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Mensch in Menschenmassen - Ein Chinaroman
Mensch in Menschenmassen - Ein Chinaroman
Mensch in Menschenmassen - Ein Chinaroman
eBook510 Seiten7 Stunden

Mensch in Menschenmassen - Ein Chinaroman

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Über dieses E-Book

Ein amüsant ironisch - auch selbstironisch - erzählter Gesellschaftsroman voll informativer Überraschungen. Im Zentrum steht der von allen nur Happy genannte Reiseleiter einer deutschen Studiengruppe auf Rundfahrt in China. Dieser überlegene Typ macht wirklich happy und präsentiert durch seine Erinnerungen an andere große Reisen den Lesern eine Welt voller Abenteuer und Liebeleien.



Der 1935 geborene Walter Laufenberg ist ein deutscher Schriftsteller und Blogger. Als studierter Jurist und Volkswirtschaftler sowie promovierter Sozialwissenschaftler hat er in unterschiedlichen Berufen gearbeitet, u.a. als Verlagslektor, Filmemacher, Fernsehredakteur und Werbeleiter. Er hat eine Vielzahl an Büchern veröffentlicht, darunter "Hitlers Double", "Tage des Terrors" und "So schön war die Insel", alle bei Saga Egmont erhältlich.
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum30. Nov. 2020
ISBN9788726749571
Mensch in Menschenmassen - Ein Chinaroman

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    Buchvorschau

    Mensch in Menschenmassen - Ein Chinaroman - Walter Laufenberg

    Walter Laufenberg

    Mensch in Menschenmassen - Ein Chinaroman

    Saga

    Mensch in Menschenmassen - Ein Chinaroman

    Odysseus' Dilemma

    Coverbild/Illustration: Shutterstock

    Copyright © 2001, 2020 Walter Laufenberg und SAGA Egmont

    All rights reserved

    ISBN: 9788726749571

    1. Ebook-Auflage, 2020

    Format: EPUB 3.0

    Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

    SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

    – a part of Egmont www.egmont.com

    Nur Reisen ist Leben,

    wie umgekehrt das Leben Reisen ist.

    (Jean Paul in: Das Kampaner Tal, 502. Station)

    Es tut mir lang‘ schon weh,

    daß ich dich in der Gesellschaft seh‘.

    (Margarete in Goethe, Faust I)

    1.

    Ein kehliges Grunzen, ein lauter werdendes Brummen. So stand er da, der Jumbo. Unwillig, unentschlossen. Und wie gegen alle Welt anmurrend. Stand da in einem heftigen Vibrieren. Als ob alle vierhundertsechzig Menschen an Bord diesen einen Gedanken zitterten: Das kann nicht gutgehen.

    Ein Zittern, das immer wieder neu anflutete und gleich darauf abebbte. An und ab, nervenzerrend, so schüttelte es den Jet. Auf der Startbahn des Flughafens von Hongkong. Abflugbereit. Aber im rabiaten Griff des Taifuns.

    Warten auf den Ratschluß der Fluggötter in Cockpit und Tower. Warten. Was bleibt einem anderes übrig. Und all seine Zuversicht, all seine Hoffnung auf die setzen, die über Sein oder Nichtsein entscheiden. Die unbekannten Olympischen, weder mit Gebeten ansprechbar noch durch Opfer günstig zu stimmen. Nur mit geduldigem Warten zu verehren.

    Es ist Freitag, der 20. August, und es geht mal wieder um beinahe nichts und doch um Leben oder Tod - das ist so menschlich. Wird die Starterlaubnis erteilt oder müssen wir wieder aussteigen? Das ist die Frage. Vielleicht doch besser, sich wieder hineinverrenken zu müssen in die Regenhäute, die von der Fluggesellschaft verteilt worden waren. Damit man nicht auf den paar Metern die Gangway hinauf völlig durchnäßt würde. Und dann wieder herumzustehen, wie sie vorher herumgestanden hatten, im Warteraum, einige Hundertschaften Heimkehrer, alle eingehüllt in den Regenschutz der Cathay Pacific, transparent und knöchellang und mit Kapuze. So gleichgemacht wie provisorisch verpackte Leichen.

    Penni hatte wieder bei dem mit dem heruntergezogenen Schnäuzer gestanden. Mit diesem Hufeisenbärtchen. Soll wohl als Glückssymbol dienen. Hilft ihm jetzt aber auch nicht mehr. Gibt seinem Gesicht nur den blasierten Ausdruck der High Snobiety. Penni hat es also auch in dieser Situation nicht über sich gebracht, wieder an meiner Seite zu sein. Keine Versöhnung, kein Wort, das eine Brücke baut, nicht wenigstens ein Blick zu mir herüber, auch nicht im Angesicht des ... Nein, nein, ich will es nicht einmal denken. Jedenfalls jammerschade um sie. Eine Frau wie Penni, so einmalig, neben ihr sind alle anderen, die ich gehabt habe, nur als Komparserie aufgetreten. Um sie desto großartiger dastehen zu lassen.

    Kaum in der Maschine, hatten die Stewardessen ihnen geholfen, sich das Kunststoffzeug hastig vom Körper zu reißen. Und hatten sie weitergeschoben. Schnell durchgehen bitte, Platz machen für die Nächsten!

    Aber jetzt zurück in die Wartehalle? Noch einmal diese umständliche Prozedur? Noch länger auf den Heimflug warten?

    Bedeutete jede Minute Verzögerung doch, daß das Auge des Taifuns näherkam. Starttermin für den Flug CX 289 war laut Timetable 22 Uhr 40. Zwischen 23.00 und 24.00 Uhr, so der Wetterbericht im Hongkonger Fernsehen, wird der Taifun Tasha, von Südosten kommend, die Stadt erreichen. Und nun schon eine halbe Stunde über der Zeit und offenbar immer noch keine Starterlaubnis. Nur dieses Zitterrütteln.

