Marilyn und ich
Von Ji-min Lee
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Über dieses E-Book
Reichen vier Tage, um ein Leben zu retten?
Korea 1954: Bereits seit einem Jahr herrscht eine fragile Waffenruhe in dem zerrütteten Land. Doch das Leben der Menschen ist nach wie vor überschattet von den Kriegswirren. Da wird Alice, eine junge Übersetzerin, die für die Amerikaner arbeitet, als Dolmetscherin für einen illustren Gast auserkoren: Marilyn Monroe wird vier Tage lang durch Korea reisen, um die amerikanischen Truppen zu unterhalten. Vier Tage, in denen sich der Hollywood-Star und die vom Krieg gezeichnete Übersetzerin kennen und verstehen lernen. Vier Tage, in denen Alice sich an der Seite der lebenshungrigen Schauspielerin ihren traumatischen Erinnerungen stellt. Doch wie soll Alice nach allem, was passiert ist, wieder in eine Normalität zurückkehren?
»Lees berührende Untersuchung des langen Schattens, den ein Krieg auf das Leben einer Frau wirft, bewegt beim Lesen zutiefst.«
Publishers Weekly
Ji-min Lee
1974 in Seoul geboren, wuchs Ji-min Lee in einer Zeit politischer Unruhen auf. So verbrachte sie bereits als Kind viel Zeit in literarischen Parallelwelten und ging mit ihrem Studium der Literatur- und Filmwissenschaften ihrer Leidenschaft nach. Ji-min Lee schreibt Drehbücher und Romane, sie lebt mit ihrem Mann und den beiden Kindern in Seoul.
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Buchvorschau
Marilyn und ich - Ji-min Lee
HarperCollins®
Copyright © 2020 für die deutsche Ausgabe by HarperCollins
in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Dieses Buch wurde vom Literature Translation Institute of Korea
(LTI Korea) gefördert.
© by Ji-Min Lee 2009
Originaltitel: – naua marillin (Englisch: »Marilyn and I«)
Erschienen bei: That Book, Südkorea
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
Coverabbildung: George Marks / Getty Images
Lektorat: Sibylle Klöcker
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN E-Book 9783959675871
www.harpercollins.de
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BRIEF
An die
Twentieth Century Fox Film Corporation
Marketingabteilung
Sehr geehrte Damen und Herren,
mein Name ist Herbert W. Green. Ich diene im 31. Regiment der 7. Infanteriedivision im Koreakrieg. Ich habe großes Heimweh, und wenn ich Briefe schreibe, wird es noch schlimmer. Korea ist schrecklich. Sosehr ich mich auch bemühe, ich glaube, ich kann Ihnen die Trauer und das Entsetzen in diesem Land nicht ausreichend vermitteln. Ich frage mich, wo all diese Kinder auch heute wieder übernachten sollen, Kinder mit strubbeligen Haaren, die durch Bombenangriffe ihre Eltern und ihr Zuhause verloren haben. Ich bete, dass Gott sie segne, aber wie es scheint, will der Herr seine Gnade hier für geraume Zeit nicht walten lassen.
Nebenbei bemerkt liege ich derzeit in einem Lazarett bei Busan, einer Stadt im Süden des Landes. Wir wurden bei Hwacheon, einem Ort knapp oberhalb des 38. Breitengrads, versehentlich von alliierten Streitkräften mit Napalm bombardiert, und ich verlor eine Menge meiner Kameraden.
Zum Glück habe ich überlebt und bin in Behandlung. Ein Batzen Napalm traf mich am Gesäß und meine Haut ging in Fetzen auf, aber alles in allem kann ich mich nicht über meinen Zustand beklagen. Bei der kleinsten Berührung verbrennt die Stelle schwarz wie Kohle, so fürchterlich ist Napalm. Allein die Schreie der Sterbenden zu hören geht einem durch Mark und Bein.
Auf jeden Fall bin ich hier ans Bett gefesselt, zur Untätigkeit verdammt, und warte nur darauf, möglichst schnell wieder gesund zu werden. Ich langweile mich zu Tode und bin deprimiert. Ich schreibe Ihnen, weil ich Sie um einen Gefallen bitten möchte. Haben Sie Mitleid mit mir und erfüllen Sie mir meinen kleinen Wunsch!
