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29. Januar 2010: Das Ende der Welt, wie wir sie kannten
29. Januar 2010: Das Ende der Welt, wie wir sie kannten
29. Januar 2010: Das Ende der Welt, wie wir sie kannten
eBook326 Seiten4 Stunden

29. Januar 2010: Das Ende der Welt, wie wir sie kannten

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Über dieses E-Book

Ende September 2008 verwandelt sich die Finanzkrise in die schlimmste Wirtschaftkrise seit Menschengedenken. Ein Jahr später wird diese Krise zum scheinbar unüberwindbaren gesellschaftlichen Problem auf der ganzen Erde.

Als am 29. Januar 2010 weltweit massive Aufstände ausbrechen und Abermillionen Menschen dabei sterben, entkommt Kim Leitner, Tochter eines deutsch-amerikanischen Investmentbankers und einer amerikanischen Schauspielerin, nur durch Zufall der Katastrophe.

Sie verschanzt sich in einer einsamen Berghütte und überlebt so das Massaker. In der Zwischenzeit übernehmen fremde Mächte die Kontrolle über die Welt und verändern diese vollkommen. Ohne es zu wollen, spielt Kim dabei bald eine tragende Rolle...
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum29. Nov. 2012
ISBN9783844240146
29. Januar 2010: Das Ende der Welt, wie wir sie kannten

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    Buchvorschau

    29. Januar 2010 - Pier Becker

    Impressum:

    29. Januar 2010

    Pier L. Becker

    Copyright: © 2012 Pier L. Becker

    published by: epubli GmbH, Berlin

    www.epubli.de

    ISBN 978-3-8442-4014-6

    Das Buch:

    Ende September 2008 verwandelt sich die Finanzkrise in die schlimmste Wirtschaftkrise seit Menschengedenken. Ein Jahr später wird diese Krise zum scheinbar unüberwindbaren gesellschaftlichen Problem auf der ganzen Erde.

    Als am 29. Januar 2010 weltweit massive Aufstände ausbrechen und Abermillionen Menschen dabei sterben, entkommt Kim Leitner, Tochter eines deutsch-amerikanischen Investmentbankers und einer amerikanischen Schauspielerin, nur durch Zufall der Katastrophe.

    Sie verschanzt sich in einer einsamen Berghütte und überlebt so das Massaker. In der Zwischenzeit übernehmen fremde Mächte die Kontrolle über die Welt und verändern diese vollkommen. Ohne es zu wollen, spielt Kim dabei bald eine tragende Rolle……

    Der Autor:

    Pier L. Becker, geboren im Juni 1969 nahe Venedig als Sohn eines deutschen Lehrers und einer italienschen Fremdsprachenkorrespondentin, wuchs mehrsprachig in Deutschland auf und arbeitete fast zwei Jahrzehnte lang für mehrere internationale Großbanken in Deutschland, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Russland, erst als leitender Angestellter und dann als selbständiger Berater, bevor er sich Ende 2008 entschloss, sein Hobby zum Nebenberuf zu machen und zusätzlich Schriftsteller zu werden.

    Er lebt seit Anfang 2003 in Moskau.

    Der Roman ‚29. Januar 2010’ ist sein Erstlingswerk.

    Meinem Opa Piero, ein wahrer Visionär,

    am 9. September 1992 mit erst

    neunundfünfzig Jahren viel zu früh verstorben

    1

    Davos, 30. Januar 2010

    Sie kamen in der Nacht und metzelten jeden nieder, scheinbar wahllos.

    Es war 03.07 Uhr morgens als Ben Leitner die Geräusche des ankommenden Mobs vernahm. Erst weit weg, dann immer näher. Ben richtete sich in seinem Bett auf, schaltete die Nachttischlampe ein und schaute auf seine Uhr. Er blickte, noch etwas benommen, nach links zu seiner Frau Veronica hinüber, die sich ebenfalls gerade die Augen rieb und noch verschlafen um sich schaute.

    Wie schön sie doch immer noch war mit ihren dreiundvierzig Jahren. Ihr naturdunkles Haar war längst nicht mehr so lang wie früher, als sie, der Hollywoodstar noch überall im Rampenlicht gestanden war. Damals hatten sie sich bei ihrer Oscarverleihung kennen gelernt.