    Da endlich tobten die Triebwerke los. Daß kein Wort mehr zu verstehen war, kein Ton mehr von der Beruhigungsmusik aus den Lautsprechern. Und dieses Vibrieren plötzlich noch viel unangenehmer. Ein heftiges Zittern, dessen man sich doch nicht zu schämen brauchte. Weil es in allen war.

    Also Abflug. Im Taifun. Sie riskieren es. Sie riskieren unser Leben. Wahnsinn! Die Maschine beschleunigte unheimlich schnell. Und sie hob ab, stieß schräg in den dunklen Himmel. Selbstbewußt und zielstrebig, allem Rütteln und Schaukeln zum Trotz. Was ihn ein wenig ruhiger werden ließ. Er konnte ja nicht ahnen, wo sie ihn hintragen würde.

    Auf dem Bildschirm erschien das Flugzeug, nach halblinks oben gerichtet, und der Pfeil, der den Sturm anzeigte, kam von halbrechts unten. Windgeschwindigkeit 110 km/h, stand da. Aber Rückenwind. Also doch noch einigermaßen pünktlich heimkommen. Wenn nicht der Taifun uns aus dem Himmel schüttelt, wie wir früher die Äpfel aus dem Straßenbaum geschüttelt haben. Wie haben wir sie runterprasseln lassen. Weit verstreut. Und zermatscht. Was war uns schon ein Apfel? Was sind wir dem Sturm? Plötzlich - wie wertlos all die Reisemitbringsel, die vielen Filme, alles Neue, das wir gesehen, das Unerhörte, das wir gehört haben. Souvenirs, Souvenirs, der schöne Schaum der Ewigkeit von Flut und Ebbe, neuer Flut, neuer Ebbe. Und sogar ein nie zuvor gedachter Gedanke: wertlos. Wie das bißchen Veränderung des Weltbilds, dieses stolzneue Bewußtsein. Wie belanglos alles, wenn die Formen zerstört sind.

    Und wenn das nun das Ende sein sollte – okay. Was habe ich denn noch zu verlieren? Ich, der ich alles falschgemacht habe. Wenn der Taifun uns zerschmettert, erspart mir das, selbst Hand an mich zu legen.

    Schon bei der Ankunft der Gruppe aus China in Hongkong am Tag zuvor, nach der schikanös-langwierigen Einreisekontrolle im Bahnhof, hatte der örtliche Reiseleiter vom Taifun gesprochen: Windstärke 3. So stand es dann auch im Hotel auf dem Schild mit Kartenausschnitt und einem dicken roten Pfeil, der die Marschrichtung von Tasha anzeigte. Heute am späten Nachmittag noch waren einige aus der Gruppe mit der letzten Fähre gefahren. Kein anderes Schiff mehr unterwegs auf dem wildgewordenen Wasserarm zwischen Kowloon und der Viktoria-Insel. Auf dem hochgehenden Geschäume nur ein Polizeiboot, das mit seinen Lautsprechern gegen den Sturm anbrüllte: Sofort die Strandpromenade verlassen! Damit es die Leute nicht ins Meer weht. Einzelne Furchtlose gingen trotzig weiter, in so krasser Schräglage, wie sie ohne den Wind niemals möglich wäre. Was sie belustigte, sie verleitete, mit dem Sturm zu spielen. Und er selbst war einer von diesen Unerschrockenen. War ihm doch inzwischen alles egal. Immer wieder plötzliche Regenschüttungen, gegen die es keinen Schutz gab. In den Papierkörben zerfetzte Regenschirme. Die Wolkenkratzer am anderen Ufer verschwanden minutenlang in schwertriefenden Wolken wie unter Tarnkappen und leuchteten gleich darauf schweißglänzend wieder auf, so strahlend, als atmeten sie einmal kräftig durch: Nochmal gutgegangen. Das hatten seine Leute ja alles noch als recht amüsant empfunden.

    Doch die Hotels, Restaurants und Läden waren plötzlich nicht mehr wiederzuerkennen. Eine Stadt wie im Krieg. Überall schwere Eisenrollos herabgelassen. Und wo es keine gab, wo Fensterscheiben ungeschützt dem Unwetter ausgesetzt waren, da hatte man sie kreuzweise mit roten Streifen beklebt. Wie nach Moses und Aarons Weisung mit einem blutigen Kreuz dem rächenden Gott signalisiert: Dieses Haus verschone, denn hier wohnt einer aus deinem auserwählten Volk. Der Schiffsingenieur hatte es besser gewußt: So beklebt können die Scheiben nicht so leicht vom Sturm eingedrückt werden. Das macht einige Kilopond Unterschied. Ein Livrierter hatte vor dem verrammelten Haupteingang des New World Hotel gestanden und sie auf einem Schleichweg durch eine stillgelegte Ladenpassage hintenherum hineingeführt. Da hatte die Tafel in der Lobby bereits Windstärke 8 angezeigt. Der rote Pfeil war der Stadt gefährlich nahegerückt. Und keine Chance, dem Unheil zu entgehen. Die Koffer waren unterwegs zum Flughafen, die Zimmer längst von neuen Gästen bezogen.

    Happy zeigte sich von all dem nicht berührt. Auch Tasha brachte es nicht fertig, ihn aus der Ruhe zu bringen. Aber diese Ruhe war nicht seine gewöhnliche Gelassenheit, seine Allzeitbereitschaft zu Witzeleien. Einige aus der Gruppe sahen es genauer: Das war eher Resignation. Wenn ich erst wieder zuhause bin, überlegte Happy, ja, wenn überhaupt, dann werde ich mich jedenfalls nur noch mit Pflanzen umgeben. Sträucher und Blumen als mein Gegenüber. Daß sie mich mit ihrer unendlichen Geduld anstecken. Diese Gleichgültigkeit des Grünzeugs gegenüber den Menschen, dieses auf sich selbst Konzentriertsein. Beneidenswert. Wie hatte der pensionierte Richter ihm am Nachmittag gesagt: Sie sehen aus, als wären Sie des Handelns müde, als hätten Sie nur noch Lust zum Denken. Und hatte dann noch erklärt: Das ist ein Zitat von André Gide. Muß für Sie als Literaturwissenschaftler ja wohl bekannt sein.

