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Unsichtbare Bänder
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eBook317 Seiten4 Stunden

Unsichtbare Bänder

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Über dieses E-Book

Der Mord im August 1978 an einem korrupten Kader geht dem Polizisten Hua Junshi nicht aus dem Sinn. Kein Wunder: Das Opfer war sein Ersatzvater. Auf seiner Pensionierungsfeier rekapituliert der Polizist die Ereignisse. Hatte die alte Frau Li ihre Finger im Spiel? Oder war doch deren Ehemann der Schuldige? Hätte er den Täter in ganz anderen Kreisen suchen müssen? Nachweisen konnte Hua Junshi die Tat keinem. Führten die Beweise gegen seine eigene Mutter vielleicht doch in die richtige Richtung?
Mit dem Mord als Dreh- und Angelpunkt werden die wie zufällig miteinander verwobenen Lebensgeschichten von fünf Chinesen erzählt. Selbst Jahrzehnte später holen sie die Ereignisse noch einmal ein. Und noch immer ahnt niemand, welche unsichtbaren Bänder sie verbinden.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum15. Nov. 2019
ISBN9783750211643
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    Buchvorschau

    Unsichtbare Bänder - Anja Obst

    Inhaltsverzeichnis:

    Kapitel 1

    Der Abschied - Hua Junshi                                4

    Kapitel 2

    Die Mutter - Zhang Wei                                73

    Kapitel 3

    Der Brand - Wang Xu                                        122

    Kapitel 4

    Der Einbruch - Zhang Jian                                   182

    Kapitel 5

    Das Band - Li Xiaohua                                  235

    Der Abschied

    „Ich möchte einen Toast ausbringen! Auf unseren Genossen Hua Junshi."

    Der Vizepolizeiinspektor Liu des Vierten Reviers von Peking steht auf und hebt sein Glas. Ein lautes Stühle rücken ist die Folge seines Ausspruchs, alle Anwesenden stehen auf und nehmen ihre Biergläser in die Hände. Hua Junshi schwankt etwas, als er sich erhebt. Es ist nicht der erste Toast bei diesem Bankett. Er hält sich umständlich an der Lehne seines Stuhls fest.

    „Auf dass die Rentenzeit genauso erfolgreich wird wie Ihre Dienstzeit!"

    Vizeinspektor Liu streckt seinen Arm in die Mitte des Tisches, alle folgen seinem Beispiel. Beim Anstoßen der bis zum Rand gefüllten Gläser schwappt die Hälfte des Inhalts über die Hände in das scharfe Huhn mit Erdnüssen, welches in der Mitte des großen Tisches thront.

    „Danke, Genosse Liu, lallt Hua Junshi, „ohne die Hilfe der Kollegen hätte ich meine Arbeit nicht so gut machen können.

    Die Kollegen stimmen ein widersprechendes Gemurmel an, werden aber von Vizeinspektor Liu unterbrochen: „Gan bei! Leert die Gläser". Kein Tropfen Bier bleibt zurück und eine in der Ecke wartende Kellnerin stürzt herbei, um die leeren Gläser wieder zu füllen.

    „Was wirst du jetzt mit der vielen Freizeit anfangen?" fragt Hua Junshis langjähriger Partner Dong Lian, der schon seit ein paar Jahren im Ruhestand ist.

    „Du weißt doch, Rentner sind die Leute, die am wenigsten Zeit haben!" bellt der Kollege gegenüber und lacht lauthals über seinen eigenen Scherz.

    „Ich habe vor ein paar Jahren angefangen, Tauben zu züchten, antwortet Hua Junshi. „Ich denke, ich kann meine Zucht jetzt vergrößern und eventuell an Wettbewerben teilnehmen. Mal schauen. Er wiegt nachdenklich den Kopf. „Außerdem war ich noch nie in der Provinz Yunnan, da werde ich auf jeden Fall hinfahren!"

