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Tage des Terrors. Tatsachenroman
Tage des Terrors. Tatsachenroman
Tage des Terrors. Tatsachenroman
eBook507 Seiten6 Stunden

Tage des Terrors. Tatsachenroman

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Über dieses E-Book

Ein Buch über die Freundschaft zwischen Frauen und ein symbolträchtiges Sylvesterfeuerwerk, das das Ende eines stürmischen Jahrzehnts besiegelt! Zwei Jugendfreundinnen begegnen sich in Berlin Ende der 70er Jahre völlig unerwartet und unter dramatischen Umständen wieder: Einst waren sie unzertrennlich und doch auch ein klein wenig Rivalinnen, dann trennten sich ihre Wege, und nun sitzt die eine als Terroristin in Untersuchungshaft, und die andere muss sie als Strafrichterin verurteilen.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum24. Aug. 2020
ISBN9788726576702
Tage des Terrors. Tatsachenroman

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    Buchvorschau

    Tage des Terrors. Tatsachenroman - Walter Laufenberg

    Walter Laufenberg

    Tage des Terrors. Tatsachenroman

    Saga

    Tage des Terrors. Tatsachenroman

    Coverbild / Illustration: Shutterstock

    Copyright © 2000, 2020 Walter Laufenberg und SAGA Egmont

    All rights reserved

    ISBN: 9788726576702

    1. Ebook-Auflage, 2020

    Format: EPUB 2.0

    Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

    SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

    – a part of Egmont www.egmont.com

    Bis auf die Orts- und Zeitangaben sowie ein paar Figuren der Zeitgeschichte ist im folgenden alles frei erfunden. Jeder Name, jede Person, Handlung und Einstellung, ebenso jedes Gefühl, Urteil und Vorurteil. Und auch mit Ihrer Zeit, liebe Leserin, lieber Leser, hat dieses Buch natürlich nichts zu tun. Etwaige Übereinstimmungen mit Lebenden oder auch Nichtlebenden, mit ihren Äußerungen und sonstigen Taten, können deshalb nur Zufall sein, sind also nicht dem Autor anzulasten. Vielmehr müßte den Grund dafür jeder bei sich selbst suchen.

    1.

    Berlin, Frauenhaftanstalt Lehrter Straße. Eher Fluch als Adresse. Und der Hochsicherheitstrakt, das kranke Herz des schwerblütigen Gebäudekomplexes, ist der gräßlichste Fluch. Ist wie eines dieser Schwarzen Löcher im All, in denen eine ganze Welt verschwunden ist. Die Wirklichkeit einer vergessenen Art von Lebewesen. Verloren. Doch in diesem Schwarzen Loch gab es plötzlich Unruhe. Denn einer aus der Welt der Menschen war zu den Verschwundenen herabgestiegen. Was selten geschah. Um so verständlicher, daß Renate Hobbes viele Klopfzeichen und Zurufe zu hören kriegte, als sie nun über die langen, leeren Gänge geführt wurde. Hin zu dem Besprechungszimmer, wo sie mit ihrem Rechtsanwalt und dem Ermittlungsrichter eingeschlossen wurde. Der Richter mußte dabei sein, wußte sie. Wenn er in dem Moment auch nicht ermitteln durfte, bloß zuhören. Als zwar stummer, aber immer noch gefährlicher Augen- und Ohrenzeuge.

    „Untersuchungsgefangene Renate Hobbes, hatte die Schließerin gesagt und sie wieder so verliebt angesehen, als sie die Gefangene aus ihrer Einzelzelle abholte, „Ihr Wahlverteidiger will mit Ihnen sprechen.

    Jetzt saß die Gefangene da, eine Frau von Mitte dreißig, die unter dem kalten Neonlicht, faltig-grau im Gesicht und mit seltsam leeren Handbewegungen, eher wie eine Endvierzigerin wirkte. Sie begrüßte ihren Wahlverteidiger mit einem bemühten Lächeln.

    „Frag nicht, wie es mir geht, Mani, sagte sie, „und starr mich nicht so an. Sag mir lieber, wie es weitergeht.

    „Ich finde, die Sache läuft gut, tröstete der Anwalt sie. „Die Staatsanwaltschaft hat nur heiße Luft in der Flinte. Du hast doch die Akte gelesen? Und als sie leicht nickte. „Nun, erkennst du dich darin wieder?"

    Der Ermittlungsrichter sah so unbeteiligt drein wie möglich. Der Anwalt strahlte soviel Optimismus aus, wie ihm nötig schien. Die Frau zwischen den beiden Männern sah sich hilflos nach den kahlen Wänden um und schwieg. Dann griff sie mit der linken Hand in ihr volles, dunkles Haar und drehte versonnen Löckchen um den Zeigefinger. Der Richter hielt sich hinter seinem ausdruckslosen Pokerface versteckt. Der Verteidiger blieb der Strahlemann, doch wurde er zunehmend unruhiger, je länger seine Mandantin schwieg. Daß sie sich nur nicht durch meine saloppe Frage zu einer Äußerung verleiten läßt, die gegen sie verwandt werden kann. Davor muß ich sie bewahren. Aber noch ehe er seine Frage mit einem nächsten Satz wegwischen konnte, stöhnte Renate Hobbes auf: „Nein, ich erkenne mich nicht darin. Ich erkenne überhaupt nichts mehr hier, hier in diesem..."

    „Reiß dich zusammen, Renate, unterbrach er sie schnell, „du weißt, es geht um sehr viel. Und du darfst dich dabei nicht als unwichtig ansehen.

    Der stumme Zeuge hätte zu gern nachgehakt, hätte gern gewußt, wobei die Beklagte nicht unwichtig sein sollte. Aber das hier war die Sprechzeit ihres Verteidigers, nicht seine. Und so sagte er sich: Keine Frage, es geht natürlich um den demnächst anstehenden ersten Verhandlungstermin in der Sache Renate Hobbes. Und war, was er am liebsten war: beruhigt.