    Müde ja, und nicht nur das, hatte er gedacht - und nicht gesagt. Er hatte genug von den Leuten. Vier Wochen diese Menschen um sich, Tag und Nacht, das war mehr als genug, war unerträglich. Dabei sind sie nicht schlimmer gewesen als die in anderen Gruppen, mußte er sich zugeben. Die meisten wenigstens. Aber mit jeder neuen Gruppe das gleiche: Immer wieder neue Menschen und doch kaum mal was Neues. Immer nur Leute. Und gegen Ende der Reise dann dieses Gefühl, man könne es nicht mehr ertragen. Weil aller Reiz des Neuen dahinschmilzt wie Eis in der Sonne. Was da übrigbleibt, das ist die immer gleiche Unansehnlichkeit. Die meisten schonungslos alt und häßlich. Daß sie sich nicht zuhause verstecken. Ab dreißig ist man für sein Gesicht verantwortlich, sagte er sich manches Mal schaudernd. Anfangs, als er noch neugierig auf Frauen gewesen war, als er nur immer die Gelegenheit und dann den Punkt gesucht hatte, der sie tanzen ließ, als sein frischaufgedrehtes Spielzeug, damals hatten ihn die zerstörten Gesichter nicht gestört. Überhaupt nicht gesehen. Erst seit wenigen Jahren war das Dilemma für ihn sichtbar - und seitdem unübersehbar: Die schmalkniffigen Münder, die zerfingerten Nasen, die lichtlosen Augen. Und da meinten diese Frauen immer noch, in den einschlägigen Magazinen einschlägige Tips finden zu können gegen kleine Schönheitsfehlerchen: Gegen lose Haut unterm Kinn und Fältchen um die Augen und rote Ohren und für feineren Schwung der Augenbrauen, zur Kräftigung der Fingernägel. Einfach lachhaft. Und die Dreistigkeit, sich einem jungen Menschen, einem Mann in den besten Jahren so zu präsentieren. Wenn sie wenigstens Eleganz gezeigt hätten. Aber nein. Oder wenigstens die Schönwürde des Alters. Aber auch das nicht. Nur immer diese untauglichen Versuche, in den Jungbrunnen zu springen. Und diese flachgehende Neugier und gelangweilte Konsumlust. Und trotz alledem der unstillbare Wunsch nach einem Aufflackern in den Augen des Reiseleiters. Und dann dieses Sonder-Angebot von gestern nachmittag, das hatte ihn in einen brunnentiefen Zustand der Verzweiflung fallen lassen.

    2.

    Happy war, wie auf anderen Reisen so auch auf dieser, innerlich mehr als einmal aus der Rolle gefallen. Doch scheinbar blieb er immer noch Herr der Situation, wenigstens scheinbar der allzeit Überlegene. So, wie er seiner China-Gruppe im ersten Augenblick erschienen war. Am ersten Tag, unmittelbar vor dem Start in Frankfurt: Ein selbstsicherer Mann, groß, dunkelhaarig und vollbärtig, mit langen Schritten auf sie zugehend. Mit schnellen Blicken die passenden Kofferschilder erspähend. Um seine Gruppe beiseite zu bitten, sich ihr mit einer kleinen Ansprache vorzustellen: Ich begrüße Sie sehr herzlich, auch im Namen meiner Gesellschaft und ganz Chinas. Ich bin happy. Und so heiße ich als Reiseleiter auch. Nennen Sie mich also einfach Happy und um Gottes willen nicht Erich Karl-Alfred Herckenrath, wie es in Ihren Unterlagen steht. Und auch nicht Herr Happy. Ein Reiseleiter ist kein Herr. Er muß nur immer Herr der Lage sein. Ja, also, ich bin Ihr Reiseleiter. Wir werden jetzt vier Wochen lang gemeinsam durch China reisen. Ach, was heißt reisen. Wir werden es erobern, werden es beäugen, erleben und kritisch durchleuchten. Und Sie können happy sein, daß Sie mit mir unterwegs sind, denn bei mir gibt es immer gutes Fotowetter und gutes Essen und gute Betten und so fort, also alles, was man fürs Happysein braucht. An der Stelle hatte er - wie immer – die erste Lachpause gemacht.

    Ja, im Ernst, Sie können froh sein, daß Sie nicht an so einen Langweiler als Reiseleiter geraten sind, der sich nur für die Kunstgeschichte interessiert oder nur für die Ornithologie oder - noch schlimmer - nur für die Geologie. Ich sage es Ihnen gleich, damit Sie sich nicht damit aufhalten müssen, mich vorsichtig auszufragen: Ich habe ein paar Semesterchen Wirtschaftswissenschaft studiert, aber keinen Gefallen dran gefunden. Da habe ich nur gelernt, daß der Tourismus weltweit die größte Wachstumsindustrie ist. Daß sich also alles um Sie, die Reisenden, dreht. Dann habe ich Literaturwissenschaft und Geschichte studiert, meinen M.A. gemacht und bin jetzt an meiner Doktorarbeit, und das schon seit vielen Jahren. Und wohl auch noch für den Rest meines Lebens, weil ich mir zwischendurch als Reiseleiter meinen Unterhalt verdienen muß. So, jetzt wissen Sie Bescheid über mich, und wir können uns um China kümmern.

    Und bei einem schnellen Blick über den Kofferpulk. Da und da fehlen noch die Kofferschilder unserer Gesellschaft. Wenn Sie die bitte noch anbringen vor dem Einchecken. Mein Unternehmen legt allergrößten Wert darauf. Fragen Sie mich nicht, warum.

    Ach Gott, das fängt ja gut an, kriegte er prompt von einer Dame zu hören. Die müssen wir miteingepackt haben. Da konnte Happy sich gleich das erste Mal als Helfer in der Not erweisen: Zwei Ersatzpappen aus seiner Reisetasche.

