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Richard Wiedendoms verstörender Wendegewinn
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Richard Wiedendoms verstörender Wendegewinn
eBook360 Seiten5 Stunden

Richard Wiedendoms verstörender Wendegewinn

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Über dieses E-Book

Richard Wiedendom, ein menschenfreundlicher Westberliner der Trümmerkinder-Generation mit einigen ziemlich unerschütterlichen moralischen Prinzipien durchlebt in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung ein Wechselbad von höchst erfreulichen und bedrückenden Ereignissen, Problemen, Prüfungen und Befindlichkeiten. Einerseits beschert ihm die Wiedervereinigung die Möglichkeit, als Erbe seines Vaters Eigentümer eines wertvollen Grundstücks im Rostocker Stadthafen zu werden, das einst zum Unternehmen seines vom NS-Volksgwerichtshof zum Tode verurteilten, aber nicht hingerichteten Vaters gehörte. Andererseits erfährt er Neuigkeiten über die Tätigkeiten seines Vaters während der Nazizeit, die ihn in Konflikt mit seinen moralischen Überzeugungen bringen. Seine beiden Söhne sind aus verschiedenen Gründen in einer prekären Situation und auch die drei Enkelkinder tragen dazu bei, seine ehernen Grundsätze hinsichtlich der materiellen Folgen bestimmter Unrechtshandlungen während der Nazizeit und ihrer Wiedergutmachung an Erben oder gar Erbeserben des Geschädigten in Frage zu stellen.
Während eines langjährigen Verwaltungs- und Gerichtsverfahrens, das den äußeren Spannungsbogen bildet, macht Richard einen extrem strapaziösen Prozess durch, der ihn nicht nur gesundheitlich an die Grenze des Todes bringt, sondern ihn immer wieder zwingt, bestimmte "Wahrheiten" zu überdenken.
Seine Nachkommen, seine späte Liebe zu einer wesentlich jüngeren Journalistin, seine Freundschaft mit einem alten Freund aus Studienzeiten, der ihn in dem Verfahren rechtlich vertritt, die Erinnerung an seine vor Jahren tödlich verunglückte Ehefrau und Mutter seines älteren Sohnes, die Entwicklung seines vor Jahren abgebrochenen Beziehung zur Mutter seines jüngeren Sohnes und seine quicklebendigen Enkelkinder - das alles treibt ihn um, verändert ihn, macht ihn zeitweise ratlos, doch schließlich anscheinend "weise".
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum11. Sept. 2017
ISBN9783745018981
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    Buchvorschau

    Richard Wiedendoms verstörender Wendegewinn - Hubert Schem

       E R S T E R   T E I L 

          1

    Mit meinem Freund Richard schien mir etwas nicht zu stimmen, als wir in meiner neuen Lieblingsgaststätte am Landwehrkanal in Kreuzberg bei unserem Eingangsgeplauder von Thema zu Thema sprangen. Zwar bemerkte ich keine Abweichungen  von den Gepflogenheiten, die sich bei unseren unregelmäßigen Treffen an wechselnden Orten in vielen Jahren herausgebildet haben - mal ernsthaft konzentriert, mal mit unserer inzwischen fast nur noch gutmütigen Ironie. Doch irgendetwas zwang mich zu erhöhter Aufmerksamkeit, ohne mir meine angenehme Grundstimmung zu verderben. Erst als ich später am Tisch eines unserer ganz privaten Stichwörter gebrauchte, mit denen wir uns gegenseitig bei angemessener Gelegenheit längst Vergangenes vor Augen und ins Gemüt zaubern können, reagierte Richard deutlich auffallend. Er ging auf mein gutgemeintes Verweisungsspiel gar nicht ein, sondern schien sekundenlang geistesabwesend zu sein. Jetzt war mir klar: Richard hat sich heute Abend von Anfang an bemüht, heiter zu erscheinen und locker über mehr oder weniger Belangloses zu reden, obwohl ihm etwas Schwerwiegendes auf der Seele liegt.

    Mir verengten sich Brust und Hals. Und sofort vermischte sich meine Sorge um Richards Befinden mit einer dunklen Angst vor einem eigenen Kollaps mit unabsehbaren Folgen. Trotzdem unterdrückte ich einen Impuls, Richard geradeheraus zu fragen, was mit ihm los sei. Als er wenig später seinen noch halbvollen Teller zurückschob, schweigend jetzt, mit gesenktem Blick, glaubte ich bereits sicher zu sein, dass mein Freund mir gleich von einer jener persönlichen Katastrophen berichten würde, auf die man in unserem Alter gefasst sein muss. Ohne Genuss kaute ich die letzten Bissen und wartete stumm auf seine schlimme Mitteilung.  