Können Sie mir bitte ein neues Poster von Marilyn Monroe schicken? Meine Kameraden und ich und sogar der koreanische Bursche, der hier für uns Botengänge verrichtet, wir alle lieben Miss Monroe von ganzem Herzen. Ihr schönes Lächeln ist wie ein warmer Sonnenstrahl für uns einsame Seelen. Allein wenn ich ihr Poster betrachte, das ich über meinem Bett aufgehängt habe, scheinen die tagtägliche Müdigkeit und die Sorgen über die Zukunft wie weggewischt. Ich gehe nicht einmal zu den Aufführungen der United Service Organizations, denn lieber sehe ich mir Bilder von Miss Monroe an, als fremden Frauen auf den Hintern zu schielen. Sehr zu meinem Unglück hat irgendein vermaledeiter Kerl vor einigen Tagen all meine Fotos von Miss Monroe entwendet! Seither komme ich mir vor wie ein Verdurstender in der Wüste, ohne eine Flasche Wasser. Bitte haben Sie ein Einsehen und schicken Sie mir ein Poster von ihr. Ich habe gehört, dass Miss Monroe einen neuen Film dreht. Wenn Sie noch einige Werbefotos dazulegen würden, könnten wir alle hier wirklich eine schöne Zeit haben. Am liebsten wäre es mir selbstverständlich, Miss Monroe würde persönlich zu uns kommen, aber das wird wohl ein ewiger Traum bleiben. Trotzdem werde ich ihn weiterträumen und ersuche Sie inständig: Bitte schicken Sie uns die Fotos!
Im Vertrauen darauf, dass Sie sich meiner Bitte annehmen werden, bedanke ich mich im Voraus.
Ich wünsche Ihnen Gesundheit und alles Gute!
Mit herzlichen Grüßen
Herbert W. Green
PS: Falls Sie Miss Monroe treffen, richten Sie ihr bitte aus, dass wir alle hier dafür beten, dass sie das Glück immer begleiten möge.
EIN TAG IN SEOUL MIT FRÄULEIN ALICE
12. Februar 1954
Während ich zur Arbeit gehe, denke ich an den Tod.
Ich weiß, die wenigsten, die hier in Seoul zur Arbeit gehen, sind glücklich. Aber bestimmt fühlt sich kaum jemand so miserabel wie ich. Letzte Nacht suchten mich im Schlaf wieder grässliche Erinnerungen an den Tod heim. Ich wand und krümmte mich, wie eine Jungfrau, die ihre Unschuld schützen will, aber es war zwecklos. Ich wusste, dass nur eine luftige Baumwolldecke auf mir lag, dennoch strampelte ich mit den Beinen, um sie abzustreifen, als handle es sich um einen Mann, einen Sargdeckel oder die schwere Last der Erde, die in Gräber geschaufelt wird. Trost in dem Gedanken findend, dass die Nacht irgendwann enden und ich dem Tod nicht auf diese Weise gegenübertreten würde, gelang es mir, bis zur Morgendämmerung im Bett auszuharren. Nach der durchlittenen Nacht fühlte ich mich wie die Nylonstrumpfhose, die ich über den Schminktisch gelegt hatte, abgenutzt, aber zäh. Um wenigstens einigermaßen passabel auszusehen, kleisterte ich mich so grell mit Puder zu, dass sich die Dunkelheit, die mich belagerte, erschrocken verzog. Ich schlüpfte in die Strümpfe, meine Kleider und die fingerlosen Handschuhe aus schwarzer Spitze. Wie ich wohl ausgesehen habe, als ich so in aller Herrgottsfrühe auf die Straße trat, wo der eisige Februarwind meine Waden schonungslos peitschte? Hübsch wirkte diese Person wohl kaum, unter der dicken Schicht Make-up und mit Beinen, die vor Kälte zitterten wie Espenlaub. Schön war sowieso die letzte Eigenschaft, die man mit mir in Verbindung brachte. Erduldend passte besser zu mir, hübsch keinesfalls. Wer schön sein will, muss leiden, irgendwo habe ich diesen Satz gelesen, und ich befinde mich seit Jahren im Selbstversuch, wenngleich ohne große Hoffnung.