    Vizeinspektor Liu legt ihm ein Stück kross gebratene Ente auf seinen kleinen Teller. „Essen Sie! Essen Sie!" Hua Junshi werkelt ungeschickt mit seinen Stäbchen, er hat sich in all den Jahren nicht an Alkohol gewöhnen können. Zwei Gläser Bier und zwei Schnäpse reichen aus, um ihn mit hochrotem Kopf und dicker Zunge zum Gespött der Kollegen zu machen. Aber heute ist es egal. Sein letzter Tag bei der Volkspolizei, nach genau vierzig Jahren Dienst geht er in den Ruhestand. Vierzig turbulente Jahre, geprägt von politischen Unruhen, Grausamkeiten, für die er sich teilweise schämt, aber auch erfolgreich gelösten Kriminalfällen. Er hat viel gesehen, viel erlebt und hat einige Kriminelle zur Strecke gebracht. Nur ein Fall ist ihm viele Jahre nicht aus dem Kopf gegangen, er ist als ungeklärter Fall zu den Akten gelegt worden und wird auch nicht mehr den Weg aus dem sogenannten Toten Archiv finden. Vizeinspektor Liu hatte damals ohne lange zu zögern das Ende der Ermittlungen verlangt, für Hua Junshi war es ein Segen und ein Fluch. Sein erster Fall. Ungelöst. Er kannte das Opfer. Und er kann sich bis heute nicht verzeihen, dass er nicht genau wusste, wer der Mörder war.

    *  *  *

    Es war eher Zufall, dass Hua Junshi zum Tatort gerufen wurde. Er hatte Dienst an dem schwülen Augusttag 1978 und war noch ganz neu in der Kriminalabteilung des Vierten Reviers. Viele Aufgaben hatte er noch nicht übertragen bekommen, sein Vorgesetzter Liu fand, dass er mit seinen knapp zweiunddreißig Jahren noch zu jung war, um eins und eins zusammenzählen zu können. Dabei hatte er während der Kulturrevolution, die 1966 begann, viele Erfahrungen als junger Polizist sammeln können. Sein Vorgesetzter Liu sah das anders und gab ihm nur kleine Räubereien und Diebstähle, die sowieso nie aufgeklärt werden konnten. Es gab selten gute Personenbeschreibungen, geschweige denn verlässliche Zeugen. Jeder Fall war zum Scheitern verurteilt. Als der Anruf kam, dass eine Leiche gefunden wurde, kritzelte Hua Junshi alle Informationen hastig auf einen Zettel, suchte danach aufgeregt seinen Vorgesetzten und als er ihn nicht fand, bat er einen anderen Kollegen, seinen späteren Partner Dong Lian, mit ihm an den Tatort zu fahren. Viele der Polizisten waren in Beidaihe, einem Kurort am chinesischen Meer. Offiziell nahmen sie an einer Tagung teil, jeder aber wusste, dass sie sich dort nur vergnügten, auf Staatskosten. Dong Lian hatte schon einige Jahre bei der Mordkommission gedient und bearbeitete mittlerweile eigenständig Fälle.

    „Eine Leiche? gähnte er, als Hua Junshi aufgeregt mit dem Zettel in der Hand wedelte. „Wer wurde denn ermordet?

    „Weiß ich nicht, gestand Hua Junshi, „aber sie liegt nicht weit entfernt von meinem Familienhaus. Ich kenne mich dort gut aus und kann dir eine große Hilfe sein.

    Dong Lian reckte sich, trotzdem er erst neununddreißig Jahre alt war, hatte er schon einen kugelrunden Bauch. Er nutzte gerne seine Position aus und ließ sich von Nachbarn, Freunden und Leuten, die ihn um einen Gefallen baten, ausgiebig zum Essen einladen und mit teurem Maotai versorgen. Diesem berühmten chinesischen Schnaps war es auch zu verdanken, dass er schon jetzt schlechte Leberwerte hatte. Hua Junshi sah neben Dong Lian wie ein Hungerhaken aus, für seine Größe viel zu dünn. Seine Hände waren sehr feingliedrig und die Finger unnatürlich lang. Die Haare trug er kurz, im Sommer ließ er sich auch gerne mal einen Stoppelschnitt von dem Friseur auf der Strasse verpassen.

    „Wo ist Liu? Eigentlich müsste er rausfahren." Dong Lian wählte die Durchwahl von Liu, doch auch der Kollege, der das Telefon beantwortete, wusste nicht, wo er war.

    „Ist wohl noch beim Essen, vermutete jener. „Vorhin kamen ein paar Inspektoren von anderen Revieren, das kann noch dauern.

    Dong Lian griff nach seiner Mütze und dem Autoschlüssel.