    Er, Benjamin Simon Leitner, der etwas holzig und schüchtern wirkende Investmentbanker deutsch-jüdischer Herkunft mit Jura-Abschluss in Harvard, und sie, Veronica Irene Collins, die junge, strahlende amerikanische Schauspielerin, groß und schlank gewachsen mit wunderschönen, großen, grünen Augen, die mal tief und forschend in ihn eindrangen, mal verträumt durch ihn hindurchschauten. Mit ihrer Ausstrahlung, ihrer natürlichen Freundlichkeit und ihrem Duft nach Jasminblüten hatte sie sämtliche Herzen im Handumdrehen erobert, auch das seine. Für immer.

    Sie war heute noch fit und schlank, ganz im Gegensatz zu ihm, der es einfach nicht mehr schaffte, sein Idealgewicht zu halten, mit seinen siebenundvierzig Jahren. Seit er vor fünf Jahren Vorstandsvorsitzender seines Bankinstituts geworden war, hatte er täglich höchstens noch fünfzehn Minuten Zeit für seinen Morgensport. Den gönnte er sich zwar, aber verglichen mit seiner aktiven Zeit als Tennis- und Polospieler, war die Viertelstunde Gymnastik am Tag doch eher unbedeutend.

    Ben und Veronica waren zusammen durchs Leben gegangen, fast zwei Jahrzehnte lang. Er war die Karriereleiter empor bis zur Spitze einer der größten Banken der Welt geklettert. Veronica war der Schauspielerei bis zuletzt treu geblieben, obwohl sie in den letzten Jahren eher die Bühne bevorzugte. Sie sagte stets, das Theater sei echter, lebendiger und daher für eine Schauspielerin interessanter und herausfordernder, wenn auch um einiges weniger lukrativ als Hollywood. Geld spielte in der Familie Leitner ohnehin keine Rolle. Es war immer schon vorhanden gewesen und daher eine Selbstverständlichkeit. Es war niemals Gegenstand von Gesprächen zu Tisch oder gar Entscheidungsgrundlage in wichtigen Fragen gewesen. Die Leitners waren eine typische, erfolgreiche Familie im Amerika der freien Wirtschaft, wo Fleiß, harte Arbeit, Tugendhaftigkeit, Disziplin und hier und da etwas Glück zu Wohlstand, Anerkennung und einem erfüllten Leben führten.

    Ein anderes Dasein hatten beide, im Gegensatz zu ihren Eltern früher, nie kennen gelernt, genauso wenig wie ihre einzige Tochter Kimberly. Sie hatte an einem sonnigen Samstagmittag, am 12. Februar 1994 das Licht der Welt erblickt und war ihr Ein und Alles.

    „Was ist da los?" fragte Veronica, immer noch verschlafen.

    „Keine Ahnung!" sagte Ben. Jedenfalls klang das nicht nach einem Haufen Politikern, Bankern und anderen Wirtschaftskapitänen, die nach einem deftigen, nächtlichen Umtrunk so langsam das Bett in ihrer Luxussuite im Schweizer Fünf-Sterne-Kongresshotel fanden. Aber das sagte Ben Veronica nicht, denn, was er da zu hören glaubte, machte ihm große Angst.

    Plötzlich vernahm er schrille Schreie von Frauen, die wie zu Tode erschreckt klangen. Diese Schreie vermischten sich mit anderen furchterregenden Geräuschen, die so klangen, als kämen sie bereits vom Zimmer nebenan.

    Ben wollte gerade die Rezeption unten anrufen, als die Tür zu ihrer Suite mit einem ohrenbetäubenden Schlag aufsprang. Herein stürmten mehrere Gestalten, fast alle bewaffnet, entweder mit Pistolen, Gewehren oder scharfen, axtähnlichen Gegenständen. Alle schrieen, manche waren schmutzig, drei von Ihnen sogar in Uniformen. Als letztes folgten noch zwei rabenschwarze, lauthals bellende Dobermänner ins teure Hotelzimmer und blieben auf drei Meter Abstand vom Bett stehen.

    Veronica wurde als Erste von zwei Männern mittleren Alters aus dem Bett gezerrt. Der eine sah aus wie ein Fabrikarbeiter in einem Blaumann. Er war ungefähr 1,75 Meter groß, hatte ein Gewehr umgeschnallt und ergriff sofort mit beiden Armen Veronica, die vehement versuchte, sich zu wehren, resolut, aber ohne zu schreien. Der andere war etwa gleich groß, trug eine Uniform der Schweizer Kantonalpolizei und hielt seine Dienstwaffe in der linken Hand, während er mit der rechten versuchte, Veronica zu bändigen.