    Glücklicherweise dann doch nichts von einer Krankheit zum Tode. Und keine Rede von einer persönlichen Katastrophe anderer Art. Unendlich erleichtert hörte ich Richard zu, wie er mir ernst und konzentriert von dem neuesten Stand einer ihn umtreibenden außergewöhnlichen Angelegenheit berichtete. Außergewöhnlich auch, weil sie bisher nie zwischen uns erörtert worden war. Ich erinnerte mich sofort, wie er Jahre zuvor eine kurze Bemerkung darüber gemacht hatte: so betont beiläufig, dass ich die stumme Bitte, es dabei bewenden zu lassen, nicht hatte überhören können, ohne grob gegen die ungeschriebenen Regeln unserer Freundschaft zu verstoßen. So hatte ich meine Neugierde dauerhaft gezügelt. Ob ihm damals und in den verflossenen Jahren etwas im Zusammenhang mit dieser Angelegenheit peinlich war, ob ihm das Ganze noch zu diffus für ein vernünftiges Gespräch erschien oder ob er mich aus unerfindlichen Gründen davon abhalten wollte, mich fachlich einzumischen – ich durfte dem nicht nachgehen. 

    Als wir uns jetzt, wenige Tage vor Weihnachten 1996, in meiner neuen Lieblingsgaststätte gegenübersaßen, waren fast sechseinhalb Jahre vergangen, seit Richard über seinen Schatten gesprungen war und etwas in Gang gesetzt hatte, das ihn jahrelang vordringlich beschäftigen und sein Leben dauerhaft verändern sollte. In einer der ersten Wochen nach dem Beginn der Währungsunion – die Diskussionen über einen sogenannten Dritten Weg für die DDR waren angesichts der Übermacht der wirtschaftlichen Fakten nahezu verstummt und die Verhandlungen über das Wie und Wann der bereits prinzipiell beschlossenen Wiedervereinigung gingen auf verschiedenen Ebenen in einem beispiellosen Tempo voran - hatte er sich ins Auto gesetzt, war proplemlos von Spandau nach Rostock gefahren, hatte sich dort durchgefragt, um bei der damals zuständigen Behörde einen Anspruch anzumelden, der sich auf ein Grundstück in der Nähe des Stadthafens von Rostock bezog. Dabei war ihm selbst noch nicht vollkommen klar, was genau Inhalt dieses Anspruchs sein sollte. Er wollte zunächst vorrangig verhindern, dass von dem oder der Verfügungsberechtigten - damals wahrscheinlich die Anfang März 1990 vom Ministerrat der DDR  gegründete Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums (kurz: Treuhandanstalt oder Treuhand) - so verfügt wurde, dass eine immerhin schon denkbare Rückübertragung des Eigentums an den Erben des früheren Eigentümers nicht mehr möglich sein würde.

    Inzwischen war die Rechtslage durch ein besonderes Gesetz klarer geworden, und Richard hatte einige Fakten von mitentscheidender Bedeutung herausgefunden. Entschieden war allerdings noch gar nichts. Es ging um das Eigentum an einem Grundstück, das einstmals zum Unternehmen von Richards Vater gehört hatte, nunmehr aber zu einer Werftanlage gehörte. Allem Anschein nach musste es einen Millionenwert haben. Richards Vater war  im Herbst 1944 vom NS-Volksgerichtshof zum Tode verurteilt, aus unbekannten Gründen aber nicht hingerichtet worden. Höchstwahrscheinlich war mit diesem Urteil auch sein Vermögen eingezogen worden. Bereits Anfang der fünfziger Jahre hatte er sein Unternehmen, dessen Hauptsitz sich in Berlin-Spandau befand, zurückerhalten. Allerdings ohne das Rostocker Grundstück, das sich damals in der Verfügungsgewalt irgendeiner Organisation der DDR befinden musste. Den Verlust dieses Grundstücks hatte der Unternehmer nach Richards Erinnerung bis zu seinem Tod als endgültig angesehen, als einen Verlust, der nach menschlichem Ermessen auch niemals in irgendeiner Weise wiedergutgemacht werden würde. Als Richard die Nachfolge antrat, war das Grundstück in den Büchern der Baustoffhandlung Philipp Wiedendom GmbH nicht einmal mit einem Erinnerungswert enthalten. Und die Erinnerung in den Köpfen war von Jahr zu Jahr mehr verblasst. Bis die große Wende in der DDR den Erinnerungsverlust jäh aufhob und Möglichkeiten eröffnete, die jahrzehntelang bestenfalls als Träumerei eingeschätzt worden wären.

