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Verrückt in Bonn: Roman
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eBook264 Seiten3 Stunden

Verrückt in Bonn: Roman

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Über dieses E-Book

Spätsommer 1997 in Bonn. Neuartige Störungen im Regierungsapparat. Nie beschlossene Änderungen von Gesetzen und Verordnungen erscheinen im Bundesgesetzblatt. Geheimnisvolle Zeichenfolgen tauchen in amtlichen Schriftstücken auf. Nonsens-Texte werden im interministeriellen Informationssystem verbreitet. Dienstliche Texte sind spielerisch umgestaltet worden. Unsicherheit, Panik in den Ministerien. Treibt ein Einzelner sein Unwesen? Ist es eine Gruppe, die der Bundesrepublik schaden will? Oder greifen die bewährten Methoden des Ausbalancierens gegensätzlicher Kräfte nicht mehr, weil Ministeriale sich abweichend vom Kodex verhalten?
Eine dreiköpfige Task-Force wird zusammengestellt, um den Verursachern auf die Schliche zu kommen und ihre Motive zu erforschen. Die Mitglieder dürfen weder aus dem Bonner Regierungsapparat noch aus einem Geheimdienst oder einer Polizeidienststelle kommen. Berufen werden: ein höherer Beamter aus dem Finanzministerium eines neuen Bundeslandes, eine Expertin für Kommunikationsstörungen in Großorganisationen aus der Staatskanzlei eines süddeutschen Bundeslandes und ein bewährter Spezialist für das Aufspüren von Störungsursachen in komplexen Informationssystemen, der zu DDR-Zeiten Offizier bei der Nationalen Volksarmee war, nach der Wende als Mitarbeiter der Treuhandanstalt Vereinigungskriminalität aufgespürt hat.
Die Sonderermittler gewinnen in verschiedenen Ministerien erstaunliche, aber nicht zielführende Erkenntnisse. In ihrer Freizeit dagegen haben alle Drei überwältigende Erlebnisse, indem sie erfahren, dass es in Bonn bürgerliche Frauen gibt, die sich viel Freiheit bewahrt oder erworben haben und gradlinig damit umgehen.
Nach siebeen Wochen mit teilweise skurrilen Rechercheerlebnissen und traumhaften privaten Begegnungen nimmt alles ein unerwartetes Ende - Vielleicht mit einer Ausnahme.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum16. Nov. 2017
ISBN9783745048490
Verrückt in Bonn: Roman

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    Buchvorschau

    Verrückt in Bonn - Hubert Schem

    1

    Er zog mit der Linken die Schiebetür auf, betrat das leere Abteil, wählte nach alter Gewohnheit den Fensterplatz mit dem Rücken zur Fahrtrichtung, wuchtete seinen Koffer auf die Ablage und ließ sich in die Polster fallen. Vertrauend darauf, alle wichtigen Reisedaten im Kopf zu haben, war Jürgen Rüthberg am Hamburger Hauptbahnhof gelassen ausgestiegen, ohne die undeutlichen Ansagen zu beachten, war zügig zu dem im Fahrplan angegebenen Bahnsteig gegangen und hatte dort endlich eine den Anschlusszug betreffende Mitteilung verstanden. Hastig mit seinem schweren Koffer erneut eine Treppe hinauf, die übernächste hinunter, in letzter Sekunde in den nächstbesten Wagen; mit dem Koffer in der Rechten in verdrehter Haltung den schmalen Seitengang entlang schlurfen, trippeln, stolpern, ein leeres Abteil als Einladung verstehen und auf den weit vorne in einem Großraumwagen reservierten Platz verzichten. altungfieErinnerungen und Gedanken schweifen lassen, ohne Gesicht und Haltung kontrollieren zu müssen, dösen, schlummern, träumen – welch reizvolle Aussicht.

