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ROOTS - Ein Mann auf der Suche nach seinen Wurzeln
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eBook362 Seiten5 Stunden

ROOTS - Ein Mann auf der Suche nach seinen Wurzeln

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Über dieses E-Book

Die wohlgeordnete Welt des hochrangigen niederländischen Beamten Thomas van Rijckevorsel gerät zunehmend aus den Fugen. Für zehn Hinweise, denen er als Bedingung für das Erbe eines Unbekannten folgen muss, reist er an verschiedene Orte in Europa und Nordamerika.
Rätselhafte Fährten schaffen einen Spannungsbogen, den Thomas kaum aushalten kann. Wird er die ihm gestellten Aufgaben lösen und das nahezu undurchdringliche Gespinst aus Lug und Trug zerreißen können?
Die Spurensuche führt ihn zum Schicksal zweier junger Menschen, deren Liebe keine dauerhafte Erfüllung finden darf und die erbarmungslos von einander getrennt werden.
Wie es sowohl David als auch Bernadette gelingt, mit der Einsamkeit zu leben, Schwierigkeiten zu meistern, Hindernisse zu überwinden und ohne den anderen dem Leben einen Sinn zu geben- auch davon handelt dieses Buch.
Mit den drei Hauptpersonen erleben die Leser*innen intensive Emotionen- Enttäuschung, Einsamkeit, Verzweiflung, Rastlosigkeit und Wut, aber auch Liebe, Freude, Akzeptanz und Dankbarkeit.
In der niederländischen Provinz Zeeland schließt sich der Kreis.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum29. Jan. 2021
ISBN9783347208384
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    Buchvorschau

    ROOTS - Ein Mann auf der Suche nach seinen Wurzeln - Peter Frantz

    1963 - 2018

    ROOTS

    Ein Mann auf der Suche nach seinen Wurzeln

    AUFTAKT

    Thomas van Rijckevorsel, Direktor im Ministerium für Wirtschaft, Landwirtschaft und Innovationen, war durcheinander. Seiner direkten Umgebung fiel es unmittelbar auf. War ihr Direktor sonst immer die Ruhe selbst, so reagierte er nun auf einmal ungeduldig und gereizt. Da so etwas selten vorkam, respektierte man es. Als er bei der täglichen Besprechung mit seinem Stab nicht als Erster, sondern als Letzter und auch noch fünf Minuten zu spät kam, wusste man es mit Bestimmtheit.

    Am Anfang wurde es geflüstert, später laut gesagt: ‘Irgendetwas ist mit unserem Chef los.‘

    Erstaunlicherweise bemerkte er selbst nichts. Erst als er bei einem Termin außer Haus auf die Frage, ob er Milch in seinen Kaffee wollte, vollmundig „ja" sagte, begriff er allmählich, dass er nicht mehr ganz er selbst war. Er trank schon seit mehr als dreißig Jahre seinen Kaffee schwarz und es graute ihm allein schon bei dem Gedanken an Kaffee mit Milch. 'Milch ist für Katzen', war seit Jahren seine Standardreaktion.

    Sein nicht wieder zu erkennendes Verhalten war auf den Anruf eines Notariats an seinem Wohnort Den Haag an einem frühen Montagmorgen zurückzuführen. Während er verbunden wurde, überlegte er, worum es sich handeln könnte. Seine Eltern waren schon vor drei Jahren bei einem Autounglück umgekommen und ihr Nachlass war durch einen Notar aus Nijmegen¹ geregelt worden. Das konnte es also nicht sein. Und nach dem Tod seiner Frau im vorigen Jahr war die Frage über die Erbschaft schnell beantwortet. In Anbetracht der Tatsache, dass sie keine Kinder hatten, war alles an ihn als den länger Lebenden gegangen. Übrigens hatte er damals zu dieser Frage auch mit einem anderen Notar als diesem Kontakt aufgenommen. Diese Möglichkeit konnte er also auch abhaken.

    Die Stimme des Notars unterbrach seine Überlegungen: „Ob Sie an einem der nächsten Tage vorbeikommen können, um ein Gespräch über einen Nachlass zu führen, für den Sie, Herr Van Rijckevorsel, der einzige potentielle Erbe sind?"

