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Der Schatten von Tulum
Der Schatten von Tulum
Der Schatten von Tulum
eBook340 Seiten4 Stunden

Der Schatten von Tulum

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Über dieses E-Book

Jake Friedman hat Karriere gemacht. Mit Mitte fünfzig gehört er zu den Senior Partnern einer großen Investmentbank an der Wall Street. Ein Deutscher, der es als Spezialist für Finanzgeschäfte mit Mexiko bis in die höchsten Bankenkreise der USA geschafft hat. Als Friedman zu einem wichtigen Termin nach Mexiko City gerufen wird, bei dem es um ein Milliardenprojekt geht, stößt er auf einen brisanten Korruptionsfall. Nur kurz nach dem Termin wird er überwältigt und entführt. Während zunächst alles darauf hindeutet, dass die Tat mit seinem aktuellen Projekt zu tun hat, das er verhindern wollte und das nun ohne seinen Widerstand abgewickelt wird, kommt es zu einer Reihe von rätselhaften Ereignissen. Nach und nach verdichten sich die Hinweise, dass die Gründe für seine Entführung in seiner Vergangenheit liegen könnten. Die Spuren führen zu seinem ersten Aufenthalt in Mexiko vor dreißig Jahren, als er als Student quer durchs Land bis nach Tulum trampte, in das damalige Hippieparadies an der Karibikküste, wo es zu einer folgenschweren Begegnung kam.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum12. Aug. 2021
ISBN9783627023010
Der Schatten von Tulum

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    Buchvorschau

    Der Schatten von Tulum - J. R. Bechtle

    Coverbild

    Der deutschstämmige Investmentbanker Jake Friedman hat in New York geschäftlich und gesellschaftlich Karriere gemacht. Als Spezialist für das Mexikogeschäft wird er zu einer dringlichen Besprechung nach Mexico City gerufen und dort von seinem Gesprächspartner, einem milliardenschweren Unternehmer, mit einem brisanten Betrugsfall konfrontiert. Das Treffen endet in heftigem Streit. Als er nur kurz danach entführt wird, deutet für Friedman alles darauf, dass man verhindern will, dass er den Betrug der amerikanischen Bankaufsicht meldet. Doch kommt es in der Folge zu einer Reihe von rätselhaften Ereignissen: Während Friedman in die undurchdringliche Bergwelt von Chiapas verschleppt wird, verdichten sich die Hinweise, dass die Gründe für seine Entführung weiter zurück liegen. Denn mysteriöse Spuren führen zu seinem ersten Aufenthalt in Mexiko vor dreißig Jahren, als er als junger Mann quer durchs Land bis nach Tulum trampte, in das damalige Hippieparadies an der Karibikküste, wo es zu einer folgenschweren Begegnung kam.

    Ein abenteuerlicher Thriller, angesiedelt im New Yorker Wall-Street-Milieu und an spektakulären Schauplätzen in Lateinamerika. Jake Friedman, erfolgreicher Wall-Street-Banker, wird bei einem Termin in Mexico City entführt. Hat es mit dem dubiosen Milliardenprojekt zu tun, das ohne ihn abgewickelt werden soll? Doch eine andere mysteriöse Spur führt weit in seine Vergangenheit, an den sagenumwobenen Ort Tulum an der karibischen Küste.

    J. R. Bechtle

    DER SCHATTEN VON TULUM

    Roman

    Meinen Kindern

    Jessica und Michael

    Und meinem Freund

    Lorenzo Weisman

    Babe, you’re just a wave, you’re not the water

    Jimmie Dale Gilmore, Butch Hancock

    Freedom is just another word for nothing left to lose

    Janis Joplin, Kris Kristofferson

    Inhalt

    1. – Ungeduldig wartet Jake Friedman …

    2. – Am nächsten Morgen …

    3. – In dem unablässigen Rattern …

    4. – Um ihn ein undurchdringliches …

    5. – Jake versucht vergeblich …

    6. – Sharon hatte sich nie …

    7. – Das Trommeln des Regens …

    8. – Niemals in ihrem Leben hat Sharon …

    9. – Als er am nächsten Morgen …

    10. – Pünktlich hebt die Maschine …

    11. – Eine Woche später sitzt er …

    Danksagung

    1.