    Jetzt bat Richard mich, ihn in dem endlosen Verwaltungsverfahren rechtlich zu vertreten. Sein früherer Optimismus sei von einem  Wechselbad der Gefühle abgelöst worden. Auf eine Phase, in der er sich wie ein Kind fantastische Zukunftsbilder ausmale, folge gewöhnlich eine Phase tiefer Skepsis, die wiederum von einer optimistischen Phase abgelöst werde. Die Problematik in dem Verfahren werde immer verwickelter statt klarer. Wenn er nicht  aufgeben und seinen Antrag bei der inzwischen zuständigen Landesbehörde in Schwerin zurücknehmen wolle, brauche er so schnell wie möglich hochqualifizierte Hilfe.

    Ich zweifelte nicht, dass Richard von mir sofort eine vorbehaltlose Zusage erwartete. Doch ich zögerte. Aus guten Gründen, wie ich meinte. Schließlich sagte ich weder ja noch nein, sondern warnte ihn halbherzig vor falschen Erwartungen. Mir sei die spezielle Rechtsmaterie fremder als das Recht im Weltraum. Außerdem könne ich mich als eingefleischter Zivilrechtler im Bereich des Öffentlichen Rechts kaum souveräner als ein gebildeter Amateur bewegen. Und schließlich müsse er doch wissen, wie wenig sich ein deutscher Rechtsprofessor im allgemeinen zur Interessenvertretung in einem handfesten Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren eignet – besonders ein frisch emeritierter, der sich außerhalb des sicheren Geheges seines Fachgebiets erst noch zurechtfinden müsse.

    Meinen Argumenten setzte Richard zunächst nur ein nachsichtiges Lächeln entgegen. Nach längerem Schweigen sammelte er seine Züge, wie unmittelbar vor dem Beginn eines Referats, zögerte noch einmal einige Sekunden und begann dann in einem Tonfall zu sprechen, der mich sofort zu höchster Aufmerksamkeit zwang: „Ich kenne dich seit fünfundvierzig Jahren, Walter. Ich vertraue deinen intellektuellen und fachlichen Fähigkeiten uneingeschränkt. Ein paar Tage Studium der Akten, der Rechtsvorschriften und der bisherigen Rechtsprechung, dann bist du der Experte, den ich benötige. Ich brauche jetzt keinen kläffenden Wadenbeißer und keinen aufgeblasenen Wichtigtuer, sondern einen wirklichen Fachmann mit zivilen Manieren, der mir hilft, das zu bekommen, was mir rechtlich zusteht. Nicht weniger und nicht mehr. Und noch etwas sehr Wichtiges: inzwischen geht es mir um viel mehr als um das Eigentum an einem Grundstück. Hätte ich das 1990 gewusst oder auch nur geahnt, ich weiß heute nicht, ob ich mich trotzdem entschieden hätte, meinen möglichen Anspruch anzumelden. Nun, ich habe die Geschichte aufgerührt. Jetzt muss und will ich die Konsequenzen tragen."

    „Nach meinem Eindruck doch wohl sehr angenehme Konsequenzen", warf ich ein.

    Richard stutzte, sah einige Sekunden durch mich durch und fuhr fort, ohne meinen Einwurf zu beachten: „Wenn die Entscheidung über meinen Rückübertragungsantrag davon abhängt, wie mein Vater zu den Nazis stand – oder genauer: wie die Nazis zu ihm standen -, dann muss nach fast sechzig Jahren einiges gründlich aufgeklärt werden, was zu Lebzeiten meines Vaters aus dunklen Gründen zu den Tabu-Themen in unserer Familie gehörte und danach von mir aus ebenso dunklen Gründen verdrängt worden ist. Hat die mörderische Freisler-Bande ihn zum Tode und zum Einzug seines Vermögens verurteilt, weil sie ihn als Feind des Nazi-Systems einschätzte, oder beruhte das Urteil auf anderen Gründen? War nur das Strafmaß für eine tatsächlich begangene Straftat unangemessen oder hat Vater sich aktiv als Widerständler gegen die Nazis betätigt? Warum wurde das Todesurteil nicht wie damals üblich innerhalb weniger Tage nach der Verkündung vollstreckt? Wieso ist Vaters Unternehmen in jener finsteren Zeit so aufgeblüht? Welche Bedeutung hatte das Grundstück in Rostock für das Unternehmen? Was hat meinen Vater bewogen, es Ende 1938 zu kaufen? - Fragen über Fragen.

