Aber wir hatten dich doch alle so lieb: Roman
Von Siegfried Nitz
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Über dieses E-Book
Der Schwurgerichtsprozess verläuft turbulent, die zahllosen medizinischen Fachgutachten vermögen die Motive für die Tat nicht eindeutig zu klären: Ist es die aus dem Krieg mitgebrachte, schwere Kopfverletzung, die den Täter ausrasten lässt? Ist es die zur Geisteskrankheit ausgewachsene Angst, als außereheliches Kind zum zweiten Male ums Erbe gebracht zu werden? Oder ist es purer Irrsinn, der ihn sagen lässt, er habe eigentlich die Falschen erwischt? Aus langer Haft entlassen fordert Bacher erneut sein Erbe. So sieht sich die Alleinerbin Margareth zu eigenen und schmerzhaften Erkundungen gezwungen.
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Buchvorschau
Aber wir hatten dich doch alle so lieb - Siegfried Nitz
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I
Aus dem Nachher erschien Margareth, der Nichte des Ingenieurs, das Läuten an der Wohnungstür ein ungewöhnlich langes und kräftiges, ein – wie sich herausstellen sollte – tatsächlich Unheil verkündendes Sturmläuten gewesen zu sein, mit welchem ein Sonderbote der Post den an sie adressierten und versicherten Eilbrief aus dem Büro eines renommierten Anwalts überbrachte. Den Erhalt des Briefes sollte sie mit ihrer Unterschrift bestätigen, was sie, aufgescheucht wie sie war, auch widerspruchslos tat, oder doch nicht –, sie hätte nicht mehr darauf schwören können.
Von diesem Augenblick an erfuhr sie alle ihre Wahrnehmungen und Handlungen, auch die allergewöhnlichsten und alltäglichsten, in ein Licht aus Zweifel und Verunsicherung getaucht. Jeder auch noch so fest erscheinende Tatbestand könnte mit bald mehr, bald weniger geistigem Kraftaufwand in sein Gegenteil gekehrt, jede Wahrheit in eine Unwahrheit gewendet werden. Margareth las den Brief ein zweites und ein drittes Mal: Die Anwaltskanzlei sei von ihrem Klienten Herrn Helmuth Bacher mit allen Vollmachten ausgestattet, ihr die Position der Alleinerbin streitig zu machen und das ihm zustehende Erbteil bei ihr einzutreiben. Sie möge die Freundlichkeit haben, mit dem Büro einen Termin für ein Gespräch zu vereinbaren. Sofern möglich, solle ein außergerichtlicher Weg die Lösung im Streitfall bringen.
Wie sollte sie dieses Angebot zu einer – wie ihr schien – friedlichen und hoffentlich auch weniger kostspieligen Lösung verstehen: als ein wirklich ernst zu nehmendes, weil offenbar auf den Gebrauch der Vernunft ausgerichtetes, oder als einen bewusst gelegten Fallstrick, ein trojanisches Pferd, weil die Annahme des Angebotes implizit auch die Anerkennung einer Schuld bedeuten könnte?
Mit einem Mal fühlte sie sich auf der Anklagebank sitzen: Hatte sie nicht mit Wissen und Gewissen Onkel Franz’ und Tante Lenas letzten Willen quasi als Auftrag erfüllt? Der Name Helmuth Bacher war in diesem, mit Testament fahrig überschriebenen, zerfledderten Zettel nicht vorgekommen. Diesen wie dessen Nachkommen hatte Onkel Franz bereits außertestamentarisch als freiwillige Vorleistung mehr als ausreichend versorgt. Das wusste sie.
Es waren jetzt gut zehn Jahre her, dass Herr und Frau Ingenieur in kurzem Abstand nacheinander gestorben waren und diese ihre Nichte Margareth als Alleinerbin eingesetzt hatten. Ihr Gerechtigkeitssinn werde sie leiten, allein sie könne ihrer beider Werk der Wiedergutmachung fortsetzen und zum Abschluss bringen. Davon waren sie beide überzeugt gewesen.
Die Ingenieurs hatten aber das Erbe mit so vielen kleinen Hinterlassenschaften, mit Einschränkungen und Legaten bedacht, dass zu erben die Nachkommen dazu zwang, posthum all jene Aufträge der Erblasser zu erfüllen, welche diese unerfüllt jenen zurückgelassen hatten.