Wie gewöhnlich blicken mich die Menschen in der Straßenbahn verstohlen an. Missbilligend, versteht sich. Ich bin Alice, Alice J. Kim – meine aschgrauen Haare wasche ich mit Bier und verstecke sie unter einem violett gepunkteten Kopftuch. Ich trage einen schwarzen Wollmantel und dunkelblaue, an den Spitzen abgewetzte Schuhe aus Veloursleder, dazu Handschuhe, die an einen schwarzen Schleier erinnern, wie man ihn zu Begräbnissen aufhat und dem man nicht zu nah kommen möchte. Die Menschen mögen mich nicht, weil ich aussehe wie eine Puppe, die ein Mädchen aus dem Westen weggeworfen hat, nachdem es ihrer überdrüssig geworden ist. Wahrscheinlich, weil ich nicht in diese Stadt passe, in der vor Kurzem noch der Krieg wütete. Und weil ich zugleich ganz hervorragend zu ihr passe.
Kaum bin ich aus der Straßenbahn ausgestiegen, verfalle ich in einen raschen Schritt. Der Weg zur amerikanischen Militärbasis ist keineswegs zum müßigen Flanieren geeignet. Am Himmel über den matschigen Wegen kräuseln sich weiße Dunstschwaden. Wie Arbeiterinnen in der Hölle kochen Frauen Wäsche von amerikanischen Soldaten, den heißen Dampf, der aus halbierten Fässern aufsteigt, schweigsam hinunterschluckend. Ich wende schnell den Kopf ab, um Blickkontakt mit den Waisenkindern zu vermeiden, die gekürzte Militärkleidung tragen. Angesichts des verzweifelten Hungers in ihren klugen Augen ziehen sich mir die Eingeweide zusammen. Ich ignoriere die derben Scherze der Schuhputzer, die mich für eine Hure der Amerikaner halten, und betrete eilig den Stützpunkt. Unter den hellen morgendlichen Sonnenstrahlen glänzt Schnee auf den halbrunden Blechdächern der Nissenhütten. Sobald ich die Tür meines Büros öffne, strömt mir warme Luft entgegen. Die friedliche Behaglichkeit steht im krassen Gegensatz zur Welt da draußen. Die schwarze Underwood-Schreibmaschine thront artig auf dem Tisch und wartet wie ein Klavier darauf, dass ich die erste Taste anschlage. Zunächst setze ich jedoch Wasser auf. Eine Tasse Kaffee im Büro ist mein einziges Frühstück. Es klingt vielleicht lächerlich, aber wenn ich behauptete, der Kaffee habe nichts damit zu tun, dass ich für die amerikanische Armee arbeite, würde ich lügen. In der Ablage liegen bereits neue Dokumente, die ich heute wahlweise ins Englische oder Koreanische übertragen muss. Sie sind genau so formuliert, dass ich sie mit meinen Englischkenntnissen erledigen kann. Einfache und unwichtige Dinge. Als Erstes muss ich dem Sicherheitsministerium die Absicht mitteilen, dass die 8. Division des amerikanischen Armeekorps an den Zeremonien zum »Tag des Baums« teilnehmen will. Anschließend steht ein Bericht über die Planung des koreanisch-amerikanischen Freundschaftsturniers im Baseball an, das am amerikanischen Unabhängigkeitstag stattfinden wird. Kurz gesagt, ich tue alles Mögliche, was der Freundschaft zwischen den beiden Ländern keinen sonderlichen Nutzen bringt.
»Es ist saukalt, Alice. Seoul ist genauso kalt wie Alaska.« Hammett reißt die Tür weit auf und tritt mit seinem typischen breiten Grinsen ein.
»Alaska? Waren Sie schon mal da?«, erwidere ich, die Stirn wie immer dicht über der Schreibmaschine.
»Habe ich Ihnen nie davon erzählt? Dass ich eine Weile in Alaska stationiert war, bevor ich nach Camp Drake bei Tokio kam? Ein kleiner Vorposten war das, ein Stützpunkt namens Cold Bay. Dort war es wirklich kalt und trostlos. Genau wie hier.«
»Das will ich sehen.« Ich versuche mir eine Gegend auszumalen, die von Gott ebenso im Stich gelassen wurde wie Seoul, doch mir fehlt die Vorstellungskraft.