    Nach diesem förmlichen Satz blieb es still. Nicht allein von Seiten des Notars, der offensichtlich nicht mehr erzählen wollte. Auch Thomas schwieg, überrumpelt durch die Frage. Eine Erbschaft, von wem? Trotz seiner Verwunderung sondierte er die Möglichkeiten, aber er kam nicht weit. Als einziges Kind und ohne nächste Familie hatte er keine Idee, wer ihm etwas nachlassen könnte.

    Daher stellte er die naheliegende Frage: „Und von wem werde ich erben?"

    Die Antwort kam schnell und überraschte ihn noch mehr: „Selbst wenn ich es wüsste, dürfte ich es Ihnen nicht sagen. Der Erblasser hat an das Erbe eine Anzahl von Bedingungen geknüpft, auch diese. Es geht daher darum, genau diese mit Ihnen zu erörtern, damit Sie erwägen können, ob Sie das Erbe annehmen wollen oder nicht."

    Thomas wurde es schwindelig und in der Stille, die folgte, hörte er schlussendlich den Notar äußerst formell und in Notarsprache fragen: „Also, Herr Van Rijckevorsel, wann können Sie hier persönlich erscheinen?"

    Neugierde und Pflichtgefühl kämpften um den Vorrang, es gewann sein enger Terminkalender. Darum war es erst am Mittwochnachmittag so weit.

    Je mehr sich dieser Mittwoch näherte, desto geringer wurde seine Konzentration. Seine Gedanken schweiften ständig ab und kreisten nur um eine einzige Sache. Würde es sich um einen größeren Geldbetrag handeln oder um ein Haus, das er vielleicht als Ferienwohnung gebrauchen konnte? Und falls es um Geld ging, könnte es dann eine stattliche Summe sein? Vielleicht konnte er aufhören zu arbeiten? Diese Idee ließ ihn schmunzeln, was erstaunte Blicke in seiner Umgebung hervorrief. Er sah es und wurde wieder ernst. Aber er war tatsächlich froh bei dem Gedanken, denn dies würde ihn von all den Veränderungen erlösen, die 'De Kamer'² dem Ministerium aufbürdete. Immer ohne das beabsichtigte Ergebnis, wodurch die eine Reorganisation die nächste nach sich zog. In einem Leben als Privatmann könnte er alle die Auslandsreisen machen, die durch die Krankheit seiner Frau nicht mehr möglich gewesen waren. Und Bücher schreiben, das wollte er schon seit Jahren. Zuerst über seine Erfahrungen als höherer Beamter. Erfahrungen, die nützlich sein konnten für die zurückbleibenden Arbeitstiere. Er fing wieder starre Blicke auf und ermahnte sich streng: 'Stoppen mit Tagträumen Thomas, es ist nur noch ein einziger Tag bis Mittwoch.'

    Endlich war der Augenblick gekommen und er saß dem Notar gegenüber. Dieser sah ihn über den Rand seiner Brille an, stieß die Fingerspitzen ein paarmal gegeneinander und hüstelte nervös.

    „Tja, Herr Van Rijckevorsel, wir haben es hier mit einer äußerst kuriosen Angelegenheit zu tun, wie ich diese in all meinen Jahren als Notar noch nicht erlebt habe."

    Er blätterte in einer Mappe, hüstelte noch einmal und schaute ihn wieder an. Thomas war schon gespannt hereingekommen, aber dieser erste Satz beruhigte ihn gewiss nicht.

    „Wo soll ich anfangen?, fragte der Notar mehr sich selbst als Thomas und legte los: „Wie ich Ihnen bereits mitgeteilt habe, hat der Erblasser Sie in dieser Sache als einzigen potentiellen Erben angegeben, aber daran auch drei Bedingungen geknüpft. Die erste Bedingung ist, das Sie weder wissen dürfen, wer der Erblasser ist, noch was das Erbe umfasst. Diese Daten sind nur dem Notar- und Rechtsanwaltsbüro bekannt, welches die Geschäfte des Erblassers führt, und zu aller Deutlichkeit: Wir sind dies nicht. Wir sind dabei nur der Vermittler zwischen diesem Büro und Ihnen. Im Auftrag des Erblassers wurde diese Konstruktion gewählt, um zu verhindern, dass Sie auf die eine oder andere Weise mehr erfahren könnten, als vorläufig beabsichtigt ist.

