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Hitler trug keine Turnschuhe: View-Finder 1982 · Retro-Roman
Hitler trug keine Turnschuhe: View-Finder 1982 · Retro-Roman
Hitler trug keine Turnschuhe: View-Finder 1982 · Retro-Roman
eBook311 Seiten4 Stunden

Hitler trug keine Turnschuhe: View-Finder 1982 · Retro-Roman

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Über dieses E-Book

Kai Werksrabe entführt uns in die frühen 80er, wo sich um einen alten Buckelvolvo merkwürdige Geschichten ranken, der arbeitsscheue Alleinerbe Graf eine Randgesellschaft gründet, die Drogenbraut Kira zurück in die Gesellschaft will, der Maler Titus schwer verliebt auf Piets Metamorphose wartet und die Ratte Vincent einen hammerharten Auftrag
bekommt.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum5. Nov. 2012
ISBN9783847622499
Hitler trug keine Turnschuhe: View-Finder 1982 · Retro-Roman

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    Buchvorschau

    Hitler trug keine Turnschuhe - Kai Werksrabe

    VORGESTERN: der grausige Fund

    Der Blick des Bauarbeiters blieb an einem Turnschuh hängen, der am Rand der Grube aus dem Erdreich ragte. Im Laufe seines Berufslebens hatte er schon einiges gesehen, was Baugeräte zu Tage befördert hatten, aber dieser Turnschuh war anders, historisch uninteressant störte er nur seinen Schönheitssinn. Ohne weiter darüber nachzudenken, schlenderte er hinüber und versuchte, den Turnschuh aus dem Erdreich zu ziehen. Er saß erstaunlich fest.

    Er rüttelte daran herum, bis er sich schließlich löste. Als er daran zog, stellte er fest, dass diesem Schuh zwei lange weiße Stäbe folgten. Und als er begriff, woran er gerade zog, stieß er einen schrillen Schrei aus und sackte kraftlos in den Sand. Dieser Turnschuh hatte es im wahrsten Sinne des Wortes in sich! Es steckten noch die Knochen darin. Andere Bauarbeiter sammelten sich, durch die Schreie des Kollegen angelockt. Abwechselnd sahen sie auf das, was im rechten Winkel aus dem Rand der Grube ragte, dann wiederum suchten sie erfolglos Halt an den Blicken der Kollegen. Niemand sprach. Schließlich griff einer von ihnen nach seinem Funkgerät. Er drückte daran herum. Ein Piepsen und Rauschen durchschnitt die Stille, dann sagte er: „Chef, komm mal eben. Wir haben hier ein riesiges Problem."

    Der Chef kam, stellte fest, dass dieser Fund außerhalb seiner Zuständigkeiten lag und alarmierte die Polizei. Er musste die Lage sehr dramatisch geschildert haben, denn die Polizei kam mit Blaulicht. Diese Eile war vollkommen unnötig. Jedes Kind hätte bestätigen können, dass es für den Träger dieses Turnschuhes keinerlei Hoffnung mehr gab. Aber das Polizeiaufgebot rief die Presse auf den Plan. Journalisten beobachteten, wie der Fundort weiträumig abgesperrt wurde. Rechtsmediziner stellen später fest, dass

    1.) der Träger dieses Turnschuhs keines natürlichen Todes gestorben war, was niemanden besonders verblüffte, denn

    2.) waren die Knochen mit Gewalt unterhalb des Knies abgetrennt worden, was aber schon alle wussten.

    Neu war die Erkenntnis, dass

    3.) die Knochen von einem jungen Mann stammten, dass

    4.) jemand versucht hatte, dieses Leichenteil zu verbrennen, was wohl nicht geklappt hatte. Stattdessen wurde es vergraben.

    Und das war

    5.) 30 Jahre her.

    Eifrige Journalisten schrieben sofort ihre Artikel und setzen sie in die Zeitung. Und so las auch Kira Kasweber, eine attraktive Friseurin von Mitte 50, am nächsten Tag von diesem Knochenfund. Sie wusste, um welche Baustelle es ging, denn hier in Grothenhever gab es nur diese eine. Und auf dem betreffenden Grundstück hatte sie vor dreißig Jahren sehr viel Zeit verbracht. Sie kniff die Augen zusammen und stellte geschwind im Kopf eine kleine Rechnung auf: Heute – 30 = BONA!

    „Um Himmels willen!"

    Sie wickelte nervös eine braune Locke um ihren Zeigefinger, und ihr Blick klebte wie ein Gecko an der Zimmerdecke, während sie eine Gegenrechnung aufstellte, um die erste zu überprüfen: (abends noch 6) + (morgens nur 3) + (dass sie sich an nichts erinnern kann) + (dass alle morgens irgendwie anders waren) = BONA!