    „Ja, ja, sagte die Gefangene endlich. Sehr nachdenklich geworden. „Ja, – daß ich nicht unwichtig bin, das sage ich mir täglich, seit ich hier einsitze. Seit über einem Jahr sage ich mir das nun schon, Tag für Tag. Und du willst mir das jetzt auch noch einreden. Hast du mir sonst nichts zu sagen, Manfred?

    Ihr Ton war zuletzt energisch geworden, protestierend und fordernd. So daß ihr Anwalt sich beeilte, zu beschwichtigen: „Alles gut, alles gut, wirklich alles. Aber ich nehme an, daß du noch Fragen hast zu den Angaben in der Akte."

    „Fragen? – Nicht direkt Fragen. Aber mir fiel auf, eine der drei Roben, die mich verknacken wollen, ist eine Frau."

    „Das stimmt."

    „Das gefällt mir nicht. Ich habe so ein unbestimmtes Gefühl, als ob mir von daher die größte Gefahr droht. – Und auf meine Gefühle kann ich mich verlassen."

    „Da kann ich dich beruhigen, war der Anwalt wieder ganz ihr Seelsorger. „Frau Kleine Sextro, diese Richterin, die ist eine sehr ausgeglichene und immer freundliche Frau. Sie ist übrigens in deinem Alter. Ich habe sie noch heute früh im Gericht gesprochen. Da war sie so verstört. Irgendwelche Schmierfinken hatten an die Wand neben ihrer Haustür geschrieben: Es liegt was in der Luft – nicht nur auf der Straße! Sie war ganz aufgeregt, als sie mir das erzählte. Unerhört so was, habe ich ihr gesagt.

    Etwas blitzte auf in den Augen der Beklagten, als sie jetzt ihren Anwalt ansah. Der Ermittlungsrichter kriegte das nicht mit. Jetzt wußte Rechtsanwalt Schallenberg seine Mandantin mit dem Wichtigsten versorgt, mit dem, was sie am dringendsten brauchte. Mit Hoffnung. Er war mit dem Start seiner kleinen Plauderei zufrieden. Die Verständigung hatte geklappt. Der stumme Zeuge war offenbar für die Hintertöne taub. So konnte der Anwalt das lockere Gespräch zielstrebig fortsetzen, konnte schnell zur Sache kommen. Renate Hobbes war hellwach und spielte wunderbar mit, immer noch mit dem Zeigefinger Löckchen drehend. Wie gelangweilt. Wenn nur nicht der lauernde Blick uns verrät, mit dem sie mich ansieht, überlegte Schallenberg. Doch der Ermittlungsrichter sah vor sich hin, offensichtlich über die Harmlosigkeit des Gesprächs glücklich.

    Schallenberg suchte die richtige Wendung, die ihn auf Frieder Fehlhaber bringen würde. Klar, daß sie über Frieder was hören will. Klar, daß sie Tag und Nacht an ihren Frieder denkt. Der jetzt so allein ist wie sie. Und ich könnte ihr gute Nachricht bringen. Das aber wieder so auszudrücken, daß ich mich nicht dem Verdacht aussetze, mit den Terroristen gemeinsame Sache zu machen, ihr Postillion in Anwaltsrobe zu sein, das ist die Schwierigkeit.

    Doch dann endlich hatte er es. „Vorweihnachtszeit, sagte er orakelhaft. „Friederfüllt die Welt, in der doch noch so viel passieren kann, ehe das Jahr wirklich zuende ist. Ja, so viel. Aber jedenfalls im Moment geht es gut, ist alles beim alten. Ja, alles noch beim alten.

    Renate Hobbes sah ihn aufmerksam an. Köstlich, dieses Wort friederfüllt, triumphierte es in ihr. Und alles noch beim alten. Das hieß also, daß auch Frieder noch nicht verurteilt war, daß er wartete wie sie. Er in Stuttgart-Stammheim, das wußte sie. Und nun wußte sie auch, daß er nicht auf seinen Prozeß wartete, sondern auf seine Befreiung. Die also noch vor Ende der Jahres durchgeführt werden sollte. Da blieb nicht mehr viel Zeit, aktiv zu werden.

    Leider auch nicht mehr für weitere Erklärungen. Die Schließerin kam mit ihrem filmreif rasselnden Schlüsselbund. „Die Sprechzeit ist zuende", sagte sie.

    „Alles, alles mögliche Gute", wünschte die Untersuchungsgefangene ihrem Anwalt zum Abschied. Und der wunderte sich nicht. Er wußte, daß sie verstanden hatte.

    „Geht in Ordnung", sagte er beim Hinausgehen.

    Der Untersuchungsrichter trottete hinter ihm her, stumm, wie es seines Amtes war. Er könnte in seinem Bericht über dieses Gespräch nicht viel bringen, überlegte er. Nur, daß die Beklagte und ihr Anwalt über Weihnachten gesprochen haben, das könnte er hineinschreiben. Und natürlich die Bemerkungen über die Richterin Kleine Sextro. Ja, die natürlich auch. Eine Überlegung, die brisanter war, als der Untersuchungsrichter ahnte.

    2.

    Was ist nur los mit ihr? Sie ist nicht wie sonst, wenn ich sie abhole, fiel ihm auf. Sie ist so verstört. Als hätte sich heute die ganze Tristesse dieser öden Gerichtsflure auf sie gestürzt. Dieser Gänge ohne Anfang und ohne Ende. Als hätte ihr enges, kahles Richterzimmerchen mit der seelenlosen Nummer 1035 an der Tür und den paar geschmacklos zusammengewürfelten Möbelstücken sie in die Zange genommen. Dieses kleine Gesicht, so blaß. Und diese ausgeknipsten Augen, erschrak er.

