Plötzlich Pflegeväter
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Buchvorschau
Plötzlich Pflegeväter - Hans van der Gees
Nur wer wagt, gewinnt
„Straßenfeste sind nicht mein Ding!", knurrt Adam seine Mutter an, als sie ihn auffordert, auf Bennis Bitte einzugehen.
„Tu ihm doch den Gefallen! Ihr versteht euch doch gut! Und du bist schon genug allein!" Mini Rohrbach spornt ihren Sohn dauernd zu Kontakten an. Der Siebzehnjährige ist zu sehr in sich gekehrt, findet sie.
Adam gibt nach und brummt nur noch: „Okay, liebe deinen Nächsten wie – wie geht das auch wieder?"
„Komm nicht allzu spät nach Hause! Zehn Uhr, einverstanden?"
Noch widerwillig zieht Adam seine Jacke an. „Alles kostet!", meckert er.
Mini steckt ihm zehn Franken zu.
Draußen wartet der Nachbarsjunge Benni. „Hurra! Du kommst! Du wirst es nicht bereuen. In dem Quartier gibt es sehr, sehr, sehr schöne Frauen! Hui! Titten wirst du sehen!"
Missbilligend schließt Adam die Augen. „Du mit deinen Titten!"
Benni ist noch mehr eine Bohnenstange als Adam. Mit Riesenschritten gehen die zwei nebeneinander.
„Schau!, sagt Benni und streckt seine Muskelbündel am rechten Oberarm vor Adam aus. „Sie sind wieder größer geworden.
„Wie neidisch machst du mich!, spottet der. „Du bekommst sicher einen Job als Schienenverleger.
„Dafür braucht man heute keine Muskeln mehr. Geht alles mit Maschinen."
Bald sind sie am Platz, wo das Fest stattfindet. Es herrscht Lärm und nochmals Lärm, und es wimmelt von Leuten. Ein Kinderkarussel dreht seine Runden, beim Schießstand stehen Haufen Jungs und Männer, und der Duft von Bratwürsten weckt Appetit.
Zuerst stehen sie beim Schießen an. Nach ein paar Minuten erwischt Adam ein Gewehr. Er ist ein guter Schütze. Dreimal Schuss, dreimal im Ziel! Er gewinnt einen Teddybären. Benni wagt sich nicht einmal.
Mit dem Plüschding schlendern sie zum Wurststand. Anstehen und warten. Da erkennt Benni einen Schulkollegen. „Hey, Ingo!", ruft er.
Der schwarzhaarige junge Mann am Grill schaut auf. „Hoi, Benni! Ich schmeiße für dich einen extra dicken drauf!" Während er die Würste wendet, schaut er ein paar Mal nach Adam, und Adam schaut auf ihn.
Sie kommen dran. Auf einer Pappschüssel serviert Ingo ihnen zwei Würste. „Ehrlich teilen!, mahnt er und schaut wiederum nach Adam. „Wer bist denn du?
, fragt er.
Adam, verlegen wie immer, sagt: „Ich heiße Adam, Adam Rohrbach."
Ingo schaut ihn fast zudringlich an. „Ich bin Ingo."
„Ingo!", wiederholt Adam.
„Ingo Hartdorf", ergänzt er und lacht Adam an.
„Er hat leider nicht alle Tassen im Schrank", spottet Benni über Ingo, während er die Würste bezahlt. Adam steht unbeholfen dabei. Bis er weiß, wie er etwa reagieren könnte, ist der passende Moment längst vorbei. Er beißt in die Wurst. Heißer Saft spritzt heraus, wie beim Wichsen.
Er vernimmt, dass Ingo und Benni in derselben Gymiklasse zur Schule gehen. „Er ist ein Streber, sagt Benni, „und abonnierter Klassenbester.
„Aber in Ordnung?", fragt Adam.
„Ja, ja, sicher zu mir. Nur weiß er immer alles besser."
Benni geht auf Ingo zu. „Ist das deine Mutter?", will er wissen und weist auf die übergewichtige Frau, die das Zepter im Wurststand zu schwingen scheint.
„Meine Mutter liest ausschließlich Bücher, weißt du doch? Ich bin hier Aushilfe, weil der Griller krank ist."
„Du stinkst sicher nach Fett, wenn du ins Bett gehst", scherzt Benni.
„Nicht doch! Ich gehe regelmäßig unter die Dusche. Solltest du auch mal ausprobieren! Dich riecht man sogar ohne Bratwurst!"
Dann scheint Friede zu herrschen.
„Und du, was hast denn du für Hobbys?", fragt Ingo Adam, während er sich weiter um Würste bemüht.
„Ich? Eh, willst du es wirklich wissen?"
„Wirklich!", lacht er ihm kurz zu.
Ingos Interesse macht ihn mutig. Er macht einen Gegenzug. „Rate mal!"
„Puppen aufreißen!", wirft Benni kichernd ein.
„Schnauze, Drecksack!", ruft ihm Ingo zu.
„Nun, rate!", drängt Adam.
„Eh, Fußball!"