    Ben wollte gerade aufspringen, um seiner Frau zu helfen, als er von zwei weiteren Männern, wesentlich größer, jünger und stärker als die anderen beiden, und einer äußerst kräftigen Frau gepackt, aufs Bett zurückgeworfen und dort schmerzhaft festgehalten wurde. Einer der jungen Männer gehörte der hoteleigenen Wachfirma an, war durchtrainiert, wog um die fünfundneunzig Kilogramm und führte ebenfalls seine Dienstwaffe mit sich, eine Heckler & Koch, wie Ben jetzt erkannte. Der andere war auch sehr groß, allerdings unbewaffnet, sehr gepflegt und steckte in einem Anzug und Hemd von Brioni mit einer typischen orangefarbenen Krawatte von Hermes. Irgendwo hatte Ben ihn schon gesehen. Ja richtig, war er nicht die rechte Hand des Vorstandvorsitzenden einer der größten Banken Frankreichs? Die Frau war im Gesicht entsetzlich entstellt, Mitte Dreißig, ungewöhnlich fit und steckte in einem Kampfanzug irgendeiner regulären Armee. Sie war bis an die Zähne bewaffnet, unter anderem mit einer Axt, hatte die Abzeichen eines Oberst auf ihren Schultern und schien die Anführerin dieser brutalen Meute zu sein.

    „Wer sind Sie und was wollen Sie?" rief Ben gereizt.

    „Weißt du das nicht? antwortete die Frau. „Ich bin Zafira, die Rächerin. Wir sind hier um ein für alle Male all diejenigen zu bestrafen, die seit Jahrzehnten ihr Volk ausnutzen und die Welt an den Rand des Abgrundes gebracht haben. Wir werden nicht länger warten, bis ihr alles vollends zerstört und es kein ‚Zurück’ mehr gibt. Wir werden ab jetzt sagen, wo es lang geht!

    Ben konnte nicht glauben, was er da sah und hörte. Was hatte das alles zu bedeuten? Schlief er noch und hatte einen bösen Traum? Oder war es den immer zahlreicheren Demonstranten überall tatsächlich in den letzten Wochen gelungen, sich zu organisieren und die Sicherheitstruppen in Davos zu infiltrieren? Und was würde jetzt aus der Konferenz werden? Sie sollte doch die große Trendwende sein, nach der sich weltweit endlich alles zum Besseren wenden würde. Verzweiflung packte ihn. Ben konnte nicht zulassen, dass diese Wilden den Wirtschaftgipfel sabotierten. Er war viel zu wichtig für die Geschicke des gesamten Planeten. Aber, was sollte er tun? Was taten alle anderen Kongressteilnehmer gerade?

    Er sinnierte noch über das Schicksal des Gipfels, als er fassungslos hörte, wie die hässliche Frau den beiden älteren Männern zurief, sie sollten mit Veronica machen, was sie wollten, bevor sie sie töteten. Dann schwang sie ihre Axt brutal auf Ben herunter. Es wurde um ihn für immer dunkel.

    2

    Moskau, 21. Juni 2029

    Kim wachte mitten in der Nacht schweißgebadet auf und brauchte erst einmal ein paar Sekunden, um sich zu orientieren.

    Sie hatte wieder diesen schrecklichen Albtraum gehabt, wie so oft in den letzten beinahe zwei Jahrzehnten, seit ihre Eltern damals so grausam umgekommen waren. Obwohl sie seitdem immer wieder von den Vorfällen in jener Nacht mit allen Details träumte, war Kim selbst nicht dabei gewesen, was sie sich immer und immer wieder vorwarf. Aber sie hätte sowieso nicht viel ausrichten können, damals, als die Welt sich praktisch über Nacht für immer verändert hatte. Alles, was Kimberly Veronica Leitner, einzige Tochter des erfolgreichen Bankiers Benjamin Leitner und seiner Frau Veronica, der großartigen Schauspielerin, jemals gekannt hatte, hatte es nicht mehr gegeben, einfach so, über Nacht.