    „Laß uns nur ganz schnell gehen, Rainer, flüsterte sie, als sie ihre Richterrobe auf den Kleiderbügel und in den Schrank hängte. Überhastig, aber ordentlich wie immer, dachte er. Er wollte ihre Aktentasche nehmen, wie gewöhnlich. Diese kleine Hilfe, nie der Rede wert, doch das Mindeste, was er hier in der für ihn fremden Welt für sie tun konnte. Aber sie war schneller als er, packte die Tasche mit beiden Händen, drückte sie fest an sich und hastete hinaus auf den Flur, überließ es ihm, den Schlüssel nach außen zu stecken, ihn herumzudrehen und rauszuziehen. Und klaubte ihm gleich darauf den Schlüssel aus der Hand, übertrieben energisch, wie er fand. Und schob ihn zum Fahrstuhl. „Frag mich jetzt nichts, sagte sie, als er den Mund aufmachen wollte. Panik, überlegte er, die ganze Frau eine einzige Panik. Und zog es vor, sie nicht weiter zu behelligen.

    „Was ist nur mit unserer Richterin Kleine Sextro los, sagte der Pförtner zu dem Polizisten, der neben ihm stand. „So ist die ja noch nie hier durchgerannt. Schmeißt einem den Schlüssel beinahe an den Kopf. Und nichts wie weg, ohne jeden Gruß. Ohne uns einen schönen Feierabend zu wünschen. Also so was.

    „Da kann ich notfalls drauf verzichten, meinte der Polizist. „Aber wer war denn das sonderbare Subjekt, das sie abgeholt hat?

    „Das? – Na, ihr Mann, der Maler."

    „Eine Richterin – und ihr Mann ein Maler?"

    „Ja, aber ein richtiger Maler. Ein Kunstmaler oder wie der sich nennt. Also nicht so ein Anstreicher."

    „Um so schlimmer. Den könnte man ja wenigstens noch brauchen. Aber so einen, nee."

    Kaum aus dem Bus ausgestiegen, auf den letzten paar hundert Metern Heimweg, kam Rainer dann doch mit der Frage heraus: „Also, Annemarie, nun sag schon. Was ist los? Hat es Ärger gegeben im Büro?"

    „Was heißt hier Ärger gegeben, kam es mehr resigniert als tadelnd. „Bei mir kann es keinen Ärger geben, wie du weißt. Weil ich keinen Chef habe. Bei mir gibt es nur Fälle. Immer andere Fälle. Ärgerliche auch. Und unangenehme. Und der neueste Fall ist wieder so einer. Ein höchst unangenehmer. Ein Terroristenprozeß.

    „Na und? Für dich doch nichts Neues."

    „Nein, eigentlich nichts Neues. Da hast du recht. Aber diesmal ist doch alles anders als sonst. Viel, viel schlimmer."

    „Warum?"

    „Still jetzt, herrschte sie ihn flüsternd an. Passanten kamen ihnen entgegen. Ein harmloses älteres Paar. Danach noch ein paar Kinder. Kein Grund für diese Geheimnistuerei, wurde Rainer ärgerlich. „Also, was ist nun? Wieso steht jetzt ein Terroristenprozeß an, der anders ist als sonst, viel schlimmer?

    Sie waren am Gartentörchen angelangt. Sie schob ihn so ungeduldig wie stumm hindurch und ins Haus. Und als die Haustür hinter ihnen ins Schloß gefallen war und er gerade einen Satz vorformuliert hatte, der mit Unverschämtheit, mich so herumzuschubsen, beginnen sollte, sagte sie: „Weil – na weil die Beklagte Renate Hobbes heißt."

    „Renate Hobbes, Renate Hobbes, überlegte Rainer Kleine Sextro laut, „den Namen hast du doch – ja, davon hast du schon oft, ja, sag mal, ist das denn nicht – tatsächlich?

    „Ja, tatsächlich. Die Beklagte ist meine Klassenkameradin Renate Hobbes, kam es fast tonlos, „meine alte Freundin, von der ich dir schon so oft erzählt habe.

    Und nach einer Pause, die er ihr gelassen hatte, um sie nicht noch zusätzlich zu irritieren: „Meine einzige Freundin. Die ich seit dem Anfang des Studiums nicht mehr gesehen habe. Du weißt ja, ich bin mit meinen Eltern schon nach den ersten Semestern nach Bonn gezogen und habe dort studiert. Renate war hier an der Freien Universität geblieben. Damit war etwas zuende gegangen, was wir immer als die schönste und intensivste Freundschaft empfunden hatten, zu der junge Menschen überhaupt fähig sind. Wir haben uns nie mehr wiedergesehen, seitdem unsere Wege so auseinandergelaufen waren. Nie mehr. Sonderbarerweise. Und irgendwann dann auch nicht mehr geschrieben oder angerufen. Wie so was einschläft auf die Entfernung. Na ja, neue Menschen, neue Kontakte. Aber jetzt begegnet sie mir in einer Akte, die auf meinen Tisch kommt. Als leibhaftige Beklagte. Strafsache Renate Hobbes. Jetzt soll ich sie verurteilen wegen der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und der Beihilfe zur Entführung und zum Mord."

    Nun machte Rainer Kleine Sextro einen ebenso verstörten Eindruck wie seine Frau. Es dauerte eine ganze Weile, bis er sagen konnte: „Aber das kannst du doch nicht machen. – Ich meine, sie verurteilen. – Deine Freundin Renate. Das kannst du doch nicht tun."

    „Ja, das kann ich nicht tun, da hast du recht. – Aber ich kann es auch nicht lassen."

    „Was?"

    „Ich kann sie auch nicht einfach nicht verurteilen. Ich kann mich nicht rausstehlen aus dieser Sache."

