Nirgendwo
Von Kristin Schmidt
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Buchvorschau
Nirgendwo - Kristin Schmidt
Impressum
Nirgendwo
Kristin Schmidt
Copyright 2011 Kristin Schmidt
published at epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
ISBN 978-3-8442-0540-4
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Kristin Schmidt
Nirgendwo
Klaus, meinen Freunden und allen armen Seelen gewidmet.
Kapitel 1
Scheppernd fiel ein Putzeimer zu Boden. Ein halblauter Fluch, Frauen lachten. Emsig wurden die Pfeiler gewienert, eifrig die Simse gewischt, die Decken mit Stangen, an denen Schwämme befestigt waren, sorgfältig gereinigt. Auf die Fliesen des Atriums wurden Sägespäne gestreut, die, nachdem sie sich mit dem Schmutz verbunden hatten, wieder weggekehrt wurden. Wie jeden Morgen fühlte sich die Römerin in ihre Kindheit versetzt. Seitdem waren diese Geräusche ihr vertraut und begleiteten sie in den Tag. In diese Gedanken verwoben und leise vor sich hin lächelnd, erschien eine Frau, die einen Teller mit Feigen und Datteln sowie einen Becher Wasser trug. Die Sklavin Livia stellte das Frühstück neben das Bett und sagte:
„Salve, Domina, wie hast du geschlafen?"
„Salve, Livia, verhältnismäßig gut", antwortete Servilia.
„Wenigstens haben mich diese Nacht keine Krämpfe geplagt."
Die Herrin nahm eine Dattel und dachte daran, dass dieser Tag ein ganz besonderer sei. Die Iden des März. Heute vor zwanzig Jahren war das Unfassbare geschehen. Der göttliche Cäsar, wie Servilia nicht ohne Ironie dachte, war ermordet worden. Zu den sogenannten Verschwörern gehörte auch ihr Sohn Marcus Brutus.
„Ach Brutus, wie gründlich hast du dich getäuscht. Es ist bitter, wenn die republikanischen Ideale von der Wirklichkeit überholt werden. Statt von Volk und Senat gefeiert, wurdest du mit den anderen an den Pranger gestellt. Der Senat bestätigte ausdrücklich das Werk Cäsars. Nur aufgrund der mutigen Intervention Ciceros kamt ihr mit einer Amnestie davon. Das Testament des Imperators, das das Volk reichlich mit Geld und Grundstücken versorgte, wurde öffentlich verlesen.
Bei der Leichenfeier hielt Antonius dem Volk die grausig-zerfetzte Toga Cäsars entgegen. Das Kleidungsstück wies die Spuren von dreiundzwanzig Wunden auf, die dem Opfer beigebracht worden waren. Bei dem Anblick der blutbefleckten Toga schrie die Menge auf und wollte die Häuser der Mörder stürmen. Es blieb euch nur die Flucht aus der Stadt. Die Zeit der Tyrannenmorde war endgültig vorüber. Ihr hattet es nur zu spät bemerkt."
Servilia seufzte und stand auf. Es war Zeit, sich zurechtzumachen. Sie streifte ihre Sandalen über und warf sich den Amictus, einen Umhang, um. Dann holte sie die Lapsa aus der Truhe, ein Kästchen aus massivem Silber, in dem sie ihre Schminkutensilien aufbewahrte. Mit dem Kästchen in der Hand ging die Herrin ins Bad, wo bereits Livia auf sie wartete.
„Die Ornatrix wird sofort da sein. Sie wartet schon auf dich, Herrin", sagte die Sklavin bei ihrem Eintreten.
Jeden Tag entdeckte Servilia eine neue Falte.
„Waren ihre Haare nicht gestern noch dunkler gewesen? Und die Krähenfüße um die Augen, die verräterischen Spuren des Alters um die Lippen."
„Salve, Domina, begrüßte sie die Ornatrix ehrerbietig. „Wie darf ich dich heute frisieren?
„Salve, Ornatrix, gab Servilia zur Antwort. „Wie immer auf die republikanische Art. Mittelscheitel mit einem Knoten im Nacken
.