    Mehr als vier Stunden allein im Abteil. Von der vorbeihuschenden Außenwelt nichts, was den Augenblick überdauerte. Scharfe und verschwommene Bilder aus ferner und naher Vergangenheit vermischten sich mit wachgerufenen Gefühlsvariationen. Angenehmes, Interessantes, auch Belangloses; aber kein Anflug quälender, hässlicher oder auch nur vage unangenehmer Erinnerungen. Positives weckt Positives, das wiederum Positives aufruft – eine seiner Grunderfahrungen.

    Als die bevorstehende Ankunft im Bonner Hauptbahnhof angekündigt wurde, sah er sich gerade gefühlsversunken am Rand der westmecklenburgischen Steilküste stehen. Die sonore Stimme aus einer unsichtbaren Lautsprecherbox konnte die frühe Abendstimmung über der unruhigen Ostsee nicht verscheuchen. Wenn die schnell treibenden Wolkengebilde der Sonne Raum ließen, musste er die Hand über die Augen halten, um das ganze Panorama erfassen zu können. Die Lichtspiele auf der unruhigen Wasserfläche. Die ferne Linie des jenseitigen Ufers der Bucht. Unten auf dem weiten Strand ganz vereinzelt sportlich ausschreitende oder nach Schätzen suchende Spaziergänger. Kein Ton von Menschen oder Menschenwerk dringt herauf. Im flachen Wasser bemüht sich ein Paar mit unerschöpflicher Geduld, einen Surfdrachen wieder richtig in den Wind zu bringen. Sie versucht jetzt mit seiner Hilfe, auf dem Board Fuß zu fassen, während er mit der Linken die Schnüre des Drachens hält, dessen einer Teil vom Wind hin und her gezerrt wird, ohne den schlaff im Wasser liegenden anderen Teil hochziehen zu können. Wieder und wieder misslingen die Bemühungen des Paars. Schließlich versucht er es allein, während sie mit herabhängenden Armen nur noch zusieht: Einige sichere Griffe in die Schnüre. Widerstrebend und gleichzeitig aufwärts drängend hebt der Drachen sich in voller Länge aus dem Wasser und wird sofort vom Wind aufgebläht. Sein Bändiger steht schon auf dem Board. Ein Griff dahin, ein Griff dorthin, und aus dem Stand mit Hochgeschwindigkeit ostwärts. Plötzlich hebt er ab: zwei, drei, vier Meter über der kabbeligen See durch die Luft. Höher, weiter. Der Betrachter hält die Luft an. Doch schon sind Brett und Mann zurück auf dem Wasser, um mit weiter gesteigertem Tempo die wilde Jagd fortzusetzen. Die Umrisse sind fast aus Jürgens Blickfeld verschwunden, da - eine knappe Körperbewegung und gegen den Wind geht die Jagd zurück. Wie eine Statue steht die Partnerin bis zu den Oberschenkeln im Wasser. In wechselnd weiten Bögen zieht der athletische Surfer seine Kreise um sie herum. Sie scheint ihn nicht mehr zu beachten. Abrupt wendet der Betrachter auf der Steilküste sich zum Gehen, erfüllt von einem seit vielen Jahren nicht mehr gespürten eigenartigen Ziehen und Drängen, für das er noch nie einen treffenden Begriff gefunden hat. Und schon Raum für Zweifel. Hatte er voreilig aus dem deutlichen Größenunterschied geschlossen, dass ein sportlicher Er eine sportlich ungeschickte Sie im Flachwasser zurückließ? Konnte es nicht umgekehrt gewesen sein? - Eine Rüge aufs eigene Konto!