    „Aber sicher kannst du. Du kannst dich als Richterin doch selbst ablehnen. Wegen Befangenheit." Soviel wußte Rainer von der Stellung einer Richterin. Und er brachte sein Fachwissen mit einem gewissen Stolz an.

    „Du weißt ja schon gut Bescheid in meinem Job."

    „Danke für das Lob."

    „Aber dann weißt du auch, was der Geschäftsverteilungsplan des Gerichts ist. Das ist das oberste Gesetz des Gerichts, ist quasi unsere Bibel. Dahinter steht das Gerichtsverfassungsgesetz. Das gibt jedem Angeklagten einen Anspruch auf den sogenannten gesetzlichen Richter, das heißt auf einen Richter, der zufällig und nicht per Beschluß oder durch sonstige Manipulation ausgewählt wurde. Deshalb wird die Justitia immer mit verbundenen Augen dargestellt. – Und der Geschäftsverteilungsplan regelt eben nicht nur, welche Akte welchem Richter auf den Tisch gelegt wird, er regelt auch die Vertretung, das heißt wer wen vertreten muß."

    „Du sagst es. Du kannst dich also vertreten lassen."

    „Sehr richtig. Mich selbst ablehnen, mich vertreten lassen, das würde ich am liebsten tun. Und nach einer Pause, während der sie im Zimmer auf und ab lief: „Wenn ich nicht wüßte, wer mich dann vertreten müßte: Dr. Grotan. Wenn ich nicht wüßte, was für ein Terroristenfresser der Mann ist. Und was für ein Weiberhasser dazu. – Nein, Rainer, brach sie plötzlich in Tränen aus, „nein, diesem Richter nicht, dem kann ich Renate nicht ausliefern."

    „Das heißt, dann willst du also selbst..."

    „Nein! schrie sie, „ich will nicht, ich muß! – Ich selbst muß über Renate zu Gericht sitzen. Ich muß meine beste, meine einzige Freundin verurteilen, lief sie heulend ins Schlafzimmer.

    3.

    Der schwarze Schnee der Großstadt, er ließ keine vorweihnachtliche Stimmung aufkommen. Dieses scheußliche schwarze Streugut, das die Stadt neuerdings einsetzte, mit Schnee vermischt war es einfach überall. Auf den Straßen als plattgefahrener Schneedreck. Auch auf den Bürgersteigen, mit Hundekot angereichert. Und sogar die Wege durch die Vorgärtchen waren schwärzlich von Streugut. Mitgeschleppt von den Profilsohlen der zwei Millionen Menschen, die aufregenden Feiertagen entgegengingen.

    Es liegt was in der Luft – nicht nur auf den Straßen. So wurden die Leute von Beschriftungen gewarnt, die in den letzten Nächten an immer mehr Mauern und Bauzäunen erschienen waren.

    Anfang Dezember des Jahres 1979. Früher Wintereinbruch. Und Berlin wurde – je mehr Schnee fiel – immer düsterer. Die Zeitungen versuchten abzulenken. Sie erklärten in ausführlichen Darstellungen, wieviel besser die neue Methode sei, gegen die Schneemassen und gegen Glatteis anzukämpfen. Sie verurteilten das bisher verwendete Salz als Umweltfeind Nummer eins. Sie appellierten an das Mitgefühl der Hunde- und Katzenfreunde und trafen damit Hunderttausende mitten ins Herz. Ja, es ging um die schmerzenden Pfoten und das unwillkürliche Ablekken des Salzes, um unmenschliche Tierquälerei also, mit der nun endlich Schluß gemacht werde. Die Alleebäume mußten ebenfalls herhalten. Das viele Grün, der Stolz der Berliner, sei in höchster Gefahr, erfuhr man jetzt täglich aus der Morgenzeitung. Winter für Winter habe das Salz sie an den Wurzeln gepackt. Es gehe nicht an, daß man länger die Augen davor verschließe, daß man das vielgerühmte Grün der Stadt ermorde, diese lebenswichtige grüne Lunge Berlins verkommen lasse. Wenn die vielbesungene Berliner Luft bleiben solle, was sie war, dann dürften die baumbestandenen Straßen nicht zu Pökelalleen verkommen und so weiter.

    Als Annemarie Kleine Sextro an dem Morgen aus dem Haus getreten war, hatte sie an der Wand neben ihrer Tür gelesen: Es liegt was in der Luft – nicht nur auf den Straßen. Mit dicken Pinselstrichen flüchtig hingeschmiert, rot. Und wo der Pinsel neu angesetzt worden war, mit frischer Farbe aus dem Eimer, da war es runtergelaufen von den Buchstaben, in dicken roten Tropfen, die wie Blut angetrocknet waren. Nasen, hatte sie gedacht, Nasen würde Rainer das nennen. Der Täter könne nicht einmal eine glatte Wand anstreichen, würde er schimpfen. So ein Stümper und so fort. Sie fuhr sich mit der Hand ins Gesicht und bemerkte die verlegene Handbewegung erst, als sie die Kälte spürte. Als ob der Tod persönlich einen anfaßt, durchfuhr es sie. So kalte Hände, das kenne ich sonst an mir nicht. Sie nahm sich vor, nächstens die Handschuhe schon vor dem Hinausgehen anzuziehen, nicht erst auf dem Weg zum Bus.

    Der Dreck, der vieltonnenweise über alle Straßen und Bürgersteige verteilt worden war, wurde zum Stadtgespräch. Das Granulat, wie das neue Streumittel offiziell hieß. Aber der schöne Name nützte auch nichts. In den Leserbriefspalten der Tageszeitungen gifteten Autofahrer die Umweltschützer an. Sie rechneten heile Katzenpfoten und gerettete Bäume gegen die Blechschäden auf, gegen blutende Köpfe und ausgefallene Arbeitszeit, wenn der Wagen auf dem Eis wegrutscht, unaufhaltsam, weder auf die Bremse noch auf die Steuerung reagierend, weil das Salz fehlt. Und dieses Granulat verlängere nur noch den Bremsweg, wetterten sie gegen die Neuerer los.