    Ungeduldig wartet Jake Friedman seit über einer Stunde auf den Anruf des mexikanischen Finanzministers. Spätestens fünf Uhr, hatte die Sekretärin des Ministers ihm heute Vormittag noch versichert. Unruhig streichen seine Finger über den Schreibtisch. Es ist kurz vor sechs. Seine Partner haben längst das Büro verlassen, nicht ungewöhnlich, er ist meist der Letzte abends in der Firma, wegen der späten Arbeitsgewohnheiten seiner Kunden in Mexiko. Selbst unzuverlässig, was dieser Finanzminister einmal mehr beweist, erwarten sie von ihm, dass er zu jeder Uhrzeit für sie strammsteht. Aber er muss jetzt dringend Schluss machen, um es rechtzeitig vor acht Uhr noch zur Wohltätigkeitsveranstaltung für die Renovierung der Carnegie Hall zu schaffen. Erst ein Konzert des Boston Symphony Orchesters unter seinem Dirigenten Seiji Ozawa, danach das Galadinner im Waldorf Astoria Hotel. Ein gesellschaftlicher Höhepunkt in seinem an wichtigen Ereignissen wahrlich nicht armen New Yorker Leben. Natürlich im Smoking, vorher umziehen muss er sich also auch noch.

    Vor kurzem hat Jake Friedman seinen fünfundfünfzigsten Geburtstag gefeiert. Er ist Seniorpartner seiner Investmentbank. Er hat Glück gehabt, denn viele, mit denen er vor knapp dreißig Jahren hier begonnen hat, haben sich im rauen Alltag der Wall Street aufgerieben. Reich sind sie dennoch geworden, ein hart verdienter Lohn für die brutalen und nie endenden Grabenkämpfe in diesem Geschäft. Aber seit einiger Zeit spürt auch er den Druck, den Atem der aufstrebenden jüngeren Partner in seinem Rücken, denen der Senior bei ihrem ehrgeizigen Drang nach oben im Weg steht.

    Er hat gut verdient, mehr, als er je für möglich gehalten hatte. Allerdings hat er nie zu den ganz großen Verdienern gehört, was an seiner Spezialisierung auf Lateinamerika und insbesondere Mexiko liegt. Wo niemand ihm so leicht etwas vormacht. Aber die wirklich dicken Geschäfte laufen eben in den USA, mit entsprechenden Honoraren, die erst einmal den an diesen Projekten beteiligten Partnern zugutekommen. Dabei ist er damals nach Abschluss des Studiums an der Columbia Business School ohne besonderen Enthusiasmus in das Investmentbanking eingestiegen. Das extrem analytische Finanzgeschäft war nie seine Sache. Umso verbissener hatte er sich von Anfang an bemüht, diese für sein Geschäft so gefährliche Schwäche zu vertuschen.

    Sein Blick streift das auf seinem Schreibtisch aufgestellte silbergerahmte Foto seiner Familie, Sharon und ihre beiden Kinder Alex und Meredith. Das Abbild einer heilen Familie. Vor etwa zehn Jahren aufgenommen. Meredith, damals ein schwieriger Teenager, ist mittlerweile verheiratet, und Alex, sein Sohn, arbeitet heute ebenfalls an der Wall Street. Sharon lächelt in die Kamera: eine gepflegte, elegante Frau, die unverändert bis heute so aussieht wie damals. Dabei weiß er, dass man die kleinen Veränderungen, die sich mit den Jahren einschleichen, nicht wahrnimmt, wenn man gemeinsam durch die Zeit schwimmt und gemeinsam älter wird.

    Er gibt sich einen Ruck und steht von seinem Schreibtisch auf, wirft wie gewohnt einen letzten Blick auf den Kalender: der 25. Februar! Für einen kurzen Augenblick hält er inne: Ist das die Erklärung für die seltsame Unruhe, die er den ganzen Tag über verspürt hat? Vor genau dreißig Jahren, an ebendiesem 25. Februar, hat er Mexiko verlassen. Oder ist vor Mexiko geflohen und gerade noch einmal davongekommen.