    Thomas lauschte mit steigender Verwunderung und fragte sich, wohin dies führte.

    Der Notar fuhr fort: „Dies bringt mich zur zweiten Bedingung, die beinhaltet, dass Sie eine Anzahl von aufeinanderfolgenden Hinweisen bekommen werden, die Sie jeweils näher an den Erblasser und dessen Erbe bringen werden. Der zehnte und letzte Hinweis wird Ihnen letzten Endes den vollständigen Einblick geben. Thomas wollte etwas fragen, aber der Notar ließ durch eine Geste erkennen, dass er fortfahren wollte: „Die dritte Bedingung ist, dass falls Sie den Nachlass akzeptieren, Sie sich zu den gemachten Bedingungen und dem Ablauf mit allen zehn Hinweisen verpflichten, ohne eine einzige Ausnahme. Aber, und dass muss ich Ihnen ausdrücklich sagen, es steht Ihnen selbstverständlich vollkommen frei, das Erbe auszuschlagen. Falls Sie sich hierzu entschließen, dann teile ich dies mit und die Sache ist definitiv erledigt. Falls Sie akzeptieren, dann haben Sie vom ersten Tag des ersten Hinweises maximal ein einziges Jahr Zeit, um zum Ziel zu kommen. Er sah Thomas direkt in die Augen und sagte mit einigem Nachdruck: „Es beinhaltet für Sie folglich schon ein Risiko, denn auch wenn Sie beschließen zu akzeptieren, haben Sie das Rennen noch immer nicht gewonnen. Es könnte sein, dass Sie unterwegs eine falsche Spur verfolgen und nicht beim Erblasser und dessen Erbschaft ankommen, welche dann für Sie verloren geht." Der Notar schwieg hiernach und seufzte tief, sichtbar froh, dass er bis dahin die Sache haargenau hatte erklären können.

    Thomas hatte atemlos und total überrascht zugehört. „Sie werden verstehen, dass ich noch Fragen habe."

    Der Notar dachte kurz mit geschlossenen Augen nach und reagierte: „Sofern ich es kann, will ich diese beantworten, aber ich bitte Sie um Verständnis für die Tatsache, dass ich nur wenig mehr sagen kann als ich bereits getan habe. Es geht in der Tat um eine Art Glücksrad, wenn ich dies so offen ausdrücken darf. Ein Abenteuer, das Sie selbst zu einem guten Ende bringen müssen, oder auch nicht. Aber, nachdem dies erläutert ist, was sind Ihre Fragen?"

    „Warum hat der Erblasser diese Form gewählt?", fragte Thomas, noch verdattert von allen Informationen.

    „Auch darüber kann ich nichts sagen, denn ich weiß es nicht, sagte der Notar während er seine Hände hilflos anhob, „das werden Ihnen die Hinweise verdeutlichen müssen.

    „Ist die Erbschaft die Mühe wert?", war Thomas' zweite Frage, denn wenn er die Herausforderung annahm, kam da ordentlich etwas auf ihn zu. Vollständig abschätzen konnte er es nicht, aber angenommen er fing mit etwas an, was am Ende so gut wie nichts einbrachte.

    „Auch das weiß ich nicht, musste der Mann leicht verlegen zugeben, „aber im Hinblick auf den Namen des Rechtsanwalts- und Notarbüros des Erblassers, den ich Ihnen wie bereits gesagt nicht nennen darf, dürfte es sich um etwas Ansehnliches handeln. Aber auch ich weiß dies nicht und es liegt dann an Ihnen das Risiko nicht einzugehen. Mit einem deutlichen Blick auf die Uhr, um weitere Anliegen, auf die eine Antwort nicht möglich war, gar nicht erst aufkommen zu lassen, erkundigte sich der Notar: „Haben Sie noch Fragen?"

    Thomas ignorierte den Wink, nickte und fragte: „Angenommen es gelingt mir nicht, binnen eines Jahres die Angelegenheit zu einem guten Ende zu bringen?"