    Der erste, der Annemarie Kleine Sextro an diesem Morgen im Berliner Kammergericht begegnet war, abgesehen von den schwerbewaffneten Polizisten und dem Pförtner, die unten im Eingang eine furchterregende Schleuse aus Barrieren, grimmigen Mienen, Fragen und Kontrollblicken aufgebaut hatten, – der erste Kollege war Manfred Schallenberg. Ausgerechnet dieser Schallenberg, hatte sie gedacht. Würde mich nicht wundern, wenn der von der bedrohlichen Schrift neben unserer Tür wüßte.

    „Guten Morgen, Frau Kleine Sextro", rief er schon aus etlichen Metern Entfernung.

    „Guten Morgen, Herr Schallenberg." Wohldosiert, nicht zu freundlich, nicht zu distanziert.

    „Sie sehen ja aus wie halberfroren, blieb er bei ihr stehen. „Mußten Sie so lange auf den Bus warten?

    „Er weiß also Bescheid, überlegte sie. Er weiß, was mich erschreckt hat. Ist doch klar. Als ihr Wahlverteidiger steckt er mit ihr und ihren Kumpanen unter einer Decke. Bemüht leger sagte sie: „Ich kann das Durchleuchten im Eingang nicht vertragen. Wohl so eine Art Filzallergie, was ich da habe."

    „Daß Sie das sagen? Wo Sie doch auf der anderen Seite stehen, tat er verwundert. „Bei mir ist das ja was anderes. Ich träume nachts schon von Kontrollen, so zuwider ist ...

    „Als Richterin stehe ich weder auf der einen noch auf der anderen Seite, Herr Schallenberg. Die vielen Durchleuchtungen scheinen Ihre Erinnerung an die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit zu verdunkeln."

    „Ja, sehr richtig, Rechts-Staatlichkeit, daran darf nicht gerüttelt werden, lachte er. Und wiederholte „Rechts-Staatlichkeit, indem er den Begriff dehnte und zur Nahkampfwaffe verbog.

    „Nur gut, daß Sie mir das nicht im Ernst nachsagen können, Herr Schallenberg. Oder?"

    „Erbetteln Sie sich nicht von mir Ihre Absolution. Ich bin nicht Ihr Seelsorger, ich bin Anwalt, – guten Morgen, Frau Richterin."

    „Guten Morgen auch Ihnen, Herr Rechts-Anwalt", dehnte sie das Wort, wie er es gemacht hatte. Er eilte laut lachend weiter. Lachen kann der Mann, einfach toll. Er hätte Vertreter werden sollen statt Anwalt. Eigentlich hätte ich ihn ja Herr Links-Anwalt nennen müssen, überlegte sie im Weitergehen. Aber das wäre eine Beleidigung. – Obwohl, eigentlich könnte Schallenberg das nicht als Beleidigung empfinden. Er nicht.

    Sie betrat ihr Zimmer gleichzeitig mit dem Büroboten. Woitolla, wie immer im grauen Anzug und mit Schlips und Kragen, die grauen Haare akkurat gescheitelt und gewellt. Böse Zungen tuschelten, daß er sich jeden Morgen mit der Brennschere den Kopf in Ordnung bringen müsse. Ach, Unsinn, ich sollte meinen Kopf in Ordnung bringen. Annemarie Kleine Sextro mochte den Alten. Und der spürte das. Er schätzte ihre Freundlichkeit gegenüber den unteren Rängen, wie er zu sagen pflegte. Und ihre Gewohnheit, manchmal ein paar Worte mit ihm zu plaudern, nutzte er manches Mal ganz schön aus.

    „Das mit den Kontrollen unten im Eingang ist ja schrecklich, seufzte er. „Nun bin ich doch schon elf Jahre hier tätig, und jetzt tun die, als ob ich ein gefährlicher Verbrecher wäre. Immer wieder mich ausweisen müssen und mich abtasten lassen. Können wir nicht mal wieder was anderes machen als diese Terroristenprozesse, Frau Richterin?

    Klar, er wollte sich wieder ein Plauderpäuschen verschaffen. Warum auch nicht. Das mit dem Wir fand Annemarie köstlich. Trotzdem warf sie nur ein „Ja, sehr unangenehm" hin und hantierte hastig mit den Akten und Büchern auf ihrem Schreibtisch. Und der Bote verstand und ging. Ist mir unverständlich, warum manche Kollegen den Mann so grob behandeln. Woitolla versteht es doch meisterhaft, sich diskret zurückzuziehen. Spürbar, daß er einmal bessere Zeiten gesehen hat, wie er selbst es nennt. Selbständiger Schneidermeister. Den Konkurrenzkampf nicht durchgehalten, wie er sagt. Dann Chefverkäufer in einem der führenden Modehäuser. Und jetzt auf Nummer Sicher im öffentlichen Dienst. Ein Versager halt, hat er die Schultern hochgezogen, als er mir das erzählt hat. Beim ersten wie beim zweiten und dritten Mal. Und ich, ich habe Verständnis gezeigt. Ich bin ja ebenfalls im öffentlichen Dienst. Also habe auch ich versagt? Schon dachte sie wieder an Schallenberg und seinen Hohn: Rechts-Staatlichkeit. – Nein, das soll man mir nicht nachsagen können. Und auch nicht, daß ich versagt hätte. Da muß ich durch!

    4.