    Dazu kommt, dass mir seit einigen Wochen mein Vater wieder allgegenwärtig ist. An einem Sonntagmorgen, als ich mal wieder viel zu früh hellwach im Bett lag und mir nur unangenehme Dinge zusammenhanglos durch den Kopf gingen, erinnerte ich mich plötzlich auch an eine Auseinandersetzung mit meinem Vater, die damit beendet worden war, dass er mich in einer ungewohnten Tonlage und mit einem bis dahin nie gesehenen Gesichtsausdruck ‚bockiger Weichling’ nannte ..." 

    „Bockiger Weichling ...? - Paradox oder ...?"

    „Für mich damals nicht. Seltsamerweise. In mir kochte zunächst wieder mal der Hass hoch. Ich war fünfzehn oder sechzehn. Und dies war nur einer von zahlreichen Zusammenstößen gewesen, die ich seit einiger Zeit mit meinem Vater gehabt hatte. Bockiger Weichling – immer dann, wenn ich später eine ganz bestimmte Stimmung bei mir bemerkte, kam mir Vaters eigenartiges Wörtergebilde in Erinnerung. Gleichzeitig hatte ich wieder seinen rätselhaften Gesichtsausdruck vor Augen und hörte seine ungewohnte Stimme. Irgendwann habe ich mir dann eingestanden, dass mein Vater mit diesen zwei Wörtern einen meiner empfindlichsten Nerven verletzt hatte."

    Ich merkte, dass ich drauf und dran war, Richards Gedankensprüngen nicht mehr folgen zu können und mahnte ihn freundlich, zum Kern seines Anliegens zurückzukommen. Er lächelte gequält und murmelte etwas Unverständliches. Ehe ich reagieren konnte, fuhr Richard fort:

    „Fest steht, dass diese Grundstückssache eine Riesenchance für mich und vor allem für die ist, die nach mir das Familienbanner hochhalten werden. Wir haben alle nichts zu verschenken. Das Grundstück ist angeblich glatt seine vier Millionen wert. Es gibt keinen Grund, die leichtfertig zu verspielen, aus welchem Trieb auch immer."  

    An seinem Bier nippend, blickte Richard über meinen Kopf hinweg versunken ins Leere. Ich sah, dass er noch nicht fertig war und wartete. „Von der anderen Seite der Familienfront fühle ich mich übrigens auch ein wenig bedrängt. Dabei mischt sich wirklich keiner ungebeten ein. Im Gegenteil, meine Söhne reagieren freundlich-nachsichtig, wenn ich das Thema anschneide, als ob die Sache mit dem Rostocker Grundstück so eine Art Altershobby von mir wäre. Ich bin selbst erstaunt, wie es mich irritiert, wenn sie so tun, als ob das ihr eigenes Leben nicht im Geringsten berührte."

    Ich bemühte mich ohne Erfolg, ein ironisches Lächeln zu unterdrücken. Sofort schnappte Richard zu: „Ja, lächle nur diabolisch. Ich weiß, ich weiß! Die Habe, die in einem handlichen Koffer Platz findet, muss ausreichen. Das schafft erst die große Freiheit. Erben und Vererben ist ein Grundübel des Kapitalismus. Ich weiß: Richard Wiedendom, lange vor Achtundsechzig. Vergiss es im Moment mal und geh einfach davon aus, dass ich ganz ordentlich geerbt habe und mich verpflichtet fühle, meinen Söhnen mindestens so viel zu hinterlassen. Je älter ich werde, je gewichtiger wird dieser Gesichtspunkt für mich. Wenn ich mir am Ende eingestehen müsste, dass ich das ererbte Tafelsilber veräußern musste, um so zu leben wie ich gelebt habe – ich fürchte, mein Urteil hieße schlicht und einfach: Versager!"

    „Stopp! Geht es nicht weniger dramatisch? Calvinistischer Kapitalismus statt Bildungsbürger-Sozialismus – mach mir nicht weis, dass du still und heimlich übergelaufen bist, das nehme ich Dir nicht ab. Und – Versager: was soll diese sprachliche Giftspritze mit deiner Lebensleistung zu tun haben, Richard?! - Aber lass uns das jetzt nicht vertiefen. Erzähl mir lieber von deinen Söhnen und Enkelkindern."