„Hahaha! Benni bricht in schallendes Gelächter aus. „Fußball! Der ist gut! Adam und Fußball!
Adam lässt sich nicht ablenken. Er bewegt sich noch ein bisschen näher an Ingo heran und schaut ihm in die Augen. „Botanik, antwortet er ernsthaft. „Ich suche überall nach Pflanzen und Blumen, vor allem nach Bäumen. Lieber als Straßenfeste besuchen.
„Wow! Das ist etwas ganz Besonderes!", findet Ingo.
In dem Moment fällt ein kleines Mädchen, das auf einen Stuhl geklettert ist, hinunter. Es schreit laut auf. Sein Papi nimmt es hoch und schließt es in die Arme.
Adam tritt auf sie zu und gibt dem Kind den Teddybären. „Hier, den habe ich für dich gewonnen. Bist du lieb zu ihm?"
Die Kleine, mit Tränen noch auf den Backen, staunt, zögert zuerst, nimmt dann den Bären und drückt ihn fest an sich.
Das Gedränge der hungrigen Leute wird stärker. Ingo hat alle Hände voll zu tun. Die Jungs merken, dass es Zeit ist weiterzuziehen. Sie werfen brav den Abfall weg und winken Ingo Tschüss.
Viel Zeit verbringen sie nicht mehr auf dem Platz. Adam informiert sich noch bei seinem Kameraden, wo die Titten jetzt seien. Benni schaut in die Runde, zuckt mit den Achseln und findet, sie seien wohl zu spät.
Beim Weggehen steuert Adam ihre Schritte so, dass sie noch einmal bei Ingo vorbeikommen. Adam winkt ihm zu und Ingo schwingt beide Arme.
Noch vor zehn Uhr ist Adam zuhause. Seine Mutter fragt, wie es war.
„Langweilig!", schnödet er. Das stimmt nicht ganz. Die Begegnung mit dem Wurstmann ist aufregend gewesen. Sein offener Blick und seine Aufmerksamkeit sind Adam noch gegenwärtig. Aber das behält er für sich.
Als Adam im Lauf der nächsten Woche im Treppenhaus Benni trifft, hört er, dass Ingo nach Adams Telefonnummer gefragt hat.
„Hast du sie ihm gegeben?"
„Klar, wieso nicht? Er hat mich gefragt, ob ich im Wurststand mithelfen will. Die stehen jedes Wochenende irgendwo anders. Vielleicht will er dich auch fragen."
Von da an wartet Adam mit Spannung, ob Ingo tatsächlich anrufen wird.
Es dauert noch einige Tage. Endlich: „Adam, jemand für dich!", ruft seine Mutter vom Telefon her.
„Hallo, Adam, hier ist Ingo, der Griller. Erinnerst du dich?"
„Klar, Ingo! Was ist?"
„Hey, ich wollte dich fragen, ob du mich einmal mitnimmst, wenn du auf Blumensuche gehst. Mich würde das interessieren! Kann ich mal mitkommen?"
„Oh ja, gern! Das würde mich echt freuen."
„Machen wir das schon bald?"
„Von mir aus ja. Samstagnachmittag?"
„Das wäre super."
„Komm mit dem Fahrrad!"
Sie vereinbaren Zeit und Ort. Es fällt Adam auf, dass Ingo ihn nicht zur Beihilfe in der Wurstbude einlädt, sondern mit ihm allein sein will. Er stellt sich vor, dass Ingo und er Freunde werden. Es lässt ihn fast zittern vor Aufregung. Sein Herz schlägt wie verrückt. Aber er ist auch nervös. Was, wenn Ingo ihn langweilig findet?
Ingo kommt.
Während sie durch die Stadt fahren, erzählt ihm Adam, dass er in die letzte Klasse der Sekundarschule geht und Mühe mit den Sprachen hat. Ingo geht in die vorletzte Klasse ins Gymnasium, aber ohne Mühe mit den Sprachen.
„Du bist gescheiter als ich", schließt Adam.
„Möglich. Aber ich habe nicht so schöne Augen wie du, da bin ich echt neidisch!"
Darauf weiß Adam nichts zu sagen. Er errötet nur. Schließlich sagt er doch noch: „Ach, nicht wichtig!"
„Was? Nicht wichtig? Ingo packt ihn beim Arm, schaut ihn an und sagt: „Sprachen kann man lernen, aber Augen, die kann man nicht ändern!
„Du hast auch schöne Augen!"
„Echt? Findest du?" Wieder schaut Ingo ihn eindringlich an. Adam errötet erneut.
An einem kleinen Platz halten sie. Dort stehen mächtige Bäume. Adam erklärt, dass der größte eine Bergulme sei, dass Ulmen sich breit verzweigten, ihre Staubgefäße weit aus der Blüte hinausragten und noch andere Besonderheiten.
Wenn er über diese Sachen spricht, kann er seine Verlegenheit gut überspielen. Er kennt sich aus. Während er redet und Ingo zuhört, sieht er, wie aufmerksam Ingo ihn anschaut.
Nachher schauen sie sich die Platanen in der Umgebung an. Adam zeigt unten am Fluss noch andere Platanen mit Blättern wie bei Ahornen.