    Wieder wie gestern und vorgestern, wie morgen und übermorgen eingerahmt von dem scheußlichschlichten Mobiliar des Richterzimmers. Annemarie Kleine Sextro sah sich mit wehem Blick um. Nur das für die Arbeit Allernotwendigste, übriggeblieben aus den diversen Berliner Justizverwaltungen der letzten siebzig Jahre. Die schiere Demut, wenn das eine Klosterzelle wäre. Der erste Schritt zur Heiligkeit. Hier aber eher die schiere Ignoranz gegenüber allem am Menschen, was nicht unter den hehren Begriff Ratio fällt. Alt gewordene Sachen, doch dadurch weder würde- noch wertvoll geworden, nur abgegriffen, unansehnlich. Ein Ambiente zum Davonlaufen. Oder zum Insichgehen. Annemarie entschied sich für die zweite Variante. Dafür, sich wieder einmal in Erinnerung zu rufen, wie sie zu dem geworden ist, was jetzt an ihrer Tür steht, außen: Richterin am Kammergericht.

    Die Schule, nun ja, die hat man absolviert, weil die Eltern es von einem erwarteten. Und dann dastehen mit dem Abiturzeugnis in der Hand, auf das man so lange hingelebt hatte. Und sich selbst sagen müssen: Ist ja wohl stark übertrieben, Zeugnis der Reife. Ich bin jung und nicht reif. Das hätten die wohl gern. Reif, überreif und bald schon nicht mehr konsumierbar. Ich war tatsächlich alles andere als reif damals. Mehr mit Büchern lebend als mit Menschen. Ich kannte doch nur Bücher, außer Renate und meinen Eltern. Typisches Einzelkind, das von den Eltern, die ihre Ruhe haben wollen, auf ein stilles Hobby abgeschoben wird. Bücher sind auch Gesprächspartner, ja, und bei denen kann man eine bessere Auswahl treffen, so hatte ich mich gegen den Hohn der Klassenkameradinnen verteidigt, die mehr von Jungen hielten als von Büchern. Aber für meine Verträumtheit, für dieses verschwommene Gefühl der Unsicherheit auch, dafür hatte ich damals keine Entschuldigung bei der Hand. Dieses Manko wollte ich mir mit der Juristerei wegkurieren. Das Jurastudium als Selbsttherapie. Das dürfte ich ja niemals aussprechen.

    Sie legte die Strafakte Renate Hobbes auf augeschlagen vor sich auf den Tisch. Wir waren halt kleine Mädchen, so knospig noch, so rundum unerfahren, wie sie in Mädchenbüchern beschrieben sind. Was wir werden wollten, das wußten wir nicht. Doch was wir alles nicht werden wollten, das wußten wir genau. Nur ja nicht das Übliche. Nur nicht wie unsere Eltern werden. Aber einen Mann haben, ja, das wollten wir beide. Und natürlich nur einen ganz außergewöhnlichen Mann. Den tollsten Mann überhaupt. Diese Gedanken entwickelten sich schneller weiter als wir selbst. Einem besonderen Mann die besondere Frau sein. In einer modernen Partnerschaft lebend. Als die unerschütterlich verständnisvolle und nicht wegzudenkende Gefährtin eines der Großen der Zeit. Eine Art Simone de Beauvoir zumindest.

    Habe ich vielleicht nur deshalb so schnell Karriere gemacht? Ich und eine Karrierefrau, so ein Witz. Alles nur, weil wir als Mädchen so herumgesponnen haben. Weil eine Richterin mir was Besonderes zu sein schien. Natürlich keine Ahnung davon, was es in Wirklichkeit heißt, Richterin zu sein. Und dann sogar Richterin am Landgericht und jetzt hier am Kammergericht. Abgeordnet an dieses nächsthöhere Gericht, um mich weiterzuqualifizieren. Das dritte Staatsexamen, wie der alte Kollege am Landgericht sagte. Robenau hieß er. Das kann ich jetzt eigentlich vergessen. Aber mit Anerkennung im Ausdruck gesagt. Und wohl auch mit einer guten Portion Neid. Denn wer kommt schon so weit, und das sogar in recht jungen Jahren.

    Annemarie Kleine Sextro konnte sich nicht dazu überwinden, noch einmal die Akte durchzulesen, noch genauer. Zum dritten Mal. Gestern, als ich Rainer beim Überpinseln des Spruchs überrascht habe, hätte ich ihm da sagen sollen, warum ich das nicht wollte? Warum ich es lieber hätte, daß er in seinem Atelier arbeitet statt draußen? Nein, das kann ich ihm nicht sagen. Das würde sofort einen grandiosen Vortrag über Freilichtmalerei und ihre Überlegenheit über die Ateliermalerei auslösen. Pleinairmalerei, Pleinairmalerei und ihre ganz unvergleichliche Atmosphäre. Dabei, darum ging es ja nun wirklich nicht. Aber das dürfte ich ihm nicht sagen. Ich darf ihm nicht sagen, wovor ich Angst habe. Das würde ihm ein ruhiges Weiterarbeiten unmöglich machen. Aber wenn Rainer was passieren würde, das wäre entsetzlich. Das ja, das wäre der Hebel, mit dem sie mich fertigmachen könnten. Und Rainer ist so arglos. Er kennt nur seine Arbeit. Also mußte ich ihn machen lassen. Nun steht neben unserer Haustür ein neuer Spruch, von Rainer in kunstvoller Schrift gestaltet, auf der frischen Übermalung: Grüß Gott, tritt ein, bring Glück herein! – Die Aufforderung „tritt ein", wenigstens die hätte er sich besser gespart.

    In der untersten Schublade ihres Schreibtisches im Kammergericht am Lietzensee lag die Notiz des Ermittlungsrichters über das Gespräch der Untersuchungsgefangenen Renate Hobbes mit ihrem Wahlverteidiger Manfred Schallenberg. Der stumme Zeuge hatte schriftlich festgehalten: „... berichtete der Anwalt dem Häftling Hobbes von einem Gespräch, das er an diesem Morgen mit der Richterin Kleine Sextro hatte und in dem sie ihm erzählt hatte, daß in der Nacht zuvor eine Wand ihres Hauses mit der Aufschrift beschmiert worden war: Es liegt was in der Luft – nicht nur auf der Straße."