    Die Schlange schwarzer Limousinen bewegt sich schleppend die 57th Street hoch. Der Fahrer setzt Jake und Sharon gerade noch rechtzeitig vor der Konzerthalle ab. Alles, was Rang und Namen im gesellschaftlichen Leben von New York hat, ist bei dem Konzert und dem danach stattfindenden festlichen Abendessen anwesend. Keiner kann sich erlauben, bei diesem Ereignis nicht gesehen zu werden. Jake bietet Sharon zuvorkommend den Arm beim Überqueren des Gehsteigs zum Halleneingang. Ihr dunkles Haar fällt weich über den Kragen des schwarzen Pelzmantels.

    Ruckartig hält er an, wäre fast auf den kleinen, silbrig schimmernden Gegenstand auf dem Boden vor ihm getreten. Er hebt ihn auf, unter dem erstaunten Blick Sharons.

    »Nein, nichts Besonderes, aber es hätte ja auch eine Diamantbrosche sein können, so wie das glitzerte.«

    Neugierig geworden, reibt er die kleine Plakette an seinem dunkelblauen Kaschmirmantel blank. Beim Entziffern des Namens stockt ihm der Atem: Zamas Hotel, Tulum, Mexico.

    »Und?« Sharon blickt ihn fragend an.

    »Der Anhänger eines Hotelschlüssels. Ein Hotel in Mexiko.«

    Jake presst die Lippen aufeinander. Er behält die Plakette fest in seiner Hand umschlossen. Tulum ging damals an jenem 25. Februar auch mit unter. Er muss sich beruhigen, hier kein Zeichen zu vermuten, natürlich ist es reiner Zufall. Es fällt ihm dennoch schwer, sich auf die Musik zu konzentrieren. Zudem ist es ein Stück von Elliott Carter, einem Komponisten, zu dem er nie einen rechten Zugang gefunden hat. Eindeutig ein Liebling der Dirigenten und Kritiker, als ob sich bei der Programmgestaltung niemand um das Publikum scherte.

    Abwesend reibt er über die kleine Plakette, drückt sie in seinen Handballen, bis es schmerzt. Er kennt das Zamas Hotel nicht, in Tulum gab es damals keine Hotels. Aber er erinnert sich, Zamas war vor der Ankunft der Spanier im Yucatán der ursprüngliche Maya-Name für die Meeresfestung dort. Seine Gedanken schweifen weiter ab. Das Schicksal lässt sich nicht in die Karten schauen. Letztlich entwickeln sich die Dinge wie von höherer Hand gesteuert. Diese Einsicht hatten ihm damals die Maya im Yucatán vermittelt. Und die Dinge haben sich für ihn extrem gut entwickelt. Vor die Wahl gestellt, würde er heute nichts in seinem Leben ändern, mit nichts und niemandem wollte er tauschen.

    In der Pause unterhalten sich Sharon und Jake mit Bekannten. Man lobt die Musik, das Orchester, den Klang. Als würde jeder außer ihm Elliott Carter verstehen, denkt Jake. Der deutsche Generalkonsul nimmt ihn zur Seite.

    »Ich hoffe, wir sehen dich morgen bei der Aufsichtsratssitzung der Deutsch-Amerikanischen Handelskammer, Hans?«

    Der Generalkonsul ist der Einzige, der ihn in New York mit seinem deutschen Vornamen Hans anspricht, für alle anderen ist er Jake. Jake A. Friedman. Er unterschlägt die Tatsache, dass er ursprünglich bis zu seiner Einbürgerung vor etlichen Jahren Deutscher war. Man hört es ihm auch nicht an, sein Vater, ein Amerikaner, war nach dem Krieg in München hängen geblieben, hat dort eine Deutsche geheiratet und an einem Gymnasium Englisch unterrichtet. Daher auch Friedman mit nur einem N, was in Deutschland natürlich seltsam ankam, in New York dafür umso mehr passte. Geschäftlich verbindet ihn wenig mit Deutschland, trotzdem hat Jake vor ein paar Jahren den Vorsitz im Aufsichtsrat der Handelskammer übernommen. Als erfolgreicher Wall-Street-Banker mit deutscher Herkunft und einem festen Platz in der New Yorker Gesellschaft entsprach er genau dem Wunschprofil für dieses Ehrenamt.