»Alice, ich habe großartige Neuigkeiten!«, ruft Hammett plötzlich und schlägt mit der Faust auf den Tisch.
So aufgeregt habe ich ihn noch nie gesehen. Vor Schreck drücke ich mehrfach auf die Y-Taste. Vogelspuren wandern über das Papier.
»Sie wissen doch, dass Marilyn Monroe Joe DiMaggio geheiratet hat, oder? Die beiden verbringen zurzeit ihre Flitterwochen in Japan und werden auch Korea besuchen! Das ist so gut wie gesetzt! General Christenberry hat sie um ein Konzert für die Truppe gebeten, und sie hat angeblich zugesagt! Die Monroe kommt nach Korea!«
Marilyn … Monroe. Ich rufe sie mir so, wie ich sie kenne, ins Gedächtnis. Ich sehe sie vor mir, während sie wie eine Meerjungfrau, die gerade laufen lernt, über die Leinwand stakst. Sie geht, als bestünden ihre Gelenke aus Wackelpudding, und sie lächelt, als wäre ihr das Gehirn abhandengekommen. Hammett starrt mich tadelnd an, weil ich auf die frohe Botschaft nicht so begeistert reagiere, als handele es sich um die Verkündung des Kriegsendes.
»Sie hat geheiratet?«
»Ja, Joe DiMaggio. Zwei amerikanische Idole leben nun zusammen unter einem Dach. Das war eine fette Schlagzeile!«
Ich erinnere mich vage, irgendwann in einer Zeitschrift über Joe DiMaggio gelesen zu haben. Ich weiß nicht viel über ihn, außer dass er ein berühmter Profibaseballspieler ist. Aber ich weiß zumindest, dass Marilyn Monroe und das Konzept von Ehe nicht zusammenpassen.
»Und es kommt noch besser. Man hat hier eine Angehörige der Streitkräfte als Dolmetscherin für die Monroe angefordert, und da habe ich Sie empfohlen. Sie sind zwar nicht bei der Armee, aber Sie haben ja die nötige Erfahrung. Alice, Sie begleiten die Monroe vier Tage lang als Kulturattachée. Ist das nicht großartig? Am liebsten würde ich der Monroe selbst hinterherlaufen. So wie Elliott Reid in Blondinen bevorzugt!«
Ich bin wie gelähmt vor Schreck und weiß nicht, was ich sagen soll. Dann frage ich mich urplötzlich, warum sie überhaupt in dieses verdammte Land kommt, das amerikanische Soldaten am liebsten nur mit dem Hintern ansehen würden, während sie ihrem Herrn danken, dass sie nicht hier geboren sind.
»Wir haben viel zu tun. Wir müssen mit der Band sprechen, die das Konzert begleiten soll. Außerdem müssen wir Geschenke besorgen, einen Blumenstrauß und diverse Souvenirs. Was wäre wohl passend? Traditionelles Kunsthandwerk findet sich überall. Wie wäre es – nur so als Idee –, wenn Sie ein Porträt von der Monroe malen? Stars mögen so was.«
»Por… Porträt?«, stottere ich. »Wenn Sie wirklich ein Porträt haben wollen, können Sie in der Bilderabteilung der PX nachfragen …« Ich spüre, wie ich rote Flecke am Hals bekomme.
Amüsiert darüber zeigt mein Gegenüber ein schelmisches Lächeln: »Nun … der beste Porträtmaler, den ich kenne, sind Sie, ja, wirklich.«
Mein Mund ist plötzlich ganz trocken. Ich bin verlegen wie eine junge Frau, die gesteht, schwanger zu sein: »Ich … ich habe schon lange nichts mehr gemalt. Und … ich kenne die Dame auch nicht gut.«
Hammett kommt in Fahrt und fuchtelt mit beiden Händen in der Luft herum: »Es gibt nichts Leichteres zu malen als Gesichter von Stars. Nur wer ein leicht zu malendes Gesicht hat, wird ein Star. Sie brauchen außerdem gar nichts über sie zu wissen. Die Monroe ist, was man von ihr sieht!«
Er singt ein Hohelied auf Marilyn Monroe und macht im gleichen Atemzug einen Narren aus mir. Je peinlicher mir das alles wird, desto köstlicher amüsiert sich Hammett. Als unsere Blicke sich treffen, verschwindet die Verschmitztheit abrupt aus seinem Gesicht. Der scharfe Blick hinter seinem gutmütigen Lächeln gibt schließlich das offene Geheimnis preis, dass er ein amerikanischer Nachrichtenoffizier ist.