    HDa Jürgen Rüthberg wusste, dass ihn am Bahnhof niemand erwartete, gab es noch keinen Grund, sich in der Gegenwart zurückzumelden, als er den Zug in Bonn verließ. Ein durch vertraute Signale ausgelöster Automatismus hatte seine Aufmerksamkeit lediglich auf das notwendige Maß erhöht. So fand er sich auf der Poststraße wieder und schlenderte wie ein Tourist in Richtung Münsterplatz. Flüchtige Gedanken an den nächsten Tag konnte er gelassen vorbeiziehen lassen. Wenn er dafür sorgte, vor Mitternacht allein in einem nicht zu weichen Bett zur Ruhe zu kommen, würden ihm spätestens nach dem Frühstück - darauf glaubte er sich aufgrund seiner Erfahrungen verlassen zu können - alle Kenntnisse und Fähigkeiten, denen er seine Mission verdankte, zur Verfügung stehen. Und alle Kenntnisse, Fähigkeiten und Gefühle, die dieser Mission abträglich sein könnten, würden sich wegducken.

    Von der Poststraße war anscheinend seit den Fünfziger

    Jahren nicht mehr als der Name erhalten geblieben. Jürgen vermied es, seine vagen Erinnerungen zu konkretisieren und mit der Gegenwart zu vergleichen. Oft genug hatte er erfahren, dass die Konfrontation von erinnerten mit gegenwärtigen Bildern Enttäuschung und Wehmut erzeugt. Und nichts trieb ihn an, den schönen Spätsommerabend durch süße, säuerliche, bittere oder auf vielfältige Weise gemischte Erinnerungen zu einem höchst privaten Gedenk- und Wehmutsfestival eines seit einigen Jahren wieder alleinstehenden Mannes im dritten Drittel seines Lebens ausarten zu lassen.

    Am Münsterplatz wandte er sich ohne bewusste Entscheidung nach rechts. Die eigenartige Lage des Münsters schräg zum Platz war ihm früher nicht aufgefallen. Jetzt dachte er an einen Riesenfindling, lange vor allem Menschenwerk in einer Endmoräne eingesunken und Tausende von Jahren später generationenlang kunstvoll bearbeitet, bis Türme und Zinnen sich stolz zum Himmel reckten, während der Steinkoloss weiter Millimeter um Millimeter in der Erde versank.

    Die klaren Töne eines Hammerklaviers riefen ihn in die Gegenwart zurück. Ohne zu überlegen, wandte er sich um und ging mit schnellen Schritten in Richtung des Beethovendenkmals. Das Klavier stand einige Meter vom Denkmal entfernt auf dem schwarzen Ascheplatz, ein Teller mit Münzen in diskretem Abstand auf einem Schemel. Ein junger Mann im weißen Hemd mit offenem Kragen war mutig oder dreist genug, unter den Augen des größten Bonners seine Fertigkeiten zu demonstrieren. Unschlüssig schlenderte Jürgen an den stehengebliebenen Passanten vorbei. Als er das Straßencafé an der anderen Seite des Denkmals entdeckte, hatte er ein vorläufiges Ziel. Er fand einen freien Tisch in günstiger Lage. Während der Pianist von Beethoven zu Schubert wechselte, beobachtete Jürgen mit mäßigem Interesse die Zuhörer und wartete gelassen auf die Bedienung. Als er sich schließlich wie zufällig umschaute, sah er auf der Terrasse des Pavillons einen älteren Kellner, der in klassischer Haltung vier offenbar munteren Frauen zuprostete. Alle fünf kippten den Inhalt ihres kleinen Glases rituell hinunter. Und die muntere Unterhaltung wurde sofort noch lebhafter. Jürgen verstand nur zusammenhanglose Wörter, wurde aber von der heiteren Stimmung so angesteckt, dass er nicht bemerkte, wie sich seine Kontrollmechanismen ausschalteten. Eine wohlige Abendsonne, vertraute Töne aus der schönen Müllerin, die heiteren rheinischen Frauen ohne List und Tücke. Minutenlang war er nur noch Gefühl.

    Der Kellner wiederholte mit deutlich rheinischem Akzent freundlich Jürgens Bestellung und notierte sie auf seinem Block. Ohne an den Stufen zur Terrasse zu stolpern oder auch nur zu zögern, ging er hinauf und passierte wortlos den Tisch der fröhlichen Frauen. Eine der Frauen sah ihm nach und machte mit plötzlich ernst gewordenem Gesicht eine kurze Bemerkung, die die anderen zum Verstummen brachte.