    „Hast Glück, Kleiner, witzelte er von oben herab, „darfst mit auf deine erste große Tour. Schon mal eine Leiche gesehen? Ich sage dir, der Anblick ist nicht immer schön.

    Hätte Hua Junshi gewusst, was ihn am Tatort erwartete, er wäre vielleicht nicht so erpicht darauf gewesen, mitzufahren.

    Nach wenigen Minuten Fahrt klopften die beiden Beamten an die Tür des Anrufers. Die Wohnung lag in einer der schmalen Pekinger Gassen, direkt neben einer der zahlreichen öffentlichen Toiletten. Der Geruch von Urin und Exkrementen hing in der warmen Luft. Nach nur wenigen Sekunden schon wurde die Tür von einem alten Mann aufgerissen, er trug nur eine kurze Hose und ein früher mal weißes Unterhemd, dazu blaue Badelatschen. Das Hemd hatte er wegen der Hitze bis unter die Achseln hochgerollt. Seinen dicken Bauch trug er ungeniert vor sich her.

    „Hier, gleich um die Ecke, in einem Müllhaufen", schoss es aus dem Mann heraus, ohne dass Hua Junshi und Dong Lian Zeit gehabt hatten, sich ordnungsgemäß vorzustellen. Sie gingen um das öffentliche Klo, an dessen Hinterseite die Anwohner eine freie Stelle als Müllkippe nutzten.

    „Vorhin, als ich den Müll raus brachte, habe ich ihn entdeckt. Dort, ich habe ihn mit der Plastiktüte zugedeckt, damit ihn kein anderer sieht und womöglich den Tatort ruiniert, ich weiß ja wie wichtig das für die Suche des Mörders ist!"

    Stolz auf sein Wissen zeigte der alte Mann auf eine blaue Plastiktüte, die wie zufällig auf dem Müllberg lag. Dong Lian trat vorsichtig in den Haufen Unrat und versank in Eierschalen und Plastikverpackungen. Der Toilettengeruch mischte sich mit dem undefinierbaren Müllgeruch. Verärgert sah Dong Lian auf seine Schuhe, die würden hinüber sein nach diesem Gang im Müll. Er nahm die Plastiktüte weg und sah eine Hand herausragen. Vorsichtig schaufelte er mit einem Stück Hartplastik, das er neben der Hand fand, den Müll zur Seite, bis er ein Gesicht sehen konnte. Die Todesursache war auch ohne medizinische Kenntnisse erkennbar. Dem Opfer wurde der Hals durchgeschnitten. Das Blut war schon trocken und mit seinen wenigen Erfahrungen tippte Dong Lian auf eine Todeszeit zwischen Mitternacht und Morgen, also vielleicht keine zwölf Stunden her. Er trat zur Seite und sah, wie Hua Junshi den Kopf reckte, um etwas zu erkennen.

    „Ruf bitte im Revier an und sag dem Kollegen von der Fotoabteilung, er soll sofort kommen. Riegel vorher die Müllkippe hier ab, damit keiner den Tatort zerstört", befahl Dong Lian. Hua Junshi rührte sich nicht. Wie vom Donner gerührt starrte er auf die Leiche.

    „Scheiße, ich hätte den Jüngling doch nicht mitnehmen sollen, murmelte Dong Lian. „Hey, hörst du mich? rief er. „Mach keinen Mist und brich jetzt hier zusammen, so schlimm sieht die Leiche nun auch nicht aus."

    Hua Junshi kam langsam wieder zu sich.

    „Das ist Lao Zhang, gab er tonlos von sich. „Das kann nicht sein, wer sollte ihm was Böses tun?

    Hua Junshi schüttelte den Kopf, ungläubig und unfähig, sich zu rühren.

    „Hey Genosse, rief Dong Lian den alten Mann, „geh zu einem Telefon und rufe diese Nummer an. Lass dich mit Genosse Peng verbinden, sag ihm, Dong Lian braucht ihn hier. Warte, ich schreib dir alles auf.

    Im Müll balancierend suchte er nach einem Zettel und einem Stift, um dem alten Mann die Anweisungen zu geben.

    „Wer bezahlt mir das?" murrte der alte Mann. Dong Lian überreichte ihm mit dem Zettel eine ein Mao Münze.

    „Beeil dich!"