    Kim erinnerte sich jetzt noch mit Tränen in den Augen:

    Sie hatte damals wenig Lust auf den jährlichen Weltwirtschaftsgipfel in Davos. Sie war schon fast sechzehn und hatte das ganze Spektakel bereits ein paar Mal erlebt. Sie verabscheute die zahllosen abendlichen Galaveranstaltungen genauso wie ihre Teilnehmer, die stets so freundlich und zuvorkommend taten, um einem bei der erstbesten Gelegenheit gleich ein paar Messer in den Rücken zu rammen.

    Seit Kindesbeinen musste Kim als brave Bankertochter an solchen Veranstaltungen teilnehmen. Noch schlimmer als deren Eltern waren die Nachkömmlinge der Teilnehmer dieser Konferenzen, egal in welchem Alter sie auch waren. Die meisten waren sehr verwöhnt oder völlig verblödet, oft auch beides zusammen. Nur wenige konnten sich in Kims Augen dieser Einschätzung mit Recht entziehen. Nicht auszuhalten waren die endlosen Stunden, in denen alle Kinder und Jugendliche in mehreren Gruppen ungefähr Gleichaltriger unterhalten wurden, während ihre Eltern die Geschicke der Weltwirtschaft lenkten.

    Fast noch unerträglicher waren die vielen Events, die in Hollywood oder auch anderen Großstädten weltweit zu Ehren von berühmten Schauspielern, wie ihre Mom, gehalten wurden. Die zahllosen Preisverleihungen, PR-Termine und Autogrammstunden hätten eigentlich für ihre Mutter irgendwann sehr ermüdend sein müssen. Die wenigen Male, an denen Kim mit dabei gewesen war, hatten sich für sie dermaßen in die Länge gezogen, dass sie sich oft einfach zwischendurch abgeseilt hatte, was niemandem außer ihrer Mom wirklich aufgefallen war. Veronica hingegen liebte diese Aufmerksamkeit und wurde derer niemals müde. Wie unterschiedlich Mutter und Tochter in diesem Punkt doch waren.

    Überhaupt hatte Kim Schwierigkeiten mit ihrem elitären Umfeld. Seit der fünften Klasse besuchte sie eines der besten Internate in der deutschsprachigen Schweiz, das sich in einem riesigen, völlig renovierten Schloss an einem wunderschönen See befand. Sie war eine sehr gute Schülerin und fiel sehr selten unangenehm auf. Sie beherrschte mit vierzehn außer Amerikanisch noch drei Fremdsprachen und es sollten später noch ein oder zwei weitere dazukommen. Kim war genauso schön und einnehmend wie ihre Mutter und hatte die Scharfsinnigkeit und Intelligenz ihres Vaters geerbt. Sie hatte die gleichen grünen Augen und das lange, glatte dunkelbraune Haar ihrer Mutter und war mit ihren 1,78 Meter bereits mit sechzehn schon ein wenig größer als Veronica.

    Allerdings war sie innerlich und insgeheim wesentlich rebellischer als es ihre Eltern jemals gewesen waren. Einiges davon konnte man sicher ihrer Jugend zuschreiben, aber vieles davon sollte auch später noch eine große Rolle in ihrem Leben spielen. Trotz allem hatte sie genug Disziplin und das Ziel, in zwei Jahren ihr Abitur in der Schweiz mit Bestnote zu bestehen.

    Anders als ihr Vater Ben, der Tennis und Polo liebte und stets ein Gentlemen war, bevorzugte Kim fernöstliche Kampfsportarten, vor allem Jujitsu, in ihren Augen die Königin der Disziplinen, vereinte sie doch gleich mehrere der diversen japanischen Verteidigungskünste. Und sie kletterte gern am nackten, steilen Hang, allerdings mit voller Montur. Ihr Vater hatte sie einst dafür begeistert und begleitete sie manchmal immer noch bei diesen luftigen Abenteuern.

    Insgesamt konnte man Kim als echte Einzelgängerin betrachten, der es immer nur dann, wenn es notwendig war, für eine Zeit gelang, mit ihrem privilegierten sozialen Umfeld zu verschmelzen, ohne den anderen großartig durch ihre Andersartigkeit aufzufallen. Besonders verabscheute sie Kontrolle jeglicher Art, was sie in den Augen ihrer Mutter gleich zu einer Liberalen allerhöchster Prägung machte.