Zugleich war Margareth in diesen zehn Jahren mehr und mehr der Tatsache gewahr geworden, als Alleinerbin voll und ganz einen Dunstkreis mitgeerbt zu haben, worauf sie gut und gerne verzichtet hätte: teils noch wunde, teils erkaltete Beziehungen zu privaten und Geschäftsfreunden, mündlich und beiläufig gemachte Versprechungen, allzu lange unausgesprochen gebliebene Erwartungen, Warnungen gar und dann und wann wohl auch schlechtes Gewissen diesem oder jenem gegenüber – häufig also offene Rechnungen, die nicht materiell beglichen werden konnten.
Es war ihr bisher erspart geblieben, das mit „Privat beschriftete Aktenbündel zu öffnen. Tante Lena hatte sie gebeten, dies „nur im Notfall
zu tun. Und diesen „Notfall" hielt Margareth jetzt für gekommen: Helmuth Bacher war nach insgesamt zwanzig Jahren aus der Haft entlassen worden und war offenbar beim Anwalt hier in der Stadt gewesen. Er war also wieder da. Und sie war aufgepeitscht: Hatte er sie vielleicht schon aus einem Hinterhalt heraus belauert und wusste bereits, wo sie wohnte? Verschwanden da nicht immer wieder zwei Augen hinter einem Baumstamm im Park oder hinter einem Kiosk? Da waren Schatten, die aufzogen und verflogen. Kannte dieser Mann vielleicht auch schon den Namen von Margareths Hund, hatte er bereits ausspioniert, wann sie morgens aufstand, wann sie aus dem Haus ging, mit welchem Gemüseeinkauf und wann sie zurückkam?
Die Angst vor diesem Menschen, die Angst vor seiner Nähe versetzte sie in einen fiebrigen Dauerzustand. Sie hatte diesen Mann vor fünfzehn Jahren kurz vor seiner Verurteilung ein erstes und letztes Mal gesehen: Sie würde ihn bestimmt nicht wiedererkennen. Die Beklemmungen, die Fragen und Zweifel türmten sich zu einer riesenhohen, unüberwindbaren Felswand in einem Talschluss auf.
Dennoch wollte sie – wo doch der Fall leider neu aufgerollt, wo eben, auch von Margareth selbst, erst Zugeschüttetes wieder aufgeworfen und bisher verdeckt Gebliebenes schonungslos enthüllt würde – alles tun, um nicht zu scheitern bei einem Lösungsversuch, an dessen Ende alle Beteiligten das Karussell der Wünsche und Ansprüche mit der Überzeugung wieder verlassen könnten, sie seien gerecht behandelt worden. Damit würde der Ingenieur sich erlöst und ohne Schuld wähnen können. Auch sie selbst würde ihre Rolle dann wieder abgeben und den Auftrag als erledigt betrachten können. Ihr Bestreben war es, sich nicht auf eine ungewisse Bergwanderung sozusagen einzulassen, auf der – unmerklich zunächst, doch allmählich deutlicher spürbar und beschleunigt – die physischen Kräfte zuerst, die psychischen dann schwinden würden, während dichter und dichter werdende Nebel einen Schleier um das Gehirn legen. Das solle nicht geschehen.
Sie werde hingegen das, was sich als ein Kreuzweg abzuzeichnen begann, mit einem Bergführer planen: von der Bergstation der Seilbahn aus das erste, niedere Horn umgehen, dafür mehr Zeit benötigen, aber weniger Höhenmeter bewältigen müssen; sie werde Hügelwelle für Hügelwelle, hinter denen die Felswand im Anstieg bald verschwindet, bald wieder auftaucht, die noch zu bewältigende Wegstrecke mit den verbleibenden Kräften, mit der Uhrzeit und dem Mutwillen des Wetters vermessen; und sie werde den mit dem Näherrücken des Zieles zugleich immer länger werdenden Abstieg ebenso mit einrechnen. Sie werde, einmal angekommen, sich auf einen Stein, sich auf die Welt und in die Welt setzen, den Horizont abtasten, den Himmel nach Ost, West, Süd, Nord benennen und über die Werke der Menschen buchhalten.