    Er deckte die Leiche wieder mit der Plastiktüte zu, stolperte von dem Müllberg und versuchte, die inzwischen eingetroffenen Schaulustigen zu vertreiben.

    „Hier gibt es nichts zu sehen, geht weiter, Leute!"

    Als die Gruppe der Neugierigen sich langsam auflöste, wandte er sich Hua Junshi zu.

    „Hey, ist jemand da?" fragte er zynisch.

    Als Hua Junshi nicht reagierte, schüttelte Dong Lian ihn an den Schultern vor und zurück, bis er endlich aus seiner Trance erwachte.

    „So, jetzt erzähl mal, wer ist der Typ?"

    *  *  *

    Dong Lian stößt Hua Junshi an.

    „Na, alter Freund, wo warst du gerade? fragt er, als Hua Junshi erschrocken den Kopf dreht. „Doch nicht etwa wieder bei dem Fall Zhang, oder?

    Dong Lian braucht keine Antwort. Er sieht an dem Gesicht seines Partners, dass er genau darüber nachgedacht hatte.

    „Das ist über fünfundzwanzig Jahre her, wie kannst du immer noch darüber grübeln?"

    Mit rollenden Augen schüttelt Dong Lian den Kopf. Hua Junshi sieht ihn aus seinen schon vom Alkohol Blut unterlaufenen Augen an.  Er erwidert nichts. Lange Jahre hat er Dong Lian nicht die Wahrheit gesagt. Auch das verzeiht er sich nicht. Es war die schwerste Entscheidung, die er je gefällt hat. Manchmal, wie heute Abend, überkommt ihn das schlechte Gewissen. Er weiß nicht, ob nicht vielleicht jeder so gehandelt hätte wie er. Hatte er zuviel Angst vor den Konsequenzen gehabt? War er als Polizist nicht verpflichtet gewesen, alle Tatsachen darzulegen? Er weiß es nicht, es ist müßig, darüber weiter nachzudenken. Es ist, wie es ist. Und jetzt ist es sowieso zu spät.

    „Schluss mit dem Unmut, fährt Vizeinspektor Liu in seine Gedanken. „Wir feiern Ihren Abschied, vorbei ist vorbei. Wir sollten alle in die Zukunft schauen.

    „Auf die Zukunft", toastet der Fotograf Peng, der wie Dong Lian schon seit mehreren Jahren Rentner ist und extra für diesen Abend eingeladen wurde.

    „Auf die Zukunft", schließen sich alle anderen an. Hua Junshi hebt mechanisch sein Glas und trinkt mit seinen Kollegen.

    *  *  *

    Lao Zhang war ein guter Freund der Familie. Nachdem Hua Junshis Vater schon früh an einem Herzversagen gestorben war, nahm er sich der Familie an. Er kümmerte sich um die Kinder, vier an der Zahl, und vor allem um Hua Junshis Mutter. Er ging in dem Haus ein und aus, brachte sogar seinen kleinen Sohn oft mit. Schon damals hatte er eine hohe Stellung in der Stadtregierung Pekings inne gehabt. Und obwohl er fast sieben Jahre jünger war als Hua Junshis Mutter, schien es eine enge Verbindung zwischen den beiden zu geben. Oft blieb er über Nacht, weil, wie seine Mutter erklärte, seine Wohnung zu weit weg war, um abends noch nach Hause zu fahren. Lao Zhangs Frau wurde nie erwähnt und Hua Junshi fragte sich manchmal, ob sie vielleicht auch schon tot war. Dank Lao Zhang hatten seine Mutter, seine drei jüngeren Brüder und er selbst 1958 immer genug zu essen, als der Große Sprung nach vorn begann, bei dem die Bauern, statt zu säen und zu ernten, Eisen gossen. Manchmal sah seine Mutter in der Zeit aber auch sehr traurig aus. Hua Junshi fragte nie nach, für ihn war klar, dass sie den Tod des Vaters noch nicht verkraftet hatte. Lao Zhang besaß sogar einen Schlüssel für die Wohnung und kam und ging, wie es ihm passte. Wenn Lao Zhang allerdings zu viel getrunken hatte, bekam Hua Junshi Angst vor ihm. Manchmal hörte er seine Mutter dann leise weinen. Er traute sich auch hier nicht zu fragen, was los war, er hielt an dem Glauben fest, dass die Mutter den Vater vermisste und Lao Zhang manchmal einfach nicht die Stütze war, die die Mutter brauchte, vor allem, wenn der grad mit einem Schwips zu tun hatte.