    Und konnte dann seine Vorstellung, die vielerprobte Ouvertüre zuendeführen: "Ach ja, das gleich auch noch: Das Thema meiner Dissertation lautet: ,Homers Odyssee als zeitunabhängig gültige Parabel der Identitätssuche des Menschen.‘ Sie sehen, das hat mit uns hier und heute nichts zu tun, braucht uns also nicht zu kümmern. Mit meiner Literaturwissenschaft können wir in China überhaupt nichts anfangen. Ihr Reiseleiter ist also kein Fachidiot, er ist eher ein Generalist. Von mir werden Sie deshalb ganz anderes über China hören als von jedem anderen. Über seine lange Geschichte, seine hohe Kultur, seine desolaten Verhältnisse, die aktuellen Schwierigkeiten, die Öffnung zum Westen hin, die Kapriolen der Wirtschaftspolitik, die Menschenrechtsfrage und so fort. Aber wohlgemerkt, ich erzähle Ihnen nichts, was Sie nicht betrifft. Bei mir sollen Sie nicht bloß das Objekt der Tourismusindustrie sein, sondern sein Subjekt. Wenn Sie nach dieser Reise ins Unbekannte Ihren Heimatort wiedersehen, dann werden Sie es erst so richtig zu schätzen wissen, wie schön, wie sauber, wie ordentlich daheim alles ist. Aber auch wie belanglos. Was Ihnen nämlich zuhause fehlt, das ist das Erlebnis. Und dieses Erlebnis, das werde ich Ihnen in den nächsten Wochen bieten."

    Schön.

    Sehr gut.

    Angenehm. Schüchterne Ansätze von Applaus.

    Aber, - sehen Sie mich bitte nicht als Alleinunterhalter an. Ich bin nicht dazu da, Sie zu unterhalten. Das wäre zu simpel. Sie müssen schon mitmachen. Was nicht schwer ist. Stellen Sie sich vor, so eine Reise ist ein Buch, das Sie lesen. Sie sind ja Menschen, die noch wissen, was das ist: ein Buch, so darf ich unterstellen. Sie kennen dieses extrem interaktive Erlebnis des Bücherlesens. Wir werden China wie ein Buch durchgehen, werden Seite für Seite dieses geheimnisvollen Landes aufschlagen, mit wachen Augen lesen und in uns aufnehmen. Sie brauchen sich nur für alles Neue, alles Überraschende offenzuhalten, vorurteilslos und einfach staunend. Wir machen gemeinsam den Ausstieg aus Ihrem Alltag. Sie sind jetzt Aussteiger auf Zeit, Artisten, die allerdings mit Netz und doppeltem Boden arbeiten. Ja, zu Ihrer Sicherheit. Da hat unsere Organisation vorgesorgt, sie stellt uns zu allem Überfluß auch noch überall einheimische Führer zur Verfügung. Dennoch sind Sie als Reisende richtige Artisten. Wenn Sie richtig mitmachen. Und das sollten Sie sich vornehmen. Denn ich will, daß Sie genau wie ich sind, nämlich happy. In diesem Sinne auf ins Land der roten Mandarine oder ins Reich der Mitte - ganz wie Sie wollen! Wir checken jetzt ein. Danach gehen wir sofort durch in den Warteraum. Nach nur neun Stunden Non-Stop-Flug sind wir in Peking oder - wie der Kenner sagt - in Beijing. Also denn: Yil— sh—nfeng - das heißt: guten Wind auf allen Wegen!

    3.

    Das scheint Prinzip zu sein: Neun Stunden Flug haben im Fluge zu vergehen. Fast könnte man den alten Ausdruck deshalb von der Fliegerei herzuleiten versucht sein. Es wäre das ja nicht das erste Mal, daß eine dichterische Formel zur platten Realität wird. Happy dachte an die Reisenden, die auch den Flug als solchen erleben wollten. Er wußte, das soll nicht sein. Dafür wurde nicht gezahlt, sondern bloß für den Transport. Auch wenn wir nur um des Reisens willen reisen, ist doch niemals der Weg das Ziel. Der Flieger muß immer schneller fliegen, der Zug immer mehr rapido sein. Und pünktlich starten und pünktlich ankommen müssen sie. Statt des Flugerlebnisses die totale Ablenkung: Erst Zeitungen, Zeitschriften, dann Getränke, Kekse, danach schon bald richtiges Essen und Trinken. Und immer mal wieder Durchsagen, immer mal wieder Blinkhinweise, Klangsignale. Und die Stewardessen mit ihren Wägelchen, wie sie sich durch die engen Gänge drängen, da an eine Schulter stoßen, hier einen Fuß anfahren. Kopfhörerverteilung, Kopfhöreraufsetzen, Kopfhörergedröhne, Senderwahl, Lautstärkewahl, ungeschicktes Herumspielen mit den Fingern im Klappaschenbecher. Und an der Kippvorrichtung des Sessels. Schon gleich nach dem Start das Ausfahren des Projektors, der Werbefilm der Fluggesellschaft. Ein chinoiser Olympiawerbefilm. Und endlich der Spielfilm.

    Endlich? Wieso das? Es gab kein Ende. Trotz Weggucken, trotz Weglegen des Kopfhörers, trotz aller Bereitschaft einzuschlafen. Erfolgloses Bemühen. Nur ein zeitvergessenes Dösen. Und schon wieder Wägelchen in den Gängen. Sie schieben die vor sich her, die austreten müssen oder sich einfach nur die Beine vertreten wollen. Dann die Landung. Und damit neun Stunden älter. Jeder und jede. Neun Stunden, die keine Spur hinterlassen haben, nicht in uns und nicht auf dem langen Weg um die halbe Erdkugel. Der Flug vergangen und wir so wie er. Und die Tageszeitung, ungelesen, längst auf dem Boden, unter die untätig unruhigen Füße geraten. Zeitungen vergilben im Fluge doppelt schnell: in der Zeit- wie in der Raumdimension total deplaziert. Wer immer noch glaubt, mit dem Fliegen Zeit zu gewinnen, dem ist nicht zu helfen. Flugzeit ist verlorene Zeit. Und wer nicht versteht, die Lücke, die der Flugplan aufreißt, mit Träumen zu füllen, mit schönen Erinnerungen, der muß mit dieser Leerstelle in seinem Leben weiterleben.