    Richard sah mich zunächst verblüfft, dann mit einem Ausdruck ironischen Verständnisses für meine Hinhaltetaktik an. „Der Kleine ist gerade frisch verliebt in eine quicklebendige und charmante Betriebswirtin aus Rostock. Die hat Power für Zwei. Sie ist dabei, sich in ihrer Heimatstadt als Unternehmensberaterin zu etablieren. Er ist nach sage und schreibe sechzehn Semestern inzwischen fertiger Architekt und versucht beruflich Boden unter die Füße zu kriegen. Im Moment ist er in Hamburg bei einem Verein angestellt, der die Interessen der Bürger bei der Errichtung eines sogenannten Musterquartiers ermitteln, kanalisieren und an der richtigen Stelle einbringen soll. Scheint ihm großen Spaß zu machen. Aber die Stelle ist nur auf zwei Jahre befristet und vermutlich äußerst mäßig dotiert. Nach so was frag ich ihn natürlich nicht. Das wäre sozialklimaschädlich. Der Verein hängt an der Nabelschnur des Senats. Die genauen Gründe kenne ich nicht. Also nichts mit Zukunftsperspektive. Aber trotzdem: es ist ein Anfang. Heute schwimmt ja so manches, was früher auf festen Füßen stand. Na ja, Walter, wundere dich nur. Du wirst dich noch öfter wundern, nehme ich an."

    Richard schwieg und wollte mir vermutlich Gelegenheit zu einem Kommentar geben. Doch ich wartete schweigend ab. Und ich hatte mich nicht getäuscht, er fuhr nach wenigen Sekunden im gleichen Tonfall fort: „Bernd ist übrigens nach meinem Eindruck fast besinnungslos verliebt. Dennoch widersteht er den Lockungen seiner Liebsten standhaft, mit ihr zusammen in Rostock beruflich was auf die Beine zu stellen. Thomas’ Frau kennst du ja. Ich vermute, dass sie noch immer vom wahren Sozialismus träumt. Für sie ist die Reprivatisierung in der ehemaligen DDR wahrscheinlich insgesamt ein Gräuel. Ihr Herz gehört den Mühseligen und Beladenen. – Ach, falsche Wortwahl. Ich habe sie von Anfang an ins Herz geschlossen und sehe keinen Grund, daran etwas zu ändern. Dass sie ihre Überzeugung nicht nach der Wende im hohen Bogen über Bord geworfen hat, finde ich nicht nur respektabel, sondern sehr sympathisch. Leider haben sich die beiden vor ein paar Monaten getrennt. Thomas ist aus der Familienwohnung in Konstanz ausgezogen und hat eine kleine Wohnung in Friedrichshafen bezogen, seinem Arbeitsort. Die Zwillinge sind im Prinzip bei Hanna in Konstanz. Diese Trennung ist aus meiner Sicht absurd. Thomas und Hanna verstehen sich nach meinem Eindruck besser als die meisten Paare, die ich kenne oder jemals gekannt habe. Aber ich weiß natürlich, dass ich wenig von ihnen als Paar weiß. Sie erzählen mir ungefragt nichts, was sie in ihrer Beziehung umtreibt. Und zu fragen traue ich mich nicht. So ist das nun mal von Generation zu Generation. –

    Entschuldige meine Abschweiferei, Walter. Über Silvester und Neujahr werden  sie wie eine ganz normale Familie alle zusammen im Kleinwalsertal sein. Ich denke, selbst wenn sonst überhaupt nichts mehr Thomas und Hanna zusammen hielte, würden die Zwillinge schon dafür sorgen, dass es keine Radikal-Trennung mit anschließender Scheidung gibt. Die Zwillinge - ein Traumpärchen. Zehn Jahre. Ein herrliches Alter. Gerade wenn die beiden mir durchs Gemüt ziehen und ich mir die Zukunft mit den Millionen ausmale ... Na ja, schöne Gedankenspielereien einstweilen."