    Das war nun endlich etwas, worauf der Notar dann doch eine Antwort hatte, und ziemlich schnell und entschlossen sagte er: Dann war alle Mühe umsonst und Sie haben zwar Kosten aber keine Ausbeute. Die Wahl liegt also bei Ihnen. Der Notar schaute ihn an und stellte die Frage: „Was wollen Sie nun tun?"

    Thomas machte einen Vorstoß: „Und das muss ich wirklich jetzt schon entscheiden, darf ich darüber nicht noch ein paar Tage nachdenken?"

    Der Notar gewährte ihm Aufschub bis Montag in der Frühe und erschrocken durch seine eigene Nachgiebigkeit fügte er streng hinzu: „Dann muss ich es aber wirklich wissen, länger kann ich es nicht hinauszögern."

    Thomas fuhr mit einem rauchenden Kopf los. Es war lange Zeit her, dass er betrunken gewesen war, aber das fühlte sich ungefähr so an, daran konnte er sich noch erinnern.

    Der Abenteurer und der Beamte in Thomas kämpften miteinander. Der Abenteurer gewann am frühen Morgen, wenn er noch frisch war und die Aussicht auf den sprichwörtlichen Topf voller Gold ihn zu einem Optimisten machte. In einem solchen Moment war er davon überzeugt, dass zu akzeptieren die beste Wahl war. Im Laufe des Tages bekam der das Risiko vermeidende Beamte einen allmählich pessimistischeren Einfluss. Angenommen es gelang ihm nicht, der richtigen Fährte zu folgen. Dann stand er am Ende mit leeren Händen da: Arbeitslos, Erspartes weg und nichts mehr da, worauf man sich stützen konnte. Er erkannte sich selbst nicht mehr. Täglich traf er doch sonst auch einen Entschluss nach dem anderen, wohl überlegt und entschieden. Aber dann handelte es sich um Geld und Gut von anderen. Nun ging es um ihn selbst und das war doch ein Unterschied. Er grübelte weiter und der Montag näherte sich mit raschen Schritten, ohne dass er mit seiner Wahl ein Stück vorangekommen war. Seine Gedanken pendelten fortwährend zwischen akzeptieren und ausschlagen. Er war mit den Nerven am Ende.

    Vielleicht hätte Thomas den sicheren Weg gewählt, wenn da nicht wieder eingreifende Maßnahmen im Landwirtschaftsressort angestanden hätten. Bei den Verhandlungen, um ein neues Kabinett zu bilden, war davon die Rede: Von Für und Wider eines eigenständigen Landwirtschaftsministeriums, von Für und Wider einer eigenen Führungsstruktur, von Für und Wider einer Stelle für ihn als Direktor. Er hörte am Freitag nach der Kabinettssitzung davon und die Konsequenzen bedrückten ihn. Er hatte mittlerweile schon alles Mögliche mitgemacht, aber mit dem Tempo und der Aufeinanderfolge war in den letzten Jahren nicht mehr Schritt zu halten. Milchquoten, Fischquoten, Mistquoten, Maul- und Klauenseuche, Rinderwahnsinn, Vogelgrippe und Q-Fieber, um einmal einige Dinge zu nennen. Und mittlerweile ging intern etwas über Fipronil in Eiern um, was in Kürze reichlich Probleme hervorrufen würde. Dazu auch noch die soundsovielte Organisationsveränderung mit einem für ihn ungewissen Ergebnis, das schien ihm etwas zu viel des Guten.

    Er dachte das ganze Wochenende ständig darüber nach und beschloss den Schritt zu wagen: Er würde akzeptieren. Am Montagmorgen teilte er dem Notar seine Entscheidung wie vereinbart mit. Dieser hielt an seinem Part fest und ließ auf keine einzige Art und Weise durchschimmern, was er von diesem Beschluss hielt. Er sagte wortkarg, dass er die Botschaft an seine Auftraggeber weiterleiten würde und dass Thomas dann von ihm eine Nachricht über den nächsten Schritt bekäme.

    Nach kurzem Schweigen fügte er hinzu: „Dann gibt es von nun an keinen Weg mehr zurück, Herr Van Rijckevorsel." Vielleicht dass es nicht so bedrohlich gemeint war, aber es klang so, fand Thomas. Dies ließ ihn noch fast zweifeln.