    Während des ganzen Fluges kein Wort mit Penni gesprochen, auch unmittelbar vor dem Start nicht, außer der üblichen freundlichen Begrüßung jedes einzelnen Gastes. In neun Stunden kaum mal ein heimlicher Blick zu ihr zurück - sie saß zwei Reihen hinter ihm -, von ihr kaum merklich beantwortet: übervorsichtig.

    Als Happy seine Armbanduhr auf die vom Flugkapitän zusammen mit guten Wünschen durchgegebene Ortszeit von Peking umstellen wollte, hatte er die Krone lose zwischen den Fingerspitzen. Meine Uhr macht nicht mit bei diesem Zeitbetrug, na gut. Es geht wohl auch ohne. - Aber, wenn das nur kein böses Omen ist, überlegte er, als er die Krone in sein Portemonnaie steckte. Wenn Zeus' Vater Kronos sich so deutlich verärgert zeigt, dann ist von der nächsten Zeit nichts Gutes zu erwarten.

    Über Peking Wolken. Nichts zu sehen. Unter den Wolken gleich der Flugplatz. Und auf dem Flugplatz Smog. Und dann auch bei der Fahrt in die Stadt ringsum nur grauer Dunst und Staub. Da waren die Taxis - Personenwagen und Kleinbusse - eine wohltuende Unterbrechung fürs Auge. „Quittejelb und einfach überall", wunderte sich eine seiner Reisenden. Das klang unüberhörbar nach Köln. Noch gar nicht lange gebe es die Taxis, aber nun seien bereits rund fünfundsechzigtausend auf den Straßen Pekings unterwegs, erklärte der örtliche Reiseführer, ein Chinese, in bestem Deutsch. Sein Name sei Li, so hatte er sich vorgestellt. Der Einsatz dieser örtlichen Führer, so hatte Happy seine Leute noch vor Fahrtbeginn informiert, sei in China überall Pflicht, hier viel strenger gehandhabt als in anderen Ländern. Mit einem deutlich hörbaren Leider in der Stimme. Die Freude über die Zwangspausen ist meine Sache, hatte er sich gesagt. So komme ich wenigstens mal dazu, einen Gedanken zu fassen.

    Tust du das sonst nicht?

    Doch, schon, aber man verausgabt sich schnell, wenn man dauernd reden muß. Hin und wieder die Dinge einfach so für sich sprechen zu lassen - und auch mal einen anderen, das ist ein ganz anderes Erlebnis.

    Soll denn ich das Erlebnis haben oder nicht eigentlich die Gruppe?

    Zugegeben, ich bin dazu da, diesen Touristenhorden was zu bieten, aber letztlich tue ich doch alles, was ich tue, für mich. Damit müssen die Leutchen sich halt abfinden. Und damit basta!

    Die meisten sind staatlich, ja, nur wenige sind privat, war Herr Li immer noch beim selben Thema. Aber alles perfekt organisiert. Wenn Sie genau hinschauen, sehen Sie: Auf den Seitenfenstern steht jeweils der Kilometerpreis: 1 Yuan oder aber 1,6 Yuan, das ist dann mit Klimatisierung, oder sogar 2 Yuan in einem Fahrzeug der Luxusklasse. Ein Yuan, das ist für Sie nicht viel Geld, umgerechnet im Moment nur etwa 30 Pfennige. Aber für einen Chinesen ist das viel Geld, mindestens so viel, wie für Sie eine Mark ist.

    Genug Beispiele vor und neben und hinter ihrem Bus. Fünf, sechs und sieben Taxen hintereinander. Gelb die beherrschende Farbe im Straßenbild, weil außer Taxen und Lastwagen zwischen den Unmengen von Radfahrern kaum andere Fahrzeuge zu sehen sind. Die Pekinger, so der chinesische Führer, sagen Sie übrigens bitte nie die Pekinesen. Auch er mit gekonnter Lachpausentechnik. Die Pekinger sprechen bei dieser Taxiflut von der gelben Gefahr. Schon mal gehört, nicht wahr? Für die Pekinger ist das die gelbe Gefahr, weil die Taxifahrer meist viel zu viele Stunden hinter dem Steuer sitzen und deshalb viele Unfälle machen. Das kam an. So werden historische dumme Sprüche aktuell - und gleichzeitig entschärft, resümierte Happy für sich.

    Gleich darauf eine andere Farbe: ein sattes Blau. Das Blau, die Farbe des Himmels, wenn auch nicht mehr über dem heutigen Peking, mußte der Führer zugeben. Tiefblau wie der Himmel von früher sind die Ziegel auf den Dächern des Himmelstempels, erklärte er, was jeder sehen konnte. Die erste Besichtigung schon gleich nach der Ankunft in Peking. Aha, um dem Personal im Hotel Zeit zu lassen, die Zimmer zu machen, verstand Happy. Der Führer begründete diesen Schnellstart mit der Überfülle an Sehenswürdigkeiten, die Beijing zu bieten habe.

    Die unausgeschlafenen Touristen sahen sich überrascht an und um. Noch kannte man sich nicht, da war man schon im Zentrum des alten kaiserlichen China, da erfuhr man, daß das Gelb dem Kaiser vorbehalten war, weswegen die glasierten Dachziegel hier nicht gelb, sondern blau sein mußten. Gab es denn keine anderen Farben? Aber man könnte doch nicht so eine dumme Frage stellen, wo man sich noch so fremd war. Nur die Namen der anderen kannte man. Die standen ja auf der Teilnehmerliste. Aber welche Namen zu welchen Leuten gehörten, das war die Frage. Ein Puzzlespiel. Da die Familie mit den beiden Kindern, klar. Und das da sind die beiden alleinreisenden Herren. Das ist die eine der beiden alleinreisenden Damen, das die andere, viel jünger. Doch die anderen, meist Paare, blieben austauschbar. Verschwanden jetzt auch schon in der Menge von Chinesen, die dem Himmelstempel einen Besuch abstatteten. Nicht allzu ehrfürchtig. Ein wunderliches Gedränge und ein sonderbares Gebrüll.