    Ich sah ihm an, dass er noch immer nicht fertig war und übte mich wieder mal in Schweigen. Er schien auf seinem Stuhl kleiner geworden zu sein. Als er sich mit einem energischen Ruck wieder aufrichtete, wusste ich schon, dass es für mich nur noch eine Antwort gab. In einem etwas tieferen Tonfall fuhr er fort: „Und noch etwas, Walter. Vielleicht ist es auch nur eine Ergänzung zum Thema ‚bockiger Weichling’. Du hast mir vor über vierzig Jahren mal eine unselige Neigung attestiert, vorzeitig aufzugeben, statt resolut und zäh ein gestecktes Ziel zu verfolgen und die eigenen Interessen zu vertreten. Das sitzt heute noch tief in mir drin. Ich weiß, dass du Recht hattest. Immer mal wieder komme ich in diese Stimmungslage, in der ich es als unfein oder sogar unanständig empfinde, für eigene Interessen zu kämpfen. Woher das kommt, weiß ich nicht. Vielleicht habe ich zutiefst noch einen Rest von der Vorstellung in mir, dass es einen metaphysisch programmierten und kontrollierten Ausgleichmechanismus gibt, wonach Selbstlosigkeit und Zurückhaltung irgendwann und irgendwo belohnt werden. Vielleicht hat sich meine Grundopposition gegen Vaters zielfixierte Unternehmerart auf diese Weise in mir abgelagert. Oder die häufige Erfahrung als Kind in der Kriegs- und Nachkriegszeit, dass alles intensive Wünschen, alles Kämpfen und Strampeln gar nichts brachte. Ich weiß es wirklich nicht. Deine damalige Charakteranalyse, hat mir manchmal sogar geholfen, diese Gefühlsströmung rechzeitig zurückzudämmen. Und jetzt diese Riesenchance für mich und meine Nachkommen – das ist nicht nur ein Appell an meine Familienverantwortung, sondern auch eine Art Test meines Lebenserhaltungstriebs. Klingt ziemlich pathetisch, zugegeben. Aber ich stehe dazu.

    Alles in allem: das Rostocker Verfahren hat es in sich, Walter. Da hängt für mich verdammt viel dran, materiell und immateriell. Es gibt nur einen Menschen auf der Welt, der mir dabei helfen kann." Suggestiv sah er mir in die Augen. Ich hatte Mühe, seinem Blick stand zu halten. Mein Widerstand war vollends zusammengebrochen. Ich war so überwältigt, dass ich plötzlich errötete wie ein junges Mädchen, dem ein Kompliment gemacht wird.  

    Richard und ich waren sehr schnell Freunde geworden, nachdem wir uns im zweiten Semester kennen gelernt hatten. Wir sprachen dieselbe Sprache und fanden in unseren Grundeinstellungen trotz mancher Verschiedenheiten so viel Übereinstimmung, wie wir sie bis dahin mit keinem Menschen gefunden hatten. Beide liebten wir das Ernst-Ironie-Ernst-Wechselspiel, wenn wir uns über Gott und die Welt, knifflige rechtsdogmatische Probleme oder auch nur über die Professoren, die Kommilitonen und – nicht zuletzt – die wenigen Kommilitoninnen unterhielten. Direkte Äußerungen der persönlichen Wertschätzung waren in unserer Kindheit und Jugend verpönt gewesen, und wir hatten sie uns inzwischen auch noch nicht angewöhnt. Also bemühte ich mich, meine Emotionen zu bändigen und verharrte in aufmerksamer Passivität, statt Richard eine eindeutige Antwort zu geben. Schließlich hob ich mein Glas, prostete ihm zu und machte eine weitere Hinhaltevolte: „Hast du den Eindruck, dass das Desinteresse deiner Söhne in dieser Angelegenheit echt ist? Ich meine, sind sie genau so wenig materiell orientiert wie du es zeitlebens warst, Richard?"

    „Das sind wohl zwei Fragen. Die erste kann ich nicht beantworten. Ob ihr Desinteresse echt ist? - Ich verbiete mir seit langem prinzipiell, von ihnen selbst geäußerte Einstellungen meiner lieben Mitmenschen danach zu prüfen, ob sie echt sind. Das führt  nach meinen Erfahrungen zu nichts – außer zu Verstimmungen. Ob das materielle Interesse meiner Söhne so gering entwickelt ist wie angeblich mein eigenes: Das interessiert mich auch seit einiger Zeit. Ich weiß nicht, wodurch ausgelöst. Die Wende? Mein Leben davor? Meine Reaktionen danach? Meine Bemühungen, dieses ganze Chaos ein bisschen zu ordnen? Meine Suche nach so etwas wie meiner eigenen Lebensleistung, einschließlich meines Beitrags zum Bruttosozialprodukt? Mein Interesse, herauszubekommen welchen Einfluss ich auf meine Kinder gehabt habe? Ach, lassen wir das. Meine Gedanken dazu sind noch zu unausgegoren und unsortiert." Er brach ab. Ein Schatten war auf seine Züge gefallen. Wie abwesend schob er das halbvolle Bierglas auf dem Tisch hin und her, bevor er es in einem Zug austrank und dabei schon nach dem Kellner ausschaute.