    Während er sich mit dem Generalkonsul unterhält, entdeckt er am anderen Ende des Foyers Jerry Greene, den Managing Direktor seiner Investmentbank, im Gespräch mit dem Chairman der Citibank, gleichzeitig auch Vorsitzender des Verwaltungsrats der Carnegie Hall. Jake vermutet sofort, dass sie über die Übernahme von Bancogran, der Banco Grande Nacional de Mexico, durch die Citibank sprechen. Verdammt, erregt er sich, hier handelt es sich um meinen Deal, ich habe diesen Auftrag persönlich Ricardo Fernandoz, dem Eigentümer von Bancogran, abgerungen, allein auf meine Reputation in Mexiko und meine Kontakte dort geht das Projekt zurück. Jerry Greene ist bei Bancogran überhaupt nicht auf dem Laufenden, und jetzt spielt er sich vor dem Chairman von Citibank damit auf. Impulsiv drängt es ihn zu den beiden hin, gleichzeitig spürt er, dass sie nicht von ihm gestört werden wollen. Dieses plötzliche Gefühl, als sei er doch nicht ganz auf ihrem gesellschaftlichen Niveau, als baue sich eine unsichtbare Wand zwischen ihnen auf.

    Als er sich endlich vom Generalkonsul freimacht, sieht er, wie Isaac Stern zu den beiden hinzutritt. Der weltberühmte Geiger, der sich vor ein paar Jahren in einer Einmanndemonstration der Abbruchkolonne in den Weg gestellt hat und so die Carnegie Hall und ihre Tradition als bedeutendste Konzerthalle New Yorks vor dem Aus rettete. Jetzt fühlt sich Jake erst recht ausgeschlossen, um Mexiko kann es kaum mehr gehen, und Isaac Stern kennt er persönlich nicht. Was, wenn Isaac Stern ihn nach seiner Meinung zu dem gerade gespielten Stück von Elliott Carter befragen würde?

    Nach der Pause steht die Symphonie Fantastique von Berlioz auf dem Programm, eine Glanznummer des Stardirigenten Seiji Osawa. Verstohlen blickt er zu Sharon, die ganz in die Musik versunken ist. Selbstverständlich müssen sie gesellschaftlich hinter niemandem zurückstehen. Und dennoch hat er diese Wand empfunden, eine momentane gesellschaftliche Unsicherheit, er spürt sie immer noch. Eine Wand wie aus Glas, aber eben doch eine Wand.

    Er bemerkt, wie er achtlos mit der Hotelmarke in seiner Hand spielt. So etwas wirft man nicht einfach weg, überlegt er, nach dem langen Weg von der karibischen Küste Yucatáns nach New York. Und dann stößt gerade er auf sie.

    Vor dreißig Jahren lebten in Tulum nur Maya und ein paar Hippies. Seitdem hat sich diese Gegend wie alles an der Maya-Riviera durch riesige Touristikprojekte verändert. Und er, er hatte nie ein Interesse verspürt, noch einmal dorthin zurückzukehren.

    * * *

    Vor zwei Tagen war Hans Friedman in Tucson angekommen. Es war Mitte Januar, und doch roch es hier überall nach Frühling. In Arizona hatte er gleich das Gefühl, dass immer Frühling sein müsse.

    Man hatte ihn versehentlich gegen sieben Uhr morgens geweckt. Mit dem abgestandenen Geschmack des Rotweins vom vorigen Abend im Mund stand er missmutig auf, steckte als Erstes seine schmutzige Wäsche in einen Waschautomaten des Motels, um dann im nächstbesten Diner zu frühstücken. Sobald er mit einem frisch gepressten Orangensaft den Rotweingeschmack weggespült hatte, fühlte er sich wie neugeboren. Er blickte sich übermütig im Spiegel an der Wand gegenüber an. Sein braunes Haar hatte er sich mit einem Lederband aus der Stirn gebunden. Vorne auf dem Band war ein gelb und rot leuchtender Stern eingeprägt. Zwei kunstvoll verdrehte Lederschnüre mit jeweils einem eingearbeiteten Türkis am Ende hingen über seine Schultern. Er hatte das Band einem Navajo in einem Reservat in New Mexico abgekauft. Es bringt dir Glück, hatte der ihm versichert. Glück, das kann ich jetzt brauchen, dachte er, dabei nickte er sich aufmunternd zu.