    Jürgen bemerkte zu spät, dass er sekundenlang zu dem Frauentisch hinübergeschaut hatte und nun die eine der Frauen unverhohlen anstarrte. Sie hatte seinen Blick anscheinend gespürt und nahm die Herausforderung spielerisch an. Er wandte seinen Blick nicht ab, sondern versuchte ihn möglichst harmonisch so umzugestalten, wie es seinen Vorstellungen von ihren Erwartungen entsprach. Sein Blick sollte nicht das nackte Interesse an ihrer Person zeigen, aber auch keine Sekunde lang jene ausdruckslose Blödheit, die gerade dann erscheint, wenn man sich bemüht, den eigenen Gesichtsausdruck unter Kontrolle zu bringen.

    Sie hielt seinem Blick noch einen Augenblick stand – ein wenig amüsiert, ein wenig frech. Dann wandte sie sich mit einer kurzen Bemerkung ihrer Nachbarin zu, die an dem Turm ihrer pechschwarzen Haare herumnestelte. Wieder gab es eine allgemeine Heiterkeit in der Runde. Auch er versuchte seine Aufmerksamkeit abzulenken und betrachtete das Beethovendenkmal und das Treiben rundherum scheinbar intensiv. Dabei verrückte er seinen Stuhl so, dass er unauffälliger wieder zur Terrasse hinüber sehen konnte. Der Pianist war inzwischen mit seinem Potpourri bei Johann Strauss angekommen, was Jürgen ihm nach kurzer Verblüffung großzügig verzieh.

    Sein Blick blieb nirgendwo hängen. Er drehte seinen Stuhl weitere Zentimeter in Richtung Terrasse. Als er wie zufällig hinübersah, trafen sich ihre Blicke sofort wieder und hielten sich fest. Gleichzeitig ein vielsagendes Lächeln: freundlich, interessiert, verständnisvoll bis verschwörerisch, keine Spur einer spöttischen Beigabe. Es entging ihm nicht, dass er jetzt hellwach war – zum ersten Mal seit vielen Stunden – und dass er bereits beschlossen hatte, es nicht bei diesen Blickkontakten bewenden zu lassen. Bevor sein interner Computer ihm auch nur den Hauch einer Idee für sein weiteres Vorgehen geliefert hatte, veränderte sich die Situation in seinem Blickfeld: Die Frauen schoben ihre Stühle zurück, standen auf, nahmen ihre Handtaschen in den Griff und kamen die Terrassenstufen herunter. Seine Blickpartnerin war hinter den anderen verschwunden. In einen Anfall von Panik hielt Jürgen die Luft an und versuchte dann, ruhig einige tiefe Atemzüge zu machen.

    Als er sie wieder entdeckte, ging sie zwei Schritte hinter den drei anderen Frauen her und sah ihn wieder freundlich-interessiert an. Ihm fiel keine Strategie ein, ihr Fortgehen zu verhindern. Bevor er sich zwischen der blasierten Attitüde des klugen Verzichts und irgendeinem Trick mit hohem Lächerlichkeitsrisiko entscheiden konnte, stand sie plötzlich auf der anderen Seite seines Tisches und setzte sich wortlos ihm gegenüber. Wieder eine leichte Panik-Attacke, die er mit neutralem Gesichtsausdruck zu kaschieren suchte.

    Sieht dieser Koloss nicht aus wie ein Golem für Bildungsbürger? Ihre Stimme war nur leicht rheinisch getönt.

    Jürgen straffte sich innerlich und äußerlich und spielte den Ball zurück: „Welcher Golem, der elektronische Superintelligenzler auf dem Lehrstuhl in Krakau?"

    Nach kurzer Verblüffung lachte sie hell auf. Nein, der eigenhändig aus Lehm gemachte stumme Gehilfe des aus Worms gekommenen Rabbi in Prag.

    Der möge atomisiert auf dem Dachboden der Altneusynagoge ruhen.