    Während der Kulturrevolution verschwand Lao Zhang für einige Jahre. Seine Mutter erklärte, er wäre in eine Kleinstadt versetzt worden, um dort für Ordnung zu sorgen, nachdem der dortige Bürgermeister als Konterrevolutionär entlarvt wurde. Da die Stadt in der Provinz Anhui lag und die Fahrt dorthin Tage dauerte, kam er nur selten nach Peking. Hua Junshi sah ihn nur zweimal in der ganzen Zeit, die Lao Zhang in Anhui war. Außerdem war er selbst auch schon viel zu beschäftigt, ebenfalls Konterrevolutionäre zu verfolgen. Er arbeitete schon seit drei Jahren bei der Polizei, als die Kulturrevolution begann. Zusammen mit den Roten Garden bildete die Polizei die ausführenden Organe, die die Politik und die Säuberungsaktion Mao Zedongs durchsetzten. Die Roten Garden spürten die Intellektuellen auf und agierten wie die Polizei: sie sperrten Leute ein, verhörten sie, stellten sie vor ein inoffizielles Gericht, was oft genug selbst aus Roten Garden bestand. Hua Junshi verhaftete ebenfalls alle, die auch nur dem geringsten Verdacht unterlagen, konterrevolutionär zu sein. Oft weigerten sich die Gefangenen, zu reden oder ihre Schuld einzugestehen. Und nicht selten wandte er Gewalt an, um es regelrecht aus ihnen herauszuprügeln. Die ersten Male fühlte er sich unwohl. Er war kaum zwanzig Jahre alt, wusste nicht viel über Recht und Unrecht, er wusste nur, dass Mao Recht hatte. Das genügte. Treu ergeben folgte er den Worten des großen Vorsitzenden. Und auch wenn er die geschwollenen Gesichter der Befragten sah und es ihn anfangs mit Übelkeit erfüllte, immer wieder in die schon gebrochenen Rippen und aufgeplatzten Kopfwunden zu treten und zu schlagen, wusste er, dass er das richtige tat, zum Wohle des chinesischen Volkes. Er verdiente sich bis zum Ende der Kulturrevolution im Jahr 1976 Respekt bei seinen Kollegen im Vierten Revier und stellte, davon ermutigt, unermüdlich Anträge zur Versetzung in die Kriminalkommission. Und Ende 1976 hatte er es geschafft. Er wurde Mitglied des Polizeistabs zur Aufklärung krimineller Vergehen.

    Nun stand er am Ziel seiner Wünsche: an der Aufklärung eines Mordfalles mitzuwirken. Und ausgerechnet musste es ein Opfer sein, das ihm emotional nahe stand. Dong Lian hatte aufmerksam zugehört als Hua Junshi ihm alles erzählte, was er von Lao Zhang wusste und wie seine Verbindung zu ihm war.

    „Dir ist klar, dass du wahrscheinlich nicht an diesem Fall mitarbeiten kannst, oder? musste Dong Lian ihn enttäuschen. „Du bist ja praktisch persönlich beteiligt.

    Davon wollte Hua Junshi nichts wissen und Dong Lian war es all die Jahre ein Rätsel, wie Hua Junshi es geschafft hatte, den damaligen Inspektor des Vierten Reviers zu überzeugen, zusammen mit Dong Lian und dem Vorgesetzten Liu diesen Mord übertragen zu bekommen. Aber er schaffte es. Vielleicht einfach durch die Tatsache, dass er gleich am ersten Tag wertvolle Informationen über Lao Zhang beisteuern konnte. Ohne viel Zeit verlieren zu müssen, konnten Dong Lian und Hua Junshi die ersten Befragungen  durchführen.

    Hua Junshis Mutter war geschockt, als ihr Sohn mit seinem Kollegen in dienstlicher Absicht vor der Tür stand. Viel konnte sie nicht helfen. Er habe zwar viel Zeit hier verbracht, aber nie über sich oder seine Arbeit geredet.