    Einige Stunden später stand er im Busbahnhof von Tucson. Ein Bus nach Phoenix wurde ausgerufen, dann einer nach New Orleans. Seiner ging um zwölf Uhr fünfzehn nach Nogales. In Nogales überquerte er zu Fuß die Grenze. Viel hatte er sowieso nicht dabei. So wenig Vergangenheit wie möglich. Niemand interessierte sich für sein Visum. Auf der mexikanischen Seite blickte er sich erwartungsvoll um.

    Willkommen in deinem neuen Leben, flüsterte er sich leise zu.

    In der erstbesten Kneipe bestellte er ein Bier. Er fühlte sich unglaublich gut.

    »Und, wo geht’s hin?«, sprach ihn der langhaarige Typ neben ihm an der Bar an.

    »Mal sehen, als Erstes mit dem Bus nach Mexico City.«

    Der andere nickte verständnisvoll. »Hier beginnt für jeden die lange Reise ins Unbekannte. Ich trampe nach Oaxaca, vielleicht treffen wir uns unterwegs wieder. Wie heißt du?«

    »Harry, Harry Simms.«

    Gestern hatte er beschlossen, nicht als Hans Friedman nach Mexiko einzureisen, sondern mit einer neuen Identität. Auf einem überdimensionalen Werbeplakat in Tucson hatte er über dem Bild eines Immobilienmaklers den Namen gelesen. Ein zuverlässiges Gesicht mit positiver Ausstrahlung. Harry Simms gefiel ihm, der Name hatte Hand und Fuß. Jetzt beginnt dein wirkliches Leben, Harry Simms. Alles hängt nun allein von dir ab, du bist niemandem außer dir Rechenschaft schuldig.

    * * *

    Jake wird vom Applaus aufgeschreckt. Berlioz, eines seiner Lieblingsstücke überhaupt, und er war mit seinen Gedanken völlig woanders.

    »Einmalig, diese Aufführung, findest du nicht auch? Niemand kommt bei der Fantastique an Seiji Ozawa heran. Als ob man dieses Stück wie zum ersten Mal hört.«

    Er nickt Sharon zu, was soll er antworten, die Musik war ohne jede Spur an ihm vorbeigeflossen. Die Erinnerung an Mexiko hat etwas in ihm ausgelöst. Ewigkeiten ist es her, lange bevor er Sharon kennengelernt hatte. Aber mit dieser Erinnerung drängt sich ihm auch das Gefühl auf, dass ein Teil der Geschichte von damals unvollendet geblieben ist.

    Nach dem Konzert windet sich die Kolonne schwarzer Limousinen von der Carnegie Hall weiter zum Waldorf Astoria an der Park Avenue. Jake und Sharon kommen gleichzeitig mit dem Chairman der Citibank und seiner Frau beim Hotel an. Der Banker legt freundschaftlich einen Arm um Jakes Schulter, wie um noch besonders zu betonen, dass sie alle zusammengehören, dies hier ihre New Yorker Welt ist. Natürlich kein Wort über Geschäftliches, die Übernahme von Bancogran etwa, das versteht sich von selbst.

    Jerry Greene nimmt Jake später vertrauensvoll beiseite.

    »Unser Freund von der Citibank hat mir in der Pause angeboten, in den Verwaltungsrat der Carnegie Hall einzutreten. Was hältst du davon?«

    Also darum ging es, und deshalb auch Isaac Stern, der in dem Verwaltungsrat schließlich einiges mitzureden hat. Völlig grundlos, seine plötzliche Unsicherheit! Ein Glück, dass er nicht in ihr Gespräch geplatzt ist.