    „Was für eine Sauerei! Der arme Junge …"

    Der Bericht von Kira Kasweber

    Der Bericht von Kira Kasweber

    1972 bis März 1982

    Grafs Villa und Hitlers Dünnpfiff

    Die Villa am See war nur bis zum Sommer 1972 schön, denn als der letzte Besitzer starb, fiel sie zusammen mit einem Haufen Geld in die ungeschickten Hände von Friedhelm Graf. Wenn er die Villa damals sofort gründlich renoviert hätte, wäre sicherlich vieles anders gekommen, aber er war durch das plötzliche Erbe sowohl überrascht als auch überfordert.

    Also setzte er sich erst einmal auf die Veranda und betrachtete seinen Besitz: Sein Grundstück war ein großes bewaldetes Tal außerhalb von Grothenhever. Wie tief dieses Tal war, wusste keiner, denn ein großer See verbarg die Erdformation unter seinen Wassermassen. Am Ufer gab es vereinzelte mit Gras bewachsene Buchten. Andere Uferbereiche standen voller Schilf. Zur Villa hin wurden die Uferzonen breiter, sodass es hier sogar einen Garten gab, den seine Vorfahren dem See, dem Hang und dem Wald abgetrotzt hatten. Der Rest des Grundstücks bestand aus hohen Bäumen.

    Graf hatte keine Ahnung von Gartenarbeit und außerdem auch keine Lust dazu. So stand er dem Grundstück eher skeptisch gegenüber und versuchte sich damit anzufreunden, indem er sich, während er es betrachtete, ein kleines Bierchen gönnte. Jeder andere hätte diesen Besitz ein Kleinod genannt. Aber Graf seufzte schwer: „Das is’n Großod, so scheißgroß ist das Ding hier."

    Dann nahm er seine Villa in Augenschein und stellte fest, dass sie schon bessere Zeiten gesehen hatte. Es gab viele verschiedene Räume, die mit Dingen, von denen seine Vorfahren sich nicht hatten trennen können, vollgestopft waren. Er schlenderte kopfschüttelnd von Raum zu Raum, zupfte missmutig an losen Tapeten, pulte am abblätternden Lack und stellte fest, dass auch einige Lampen nicht gingen. Und dann waren da noch die ganzen alten Möbel, alten Bücher, alten Leuchter und der alte Krimskrams, der um seine Aufmerksamkeit buhlte – Stress pur. Er beschloss, das alles zunächst einmal zu ignorieren. Alles Handwerkliche war nicht so sehr sein Ding, und das Sichten und Aussortieren reizte ihn noch viel weniger.

    Wenig später wurde ihm durch einen Herrn im Anzug noch ein weiteres Manko bewusst gemacht: Er hatte absolut keine Ahnung vom Geldanlegen. Bisher hatte er nur über sein BAFöG verfügt, und das war überschaubar. Als der Herr von der Bank sagte, er würde gern mit Graf über verschiedene Möglichkeiten der Geldanlage reden, blockte er höflich ab.

    „Och, nee. Im Moment passt das nicht so. Wie viel ist es denn überhaupt? Lohnt es sich denn überhaupt, darüber groß zu schnacken?"

    Der Bankangestellte nannte die Summe, und Graf pfiff anerkennend, aber er blieb bei seinem Nein. Er hatte keine Lust, stundenlang über etwas zu reden, wovon er selbst nichts verstand. Aber er verklausulierte seine Absage sehr nett, indem er sagte, er würde sich gern selbst zuerst in die Materie einarbeiten und gern später auf dieses freundliche Angebot zurückkommen.

    „Hätten Sie vielleicht eine Visitenkarte für mich?"

    Graf bekam sie überreicht, dankte artig und steckte sie in die Hosentasche, wo er sie prompt vergaß.

    Als Nächstes brach er sein Philosophiestudium ab, um in Ruhe über seinen plötzlichen Reichtum nachzudenken. Ben, sein Freund, ließ aus Solidarität sein eigenes Philosophiestudium ebenfalls sausen, fuhr stattdessen Taxi und setzte sich so oft wie möglich zu Graf, um ihm beim Nachdenken zu helfen. Letzten Endes kamen beide zu dem Schluss, dass es das Beste wäre, einen Teil der Verantwortung abzugeben.

    „Einfach delegieren, den Mist!, riet Ben. „Allein schon der Trödel und der ganze Scheiß im Haus. Aber Frauen stehen doch auf so was! Kennst du nicht eine, die dir gefällt?

    „Doch. Kira."

    „Was macht die so?", fragte Ben.

    „Sie ist bei dem Friseur am Markt in der Lehre."

    „Na, dann mal ab zum Friseur!"

    Von da an ließ Graf sich ständig von mir die Haare schneiden, obwohl ich noch längst nicht so weit war. Meine Chefin versuchte immer, das Schicksal abzuwenden. Aber er blieb hartnäckig. Er sagte: „Wenn Kira nicht schneidet, dann geh ich wieder."

    Ich versaute ihm einen Haarschnitt nach dem anderen.