    Wahrscheinlich war es sowieso nur Veronica wirklich aufgefallen, wie es in ihr manchmal rumorte, aber sie hatten niemals darüber gesprochen. Jujitsu und ihre Bücher wurden als Jugendmarotte abgestempelt und geduldet. Kim spielte ja auch das obligatorische Tennis und das nicht einmal schlecht. Sie hatte sogar ein paar Jugendturniere gewonnen und hätte ohne weiteres mehr aus ihrem Talent mit dem Schläger und dem gelben Ball machen können.

    Aber die fernöstlichen Philosophien und die dazugehörige Lebensart waren ihr wichtiger, denn sie identifizierte sich vollends damit, wenngleich sie bei ihrer Ernährung eher amerikanisch, bestenfalls westeuropäisch zu Werke ging.

    Schon mit elf hatte Kim mit Begeisterung und großem Interesse Konfuzius gelesen, eher ungewöhnlich für eine amerikanische Teenagerin deutsch-jüdischer Abstammung aus erlesenem Elternhaus. Ungefähr im gleichen Alter hatte sie auch mit Jujitsu angefangen, und mit sechzehn dabei bereits den braunen Gurt erlangt. Trotzdem verzehrte sie jede Woche zwei oder drei Hamburger und manchmal auch Schlimmeres mühelos, ohne ihrem durchtrainierten neunundfünfzig Kilogramm jemals auch nur ein weiteres Gramm hinzuzufügen.

    „Mom, darf ich das Wochenende Ende Januar in unserer Berghütte verbringen? hatte Kim ein paar Wochen vor dem Weltwirtschaftsgipfel, während der Weihnachtsferien 2009/2010 in ihrer Stadtvilla in New York, gefragt. „Ich war schon so oft in Davos dabei und möchte diesmal nach den Januarklausuren einfach nur ein wenig entspannen, schlafen, lesen und die frische Luft auf dreitausenddreihundert Meter Höhe genießen. Das wird mir sicherlich mehr gut tun, als der ganze Rauch, das viele späte und ungesunde Essen und vor allem die vielen ungesunden alten Männer in Davos, hatte sie hinzugefügt, aber so leise, dass es ihr Vater nicht mitbekommen hatte.

    Und so war es gekommen, dass die fast sechzehnjährige Kimberly Veronica Leitner endlich ihr erstes langes Wochenende ganz alleine in ihrer geliebten Berghütte namens ‚Almost Heaven’ oberhalb von St. Moritz, im wunderschönen Engadin, verbringen dufte. Dort gab es einen Internetanschluss, tonnenweise Bücher aller Couleur und noch mehr köstliche Verpflegung und Getränke direkt aus Dosen und verschiedenen Verpackungen, die in Notfällen drei Erwachsene ein bis zwei Jahre lang ernähren konnten.

    Aber noch besser war die absolute Abgeschiedenheit der Hütte. Ein Hubschrauber brachte die Hüttengäste hinauf und, war man nicht Reinhold Messner persönlich, so benötigte man im Sommer mehrere Stunden für einen Abstieg mit voller Bergausrüstung, bevor auch nur die erste Menschenseele weiter unten in Sicht kommen würde.

    Kim hatte ihr Einsiedlergen wahrscheinlich von ihrem Vater geerbt. Mit Sicherheit konnte sie das aber nicht sagen, denn er sprach niemals über solche Dinge. Jedenfalls hatte Ben das Land und die Hütte darauf noch vor ihrer Geburt erworben und im Laufe der Jahre nach und nach sündhaft teuer, ausschließlich mit den edelsten Hölzern renovieren und ausbauen lassen. Außen war der Bau der Umwelt farblich angepasst, aber innen herrschte die helle Farbe von Naturholz vor. In der Hütte gab es vier Schlafzimmer, drei Vollbäder, eine extragroße Küche in amerikanischem Stil, eine Bibliothek, eine große Vorratskammer, einen Sportsaal mit einem Dutzend Fitnessgeräten, eine große Sauna und einen kleinen Pool, sowie ein Wohnzimmer, das alleine schon größer war, als die meisten Hütten insgesamt weiter unten. Der Begriff ‚Hütte’ war bei sechshundert Quadratmetern Wohnfläche eigentlich längst nicht mehr angebracht.

    Aber das Beste war, dass das Anwesen von unten nicht zu sehen war. Nur wenige Einheimische wussten überhaupt, dass es dort oben auf dreitausenddreihundert Meter Höhe kurz unter dem Gipfel des Piz Julier, perfekt und unauffällig zwischen die Felsen gebaut, diese Berghütte gab.