    „Unser Verhältnis war freundschaftlich und man könnte es auch als eng betrachten, erzählte sie weiter, wobei sie ihren Sohn eindringlich ansah. „Er war nach dem Tod meines Mannes wie ein Vater für meine Söhne und hat uns viel geholfen. Ich wüsste keinen Grund, weshalb ihm jemand etwas antun könnte.

    „Sie wussten aber, dass Lao Zhang verheiratet war, oder?"

    „Ja, das wusste ich."

    „Können Sie Ihre Beziehung zu Lao Zhang bitte etwas deutlicher beschreiben?"

    Hu Junshi sah seine Mutter an, auch sie blickte zu ihm. Fast ängstlich, wie ihm schien. Sie atmete tief ein. Jetzt sah sie eher angriffslustig aus.

    „Ich glaube nicht, dass Sie das etwas angeht. Wir hatten, wie gesagt ein freundschaftliches Verhältnis, er hat viel für uns getan und das reicht. Ich habe ihn seit langem nicht mehr gesehen, er war in letzter Zeit sehr mit seiner Arbeit beschäftigt. Deswegen kann ich Ihnen auch nicht weiter helfen."

    „Hatten Sie jemals Kontakt zu seiner Frau?"

    „Nein."

    „Lao Zhangs Frau hat Sie auch nie kontaktiert?"

    „Nein."

    „Wie lange dauerte Ihre, äh, Freundschaft an?"

    „Bis zum Beginn der Kulturrevolution. Lao Zhang wurde dann nach Anhui versetzt."

    „Haben Sie ihn danach noch mal wieder gesehen."

    „Ja."

    Dong Lian wurde wütend, dass er Hua Junshis Mutter alles aus der Nase ziehen musste, gab sich aber große Mühe, das zu verstecken.

    „Wie oft haben Sie ihn noch gesehen?"

    „Keine Ahnung, vielleicht dreimal, vielleicht aber auch viermal. Ich habe es nicht gezählt."

    „War das während der Kulturrevolution oder danach?"

    „Während, danach habe ich ihn nicht mehr gesehen. Obwohl, doch, im Fernsehen."

    Lian Dong gab auf, er bekam das Gefühl, dass Hua Junshis Mutter tatsächlich nichts weiß, was zu der Aufklärung des Falles beitragen könnte. Und auch wenn sie deutlich ihren Unmut über diese Fragerei durchblicken ließ, glaubte er ihr. Hua Junshi indes fühlte sich wie in einer Zwickmühle. Er erinnerte sich an das Weinen der Mutter damals vor vielen Jahren und nahm sich vor, noch mal unter vier Augen mit seiner Mutter zu reden. Erst einmal zogen sie aber mit relativ wertlosen Erkenntnissen von dannen.

    Die Frau von Lao Zhang machte derweil keinen Hehl aus ihrem Hass ihrem Mann gegenüber.

    „Ein Frauenheld war er, nichts anderes! Ständig schlief er woanders, mir erzählte er, er müsse im Büro bleiben und Überstunden machen. Pah, das ich nicht lache! Für wie blöd hat er mich eigentlich gehalten! Und ich möchte nicht wissen, was er in Anhui alles getrieben hat! Monatelang kam er nicht nach Hause, rief nicht an, schrieb keinen Brief. Mich wundert es nicht, dass man ihn in einer Müllkippe gefunden hat. Wahrscheinlich hat ein gehörnter Ehemann ihm aufgelauert."

    In ihren Augen blitzte nur Wut, keine Trauer, keine Anteilnahme über den gewaltsamen Tod ihres Ehemanns, mit dem sie immerhin viele Jahre Tisch und Bett geteilt hatte. Dong Lian räusperte sich: „Ihnen ist bewusst, dass Sie auch zu den Verdächtigen gehören, oder?"

    Erschrocken sah die Witwe auf, dann nahm die Wut wieder Überhand.

    „Ich wünschte, ich hätte es getan und zwar viel früher! Aber Sie können mir glauben, an dem Kerl hätte ich mir nicht die Hände schmutzig machen wollen."

    „Einem die Kehle durchzuschneiden sieht auch eher nach Männerarbeit aus, findest du nicht?" gab Hua Junshi später zu Bedenken.

    „Wir dürfen uns nicht von dem Offensichtlichen blenden lassen, sondern müssen jedem Detail nachgehen, warnte Dong Lian. „Mal sehen, ob der Autopsiebericht noch etwas hergibt.