    Ich fragte mich, gegen welche Erinnerungen und Empfindungen Richard jetzt kämpfte. Wie oft hatte ich so mit ihm in unserer Lieblingskneipe in Bonn zusammen gesessen. Wie oft hatte ich beobachtet, wie sein Blick für kurze Zeit ins Nichts ging. Und wie oft hatte er mir von seiner Herkunftsfamilie erzählt. Sie war mir bald sehr vertraut. Der übermächtige Vater. Die still leidende Mutter, unerschütterlich hoffend, ihr vermisster Ältester werde eines Tages vor der Tür stehen. Richards großer Bruder, dessen Bild er mir mal demütig bewundernd, mal ironisch übertreibend ausmalte. Ich wusste, welche inneren Kämpfe Richard ausgefochten hatte, wenn ihm wieder und wieder das Vorbild des zehn Jahre älteren Bruders vor Augen geführt wurde, weil er selbst mit einem Buch in einer Ecke saß, verträumt in die Gegend starrte oder geistesabwesend reagierte, wenn er angesprochen wurde. Die direkte Art des Vaters, die nur scheinbar rücksichtsvollere der Mutter, die keine eigene Meinung zu haben schien, sondern immer nur mit den angeblichen Erwartungen des Vaters argumentierte - eines war Richard so unerträglich wie das andere gewesen.

    Ich kannte Richards Gründe, Rechtswissenschaften zu studieren, besser als meine eigenen. Sie waren viel fundierter. Und ich wusste, was für eine Katastrophe es für ihn bedeutete, als  sein Vater ihn im sechsten Semester bedrängte, das Jura-Studium aufzugeben, um innerhalb von drei Jahren seinen Bauingenieur zu machen. Wir redeten und diskutierten damals fast täglich stundenlang, entwarfen alternative Möglichkeiten und malten uns aus, wie die Zukunft so oder so aussehen könnte. Der Senior hatte im Frühjahr 1955 nach der damaligen Sprachregelung einen Kreislaufkollaps erlitten. - Später sollte klar werden, dass es sich um einen handfesten Herzinfarkt gehandelt hatte. - Plötzlich stand die Nachfolge ganz dringend auf der Tagesordnung des leidenschaftlichen Unternehmers Philipp Wiedendom. Die große Freiheit, die er seinem Sohn drei Jahre zuvor gelassen hatte – studier ruhig, wonach dir der Sinn steht, wenn es an der Zeit ist, werden wir dann sehen -, wurde viel früher als erwartet auf eine Ja-Nein-Entscheidung reduziert. - Wer Baustoffe verkaufen will, muss sich am Bau mindestens so gut auskennen wie ein Bauleiter. Und wer sich Bauingenieur nennen darf, hat einen nicht zu unterschätzenden Vorteil in der Branche. Eine genaue Kenntnis des Rechts dagegen ist für einen Unternehmer selten von Vorteil. Du bist mir sowieso schon viel zu sehr ein Zweifler und Zauderer. Es tut dir nicht gut, auch noch ausgerechnet das zu studieren, was jede mit einer bestimmten Art von Risiko verbundene unternehmerische Initiative ausbremst. -

    Richard, anders als viele Kommilitonen auch im sechsten Semester noch ein begeisterter Jurastudent, war zwischen Neigung und vermeintlicher Pflicht gegenüber den Eltern hin- und hergerissen. Ich hatte zunächst keine Zweifel, dass er sein Jura-Studium fortsetzen müsse, um das zu werden, was ihm spätestens seit dem zweiten Semester vor Augen stand: Rechtsprofessor an einer deutschen Universität. – Ich selbst hatte nie einen derartigen Traum, und ich käme in Verlegenheit, wenn ich in der heute allgemein verlangten Kürze erklären müsste, wie es dazu gekommen ist, dass ausgerechnet ich diesen Beruf ergriff. - Im Laufe der sechs Wochen bis zum Ende des Semesters bekamen die Tatsachen und Argumente, die dafür sprachen, dass Richard sich ohne weiteren Umweg auf die Nachfolge seines Vaters als Unternehmer einstellte, immer mehr Gewicht. Später konnte ich den Gedanken nicht loswerden, es wäre für alle Beteiligten vorteilhaft gewesen, wenn Richard und ich damals die Rollen getauscht hätten.