    Kim erinnerte sich jetzt, knapp zwanzig Jahre später noch sehr gut daran, dass sie sich damals ohne weiteres hatte vorstellen können, ihr halbes Leben in ‚Almost Heaven’ zu verbringen und beinahe war es auch so gekommen.

    3

    Piz Julier, 29. Januar 2010

    Der Helikopter hatte Kim kurz nach vierzehn Uhr direkt von der Schule abgeholt, keine Ungewöhnlichkeit in ihrem Internat, das zu diesem Zweck gleich zwei Hubschrauberlandeplätze angelegt hatte.

    Jetzt flogen sie auf zweitausendfünfhundert Meter Höhe durch die Täler auf den Engadin zu. Kim bewunderte die schneebedeckten Berge und freute sich ungemein auf die drei Tage ganz alleine in der Berghütte. Sie war seit dem Spätsommer nicht mehr dort oben gewesen und vermisste die Einsamkeit der Engadiner Bergwelt.

    Die letzten Tage waren sehr anstrengend gewesen, zum einen die Vielzahl an Klausuren kurz vor dem Halbjahreszeugnis der zehnten Klasse, zum anderen die vielen übernervösen und zickigen Mitschüler, die es mal wieder bis zur letzten Sekunde hinausgeschoben hatten, sich auf die Arbeiten vorzubereiten, und dann am Prüfungsmorgen jeden, der sich nicht rechtzeitig retten konnte, mit unzähligen dummen Fragen belästigten. Der übliche Stress also, und die zehnte Klasse hatte es wirklich in sich, da jeder für die Oberstufe gut gewappnet dastehen wollte. Daher waren die Halbjahreszeugnisse hier um vieles wichtiger als in den Stufen darunter.

    Kim bemerkte, dass der Helikopter erst sehr steil anstieg und sich anschließend senkte. Dann sah sie auch schon ‚Almost Heaven’ ein paar Dutzend Meter unter ihnen. Von oben konnte man den Bau zwar besser erkennen als von unten, trotzdem hatte es der Architekt erstaunlich gut hinbekommen, die Hütte so unauffällig wie möglich in die Berglandschaft zu integrieren. Ein erstaunlicher Anblick, jedes Mal.

    „Wir sind da, sagte Peter, der Pilot an Bord. Er hatte, wie immer, bereits am Vortag dafür gesorgt, dass das gesamte Gebäude unter ihnen für Kim lauschig warm sein würde. „Willst du noch ein paar Runden über den Berg drehen und dir die Gegend anschauen, Kimberly? fragte er auf Schweizerdeutsch. Er wusste nach zehn Jahren als Privatpilot der Familie sehr genau, wie sehr Kim die Umgebung hier mochte.

    „Nein danke, Peter, lieb von Ihnen, aber gehen Sie ruhig schon runter", antwortete Kim in akzentfreiem Hochdeutsch. Sie war immer schon der Meinung gewesen, dass Dialekte, selbst, wenn sie den Status als offizielle Sprache hatten, nicht mehr zeitgemäß waren. Die Menschheit liebte es eben, sich das Leben zu verkomplizieren. Direkte, einfache und effiziente Kommunikation hielt Kim für den wichtigsten Eckpfeiler des gesellschaftlichen Miteinanders, sogar noch vor Respekt und Liebe, die ohne effektive Kommunikation gar nicht erst aufkommen konnten. Daher verstand sie es absolut nicht, warum viele Völker immer noch versuchten, ihre altertümlichen Dialekte und Sprachen zu kultivieren, sodass selbst ihre Landsleute aus anderen Regionen sie oft nicht verstanden.

    Kim verabschiedete sich nach der Landung von Peter, den sie immer schon sehr gemocht hatte, schnappte sich ihre kleine Louis-Vuitton-Reisetasche und wandte sich ‚Almost Heaven’ zu, während der Hubschrauber rasch wieder abhob und am Horizont verschwand.

    Einmal im Haus, griff sie sich sofort eine Tüte Chips und eine Dose Cola und sprang direkt über die Lehne auf eines der drei bequemen Ledersofas mitten im Wohnzimmer. Da lag noch ein Buch von Dante, das sie im vorigen Sommer angefangen und nicht ganz fertig gelesen hatte. Es war die ‚Hölle’, der erste und wohl auch spannendste Teil seiner weltbekannten ‚Göttlichen Komödie’.