    »Verwaltungsrat von Carnegie, das verlangt viel Zeit, Jerry. In der Firma brauchen wir dich schließlich auch hin und wieder. Und kann dich deine Frau denn entbehren?«

    Candide Greene ist fünfundzwanzig Jahre jünger als Jerry, eine über Nacht und sicherlich nicht ohne seinen Einfluss bekannt gewordene Modeschöpferin, mit der er mit sechzig seine zweite Familie gegründet hat. Jake Friedman hat sich nie an das Bild des alternden Investmentbankers mit seinem dreijährigen Sohn gewöhnt, ein gewaltig riskanter zweiter Lebenslauf. Und es vergeht kaum ein Tag, an dem Candide nicht in den Klatschspalten der Zeitungen und Zeitschriften auftaucht. Gut aussehen tut sie ja, gesteht sich Jake unumwunden ein. Er beobachtet, wie Sharon, die aus einer alteingesessenen New Yorker Familie stammt, sich angeregt mit Candide unterhält, ohne jede erkennbare Voreingenommenheit. Im Stillen bewundert er seine Frau, sie hat die Klasse, deren Fehlen Candide durch ihr schrilles Auftreten wettzumachen sucht.

    Am nächsten Morgen ruft Jake sofort das Projektteam zusammen. Aufgerüttelt durch den Schock in der Konzertpause gestern, als er befürchtete, Jerry Greene und der Chairman der Citibank wollten ihn aus dem Bancogran-Projekt herausdrücken, ist er mehr denn je entschlossen, die Übernahme der mexikanischen Bank nun unverzüglich zum Abschluss zu bringen. Seit über einer Woche befassen sich sein Team junger Analysten und Mitarbeiter der Finanzabteilung der mexikanischen Bank ausschließlich mit der Zusammenstellung der Firmendaten von Bancogran. Ihr Ziel ist, Bancogran für einen Übernahmekandidaten transparent zu machen. Und für Jakes Investmentbank ist die sorgfältige Erarbeitung der Firmendetails unerlässlich, um den Wert von Bancogran realistisch festzulegen. Strategisch bestehen für ihn zum weiteren Ablauf des Projekts keine Fragen, für niemanden macht die Übernahme mehr Sinn als für die Citibank. Aber erst wenn die Firmeninformationen vollständig erfasst und in ihrer endgültigen Form durch die Eigentümer von Bancogran abgesegnet sind, können sie in die Endverhandlungen einsteigen. Zunehmend irritiert ihn der schleppende Fortgang.

    Für seine Unruhe gibt es gute Gründe. Der Kaufpreis hängt letztlich entscheidend vom richtigen Zeitpunkt ab. Der Zeitpunkt für den Verkauf der größten mexikanischen Privatbank schien ideal gewählt: Die mexikanische Wirtschaft zeigte den seit langem erhofften Aufschwung aus den für das Land erheblichen Vorteilen von NAFTA, dem Freihandelsabkommen mit Nordamerika. Eine wachsende Zuversicht herrschte in Mexiko nach dem Wechsel der Regierungsparteien und der Wahl von Vicente Fox zum neuen Präsidenten, allem voran die Hoffnung, nunmehr die Politik und Verwaltung gleichermaßen zersetzende Korruption knacken zu können. Und zwischen Präsident Fox und Präsident Bush entwickelte sich schon bei ihrem ersten Treffen spontan ein gutes persönliches Einvernehmen, um die dornigen Dauerthemen zwischen den beiden Nachbarn – Handelserweiterung, rechtliche Stellung der mexikanischen Immigranten in den USA und Bekämpfung des Drogenhandels – in den Griff zu bekommen.

    Aber fast über Nacht zeigten sich Risse in dem positiven Bild von Mexiko. Es scheint nur mehr eine Frage der Zeit, bis die Wirtschaftsabkühlung in den USA auch auf Mexiko überspringt, was unmittelbar den Preis von Bancogran beeinflussen würde, möglicherweise sogar den Verkauf selbst in Frage stellt.

    Für Jake geht es bei dieser Transaktion nicht nur um seinen Ruf als der führende Investmentbanker für Mexiko, sondern vor allen Dingen darum, mit seinem ersten großen Milliardenprojekt den Abstand zu seinen im US-Markt ungleich erfolgreicheren Partnern zu verringern. Er muss mit allen Mitteln verhindern, dass ihm beim Verkauf von Bancogran noch etwas dazwischenkommt!