In ernstem Ton fragt er: »Alice, warum malen Sie nicht wieder? Soweit ich mich erinnere, sind Sie eine ernsthafte Künstlerin, mehr als Sie selbst es vielleicht ahnen. Ist es nicht so?«
Ich bin verlegen, er hat mich aus dem Takt gebracht, und ich verliere die Kontrolle auf der Tastatur. Die Silben purzeln auf das weiße Blatt Papier wie abgebrochene Äste. Zum wiederholten Mal wird mir bewusst, dass er vielleicht der einzige Mensch ist, der sich an meine Vergangenheit, ja, meine glänzenderen Tage erinnert. Zumindest unter den Überlebenden.
»Nein … Wenn ich eine echte Künstlerin wäre, hätte mich der Tod bereits im Krieg geholt.«
Ich hebe die Tasse an die Lippen, als wolle ich Kaffee trinken, und murmele vor mich hin. Die Worte plumpsen in den schwarzen Sud, wie eine Jungfrau, die Suizid begeht. Ein kleiner Strudel entsteht, dessen dunkle Verwirbelungen sich tief in meinem Inneren ausbreiten.
Ich mache früher Feierabend als sonst und nehme eine Straßenbahn Richtung Namdaemun-Tor.
Einige Monate vor Ausbruch des Kriegs hatte ein besonnener Mensch ganz oben im Namdaemun-Tor zwischen einer koreanischen und einer amerikanischen Flagge ein Schild aufgehängt, auf dem »Welcome US Navy!« stand. Vielleicht hatte es an der unerschütterlichen Zuversicht des Textes gelegen, dass dieses alte Stadttor trotz des schweren Beschusses nicht eingestürzt war. Beim Anblick des Tors, nun der bekannteste Kriegsversehrte des ganzen Landes, fallen mir keine aufmunternden Worte mehr ein. Da sitzt es wie ohnmächtig, als wisse es nicht, wofür es sich weiter zu existieren lohnt, und als denke es darüber nach, die Stadt zu verlassen. Während ich vorübergleite, pflichte ich ihm bei.
Am Eingang des Chayu-Markts in der Nähe des Namdaemun-Tors wimmelt es von Passanten und Händlern sowie amerikanischen Soldaten, die sich an Ständen mit Anstecknadeln herumtreiben. Es herrscht ein babylonisches Sprachengewirr, bestehend aus den Dialekten von acht Provinzen, die sich mit dem Jargon der Großstädter und dem Slang der Amerikaner zu einem Höllenlärm vermischen. Mit eingezogenen Schultern kämpfe ich mich voran, immer darauf bedacht, mit niemandem zusammenzustoßen. Die Hektik und der Lärm, die der Markt verbreitet, nachdem die Kriegshandlungen Gott sei Dank ein Ende gefunden haben, sind nicht weniger Furcht einflößend als diese. Ich kann bei der Geschwindigkeit, mit der alles zurück ins Leben drängt, nicht mithalten und gehe vorsichtig einen Schritt zur Seite, um nicht im Weg zu stehen. Einem Mann mit Hut und Dokumenten unter den Armen sowie einer Frau, die ein Kind auf dem Rücken trägt und ein übergroßes Bündel auf dem Kopf hat, weiche ich ebenso aus wie einem Träger, der das Kunststück zelebriert, an seine Kraxe gelehnt zu schlafen, und betrete eilig den Markt.
Frau Chang, die mir ein Zimmer direkt neben dem Hauseingang vermietet hat, betreibt hier ein Bekleidungsgeschäft namens »Westwaren Mode«. Dort treffe ich auf eine Gruppe von Frauen, die sich zu einem System privaten Geldverleihs zusammengeschlossen haben und tratschen, während sie vor sich Chinaseide, Samt und ähnliche Stoffe ausgebreitet haben. Als ich den Raum betrete, stupsen sie sich gegenseitig