    So kam es, dass am Anfang des Sommers 2017 Thomas van Rijckevorsel, inzwischen ein Bürger ohne Amt, auf der Grundlage des ersten Hinweises sein Abenteuer von 'Hopp oder Top' in Angriff nahm.

    Im letzten Augenblick fiel ihm noch ein seine Erfahrungen zu Papier zu bringen. Er würde mit dem Telefonat des Notars beginnen, danach folgten seine Erlebnisse in der Reihenfolge der Hinweise. Jeden dieser zehn Hinweise würde er vorab mit einer Betrachtung aus seiner aktuellen Sicht einleiten. Danach würde jeweils ein ausführliches Kapitel mit den Resultaten seiner Spurensuche in der Vergangenheit folgen, dabei hatte dann eine andere Person die Hauptrolle. Hoffentlich gelang es ihm bis zum zehnten Hinweis zu kommen. Sollte das der Fall sein und sollte er die Angelegenheit erfolgreich abschließen können, dann reichte es vielleicht tatsächlich für ein Buch. Dann musste das Buch über seine Erfahrungen als Beamter dann eben warten.

    ERSTER HINWEIS

    WEST-ZEEUWS-VLAANDEREN³ DIE POLDER⁴ MIT DEN BAUERNHÖFEN DE STIERSHOEK⁵ UND HET KRAAIJENNEST⁶ SPÄTES FRÜHJAHR 1963

    Thomas las den kurzen Text laut vor, um sicher zu sein, dass er die Worte nicht allein sah, sondern sie auch hörte und verstand. Vielleicht in der Hoffnung, etwas anderes zu hören als das, was er meinte zu sehen. Ein Versuch, der zu nichts führte, denn da stand, was da stand. Danach starrte er andauernd lange darauf. Das Wort Desillusion war zwar übertrieben, aber etwas Enttäuschung überkam ihn doch. Was sollte er jetzt hiermit? Die letzten zwei Monate waren hektisch gewesen, jeder Tag ein Abschied von etwas oder jemandem aus seinem Beamtenleben. Wodurch er sich täglich etwas weiter von seinem alten Leben entfernte. Es war schwer für ihn gewesen, sich jeden Tag noch mit dem alten Dasein verbunden zu wissen, aber sich gleichzeitig bewusst zu sein, dass das endgültige 'Auf Wiedersehen' immer näher kam.

    Er würde es niemals zugeben, aber am ehesten hatte ihn das Gefühl gestört, dass er für die meisten im Ministerium in dem Moment schon weg war, als er sein Dienstende ankündigte. Die Wahrheit des Spruchs 'Der König ist tot, es lebe der König!' hatte er am eigenen Leib erfahren. Und nach der schnellen Ernennung seines Nachfolgers hatte er bemerkt, dass er zwar noch geduldet war, aber dass er keine Position mehr hatte.

    Heute war es dann endlich so weit. Heute war der erste Tag seines restlichen neuen Lebens. Der Tag, den er so sehr herbeigesehnt hatte - der Tag, an dem sein Abenteuer beginnen konnte. Euphorisch und mit zitternden Fingern hatte er den weißen Umschlag des Notariats aufgerissen. Er hatte sich Vorstellungen davon gemacht, wo der Erblasser gewohnt haben konnte. Wer weiß, ob es ihn nach Australien oder Neuseeland führte, Länder in die er schon lange einmal hin gewollt hatte. Oder etwas näher an zuhause hatte er die besten Erinnerungen an die Veluwe⁷, Drenthe⁸ und Süd-Limburg⁹.

    Aber Zeeuws-Vlaanderen, darauf wäre er niemals gekommen. Er wusste, wo es lag, aber das war auch alles. Er war dort in seinem ganzen Leben noch niemals gewesen. Die Polder - es klang nach Landwirtschaft, das dann schon. Wie diese Gegend mit ihm in irgendeiner Verbindung stehen konnte, da hatte er nicht die geringste Ahnung. Er hatte von seinen Eltern niemals etwas über Familienmitglieder oder Bekannte in diesem Teil der Niederlande gehört.