Sie werde sich professionellen Beistand bei einem Rechtsanwalt suchen, alle Materialien von den Briefen bis zu den Zeitungsartikeln und Fachgutachten studieren, sie werde entscheiden, wie tief sie in die Schlünde und Abgründe schauen wolle, die sich in dem privaten Ordner auftun würden.
Ob aber Margareth es schaffen werde, das zu ertragen, ohne dass Körper und Seele daran Schaden nähmen –, zu sehen, wie Stein für Stein die Mauer einzubrechen beginnt, durch deren Errichtung die Ingenieurs geglaubt hatten, die an sie gestellten Ansprüche zumindest teilweise abgedeckt zu haben.
Da sind diese bisher kaum beachteten Zeichen auf der Platte von Onkel Franz’ Schreibtisch, verschieden große, eckige und runde Zeichen, die etwa von Gläsern oder Tassen stammen mögen, die auf der lackierten Holzplatte lange stehen geblieben, schließlich dort vergessen worden waren. Das Bild eines vielgliedrigen Räderwerkes schlägt sich durch, das irgendeinmal unerwartet, als sei es das erste Mal, zum Stillstand gekommen sein muss. Der Holzlack ist ausgefressen, die Ätze hat Bahnen gelegt, hat Verästelungen genagt von den Rändern der Gegenstände nach innen und nach außen. Da ist ein großer, ein rechteckiger, blasser Fleck: Da muss etwas für längere Zeit gelegen haben, hingelegt, um jeden Tag einmal weggeworfen und einmal wieder aufbewahrt zu werden. Der Umfang eines Pergaments aus Tante Lenas Schublade passt genau darauf.
Der Anruf der Polizeidienststelle am Abend eines Vorfrühlingstages erschüttert die Welt des Ingenieurs und seiner Frau Lena und lässt sie dann einstürzen. Die Bluttat, von der die Polizei sie in Kenntnis setzt, fällt wie ein Betonblock auf sie nieder. Die beiden wissen nicht, wie sie sich helfen sollen. Der Schmerz brennt sie von innen aus, erstickt das Wort, löscht es aus.
Für Tage vermögen sie nicht, einander ins Gesicht zu schauen. Sie schweigen, schließen sich in ihrer Villa ein, hinterlassen im Betrieb die Nachricht, sie seien verreist. Das Dienstmädel kommt einmal morgens, dann gegen Mittag noch einmal, und noch einmal am Abend, schellt und schellt, es rührt sich nichts. Im Betrieb erst wird die Haushilfe auf ihre Nachfrage über den Verbleib ihrer Herrschaft über ihre Abwesenheit in Kenntnis gesetzt. Sie solle warten, bis sie wieder gerufen werde. Das geschieht dann nach Tagen, nachdem die Lebensmittel allmählich ausgehen, die Luft der ständig geschlossenen Fenster wegen nicht mehr zum Atmen ist und der Ingenieur plötzlich und unaufhaltsam aus seinem Schweigen ausbricht und seine Ohnmacht herausröhrt. „Wie haben wir uns das verdient!" Oder ist es die Wut über sein eigenes Unverständnis, über seine Egozentrik, über seine erhobenen Hauptes und mit Verachtung für andere zur Schau getragene Überzeugung, wonach fast alles in der Welt steuerbar und machbar sei. Oder ist es die über ihn spät, zu spät hereinbrechende Einsicht, dass Vernunft und Planung nicht zugleich auch die Ultima Ratio all dessen sind, was sich in der Welt bewegt?
Es passt zu ihm, dass er sich an Fakten und nur an Fakten orientiert, dass fast ausschließlich ein lineares, sequenzielles, ein naturwissenschaftlich deduktives Denken ihm das Werkzeug vermittelt, Welt und Menschen zu begreifen. Jenseits dessen sind ihm komplexes Nebeneinander und Verschiedenheit nur Störfaktoren, wenn sie ohne sichtbare, greifbare Ergebnisse, wenn sie nur „Gerede" bleiben. In seiner sonoren, modulationsreichen Stimme gesprochen klang vieles gleich von Anfang an überzeugend und musste nicht mit vielen Worten angereichert – er hätte wohl gesagt: verwässert – werden. Er fürchtete all das, was keine festen Konturen hatte, was trübe und problembehaftet war; er war ein Entscheider, scheute Konflikte und ging diesen