„Ich verstehe alles nur halb, sagt Ingo. „Was du alles weißt!
Er klopft Adam auf die Schulter.
Es wird dunkel, und sie treten den Rückweg an. Bei seiner Wohnung fragt Adam: „Soll ich dir noch Bilder zeigen, die ich gemalt habe?"
„Oh ja, gern!"
Sie gehen im Haus die Treppe hoch und treten in die Wohnung.
Dort erscheint Adams Mutter.
Mit einem klaren „Grüezi, Frau Rohrbach! geht Ingo auf sie zu und reicht ihr die Hand. „Ich bin Ingo Hartdorf.
Mini schaut Ingo wie verzaubert an und grüßt ihn. „Sind Sie von Adams Schule?"
„Nein, wir haben uns auf dem Straßenfest kennengelernt."
„Ja was? Und du wolltest gar nicht hingehen, Adam!" ruft sie triumphierend aus.
„Jetzt siehst du, was das für Konsequenzen hat!", scherzt Adam.
Ingo sagt: „Wenn ich ehrlich bin, habe ich solche Feste auch nicht gern, Frau Rohrbach. Ich musste nur einspringen!"
„Komm, drängt Adam, „ich zeige dir meine Bilder!
und nimmt Ingo mit auf sein Zimmer. Dort fallen sofort die vielen Bilder auf, die an der Wand hängen.
Da staunt Ingo. „Sind das Gemälde?"
„Nein, Aquarelle. Schau, das Papier ist leicht gewellt."
„Kauft man das so?"
„Nein, bevor man es bemalt, muss man es leicht anfeuchten, das macht die kleinen Unebenheiten."
„Und du hast die alle gemalt? Mann, du bist ein Künstler!"
„Geht so. Ich bin noch nicht zufrieden. Das Blau ist noch zu hell, siehst du?"
Die Mutter ruft, dass Essenszeit sei. Die Jungs verabreden sich für den nächsten Samstag.
Als sie sich bei der Wohnungstür verabschieden, kommt gerade Benni die Treppe hoch.
„Hey! Was machst denn du hier?", fragt er Ingo.
„Adam hat mir hochinteressante Bäume gezeigt. Und seine Aquarelle!"
„Oh, schade, dass ich nicht dabei war. Macht ihr das wieder?"
Ingo schaut nach Adam. Der bewegt sich nicht.
„Ja, möglich", sagt Ingo.
„Dann komme ich mit!"
„Okay, wir sagen es dir!"
Ingo winkt nochmals nach Adam und verschwindet.
„Wir!, denkt Adam. „Ingo sagte Wir!
Es gefällt ihm, dass Ingo eine Art Freundschaft mit ihm begonnen hat. Er hat noch nie einen echten Freund gehabt. Ingos zupackende Art tut ihm gut. Er freut sich riesig auf den nächsten Samstag.
Ingo sagt Benni in der Schule, dass sie am Samstag losziehen. So gehen sie zu dritt. Benni hat eine Trillerpfeife bei sich und einen lustigen Hut auf dem Kopf. Die Pfeife lässt er ab und zu lärmen. Das ärgert Adam, aber er lässt es sich nicht anmerken. Er führt sie zu neuen interessanten Bäumen in der Stadt. Blumen gibt es in dieser Jahreszeit nur wenige. Sie machen einen Rundgang durch den botanischen Garten.
Benni jubelt, als sie auf einer Parkbank drei Mädchen entdecken. Obwohl dort kaum Platz ist, will Benni sich zu ihnen setzen. Ingo und Adam schauen sich an und teilen ihren Ärger. „Komm, ruft Ingo. „Dafür haben wir keine Zeit!
„Sind dir die toten Bäume wichtiger als lebendige …"
„Bäume sind gar nicht tot, Dummkopf!", weist ihn Ingo zurecht.
Bennis Geschwätz passt gar nicht zu der Stimmung zwischen Ingo und Adam. Es nervt. Schon ziemlich früh kehren sie zurück. Als Benni sich entfernt, bleiben Ingo und Adam noch beisammen.
„Schade, das machen wir nie wieder, nicht wahr?", sagt Ingo.
„Nein. Mit dir allein ist es angenehmer."
„Finde ich auch. Soll ich noch zu dir mitkommen?"
„Ja, hast du noch Zeit?"
„Meine Mutter kommt heute erst spät nach Hause", sagt Ingo.
„Meine Mutter übrigens auch."
„Dann haben wir die ganze Bude für uns allein?", will Ingo wissen.
Sie gehen die Treppe hoch.
„Hast du noch Geschwister?", fragt Ingo, als sie die Wohnung betreten.
„Ich habe eine Schwester, aber die kommt auch erst später."
„Ist sie hübsch?", fragt Ingo lachend.
„Eh, ja, ordentlich. Sie hat einen Freund."
„Ist sie älter als du?"
„Ja, zwei Jahre."
„Wenn sie so hübsch ist wie du, ist sie sehr hübsch!"
„Aha! Und du, hast du …?"