    Von Sehenswürdigkeiten hatte der örtliche Führer gesprochen, doch die eigentliche Attraktion wurden die chinesischen Ausflügler. Da, in der Mitte dieses großen runden Podiums aus weißem Marmor, des Himmelsaltars, auf dem man gerade stehe, erklärte der Führer, sei ein einzelner Stein, der bei der Zahlenmystik, die hier alles bestimmt habe, übriggeblieben sei. Wenn man auf diesem Stein stehe und etwas rufe, dann werde das von allen Seiten von der Balustrade zurückgeworfen. Die Chinesen wissen das, sinnierte Happy. Denn da schiebt sich jeder zur Mitte vor, dicht umdrängt von anderen Besuchern. Und jeder, der meint, in der Mitte zu stehen, brüllt was fürs Echo, das sich vor lauter Gebrüll die Ohren zuhält. Ein Aha-Erlebnis, das so eigentlich nicht vorgesehen war: Daß auf den einzelnen Stein ein einzelner Mensch gehört, mit einem einzelnen Ausruf, das ist in diesem Ameisenstaat offenbar nicht vorstellbar.

    Da erlaubst du es dir als westlicher Besucher, stolz auf deinen Individualismus, den Kopf zu schütteln?

    Ja, selbstverständlich.

    Siehst du, das ist genauso sinnlos.

    Irgendwo muß ein Stand sein, an dem man seine Kinder nicht vorbeizerren kann, ohne ihnen eine von diesen Entenhandpuppen zu kaufen, die einen lauten Quietschton machen und dabei die Zunge lang herausstrecken. Ente, daheim im Chinarestaurant immer das beste Gericht. Hier das beste Geschäft: Pro Qietschente eine Familie auf dem Gelände des Himmelstempels.

    Weiter in den nächsten Hof, wo sich die Menge an die runde Umwallung drückte wie an die Klagemauer zu Jerusalem. Jeder sprach halblaut vor sich hin und genoß das Wissen, daß man sein Gerede noch an der Mauer gegenüber verstehen kann. Verstehen könnte, wenn es nicht so laut wäre in diesem Hof. Ein gesichertes Wissen, überlegte Happy, das offenbar sowenig auf eine Bestätigung durch Erfahrung angewiesen ist wie das Gerede selbst auf einen Zuhörer. Da darf man sich doch wohl die Frage stellen: Fehlt den Leuten hier der nötige Abstand zu den Dingen? Oder haben sie im Gegenteil schon zuviel Abstand genommen? Und fand für die zweite Antwort gleich die Bestätigung: Bei den Schreinen mit den Namen ihrer frühen Kaiser galt zwar ein striktes Fotografierverbot - als Zeichen der Hochachtung. Doch die Nachfahren der braven Untertanen standen da und schleckten ihr Eis, hatten Baseballkappen auf, manche auch schon Turnschuhe an den Füßen und redeten und knipsten und blitzten wild durcheinander. Und die lebensgroßen Puppenmandarine, die dort als Wächter standen, sahen ausdrucksvoll aufs Volk und wie durch diese ihnen fremden Menschen hindurch. Nur der große Ventilator in der Ecke schüttelte stellvertretend für die steifen Mandarine den Kopf, unermüdlich.

    Der örtliche Führer bemühte sich, die Gruppe vor der Halle der Ernteopfer zusammenzutreiben. Um sie wortreich in frühere Jahrhunderte zu versetzen. Sie erleben zu lassen, wie der Kaiser zweimal im Jahr von seinem Palast, der sogenannten Verbotenen Stadt, in farbenprächtiger Prozession, begleitet von rund tausend Hofleuten - Ministern, Beamten und Eunuchen - zum Himmelstempel zog, um dort die Opferzeremonien durchzuführen. Ein Ritus, der für die Bitte um eine gute Ernte wie für den Erntedank vorgeschrieben war. Auf diese wichtige Amtshandlung bereitete der Kaiser sich jeweils eine Nacht lang im Palast der Enthaltsamkeit vor, ohne Speise und ohne seine Frauen.

    Gerade war es Penni gelungen, im Gewühl wie zufällig einmal an Happys Seite zu kommen und heimlich seine Hand zu drücken, mit herabhängenden Armen beide. Und dabei ihr geflüstertes: Guten Morgen! Und sein ebenso leises: Guten Abend wär‘ mir lieber.

    Der Führer wurde dann aber schnell prosaischer: Neununddreißig Meter hoch ist die Halle der Ernteopfer, ein wunderschöner Holzbau, der ohne einen einzigen Nagel gebaut wurde. Derweil schlugen die chinesischen Besucher vor dem spitzmützigen Gebäude die Hände überm Kopf zusammen. Allerdings auch wieder nur des Echos wegen. Noch so ein Brauch, den hier jeder kennt, verstanden die Neuankömmlinge. Doch Echo, eindeutig der Gott dieser Lokalität, stellte Happy amüsiert fest, läßt sich nicht hören.

    Als sie vom Flughafen losgefahren waren, hatte Happy das Mikrophon genommen und den einheimischen Führer sowie den Fahrer vorgestellt. Bei der Gelegenheit, hatte er gesagt, einen guten Rat: Denken Sie immer daran, daß Sie gerade nur soviel von ihren Reiseerlebnissen haben, wie Sie selbst investiert haben. Und damit meine ich nicht das Geld, das Sie bezahlt haben. Auch nicht die Zeit, die Sie dafür aufbringen. Nein, Sie müssen schon mehr investieren, um was davon zu haben, daß Sie jetzt durch China reisen. Man kann sich beispielsweise das Außergewöhnliche klarmachen, daß man selbst gerade hier ist. Wie Goethes sich selbst bestaunender Ausspruch: Auch ich in Arkadien! Das ist eine Art des Genießens. Eine stark ichorientierte, zugegeben. Eine andere Art ist, sich in das Lebensgefühl der Menschen in dem fremden Land zu versetzen, sich hineinzufühlen in diese Gesellschaft. All die Länder und Städte mit den exotischen Namen, sie haben ja nur für uns was Exotisches. Das müssen wir uns immer wieder klarmachen. Für die jeweiligen Einheimischen sind sie Alltag, sind sie Arbeit, lebenslanges Sichabplacken, Krankheit und Not, also Trivialität. Daneben aber sind die für uns fremdartigen Namen für die Chinesen Heimat, sind glückliche Erinnerung und Wehmut und Anhänglichkeit, Geborgenheit - Selbstverständlichkeit. Am besten, Sie versuchen, wo Sie stehen und gehen, sich als einer der Chinesen zu sehen und wie sie zu fühlen. Zufällig hier geboren, hier aufgewachsen und ohne jede Chance, jemals rauszukommen aus diesem Land. Riskieren Sie den lchaustausch. Keine Angst, davon kriegen Sie keine Schlitzaugen.