    Atomisiert? - Du hast wohl verpasst, dass er längst in neuer Gestalt auferstanden ist. Walle, walle manche Strecke, dass zum Zwecke Wasser fließe ... – Dank unseres Dichterzaren muss keine magische Formel mehr unter der Zunge des Golem liegen, wenn er leben soll. Er lebt weiter in den Köpfen von Millionen angebildeter Deutscher. Grobe Materie wurde reiner Geist.

    Dass sie ihn duzte, irritierte ihn nicht. In dieser spannend verrückten Situation waren bürgerliche Gewohnheiten belanglos. Inzwischen hatte der Pianist wieder mit Vivaldi begonnen, und Jürgen hatte seine behagliche Sicherheit zurückgewonnen. Seine Stimme war ruhig und fest: Ich lasse dir deinen Besen des Zauberlehrlings. Mein Motto heißt: Schafft viele Golems in Bonn - Lem-Golems natürlich.

    Du musst noch viel üben. Das klingt nicht gerade mitreißend. Und außerdem - Hände weg von meinem niedlichen Bonn!

    Er fand keine Antwort darauf und schwieg. Als er plötzlich einen Impuls spürte, sich streng zur Ordnung zu rufen und sich so zu verhalten, wie es für einen zweiundsechzigjährigen Staatsangestellten in einer solchen Situation angemessen war, reagierte er etwas hastig: Sie sind anscheinend eine Eingeborene. Können Sie mir ein preislich moderates kleines Hotel oder eine Privatpension empfehlen, wo man sich halbwegs wohlfühlt, mindestens für drei Tage, wahrscheinlich aber eher für einige Wochen? Staunend hörte er sich sprechen.

    Da kommt nur meine eigene Pension in Frage. Schon beschlossen: Du logierst bei mir.

    Während ihm das Blut zu Kopf stieg, hoffte er wütend wegen des Verlustes seiner Sicherheit, sie möge es nicht bemerken.

    Pension Petula - wer nie dort schlief, hat Bonn verschlafen! Ihre jetzt raue und dunklere Stimme wollte er nicht als ein laszives Versprechen, sondern als dessen ironische Imitation verstehen. Trotzdem war er irritiert durch die Art, wie sie ihre Pension anpries. Er versuchte einen Schuss Ernüchterung in dieses Spiel zu bringen und hoffte gleichzeitig, dass es nichts fruchten werde: Du betreibst also eine Privatpension und akquirierst auf diese Weise Gäste?

    Das klingt nach Spielverderberei. Ein ziemlich grobes Foul! Dafür bist du mir schadensersatzpflichtig.

    Tut mir leid! Also einen Gespritzten?

    Einverstanden; aber dann müssen wir gehen. Ich lebe, lerne, arbeite und liebe auf der anderen Seite des Golem.

    Wir müssen gehen?

    Wer denn sonst! Keine Angst, bei mir wird nicht gebissen, wer nicht gebissen werden will.