„Wenn ich mir eine Anmerkung erlauben darf, Herrin. Es würde sehr vorteilhaft aussehen, wenn einige Locken dein Gesicht umrahmten.
„Meinst du wirklich?", fragte Servilia besorgt und musterte sich aufmerksam im Spiegel.
„Wäre das nicht etwas zu frivol für mein Alter?"
„Überhaupt nicht. Es würde nur die Strenge der Frisur ein wenig mildern."
„Nun gut. Warum nicht. Ich bin einverstanden", erklärte Servilia schließlich.
Während die Friseuse ihres Amtes waltete, dachte die Republikanerin erneut an ihren Sohn und an jenen denkwürdigen Tag vor zwanzig Jahren. Sie hatte nichts von den Attentatsplänen gewusst. Freilich geahnt hatte sie, dass etwas im Gange war. Und dennoch hatte sie die Nachricht vom Tode Cäsars getroffen wie ein Blitz. Sie lag gerade beim Mittagessen, als ihr eine Sklavin die Neuigkeit berichtete, die sich mit Windeseile in der Stadt verbreitet hatte. Ihr erster klarer Gedanke galt Brutus.
„Was wird aus meinem Sohn? Wie kann ich ihm helfen?", schoss es ihr durch den Kopf.
„Dein Sohn ist bei der Ermordung des Diktators an der Hand verletzt worden, berichtete die Sklavin weiter. „Im Augenblick hält er eine Rede auf dem Forum, um das Volk zu beruhigen.
„Begib dich sofort dorthin und nimm Claudius als Begleiter mit. Berichte mir auf der Stelle, wenn es etwas Neues gibt", befahl die Herrin.
Wie die besorgte Mutter später erfuhr, hatte diese Rede keinen rechten Erfolg. Deshalb begab sich Brutus mit seinen Anhängern auf das Capitol. Dort hielt er eine viel beachtete Rede, die die Veteranen Cäsars für seine Sache einnehmen sollte. Indessen ließ Servilia nichts unversucht, um Brutus und ihrem Schwiegersohn Cassius, der ebenfalls zu den Verschwörern gehörte, zu helfen. Vor allen Dingen versuchte sie, Cicero, der ihren politischen Sachverstand schätzte, für ihre Sache zu gewinnen.
Mit Erfolg. Denn der berühmte Redner setzte den bereits erwähnten Amnestiebeschluss des Senats durch. Damit waren jedoch noch nicht alle Gefahren gebannt. Anfang Juni wollte Brutus, der das Amt des Prätors Urbanus innehatte, auf jeden Fall nach Rom zurückkehren und seine Spiele ausrichten. Das musste Servilia unbedingt verhindern.
Bei einer Beratung in Antium am 8. Juni ging es um diese Frage. Außer Brutus waren Cicero und Cassius, Tertullia, die Halbschwester des Brutus, Porcia, dessen Frau, und natürlich Servilia dabei. Nur mit großer Mühe gelang es Servilia schließlich, ihren Sohn von der Abreise zu überzeugen.
Die alte Frau seufzte.
„Bist du mit deiner Frisur nicht zufrieden?", fragte die Ornatrix ängstlich.
Zerstreut blickte die Herrin in den Spiegel und sah nicht die neue Haarpracht, sondern das Gesicht ihres Sohnes, als er sich von ihr verabschiedete.
„Sie ist sehr schön geworden, Ornatrix", erwiderte Servilia.
„Jetzt lege noch ein wenig Schminke auf. Ich will jünger aussehen, als ich bin!"
Sogleich machte sich die Ornatrix an ihre mühevolle Arbeit. Sie öffnete die Capsa und entnahm ihr die zahlreichen Töpfchen, Fläschchen und Döschen, deren sie für ihre Tätigkeit bedurfte. Zunächst bleichte sie Gesicht und Arme der alten Frau mit Kreide und Bleiweiß, dann färbte sie Wangen und Lippen mit dunkelroter Weinhefe. Das Resultat konnte sich durchaus sehen lassen: Der geschminkten Servilia war ihre einstige Schönheit deutlich anzusehen. Es war nun verständlich, warum sich Cäsar vor fast vierzig Jahren in die überaus kluge und pflichtbewusste Frau verliebt hatte. Zum Schluss legte die Herrin den Schmuck an: die Ohrringe, die Halsketten, den Brustschmuck, die Armbänder, die Fingerringe und die Armreifen. Danach eilten die Kammerfrauen herbei und legten ihr eine blaue Stola aus Baumwolle um. Schließlich umhüllten sie Servilia mit der Palla, ihrem gefalteten Mantel in Dunkelblau.