    Drei Tage schloss er sich in seinem Arbeitszimmer ein, um ungestört seine Hausaufgaben machen zu können. Mittels Internet reiste er durch diesen besonderen Teil der Niederlande, welcher an Belgien grenzt. Seine Kenntnis des Gebietes nahm enzyklopädische Ausmaße an. Aber immer noch ohne dass er irgendeine Vorstellung des möglichen Erblassers bekam oder davon, was dies mit ihn zu tun haben könnte.

    Dass es historische Städtchen gab, das war schön, das glaubte er schon gerne. Ihm ging es jedoch vor allem um die Polder mit den zwei großen namentlich genannten Bauernhöfen.

    Nach diesen drei Tagen im Internet, am Telefon und dem Wühlen in Nachschlagewerken hatte er immer noch kaum Anknüpfungspunkte. Außer dem Namen einer alten Frau, die seinerzeit auf einem der zwei Höfe gearbeitet und nicht weit davon gewohnt hatte. Inzwischen war sie 94 Jahre alt, sie sei noch klar im Kopf und lebte in einem Pflegeheim in Sluis.

    Er buchte ein Hotel und machte sich auf den Weg nach Zeeuws-Vlaanderen. Unterwegs um den ersten Hinweis zu entschlüsseln. Auf dem Weg nach Sluis, auf der Suche nach der alten Frau, die ihm vielleicht zu der Frage helfen konnte, was an dem späten Frühjahr des Jahrs 1963 so außergewöhnlich war, dass es ausdrücklich genannt wurde. Er hoffte doch, dass ihre Erinnerung noch gut genug war, um etwas, das mehr als fünfzig Jahre zurück lag, erneut zum Leben zu erwecken.

    Sie hieß Marie Verkeste und erwies sich als das Gegenteil einer lieben alten Oma. Es war eine überraschend rüstige Frau, die sich trotz des harten Lebens, das sie geführt hatte, noch ziemlich guter Gesundheit erfreute. Ein bisschen taub war sie wohl, was Thomas heimlich schmunzeln ließ, wenn sie etwas nicht gut verstanden hatte und Antwort auf eine Frage gab, die nicht gestellt war. Vielleicht tat sie es absichtlich, dachte er später.

    Am ersten Tag, als er sie besuchte, schaute sie ihn mit ihren kleinen Knopfaugen giftig an und musterte ihn prüfend. Sie hörte ihm zwar zu, aber reagierte kaum und er beschloss, es sei besser abzufahren und morgen eine neuen Versuch zu starten.

    Am zweiten Tag war sie etwas entspannter, aber viel mehr als ein Gespräch über dieses und jenes ergab sich an diesem Tag auch nicht. Was war es wieder, was er wissen wollte, fragte sie ihn zum soundsovielten Male, als ob er es nicht schon erzählt hätte. Er antwortete immer wieder geduldig, dass er auf der Suche war nach dem, was nun genau in den Poldern im späten Frühjahr des Jahrs 1963 vorgefallen war.

    Sie würde darüber nachdenken, sagte sie, und vielleicht käme sie ja auch noch darauf und dann würde er es sicher erfahren, wenn er wiederkam. Damit musste er sich in diesem Moment zufrieden geben.

    Erst bei seinem dritten Besuch gab sie ihre Zurückhaltung auf und offenbarte, was sie wusste. Sie begann mit etwas, das eine Rechtfertigung für ihr Schweigen an den ersten zwei Tagen zu sein schien.

    „Hören, sehen und schweigen, sagte sie, „das war das, was wir tun mussten, mein Mann Peetje und ich, unser ganzes Leben lang. Zumindest falls du bei dem Bauern bleiben wolltest. Sprechen über das, was du sahst und hörtest, war verboten und wenn du es dennoch getan hast, konntest du gehen, weißt du.

    Sie schaute ihn entschuldigend an, auf Verständnis hoffend, welches er zu Genüge hatte und das versicherte er ihr auch. Es entstand eine lange Stille, während der er davon ausging, dass auch dieser Tag nichts einbringen würde.

    Ihre Frage durchbrach das Schweigen: „Also, nur über das Frühjahr von 1963?"

    Er versicherte es und sagte noch einmal, dass er sehr froh sein würde, wenn sie ihm helfen könnte.