    Um 18.36 Uhr rief ihre Mutter auf dem Handy an.

    „Darling, bist du gut angekommen? Hast du heute schon die Nachrichten gehört?"

    „Ja, mir geht es gut und nein, habe ich nicht, warum?" antwortete Kim. Sie fand, dass Nachrichten allgemein überbewertet wurden, waren sie morgen doch sowieso schon Schnee von gestern. Allerdings klang ihre Mom sehr aufgeregt, was aber auch nicht unbedingt eine Seltenheit war.

    „Es hat überall auf der Welt Aufstände, Revolutionen und sogar Putschversuche gegeben. In Europa, Amerika, Afrika, Asien und auch in Australien. Den ganzen Tag geht das nun schon so und wirkt fast schon konzertiert. Es gibt weltweit abertausende von Todesopfern. Ich bin so froh, dass du da oben jetzt in Sicherheit bist, denn selbst in der Schweiz gab es wohl schon Vorfälle. Die Rede ist von der größten Tragödie seit dem 2. Weltkrieg. Dein Vater kommt aus Krisenmeetings gar nicht mehr raus. Langsam machen wir uns wirklich Sorgen, was noch alles passieren kann."

    „Ihr seit dort doch bestimmt auch in Sicherheit, oder? Es gibt wohl keinen sichereren Ort auf der Welt als Davos Ende Januar, richtig?" fragte Kim eher rhetorisch als wirklich besorgt. Dass die Welt am Abgrund war, wunderte sie eher weniger. Seit Herbst 2008, als die Finanzkrise sich in die deftigste Wirtschaftkrise seit Menschengedenken verwandelt hatte, war nichts mehr undenkbar. 2009 war dann alles nur noch schlimmer gekommen. Also war ein richtig großer Knall eigentlich schon längst zu erwarten gewesen. Der Kapitalismus auf Pump, vom kleinen Bürger angefangen bis hin zu all den großen Staaten, musste ja irgendwann an die Wand fahren. Als Schuldige und Helfer dabei sparte sie ihre eigene Familie bestimmt nicht aus, auch wenn sie es schon lange aufgegeben hatte, ihre Eltern damit zu konfrontieren. Es brachte sowieso nichts außer Stress im glücklichen Heim.

    Letztendlich war Kim ja sehr froh darüber, das Privileg zu haben, ihr jetziges Leben zu führen und fast immer selbst die Wahl zu haben, welche Entscheidungen sie traf. Aber sie glaubte nicht an unendliches Wachstum. Diese Weisheit hatte Asien dem Westen voraus. Und sie war auch kein Fan von übermäßigen Schulden. Außerdem fand sie, dass man in dieser Welt den Wohlstand auf jeden Fall besser umverteilen musste. Wie das aber zu machen war, wusste sie allerdings selbst nicht.

    „Ja, mach dir um uns keine Sorgen. Entspanne dich ein bisschen. Ich muss jetzt auflegen, es gibt gleich eine große Bridgerunde für alle Begleitpersonen vor dem Galadinner. Ich hoffe, dein Vater schafft es noch zum Abendessen. Wir telefonieren dann morgen früh. Küsschen, Darling", entgegnete ihre Mom nun wieder im üblichen, etwas abgelenkten Ton.

    „Mom, ich habe euch lieb." Kim trennte die Verbindung.

    Anschließend entschloss sie sich, schon mal ihr Sony Notebook einzuschalten. Sie wollte aber noch ein bisschen an den Fitnessgeräten zu trainieren, fünfundvierzig Minuten auf dem Laufband joggen und sich danach ein wenig in die Sauna legen, bevor sie im Internet nachlesen würde, was ihre Mom da eigentlich gemeint hatte. Nach der abschließenden kalten Dusche döste sie allerdings auf dem Sofa ein und fiel in einen unruhigen Schlaf.

    Das Telefonat am frühen Abend sollte das letzte Mal sein, dass Kim mit ihrer Mutter gesprochen hatte.

    4

    Piz Julier, 30. Januar 2010

    Kim wachte um kurz nach elf Uhr auf. Sie hatte nicht gut geschlafen und einen nimmer endenden Albtraum gehabt, in dem überall Menschen auf brutalste Weise

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