    Und als das prompte Gelächter versiegt war: Ganz im Ernst. Da gibt es einen einfachen Trick: Im Hotel nicht in den Spiegel schauen, nie mehr, statt dessen den Einheimischen intensiv ins Gesicht. Sie werden überrascht sein, wie schnell Sie sich als einer von ihnen empfinden können. Und schon sagen Ihnen die Dinge, die Sie auf dieser Reise zu sehen kriegen, viel mehr.

    Das war für den einheimischen Führer offensichtlich schon etwas zuviel Eingriff in seine Funktion. Mit chinesisch freundlichem Lächeln zwar, aber auch mit betonter Selbstverständlichkeit hatte er Happy das Mikrophon aus der Hand genommen, Relaxen Sie! zu ihm gesagt und seine Führung begonnen. Wohinein sollte ich auch sprechen, hatte er sich damit abgefunden. Selbst wenn ich das Mikrophon noch hätte, bei diesen Leuten, kaum gelandet, gibt es schon keinen Zugang mehr, so groß wie ihre Kameras die Augen aufreißen.

    4.

    Nach dem Abendessen sagte ihm seine Reiseleitererfahrung: Nur schnell verschwinden! Die List des Verlorengegangenseins am ersten Abend. Nur möglichst lange unauffindbar bleiben. Auch nicht per Zimmertelefon erreichbar. Für lästige Fragen, für kleinkarierte Kümmernisse, für Reisewehwehchen. Für die schlechte Stimmung nach dem ersten anstrengenden Tag. Und für die Neugierde der Leute. Für dieses lästige Sich-Abklopfen-Lassen. Ich habe mich ihnen vorgestellt. Das muß genügen. Wie alt oder jung, ob verheiratet oder nicht, welche Weltanschauung und so fort und wie's darinnen aussieht, wen geht das was an. Je länger ich ihnen in all diesen Beziehungen ein Geheimnis bleibe, um so besser. Denn um so länger bin ich noch für sie interessant, sind sie noch besonders freundlich zu mir. Aus Vorsicht, aus Unsicherheit, aus Berechnung - also letztlich auch wieder nur aus Neugier. Nur weg jetzt!

    Das war kein Klopfen, das war eher ein leises Kratzen an ihrer Tür, dreimal kurz, wie verabredet. Und schon ging die Tür auf. Sie muß am Pfosten gestanden haben, dachte er noch, da war die Zimmertür schon wieder geschlossen und verriegelt. Und sie stand da, mitten im Raum, und er stand vor ihr und nahm sie in die Arme. Penni, endlich! Und sie antwortete mit einem „Pst, flüsterte Odysseus" und küßte ihm vorsichtshalber weg, was er noch sagen wollte, wieder viel zu laut sagen könnte.

    Wie lange hatten sie auf diesen Augenblick gewartet. Sie fast ein Dreivierteljahr lang und er fast ein Dreivierteljahr lang. Und so war es ihnen auch vorgekommen: Beinahe wie anderthalb lange Jahre plus einem schier endlos langen Flug und einer nervtötend langen Besichtigungstour durch Peking. Nun mußte Happy erst einmal Abstand nehmen, einen Schritt zurücktreten und sie anschauen. Alles wiedererkennen. Ein besonders gescheites Kompliment schaffte er in der Situation nicht. Nur: Wie süß du aussiehst. Sie hatte die dunklen, kurzen Haare offenbar frisch zurechtgezaust, sich nur wenig geschminkt, aber das Augen-Make-up erneuert und die Wimpern wieder neckisch hochgebogen. Mit dieser martialisch aussehenden Wimpernklemme, die er noch kannte, die ihm immer vorgekommen war wie eine Wolfsfalle en miniature. Und von der er sich doch nicht hatte abschrecken lassen.

    Nun sah sie ihn wieder so stummscheu und doch auch vertrauensselig an, die Ein-Kopf-Distanz mit einem unverwandten Aufblick überbrückend, hellblau. Genau so hatte er sie in Erinnerung behalten. In weißer Bluse und buntem Rock. Und mit den schwarzen Riemchenschuhen, die ihm so gefallen hatten. Nicht flach und nicht hochhackig, einfach genau richtig.

    Und wieder wie schon früher dieser Widersinn, daß ihm ihr Anblick so gefiel, wie sie da reglos vor ihm stand, wortlos, und sich betrachten ließ, daß er sich nicht zurückhalten konnte, das schöne Standbild zu demontieren. Daß er die Bluse öffnete, langsam, Knopf für Knopf, um sie von den Schultern und Armen zu streifen, sie mit Schwung wegzuwerfen. Daß er über den Büstenhalter fuhr, seine beiden Hände als Schalen um die Schalen legte, sie leicht anhebend - wie sie wiegend - und leicht drückend. Und daß er dann um die warm-weiche Statue herumgriff und die zwei Häkchen im Rücken ausklinkte, das störende Utensil einfach fallenließ und ihre Brüstepracht streichelte. Dieses nachgiebig Feste, Heiße. Um dann ganz schnell den Rockbund aufzuhaken, um sie im Höschen vor sich zu sehen. Dabei stieg sie schon aus den Schuhen und huschte ihm unter den Händen weg, ins Bett. Das Höschen, er erinnerte sich, zieht sie immer selbst runter und immer erst unter der Bettdecke.