    Sie schaute ihn scharf an, seufzte und sagte mehr zu sich selbst als zu ihm: „Der Bauer und seine Frau sind schon lange tot, also was das betrifft … Es schien ihm weise zu sein zu schweigen und nach einigem Zögern fügte sie hinzu: „Nun los, wenn du mir versprichst, dass du danach abhaust und mich nicht mehr belästigst, erzähle ich dir alles, was ich über diesen Zeitraum weiß. Dabei bleibt es dann auch und nur falls du mir gelobst, mich nicht zu unterbrechen. Er versprach es und sie erzählte.

    Zwei Tage waren notwendig, denn als sie einmal begonnen hatte, schien es kein Halten mehr zu geben. In dieser Zeit war ihr nichts entgangen, wobei selbst das kleinste Detail sich noch scharf vor ihrem Geist abzeichnete. Es handelte sich daher wohl eher um Misstrauen oder um Loyalität, die sie davon abgehalten hatten, direkt alles zu offenbaren, als dass sie es nicht mehr gewusst hätte. Sie erzählte und erzählte und Thomas hatte Mühe, sein Versprechen zu halten, sie nicht zu unterbrechen.

    Am Ende ihrer Geschichte sagte sie entschlossen mit krächzender Stimme: „So, nun weißt du, was sich in dieser traurigen Zeit auf 'De Stiershoek' und 'Het Kraaijennest' abgespielt hat. Das ist, was du wissen wolltest, damit musst du jetzt zufrieden sein, mehr erzähle ich nicht."

    Er fuhr aus Sluis mit einem Schatz an Informationen weg. Genug, um den ersten Hinweis zu entwirren. Genug für das erste Kapitel seines Buches.

    KAPITEL I

    I.1

    Diese Geschichte wäre nicht geschrieben worden, wenn Marie Verkeste an diesem Abend des späten Frühjahrs 1963 so getan hätte, als ob sie taub auf den Ohren oder mit Blindheit geschlagen wäre. Und dass sie, falls ihr dieses schon nicht gelang, ihren Mund über das gehalten hätte, was sie hörte und sah. Aber Marie traf eine andere Wahl, sie biss sich nicht auf die Zunge, wodurch es kein Entrinnen mehr gab.

    Schweigen und arbeiten, das waren die Bedingungen für Marie und ihren Mann, um ihre Arbeit auf 'De Stiershoek' zu behalten, dem Hof, wo er als erster Knecht und sie als Magd ihr tägliches Brot verdienten. Ein kärgliches Butterbrot - aber doch mit Zufriedenheit. Und schweigen, so hatten sie es durch Schaden und Schande gelernt, war vielleicht das Allerwichtigste, um in der Gunst ihres Brotherren und damit abgesichert in ihrer Existenz zu bleiben. Also schwiegen sie wie ein Grab über alles, was sich auf dem Hof abspielte und sprachen sogar zu Hause kaum darüber. Das bisschen Energie, das nach einem Tag harter Arbeit noch übrig war, sparten sie lieber für andere Dinge auf als über das Leben ihres Herrn und ihrer Herrin zu tratschen.

    Aber Marie konnte dieses Mal nicht schweigen, unter Berücksichtigung der Umstände des Falles ist ihre Geschwätzigkeit mehr als zu verstehen. Sie hatte wirklich überlegt, nichts über die Affäre, deren stiller Zeuge sie gewesen war, auszuplaudern. Sie hatte dabei die Worte des Pastors intensiv auf sich einwirken lassen.

    Dieser hatte es vor ein paar Sonntagen in seiner Predigt über üble Nachrede gehabt und gesagt: ‘Ein Wort, welches einmal aus seinem Käfig herausgelassen wurde, kann nicht mehr zurückgepfiffen werden.‘

    Sie fand diesen Spruch derart treffend, dass dieser hängen geblieben war. Die weisen Worte brachten sie in Zweifel, ob darüber zu sprechen in diesem Fall wirklich die richtige Wahl war. Ob es nicht viel besser war die Lippen fest aufeinander zu pressen.