Die Toilette war beendet. Servilia betrachtete sich im Spiegel. Sie fragte sich, ob Cäsar wirklich und wahrhaftig ermordet worden war.
„Lebte er nicht vielmehr in seinem Adoptivsohn und Erben Augustus weiter? War sie der einzige Mensch in Rom, der sich noch an die Iden des März erinnerte, an Brutus, an Cicero, an die glorreichen Tage der Republik? War sie ein Relikt aus einer vergangenen Zeit?"
Kapitel 2
Die Sonne schien schon durchs Fenster, der Verkehrslärm brandete gegen die Scheiben, vom nahen Bahnhof fuhr ein Zug ab. Zwei Tauben gurrten. Als Tanja Thiller erwachte, war es neun Uhr. Entschlossen stand sie auf, um in der Küche den Kaffee zuzubereiten. Während die Kaffeemaschine dampfte, fragte sie sich, warum sie sich überhaupt die Mühe machte aufzustehen. Der Tag dehnte sich vor ihr wie ein weißes Blatt Papier, das niemand mit Zeichen beschrieb, und sie selbst hatte nicht die Kraft gefunden, den Tag zu beschreiben. Tanja fühlte sich, als fiele sie in einen nicht enden wollenden Abgrund und niemand war da, der sie auffing.
Die junge Frau hatte keine Arbeit und kein Geld. Dafür hatte sie allerdings Zeit im Übermaß. Seit Jahren dauerte dieser Zustand, der nur für eine kleine Weile geplant gewesen war und sich jetzt ins Endlose fortzusetzen schien. Wäre es nicht besser, fragte sich die 39jährige und goss sich eine Tasse Kaffee ein, den Rest des Lebens einfach zu verschlafen, sich in die Daunendecke einzukuscheln und zu träumen. In ihren wenigen wachen Stunden könnte sie lesen, fernsehen oder Besuch empfangen, der sich freilich bereit erklären müsste, Kaffee oder Tee zu kochen und für das leibliche Wohl zu sorgen.
Jedes Mal wäre sie dann erleichtert, wenn die Tür hinter dem Besucher ins Schloss fiele und sie sänke, von dieser Berührung mit der Außenwelt befremdet, wohlig-erschöpft in ihre Kissen zurück. Ein solches Leben wäre ihrem Frührentnerdasein nicht nur angemessen, es würde ihr auch keinesfalls das Gefühl geben, etwas zu versäumen. Letztlich wäre dieses Dasein nur die totale Konsequenz aus einer Lage, welche die Gesellschaft ihr zugeteilt hatte.
Als promovierte Germanistin gehörte Tanja zum akademischen Proletariat: dem Taxi fahrenden Philosophen, dem Kisten stapelnden Betriebswirtschaftler, der kellnernden Slawistin. Ohne Unterlass produzierte die geile Alma Mater Akademiker und Akademikerinnen, um sie – oftmals nach einer schweren Geburt – auf der Müllkippe auszuwerfen. Dort rieben sich die Diplomierten, Promovierten und Habilitierten erstaunt die Augen und stellten sich verdutzt die Frage, wie es sie nur an diesen stinkenden, verdreckten, verschleimten Ort hatte verschlagen können. Die meisten mussten feststellen, dass in der Gesellschaft keinerlei Bedarf an ihrer Arbeitskraft bestand, weil sie keine Rentabilität garantierte. Mit anderen Worten, von einem Tag auf den anderen waren sie überflüssig geworden.
Seit Langem war es die Gesellschaft gewohnt, den größten Teil ihrer Elite als Ausschuss zu betrachten, der allein der Aussonderung diente.