    Das Beijing International Hotel begeisterte seine Gäste. Happy sah und hörte es am nächsten Morgen mit Schaudern. Einer von diesen Kästen im internationalen Protzstil, die überall ein klein wenig anders und doch alle gleich aussehen. Wie gerade erst rübergeholt aus Los Angeles oder Johannisburg oder Sydney. Das einzig Besondere: Im Foyer und auf allen Fluren, einfach überall, die Mädchen, die herumstehen wie Statuetten. Wie zu Königinnen verkleidete Elfen in Habachtstellung. Feinmodellierte Gesichter aus Biskuitporzellan. Um die Augen diese überraschende Variationsidee der Natur, die raffinierte Vereinfachung. Um so ausdrucksstärker die dunklen Blicke der Mädchen. Sehr junge Mädchen, sehr grazil. Das gefällt den fülligen deutschen Gästen. Kein Gedanke daran, daß die Elfen nur hier herumstehen, weil es viel zu viele von ihnen gibt. Und daß ihnen zum Fettwerden das Futter fehlt. Der weitere Unterschied zur amerikanischen McDonald's-Kultur ist gerade nur noch, daß die übertriebene Dienstbereitschaft fehlt. Die Elfenköniginnen stehen halt nur dekorativ da in ihren langen, enganliegenden Kleidern im Hotellook, hochgeschlitzt. Wie von einem geschickten Dekorateur überall dort aufgestellt, wo die Architektur einen mit Öde und Kälte überfallen will. Mit diesem holden Lächeln und dem ewigen Good-Morning auf den Lippen. Die frappierende Sprachvirtuosität der Mädchen geht gelegentlich sogar bis zum Guten-Morgen. Mehr aber ist nicht mit ihnen anzufangen. Soll nur niemand versuchen, sie einmal etwas zu fragen. Ihre Ausbildung ist offenbar über einen Schminkkurs nicht hinausgekommen. Und wehe, wenn da so ein deutscher Hagestolz versucht, eins von den Mädchen zum persönlichen Gebrauch mit auf sein Zimmer zu nehmen. Die eiskalt sozialistische Prüderie ist beinahe das letzte, was hier vom Sozialismus übriggeblieben ist.

    Hauptsache, die Reisenden sind zufrieden. Daß im Lift die Plakette eines deutschen Herstellers hing, wurde mit Wohlgefallen bemerkt. Daß das Zimmer, vor allem Bett und Bad, nicht deutsch sondern amerikanisch war, gefiel erst recht. Die gleiche positive Überraschung beim Frühstück. Aber dann gingen sie hin und drehten alles und jedes dreimal um, weil sie wissen mußten, wo es herkommt: Die Butter aus Neuseeland, die Marmelade aus der Schweiz, doch der Zucker verriet seine Abstammung nicht. Und Happy mußte schon am frühen Morgen erklären, erklären, erklären. Auch, daß den Chinesen Milch und Milchprodukte fremd sind. Schon ging das Gerede über Enzymunverträglichkeit los. Wie die Juden mit ihrem Schweinefleisch. Wie die Araber auch. Man kennt das ja: Immer gibt es mindestens einen in der Gruppe, der alles noch besser weiß. Daß die Wirtschaftsbeziehungen zum sozialistischen Bruderland Kuba noch bestehen, aber nicht mehr so intensiv sind, weil die Kubaner keine Devisen haben, servierte er ihnen zum Frühstückskaffee. Zuviel Zucker als Bezahlung macht halt jeden Handelspartner sauer. Kein Widerspruch. Offensichtlich niemand in der Gruppe, der die Reise aus marxistisch-leninistisch-maoistischer Überzeugung macht. Angenehm. Zwar hatte der Schiffsingenieur schon Luft geholt, um was zu sagen. Doch hatte ihn seine Frau mit einem bühnenreif kräftigen Ellbogenstoß in die Seite erfolgreich davon abgelenkt.

    Man wartete noch auf den örtlichen Reiseführer. Also hatte Happy die Chance weiterzuerzählen. Daß Peking, der Regierungssitz, nur die zweitgrößte Stadt des Landes sei, rangmäßig erst nach Shanghai komme. Und daß die chinesische Hauptstadt genau so eine extreme Randlage aufweise wie Berlin. Wie übrigens auch Washington. Weitere Beispiele kamen aus der Gruppe. Dann trat der chinesische Führer mit einem fröhlichen Guten-Morgen auf und lud zur Stadtrundfahrt ein. Und schon wurden Happys Angaben ergänzt, schon wurde brav mit Staunlauten quittiert, daß es in Peking-Stadt nur sechs bis sieben Millionen Einwohner gebe, im Kreis Peking aber rund zwölf Millionen. Und daß die etwa acht Millionen Fahrräder bewegen.

    Happy saß stumm hinter Herrn Li und beschäftigte sich damit, die Räder mit Gangschaltung zu zählen, und kam dabei nicht über ein Dutzend hinaus. Hier fährt man also noch mit Primitivrädern ohne jede Schalthilfe und sogar ohne Rücktritt. Und da redet man vom Land des Fahrrades. Kaum über das Laufrad des Freiherrn von Drais hinaus. Irgendwem fiel auf, daß die Fahrräder fast alle ohne Beleuchtungsanlage waren.

    Na und, bei uns haben alle Fahrräder Beleuchtung, und doch fahren die meisten im Dunkeln ohne, weil es sich so leichter fährt, so ein bißchen leichter, schimpfte einer der Reisenden los. Dafür riskiert man bei uns gern sein Leben.

    Es sind ja zum Glück nur die Dümmsten, die bei uns ohne Licht fahren. Und wenn die dabei verunglücken, das ist dann natürliche Zuchtwahl, beruhigte ihn ein anderer.

    Und Happy erinnerte sich, wie das mit den Fahrrädern ohne Beleuchtung einem seiner Reisenden

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