    Die Investmentbanker und die Mexikaner streiten sich gerade mit der schwierigen Bewertung fragwürdiger Millionenkredite von Bancogran an seine mexikanischen Bankdirektoren, die dafür seit Jahren keinerlei Zinsen zahlen. Jake hat in der Hitze der Debatte seinen wöchentlichen Lunch mit seinem Sohn Alex vergessen. Seine Sekretärin macht ihn schließlich darauf aufmerksam. Die werden kurz auch ohne mich auskommen, denkt Jake, bei einem flüchtigen Blick um sich. Auf der einen Seite des massiven Konferenztischs die Mexikaner, solide in grauen oder blauen Anzügen, mit weißem Hemd und Krawatte, als wollten sie gerade hier an der Wall Street ein konservatives Auftreten demonstrieren. Die Investmentbanker dagegen verbissene Typen mit scharfen und unruhigen Augen, dabei aber doch nie um eine kluge Bemerkung oder einen Witz verlegen, wenn es darauf ankommt, die gespannte Atmosphäre aufzulockern. Aber an diesem Punkt ihrer Verhandlungen lassen sich die Spannungen zwischen den Mexikanern und den amerikanischen Bankern auch durch einen witzigen Einfall nicht so leicht brechen.

    Alex hat es sich in Jakes Büro bequem gemacht. Jeder nennt ihn Alex, getauft wurde er auf Jake Alexander Friedman II. Der nächste Spross in der Kette der Friedmans, um, wie bei den alten New Yorker Familien üblich, über Generationen hinweg eine Tradition zu zementieren.

    »Ich habe nur wenig Zeit, Alex. Wenn du nichts dagegen hast, gehen wir ausnahmsweise oben im Kasino essen und nicht in unserem japanischen Stammlokal.«

    Alex arbeitet seit dem Abschluss an der Harvard Business School als Associate in der Abteilung Mergers und Acquisitions bei Morgan Stanley, einer der ganz großen Wall-Street-Banken. Das bedeutet zwangsweise lange Nächte in der Firma, eine harte Schule, durch die jeder durchmuss, der es später einmal leichter haben will. Jedenfalls stellt man sich das am Anfang so vor, so hatte es Jake zu seiner Zeit auch gedacht, aber irgendwie lässt der Antrieb bei den Investmentbankern nie nach, bis sie sich unbemerkt an den Druck gewöhnt haben und dann nicht mehr ohne diese permanente Anspannung auskommen.

    Der Speisesaal ihrer Investmentbank im obersten Stock des Hochhauses bietet einen überwältigenden Rundblick auf die New Yorker Wolkenkratzer und den Hudson River in Richtung Queens und Brooklyn. Es herrscht eine vornehm gedämpfte Atmosphäre, weiche Teppiche, antike Schränke, kristallene Gläser. Kaum ein Kunde, den die Firma hierher einlädt, der von dieser Umgebung nicht beeindruckt wäre.

    Jake bemerkt beim Eintreten sofort Jerry Greene mit Jeffrey Immelt, dem gerade neu ernannten Chairman von General Electric und Nachfolger des legendären Jack Welch, unter dessen Führung General Electric sich in einen 130-Milliarden-Dollar-Börsenstar entwickelt hat. Sie sitzen abgesondert an einem Ecktisch. Jerry Greene blickt kurz zu ihm auf. Jake trifft dieser Blick wie ein Stich, gerade noch voller Stolz über sein erstes Milliardengeschäft in Mexiko, aber bei dem Gespräch von Jerry Greene mit dem Boss von General Electric stehen unbedingt mehrere Milliarden auf dem Spiel. Und wieder spürt er diese Wand aus Glas, so wie gestern Abend in der Konzertpause.

    In ihrer Firma gilt das ungeschriebene Gesetz, keine Konkurrenten von anderen Investmentbanken in ihren Speisesaal einzuladen. Das betrifft auch seinen Sohn. Gleich wird jeder bei Morgan Stanley wissen, dass sich der Chairman von General Electric heute mit Jerry Greene zum Mittagessen getroffen hat, dass irgendetwas im Busch sein muss, und schon ist die Konkurrenz wieder angestachelt.

    »Was hier abläuft, bleibt unter uns, dass wir uns da richtig verstehen!«

    »Natürlich, ich weiß, Dad.«

    Aber ganz traut Jake dem Frieden nicht. Kann sein Sohn der Versuchung widerstehen, mit einer solchen Nachricht bei seinen Vorgesetzten aufzutrumpfen? Jeder junge Associate rangelt sich doch mit allen Mitteln nach oben. Warum sollte Alex da eine Ausnahme bilden?