    Das will er von mir gehört haben? Nein, das weiß er nicht von mir, sondern von seinen Kumpanen. Da hat er sich selbst verraten. So was Dummes. Auch der gerissenste Anwalt macht also mal einen Fehler. Aber das bleibt hier unter Verschluß. Damit mir nicht wieder Personenschutz aufgedrängt wird. Die mit ihrem peinlichen Getue und ihrem ständigen Schutzgerede. Hat mir gerade gereicht beim letzten Prozeß. Als die Nachbarn sich damals beschwert haben, daß sich immer Polizei in unserem Viertel herumtreibe. Ja, herumtreiben, so haben sie das genannt. Man könne es ja nicht mehr riskieren, nachhause zu fahren, wenn man bloß ein einziges Glas Bier getrunken hat. Und Freunde und Bekannte lehnten Einladungen ab, weil die Beamten in ihrer Langeweile sogar das Reifenprofil der dort geparkten fremden Wagen überprüften. Und der Nachbar, der spät am Abend heimgekommen war und gleich rot sah, weil er in seinem Fernsehsessel einen Nebenbuhler überrascht zu haben glaubte. Beinahe wäre er zum Polizistenmörder geworden. Hätte der Fremde ihn nicht sofort mit entsicherter Dienstpistole in Schach gehalten. Dem armen Kerl war einfach nur kalt geworden, und die Frau hatte ihn gern hereingelassen, weil er ihr ein Gefühl von Sicherheit gab, wie sie nachher erklärte. Und klar, daß er seine Jacke und die Dienstmütze abgelegt hatte im gut geheizten Wohnzimmer. Nein, nur nicht noch einmal diesen Schutzterror. Kühlen Kopf bewahren, Annemarie. Und diesmal jegliches Aufsehen vermeiden.

    Woitolla kam herein. Sie schrak zusammen wie ertappt. Er merkte, daß er störte, legte die Akten wortlos auf den Aktenbock, stellte fest, daß nichts als Ausgang dalag, und verschwand fast unhörbar. Eine schreckliche Unsitte eigentlich, dachte sie, daß Boten einfach alle Türen aufmachen dürfen. Ohne anzuklopfen. Was mich allerdings bisher nicht erschreckt hat. Woitolla hat mich nur ein einziges Mal erschrecken können. Als er das erste Mal zu mir hereinkam und ich dachte, ich muß ihm zur Begrüßung ein paar freundliche Worte sagen. Wie er mir da gleich gesagt hat, er freue sich, einmal eine Vierzigerin als Richterin hier zu sehen. Und ich habe mich gewehrt, dumm drauf reingefallen, nein, ich sei noch lange keine vierzig, erst gerade fünfunddreißig. Und er entschuldigte sich, das habe er nicht gemeint. So was spreche er doch niemals an bei Damen. Nein, meine Konfektionsgröße sei vierzig. Unten zumindest. Ich hätte beim Kleiderkauf immer das Problem, daß ich zwei verschiedene Größen kombinieren müßte, unten vierzig und oben zweiundvierzig. Aber das sei ja heute möglich. Er zumindest, er hätte mir das immer ermöglicht. Wenn er jetzt noch die Möglichkeit dazu hätte. Und stellte sich als gelernter Schneider und ehemaliger Chefverkäufer vor. DOB und HOB, sagte er und übersetzte dann freundlicherweise gleich: Damen- und Herren-Oberbekleidung. Ja, ein freundlicher Mensch, dieser Woitolla. Und offenbar eine Kapazität. Denn wie er mich taxiert hatte, das stimmte haargenau. Aber mit seiner langen spitzen Nase, so bedrohlich, und dieser Art, einen gleich auszuziehen – das macht er bei jedem sofort bei der ersten Begegnung, bestätigten mir die Kollegen, und manch einer reagiert sauer –, das ist auch wirklich unangenehm, fast schon unheimlich. Aber andererseits – einmal so ausgezogen, hat man auch keine Scheu mehr vor ihm, wenn er einfach so zu einem ins Zimmer tritt. Wie der Hausarzt ans Bett.

    Und kam endlich zurück zu der Notiz des Ermittlungsrichters und zu ihrem Entschluß, sie wegzuschließen. Und war schon wieder bei Woitolla, der sich als Versager bezeichnet hatte. Muß ich jetzt immer daran denken, wenn ich ihn sehe? Und mich fragen, ob ich ebenfalls versage? Ja, müßte ich jetzt nicht Schallenberg auffliegen lassen? Ich habe ihn in der Hand, ganz klar. Er hat sich als konspirativ tätig verraten. So einem Anwalt muß das Handwerk gelegt werden. Ja, aber er ist der beste Anwalt, den Renate finden konnte. Ein Meister seines Fachs und ein Naturtalent in der Kunst, alles zu verdrehen. Ihr diesen Anwalt nehmen? Nein.