    Endlich ein Grund sitzenzubleiben, ohne sich pausenlos unterhalten zu müssen. Während er die Frau einige Sekunden ansah, bemühte er sich, seinen Augen jenen Ausdruck freundlichen aber unaufgeregten Interesses zu geben, den sie beim zufälligen Auftauchen einer alten Bekannten haben dürfen. Erst nachdem er keine kritischen Reaktionen von ihr bemerken konnte, erlaubte er seinen Augen weitere vorsichtige Erkundungen. Jürgen Rüthberg sah sich gerne selbst als einen Mann der Abstraktionen, der Ordnungsprinzipien, der logischen Verknüpfungen – als einen Juristen eben. Beine, Hintern, Bauch Busen, Gesicht - na gut, so etwas registriert man seit unvordenklichen Zeiten wohlgefällig oder mit stiller Kritik; aber das Ergebnis muss nicht differenziert mitgeteilt werden. Über eine pauschale Beurteilung war er nie hinausgekommen. Genaueres hielt er nicht für wünschenswert. Ebenso wenig wie er erklären konnte und wollte, warum ihn ein bestimmtes Kunstwerk beeindruckte, ein anderes kalt ließ. Absurd hätte er es gefunden, sich darum zu bemühen, den Grund dafür zu finden, warum ein Lächeln ihn in fast jeder Situation positiv berührte, welche Bewegungen der Gesichtsmuskeln ihn derartig ansprachen. Umso überraschter war er jetzt, als er bemerkte, wie er sich für einen etwaigen Gesprächspartner oder Briefempfänger abmühte. Gesamteindruck: stattlich aber kein bisschen matronenhaft, gepflegt aber nicht aufgedonnert, reif mit einer altersunabhängigen Jugendlichkeit. Einzelbewertung: Haare dicht und schlohweiß, etwas länger als ein Bubikopf, weder natürliche noch künstliche Locken. Ein Gesicht, das mit seiner auffallend großen, leicht höckerigen Nase und einigen Falten als ausgesprochen ernst oder gar streng bezeichnet werden könnte, wenn nicht dieser Schimmer von freundlich-ironischem Interesse alles Strenge überlagert hätte. Für die Augenfarbe fand er keinen eindeutigen Begriff. Ein helles Grau dominierte; aber es gab auch bräunliche Einsprengsel. Eine originelle Mischung. Ihr geblümtes Sommerkleid - vermutlich viel teurer als es auf den ersten Blick aussah - ließ jeder Einschätzung ihrer Körperformen einen weiten Spielraum. Er schloss jedoch aus ihren Schultern und Oberarmen - möglicherweise auch schlicht aus seinen Wunschphantasien -, dass sie einen sportlichen Oberkörper mit den berühmten kleinen festen Brüsten haben müsse. Begutachten konnte er im Einzelnen nur noch ihre nackten Füße in dünnen Sandalen, ihre Fesseln und ihre linke Wade. Alles andere entzog sich durch Tisch und Kleid seinen taxierenden Augen. Die Zehennägel waren nicht gefärbt und die Zehen auch im übrigen unauffällig, außer dass die großen Zehen ein wenig kürzer waren als die unmittelbar benachbarten. Fesseln und Wade zeigten sich als sportlich-stabil.

    Bevor er den Versuch anstellen konnte, aus den gesammelten Daten ihr ungefähres Alter zu schätzen hatte sie ihn wieder ertappt: Spar dir die Mühe! Sechzig plus/minus fünf - genau wie du. Das muss dir genügen. Und ich warne dich vor schnellen Festlegungen; denn ich bin anders.

    Anders als wer oder was?

    Anders als du denkst oder denken kannst.

    Verzeihung, aber das meint doch fast jede.

    Ah, eine Spezialität der Frauen, Herr Schürzenjäger?

    Jede und jeder oder meinetwegen jedermann, wenn das noch neutral ist.

    Eröffne bitte keinen Nebenkriegsschauplatz! Ich bin anders. Das wirst du schon sehen.

    Wann und wo?

    Wart' es nur ab!

    Nachdem sie ihren Gespritzten hinuntergekippt hatten, stand sie sofort auf, lächelte ihn verschwörerisch an und schien zu zitieren: „Auf zur Pension Petula, wo unsres Staates Diener findet Ruh nach Frust und Hast. Und findet mehr, wenn er es fasst."

    2

    Nichts ließ von außen oder innen auf eine Privatpension schließen. An der Klingel verblasst der Name Schillingsteg. Die Innenaufteilung so unübersichtlich wie es sich für stattliche Altbauten gehört. In seinem anhaltenden Ausnahmezustand interessierte Jürgen sich nicht dafür, was es mit dieser angeblichen Pension auf sich habe. Die vorgebliche Pensionswirtin führte ihn zunächst ins Wohnzimmer, von wo aus man fast den ganzen Münsterplatz überblicken konnte. Einige Minuten stumm nebeneinander stehend, sahen sie zum Beethoven-Denkmal mit dem Menschengewusel hinunter. Der unermüdliche Pianist war wieder aktiv. Einzelne Tonfetzen forderten zum Kombinieren auf. Mit einer Mischung aus angenehmsten Gefühlen und leichter Beklemmung erwartete Jürgen eine geradlinige Aktion von seiner Wirtin, hielt es aber auch für möglich, dass sie etwas von ihm erwartete, was seine Vorstellungskraft nicht konkretisieren wollte. In ihrer ureigensten Umgebung wirkte sie auf ihn jetzt zweifelsfrei diesseitig.