    Aber bevor sie zurück ins Revier fuhren, stand noch ein Besuch in dem Büro von Lao Zhang auf dem Plan. Dort erfuhren sie allerdings nicht sehr viel, außer dass Lao Zhang ein geschätzter Kollege war, verlässlich und linientreu. Sie bekamen ein paar Telefonnummern und Adressen aus Anhui, um dort die Kollegen auf die Spur schicken zu können. Das veranlasste Hua Junshi sofort, als sie im Revier ankamen. Der vorläufige Autopsiebericht lag auch schon vor und gemeinsam gingen sie ihn durch. Fest stand, dass Lao Zhang auf der Müllkippe ermordet wurde. Die Spurensicherung fand sein Blut in dem stinkenden Müllberg, aber nicht die Tatwaffe. Bei der musste es sich um ein relativ kleines Messer gehandelt haben, nicht besonders scharf. Vielleicht ein kleines Küchenmesser. Der Täter muss Linkshänder gewesen sein, das konnte der Arzt an der Art des Schnittes feststellen.

    „Das schränkt die Suche beträchtlich ein", freute sich Dong Lian, denn die meisten Chinesen verlangten von ihren linkshändigen Kindern sich auf die rechte Hand umzugewöhnen, sobald sie schreiben lernten. Damit war die Zahl der Linkshänder relativ klein. Hua Junshi wurde blass. Seine Mutter war Linkshänderin. Die Todeszeit stand ebenfalls fest, er muss in der Nacht vom 26. August auf den 27. ermordet worden sein, so gegen zwei Uhr morgens.

    „Wir müssen alle Befragten noch mal anrufen und nach dem Alibi fragen und natürlich, ob sie Linkshänder sind", entschied Dong Lian.

    „Das mach ich", meldete sich Hua Junshi etwas zu eifrig zu Wort.

    Misstrauisch sah der Vorgesetzte Liu den jungen Kollegen an. „Okay, ich möchte den vollständigen Bericht bis heute Abend auf dem Tisch haben."

    „Kein Problem!"

    Hua Junshi sah betont gelassen in die Runde und notierte in seiner kaum leserlichen Handschrift den Befehl. Weiterhin ergab der Bericht, dass die Geldbörse als auch sämtliche Papiere fehlten. Die Frage war, ob er die nicht dabei hatte oder eben einem Raubüberfall zum Opfer gefallen war.

    „Tja, sieht so aus, als ob wir diese Möglichkeit auch in Betracht ziehen müssen, sagte Dong Lian, „aber erst einmal müssen wir uns ein genaues Bild von Lao Zhang machen. Vielleicht war es doch ein gezielter Mord. Seine Frau hat ja nicht gerade in den höchsten Tönen von ihm gesprochen.

    Bewundernd und ängstlich zugleich sah Hua Junshi seinen kombinierenden Kollegen an. Sollte seine Mutter etwas mit dem Mord zu tun haben, wird Dong Lian das herausfinden, das war ihm klar. Er musste heute Abend dringend noch einmal mit seiner Mutter sprechen. Und diesmal mussten er und vor allem sie mit offenen Karten spielen.

    *  *  *

    Langsam steigt schon die Übelkeit in Hua Junshi hoch. Dieses ganze verdammte Bier! Sich einem Toast zu widersetzen kommt in China einem Gesichtsverlust gleich. Es ist im Revier allgemein bekannt, dass Hua Junshi alles andere als trinkfest ist. Und er löst damit immer noch ungewollte Heiterkeit aus. Jedes Mal fragt er sich, wie seine Kollegen diese Unmengen an Alkohol vertragen.

    „Vielleicht sollte ich einfach mal den Finger in den Hals stecken", überlegt er. Doch schon allein der Gedanke genügt. Mit einer schnellen Bewegung dreht er den Kopf und erbricht das scharfe Huhn, den Sellerie mit Lilienblättern und ungefähr einen Liter Bier in einem bräunlichen Schwall auf die weißen Kacheln des Restaurantbodens. Das Erbrochene fliesst auf dem unebenen Boden Richtung Tür.

    „Wenn ich nicht wüsste, dass dies eine Verabschiedung in die Rente ist, würde ich sagen, der Neuling hat sich nicht im Griff",

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