    Ich hatte den Eindruck, dass Richard sich jetzt bewusst in eine heitere Stimmung versetzen wollte. Seine Augen begannen zu leuchten. Er schien einen längeren inneren Monolog zu führen. Und dann begann er unvermittelt von Henrike zu berichten. Bevor ich kapiert hatte, was mit ihm los war, pries er mir geradezu poetisch die Vorzüge dieser zehn Jahre jüngeren Journalistin, die seit einigen Monaten in seinem Leben eine Hauptrolle zu spielen schien. Ich war perplex, dass ein vierundsechzigjähriger Mann sich derart über eine vierundfünfzigjährige Frau begeistern konnte. Bemüht, mein Gesicht unter Kontrolle zu halten, konnte ich wieder nur schweigen. Als er schließlich hinzufügte, auch sie sei übrigens mit Eifer dabei, ihn in der Grundstücksangelegenheit zu unterstützen, kein Dokument in irgendeinem Archiv bleibe von ihrer Spürnase unentdeckt, bemerkte ich meine ungute innere Reaktion sofort. Ich ärgerte mich heftig über mich und nahm mir ernsthaft vor, niemals auch nur den geringsten Anflug von Eifersucht wegen dieses femininen Heinrich, dieser nach meinem ersten Eindruck fast mythischen Neuerscheinung im Leben meines Freundes, zuzulassen. Wenn große Ereignisse stets auf eine einzige Ursache zurückgeführt werden könnten, müsste ich annehmen, gerade dieser Vorsatz sei die entscheidende Ursache für die tiefgreifendste Veränderung in meinem eigenen Leben gewesen. Aber, so reizvoll solche Gedankenspielereien bei bestimmten Gelegenheiten und in besonderen Stimmungslagen sein mögen, ich gestatte sie mir seit langem nicht mehr, weil ihre Logik meistens oder immer zu grotesken Ergebnissen führt. 

    Wir gingen an jenem Abend auseinander, ohne dass ich ausdrücklich zugesagt hatte, Richards Vertretung zu übernehmen. Es war auch nicht mehr nötig.

         2

     „Papa, erzählst du uns mal wieder von Großvater?"

    „Von eurem oder von meinem?"

    „Du weißt schon."

    „Was wollt ihr denn hören?"

    „Wie das genau war, als er die Raketen an der Ostsee gebaut hat."

    „Da habt ihr mich ganz falsch verstanden. Er hat keine Raketen gebaut. Er hat nur den Kies verkauft für die Anlagen."

    „Was für Anlagen?"

    „Erst die Fabriken für die Raketen und dann die Bunker mit den Abschussanlagen."

    „Und wohin wurden die Raketen geschossen? Zum Mond oder schon zum Mars?"

    „Weder noch."

    „Wohin dann?"

    Während Thomas noch überlegte, welche Antworten er vermeiden musste, um dem unerbittlichen Weiterfragen der Zwillinge nach Einzelheiten des Zweiten Weltkriegs auszuweichen, drängte sich Hannas Stimme leise und energisch dazwischen: „Bitte keine Kriegsfolklore, Thomas! Und bitte auch keine puren Vermutungen."

    Thomas starrte sie kurz ausdruckslos an, unentschlossen, wie er reagieren sollte. Dann ging eine Mischung aus Grinsen und Lächeln über sein Gesicht. „Vielen Dank für die pädagogische Intervention. Sofort bemerkte er, dass seine Stimme nicht so gelassen klang wie gewollt. Und er sah die Wirkung in den Augen seiner Kinder. „Also gut, nichts über Raketen. Habe ich euch schon die Geschichte erzählt, wie mein Großvater Rache dafür genommen hat, dass sein ältester Sohn nicht aus dem Krieg zurückgekehrt ist?

    „Großvaters ältester Sohn? Wie hieß der?"

    „Wilhelm, genannt Willi. Der Bruder eures Berliner Opas."

    „Bitte erzähl uns die Geschichte."

    „Willi war zehn Jahre älter als euer Opa. Wenn er noch lebte, wäre er euer Onkel Willi, euer Großonkel natürlich. Als Junge und junger Mann war er ein Superkerl. In der Schule immer unter den Besten, ohne sich besonders anzustrengen. In jeder Sportart, die damals betrieben wurde, Spitze. Bei den Geländespielen - das waren Geschicklichkeits- und Kampfspiele im Freien – nahezu unbesiegbar. Und – sein besonderes Markenzeichen - wenn er seine Fanfare blies, stiegen den Zuhörern Tränen in die Augen oder sie kriegten eine Gänsehaut. Nach dem Abitur musste er für ein halbes Jahr zum Reichsarbeitsdienst. Das war damals so. Sein wichtigster  Ausrüstungsgegenstand war ein Spaten. Ich glaube, er hat in der Nähe von Berlin mit seinen Kameraden Splittergräben ausgehoben. Gräben, in die die Leute bei Fliegerangriffen springen sollten, um sich vor Bombensplittern zu schützen. Kurz vor der Entlassung

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