton wuchtige Bassbewegungen, unterstützt von Lindners auf Bassdrum und Hi-Hat fokussiertem Schlagzeugspiel, fast ideal mit den zersetzenden, immer rhythmisch neben der Spur liegenden Tastenarpeggios bissen. 

    Lindner war zum Glück zu sehr mit den Gedanken bei den sich durch seine Scheiße bohrenden Würmern, um aus falsch verstandener Kreativität das Gebäude mit den für ihn üblichen filigranen Breaks zum Einsturz zu bringen. 

    Und der verzweifelte Jacke Bendler versuchte seiner allgemeinen Protesthaltung dem Schweinesystem gegenüber Ausdruck zu geben, indem er sich reduktionistisch auf die tiefe E-Saite beschränkte, sie aggressiv mit dem Plektron behämmerte sowie bei inflationärem Einsatz des Vibratohebels labberig aufjaulen und stöhnen ließ.

    Niemand konnte darauf vorbereitet sein an einem Abend, an dem in einem Bungalow ein analoges Telefon klingelte, weil eine Frauenstimme etwas zu sagen hatte á la „ich komme nicht mehr nach Hause, worauf eine Männerstimme nach einer Pause erwiderte: „Und die Kinder? – zwei saßen bereits in gepunktetem Nachthemdchen bzw. Cowboypyjama auf dem Sofa, erwarteten Wum & Wendelin – was mit einem tiefen Seufzer und einem „ich muss auch mal an mich denken" beantwortet wurde, worauf ein Hörer leise aufgelegt wurde ... niemand hätte auch acht Jahre später nicht entfernt damit rechnen können, so abrupt und vorübergehend voll in die 90er katapultiert zu werden; was an diesem Abend gespielt wurde, war dem späteren Acid Techno, nur mit analogen Instrumenten, weit ähnlicher als irgendeiner zeitgenössischen Strömung, zumal sich Lindner in eine echte Four-to-the-Floor-Manie verbohrte und sich dabei wie ein Wurm in seiner eigenen Scheiße fühlte.

    Kollabiert wäre der Auftritt um ein Haar, als Braumeister über ein geslapptes Riff zu rappen begann, was zwar wie bei vielen Deutschrappern seiner Generation noch mehr Sprechgesang war, seine provozierende Wirkung auf das hier und da zum Buh übergehende Publikum aber trotzdem nicht verfehlte: „In Danielas Zimmer essen wir rotes Popcorn, / wir trinken aus bunten Bechern grüne Brause / und Che Guevara / hängt in einem Druck von Warhol / über Danielas Bett / in Danielas Zimmer, sie sagt es, / sagt es, sagt: warum kommst du nicht rüber, / wir lassen es wahr sein."

    Es gelang. 

    Sie wurden nicht mit ledernen Tabaksbeuteln beworfen oder als Kommerzapostel entlarvt, wie es sich Degowski auch wieder nicht gewünscht hätte, weil er das Affenpack vor der Bühne fast noch hassenswerter fand als die depperten Schweinepriester darauf.

    Unter Umständen können zwei, drei Paar offene Ohren vollauf genügen. Wenn die Köpfe dazwischen Charismatikern gehören oder die Gesichter vorne auf den Köpfen einfach sensationell oder die Körper unter den Gesichtern eher die Körper von ätherischen Erscheinungen des Punk sind. Wenn all das auf einmal zutrifft, reichen sogar zwei Ohren völlig aus.

    Irina Weidenbrücks Ohren waren sozusagen weit geöffnet. Sie war gerade mal 14 und hatte sich aus dem zerrütteten Elternhaus geschlichen, um einen Freund zu treffen, der dann nicht kam. Sie warf sich deswegen mit ihrer ganzen Enttäuschung voll in die Musik, ließ sich darin treiben und löste eine Kettenreaktion aus. Denn niemand in ihrer Nähe verspürte auch nur die geringste Lust, in ihren Augen altmodisch oder doof auszusehen. Also

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