    Die Richterin ließ den Protokollzettel in der untersten Schublade verschwinden. Sie konnte sich nicht dazu durchringen, Meldung zu machen, wie es ihre Pflicht gewesen wäre. So hatte sie nun zu ihren Zweifeln, ob sie eine Versagerin sei, auch noch mit der Frage fertigzuwerden, ob sie überhaupt noch neutral sei. Als Richterin stehe ich weder auf der einen noch auf der anderen Seite, habe ich gegenüber Schallenberg aufgetrumpft. Jetzt muß ich mir einreden, daß ich mich gerade mit der Unkorrektheit, die vorgeschriebene Meldung zu unterlassen, als neutral erweise. Gerade damit. Weil es nicht an mir liegen soll, daß Renate Hobbes gut wegkommt, sondern an ihrem guten Anwalt. Und dieser Schallenberg ist der einzige Anwalt weit und breit, der es schaffen könnte, sie herauszuhauen aus dem Schlamassel, in den sie sich gebracht hat. Mit offenen Augen und in voller Absicht. Mein Gott, ja: dolus directus. Und ich kann nicht einmal sagen: unnötigerweise. Weiß ich doch, warum sie getan hat, was man ihr jetzt vorwirft. Unsere Kleine-Mädchen-Träumereien. Damit bin ich praktisch mitschuldig geworden. Denn was beinahe wie eine Wette war, eine Lebenswette – die den tolleren Mann kriegt, ist die Siegerin –, das hat sie dahin gebracht, wo sie jetzt ist. Und mich dahin, wo ich jetzt bin. Und genau das bringt uns beide demnächst im großen Saal des Kammergerichts von Berlin zusammen. Ja, – aber daß unsere Lebenswege so wieder zusammenfinden könnten, wer konnte das ahnen.

    Sie bekam die Akte Renate Hobbes nicht mehr vom Tisch. Sie las darin und suchte und suchte, als ob es um ihr eigenes Leben ginge. Und irgendwie tat es das ja auch. Beihilfe zur Entführung und Ermordung des Unternehmers Alex Heuchemer, so nannte die Staatsanwaltschaft das, was in den Flugblättern der Clique hieß: Gefangennahme und Hinrichtung eines Volkschädlings. Das auf einen Nenner zu bringen, das wird die Aufgabe von Manfred Schallenberg sein. Die Beklagte hat sich nicht zu den Tatvorwürfen geäußert. Typisch. Sie wird sich auch während des Prozesses mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht dazu äußern. Das entspricht ihrer sturkonsequenten Art.

    5.

    Das war in den letzten großen Ferien vor dem Abitur. Bei zwei Familien auf der Nordseeinsel Juist konnte man uns brauchen. Mehr wußten wir nicht. Doch – daß wir kein Geld verdienen würden, lediglich ein kleines Taschengeld für unsere Arbeit erhalten sollten, daneben aber freie Unterkunft und Verpflegung. Und natürlich geregelte Freizeit. Und das war es, was uns besonders gereizt hatte: das ganz andere Ferienerlebnis. Kein Problem, das Geld für die Bahnfahrt von den Eltern zu erbetteln. Es ging ja ums Initiativwerden, um Hilfsbereitschaft und Idealismus. Das gab den nötigen Rückenwind. Und der Begriff Au-Pair-Mädchen klang ja recht gut. Wenn die auch normalerweise im Ausland arbeiten, um die Fremdsprache zu lernen. Unseren Eltern war das Angebot auf Juist viel lieber als ein Auslandsaufenthalt. Bleibe im Lande und nähre dich redlich. Ich habe es noch im Ohr.

    Da sind die beiden Mädchen auf der Fähre, mit der sie von Norddeich übersetzen zu ihrer Trauminsel Juist. Deutlich zu sehen, daß sie sich fühlen – im Lande geblieben oder nicht – wie auf großer Fahrt. Und dann dieser kuriose Trip mit der nostalgisch schnaufenden Inselbahn von der Mole zum Bahnhof. Das Erlebnis hat begonnen. Wie sie mit dem Gepäck in der Hand aus dem kleinen Bahnhofsgebäude kommen, die paar Straßen hinunter gehen, in ein neues Leben hinein, das sich ihnen mit einem quirlig vollen Platz und bunten Blumenrabatten vorstellt. Da steht plötzlich der Fotograf vor ihnen und hat sie schon im Kasten. Wie er das ausdrückt. „Übermorgen abzuholen, meine Damen. Adresse steht hier auf dem Kärtchen. Wünsche Ihnen schöne Ferien!"

    Da waren wir auf einmal Damen. Und Feriengäste. Das Foto muß ich noch irgendwo haben, überlegte Annemarie. Schade, daß ich damals nicht ein ganzes Album angelegt habe, mit Fotos, Fahrscheinen, Eintrittskarten und getrocknetem Dünengras. – Was war daran noch zu trocknen? Aber damals kamen ja noch nicht diese Unmengen von Bildern zusammen bei jeder Reise. Und wir waren ja auch keine Damen auf Urlaubsreise. Daß wir uns am nächsten Abend um acht im Bahnhof treffen wollten, um unsere ersten Erlebnisse zu besprechen, das hatten wir schon im Zug fest vereinbart. Auf was sonst sollte man sich festlegen, wenn man überhaupt keine Vorstellung von dieser Insel hat. Nach diesem ersten Treffen, nach dem ersten Tag als Au-Pair-Mädchen würden wir einen besseren Treffpunkt kennen.

    Anne findet ihre Familie gleich am Hauptplatz, wo eine kleine Gartenanlage und ein Musikpavillon Kurort mimen. Ein imposantes Haus, das Wohnung und Praxis der Familie Dr. Silbrig enthält. Genaugenommen sogar zwei Praxen, denn Herr Dr. Silbrig und auch Frau Dr. Silbrig arbeiten als praktische Ärzte. Doch mit den zwei Behandlungszimmern und den beiden Wartezimmern – eins ist der Extraraum für Privatpatienten, damit die wartenden Kassenpatienten nicht sehen, wie diese zwischendurch ins Ordinationszimmer geholt werden –, mit Röntgenraum und Umkleidekammer und den Labors habe Anne nichts zu tun, erklärt die Ärztin. Nur mit den beiden Söhnen der Dr. Silbrigs, die drei und fünf Jahre alt und ein sehr freies Leben gewohnt seien.

    „Das ist unsere stolze Zukunft. Wir werden unseren Söhnen später eine exzellente Ausbildung

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