    »Wie laufen bei dir die Dinge, Alex?«

    »Das Platzen der Dotcom-Blase hat für unsere Bank gewaltige Auswirkungen. Uns betrifft das wahrscheinlich mehr als euch. Man hat mir angeboten, mich aufs Internationale zu verlegen. Vielleicht machen wir uns noch Konkurrenz.«

    »Die Welt ist groß, ich hoffe, wir können das vermeiden.«

    »Mal sehen. Vorerst planen Jenny und ich eine Woche Urlaub in Cancún. Für ein paar Tage raus aus dieser Kälte hier.«

    Jake ist nie in Cancún gewesen. Als er damals in Tulum war, gab es den Ort gerade einmal auf dem Reißbrett der Planer.

    Alex’ Freundin Jenny arbeitet ebenfalls bei Morgan Stanley, als Aktienanalystin. Sie verdienen beide gut, allerdings war es in den vergangenen Jahren entschieden mehr, als die Technologieaktien wie im Rausch nach oben trieben. Vom Heiraten reden sie nicht. Auch anders als er und Sharon damals in diesem Alter. Natürlich stimmen sie bei den Wahlen für die Demokraten.

    »Ich hoffe, ihr seid nicht ausgerechnet während der Tagung des Weltwirtschaftsforums in Cancún. Die Globalisierungsgegner haben bereits zu einer Großkundgebung aufgerufen. Auch die Zapatistas haben sich angekündigt, nachdem es in letzter Zeit ruhig um sie war. Was die mit der Globalisierung zu tun haben! Aber typisch, wie sie wieder einmal die Medien für sich einspannen. Eine Katastrophe für ganz Mexiko.«

    »Du vergisst so nebenbei, dass es sich um die Ureinwohner handelt. Und sie pochen nur auf ihre Rechte.«

    »Aber wir leben nicht mehr in Vorzeiten! Oder willst du Manhattan an die Eingeborenen zurückgeben?«

    »Das ist doch wohl etwas anderes.«

    Vielleicht, aber vielleicht auch nicht, denkt er bei sich. Er kennt die Argumente, sein Sohn redet wie viele der Wall-Street-Liberalen, die gerne etwas lässig aus dem bequemen Sessel heraus argumentieren. Was weiß er schon von den Zapatistas und dem Schaden, den sie Mexiko verursachen.

    Jake vermisst bei seinem Sohn den Idealismus seiner eigenen Studienzeit. 1968, mittlerweile ein Mythos, aber er erlebte den Aufschrei damals noch in München, marschierte mit den Demonstrationen, lehnte sich auf gegen alles Bürgerliche, gegen die Autorität und vor allem gegen das verstaubte, alte Universitätssystem. Gegen das Gestern, das Dunkle dieser nur widerwillig aufbrechenden deutschen Vergangenheit und gegen das falsche Heute, den Krieg in Vietnam. Gegen die verknöcherte Welt seiner Eltern. Dafür ging er auf die Straße. Als Jurastudent war er sich dabei der Grenzen seines Handelns immer bewusst.

    Das Jahr 1968 stellte für ihn einen historischen Einschnitt dar, den er allerdings bei allem äußerlichen Einsatz in letzter Konsequenz nicht selbst vollzogen hat. Es war ein Riesenereignis, ganz klar, ein absolutes Festival. Aber im folgenden Herbstsemester hat er weiter studiert, als sei nichts geschehen, und ein Jahr später legte er eines der besten Juraexamen hin.

    * * *

    Von Nogales fuhr Harry Simms erster Klasse mit dem Tres Estrellas de Oro, einer Art mexikanischem Greyhoundbus, nach Mexico City. Achtundvierzig Stunden sollte die Fahrt dauern. Gleich hinter Nogales tauchten sie ein in eine endlose, in einem ständig fließenden Farbenmeer schillernde Fata-Morgana-Landschaft. Eigentlich ein herrlich bunter Kitsch. Das Sterile, das ihm während der letzten Tage in den USA überall aufgestoßen war, vielleicht auch nur aus seiner deutsch-mitteleuropäischen Perspektive, war wie weggewischt. Alles um ihn war verändert, dazu die fremde

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