    Zur Sicherheit besprach sie es zuerst mit ihrem Mann Peter, der von jedem im Dorf Peetje genannt wurde. Aber dass auch er treu die Sonntagsmesse besuchte, bedeutete nicht, dass er ihr hierbei helfen konnte, nicht einmal ein bisschen. Ja, er hatte den Spruch nicht einmal gehört, denn sobald er sich in der Kirchenbank niederließ, fühlte er, wie ihn die Müdigkeit einer ganzen Woche Arbeit auf dem Land übermannte. Er kämpfte gegen den Schlaf, aber meistens war er lange vor der Predigt schon eingenickt. Es war dann auch nicht seine Deutung des Textes, die sie überzeugte, sondern sein praktischer Ansatz.

    „Hier kann von Tratschen keine Rede sein, sagte er, „denn es geht doch nicht um den Herrn und die Herrin, sondern es geht uns wirklich an und nicht nur so ein bisschen. Und Marie, du hast es dir doch nicht ausgedacht, du hast es doch selbst aus nächster Nähe gesehen und gehört? Und für ihn ungewöhnlich gesprächig und mit einem Versuch, sie zu überzeugen, fügte er hinzu: „Falls du es gar nicht erzählst, dann wird uns der Bauer Cyriel Dhondt im Nachhinein sicherlich für das Stillschweigen in dieser Sache bestrafen, schlimmstenfalls mit Entlassung. Und mit dem Verlust unserer Arbeit werden wir unsere Wohnung loswerden, so ärmlich diese auch ist."

    Sie betrachteten es von allen Seiten und konnten keinen anderen Schluss ziehen, als dass es eher zu ihrem Vorteil als zu ihrem Nachteil sein würde, wenn sie das Geheimnis preisgaben.

    So kam es, dass Marie und Peetje sich einen Tag nach dem Ereignis in ihrer Sonntagskleidung und völlig mit den Nerven am Ende an der Hintertür des Hofes 'De Stiershoek' meldeten, wo der Bauer Cyriel und seine Frau Magda ihnen bestürzt lauschten. Als die entscheidenden Worte gefallen waren, gab es kein Entrinnen mehr und die Geschichte nahm ihren Lauf.

    Dass es anders gekommen wäre, wenn Marie geschwiegen hätte, ist eine Sache, die sicher ist. Ob das besser gewesen wäre?

    I.2

    Wenn der Abend und die Nacht dieses Tages im späten Frühjahr 1963 für Marie so verlaufen wären, wie diese immer verliefen und es danach auch wieder tun würden, dann hätte sie noch nicht einmal überhaupt etwas hören und sehen können. Dann hätte sie seit Stunden im Bett neben ihrem schnarchenden Peetje gelegen. Sie hätte dann nichts davon mitbekommen, was sich in den Büschen und Sträuchern abspielte, die zusammen mit den Bäumen und dem Wassergraben die Grenze zwischen dem kleinen Anwesen ihrer Wohnung und den Ländereien von 'De Stiershoek' bildeten. Auch hätte sie dann kein Geheimnis mit sich herumtragen müssen, welches sie und Peetje vor die sehr unangenehme Entscheidung stellte, darüber zu sprechen oder zu schweigen. Ihre Welt wäre geblieben, so wie diese war, und sie hätte das Glück einiger Menschen nicht rau und bleibend zerstört. Aber an dem bewussten Abend bekam Marie akuten Durchfall, wodurch sie sich lange und bis spät in die Nacht in dem Toilettenhäuschen draußen aufhielt. Schmerzhafte Bauchkrämpfe und heftige Diarrhoe bekamen dadurch große Folgen.

    Marie hatte noch niemals Unannehmlichkeiten mit Durchfall gehabt. Sie war immer eine starke Frau gewesen und – abgesehen von einer starken Erkältung ab und zu – niemals krank. Sie hatte vier Kinder zur Welt gebracht und hatte bei allen vier Schwangerschaften weiter auf dem Land mitgearbeitet, sogar bis einige Stunden vor der Entbindung. Bei der Geburt des vierten und letzten Kindes hatte sie sich verrechnet und dieses Kleine wurde im Feld geboren. Peetje blieb nichts anderes übrig als nach dem Durchschneiden der Nabelschnur Mutter und Kind mit Pferd und Wagen nach Hause zu bringen. Einige Tage nach der Geburt war sie wieder zwischen

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