    Bevor die aufkommende Unruhe sich in ihm ausbreiten konnte, holte ihre Stimme ihn aus seiner stummen Erstarrung: Wie war es möglich, dass du meine Bemerkung über den Golem verstanden hast? Was weißt du von ihm?

    Was man so liest, wenn man sich auf einen Besuch in Prag einigermaßen vorbereitet hat und dann auch in der Altneusynagoge war. Der Rabbi Löw, der von Worms nach Prag gezogen oder geflüchtet war. Einige Sagen. Der Roman von Gustav Meyrink. Ein englischer Film mit dem Titel 'Der Golem lebt'. Und ich weiß inzwischen auch, dass der Rabbi Löw nicht der erste und einzige war, der so einen seelenlosen Menschengehilfen oder Übersoldaten erschaffen haben soll. Es soll sich um einen bei vielen orientalischen Völkern verbreiteten Mythos handeln.

    Unser Adam soll ja angeblich auch aus Matsch gemacht worden sein. Also sind wir doch alle Golems oder Golemkinder. Schwerfällig, stur, aber unheimlich stark.

    Er verbiss sich ein Lachen und schluckte auch eine ironische Bemerkung hinunter. Nein, das war womöglich doch mehr als nur der Ausdruck ihrer rheinischen Lust am Nonsens. Und auch keine Koketterie. Da steckt womöglich viel mehr dahinter, fuhr es ihm durch den Kopf. Also schwieg er beharrlich. Dank Petulas gelassen-sicherer Direktheit gelang schließlich der Übergang zu dem undeutlich Erwarteten ohne peinliche oder verstörte Augenblicke. Sie kundig, zielsicher, schamlos im besten Sinn; er lernend, leistend, genießend im ausgewogenen Wechsel. Eine selbstverständliche Übereinstimmung, mit Ungleichzeitigkeit das Altideal der Gleichzeitigkeit zu toppen. Nichts von einem faden Nachgeschmack.

    Nachher fragte sie ihn freundlich-hartnäckig über sein Leben in Bonn von 1955 bis 1958 aus. Wo war er wann gewesen? Was waren seine Stammkneipen? Was seine Feierabend- und Wochenendbeschäftigungen? Hatten sie womöglich beide an irgendeiner erinnerungswürdigen Veranstaltung teilgenommen? Ja, 1956 waren sie beide Teilnehmer einer großen Demonstration gegen die Niederschlagung des Aufstandes in Ungarn durch die Panzer der Sowjetunion. Auf dem Kaiserplatz standen sie als kleine Partikel in einer unübersehbaren Menge und hörten dem Philosophie-Professors Theodor Litt zu. Beide konnten sich sogar an einen Zwischenruf erinnern, mit dem ein Wort zu dem Vorgehen der Engländer und Franzosen am Suezkanal eingefordert wurde. Beide waren beglückt, sich zu erinnern, dass die Antwort von Litt sie enttäuscht hatte. Mit lockerer Ernsthaftigkeit behauptete Petula schließlich, ihren neuen Pensionsgast schon seit vielen Jahren zu kennen. Sie zweifle nicht daran, dass er der Mann sei, dessen Bild sie seit über dreißig Jahren in unterschiedlich konkreter Ausprägung immer mal wieder vor ihrem inneren Auge gehabt habe. Begonnen habe das in der Zeit, als sie sich entschlossen habe, den Vater ihres zwei

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