    Aber Graf fand immer nette Worte. So sagte er zum Beispiel beim Blick in den Spiegel: „Guck mal, diese Seite hier am Ohr ist doch schon richtig prima! Und wegen seines schiefen Ponys sagte er: „Wenn ich den so zur Seite schüttele, ist er ziemlich perfekt!

    Meine Chefin bot immer wieder an, den Schnitt gratis zu korrigieren. Er sagte jedes Mal: „Korrigieren? Aber wo denn bitte? Genau so wollte ich es doch haben!"

    Dabei zwinkerte er mir zu, gab mir etwas Trinkgeld, und ich lächelte ihn dankbar an. Graf kam fast jede Woche.

    Eines Tages fragte er mich umständlich, ob ich ihm die Ehre erweisen würde, bei ihm privat Hausbesuche zu machen. Er hätte auch schon extra für mich einen Friseurstuhl mit allem Drum und Dran gekauft – also, daran solle es nun wirklich nicht scheitern …

    „Also, was meinst du?", fragte er.

    „Das ist das Durchgeknallteste, was ich jemals gehört habe."

    „Und was heißt das für mich?" Er sah mich unsicher an.

    „Ich komme gern zu dir."

    Und so wurde mein Stammkunde mit der Engelsgeduld und dem versauten Haarschnitt mein Freund. Ben und Titus waren oft bei ihm am See und ließen sich auch von mir die Haare schneiden.

    Ich wurde immer besser.

    Nur das mit dem Haus wurde schlimmer.

    Die Farbe blätterte ab, die Wände waren feucht, die Fenster waren verzogen – und dann sagte Titus eines Tages, dass er da jemanden kennen würde: Carlos arbeitete auf dem Bau und würde bestimmt gern helfen, wenn es um die Instandhaltung ginge. Graf sagte, es wäre doch schön, mit diesem Mann einmal zu sprechen und sich eine unabhängige Meinung von ihm einzuholen. So kam Carlos zu uns.

    Er brachte eine Kiste Bier mit, sah sich um und pfiff anerkennend. Dann klopfte er Graf auf die Schulter und sagte: „Du hast hier was ganz Tolles!"

    „Was Tolles?, fragte Graf irritiert. „Was soll denn daran toll sein? Das ist doch viel eher eine Last … Er schilderte eindringlich den Berg Arbeit, der auf ihn wartete, und die ganzen Dinge, die er in Zukunft machen müsste. Carlos war voller Mitgefühl, und so waren sie zu viert. Wie Schorschi, der Kfz-Mechaniker, und Schröder, der Punker, dazukamen, weiß ich nicht. Da war ich auf meiner schwarzen Reise … ist aber auch egal. Jedenfalls, als ich im Sommer 1979 zurückkam, waren sie schon zu sechst und nannten sich aus irgendwelchen Gründen hochtrabend „Das philosophische Sechserpack".

    Wir hingen alle am See herum, und ein paar Monate später kam es zu einem fürchterlichen Brand. Von uns kam niemand zu Schaden, aber das Haus hatte wirklich schwer einen mitgekriegt. Die Philosophen vernagelten schnell und ohne jedes Gespür für Ästhetik die kaputten Fenster und das Loch im Dach mit irgendwelchen alten Brettern.

    Nur drei Räume unten waren noch zu benutzen. Der Rest war Schrott.

    Graf kassierte das Geld von der Versicherung und mietete sich eine winzige Wohnung in Grothenhever. Von da an dachte er entweder hier oder dort über die weitere Gestaltung seines Lebens nach.

    Im März 1982 lebte ich schon seit drei Jahren ohne eigene Einkünfte in Grafs Brandruine und von Grafs Geld. Ich wusste, wenn es so weiterginge, würde ich für den Rest meines Lebens dort herumhängen, dem zunehmenden Verfall einen Hauch von Gemütlichkeit abringen und definitiv nie wieder die Kurve kriegen. Ich lebte die Hälfte des Jahres in dieser verkohlten Villa. Alles, was ich machen musste, war Graf und die Philosophen zu versorgen und Fremde zu verscheuchen. Und so sprach sich im Ort recht schnell herum, dass hier am See eine arme Irre (nämlich ich) auf einer Art Müllhalde (Grafs Villa) hauste und dass es ein Jammer wäre, was manche Leute mit ihrem Besitz so machten (nämlich nichts). Ich hatte mich in diese Sackgasse hineinmanövriert und wünschte mir etwas, was ich als Startschuss deuten könnte, um mein Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen.

    They always keep you dreaming,

    you won’t have one lonely hour.

    If the day could last forever

    you might like your ivory tower.

    But he night begins to turn your head around.

    And you know your going to lose more than you found.

    Yes, the night begins to turn your head

    around, around …

    (Lene Lovich · The night)

    Am Abend, als ich BONA kennenlernte, saß ich auf der Veranda und hatte mich in eine Decke gemummelt. Ich hätte theoretisch auch ins Haus gehen können, aber dort war es noch kälter als draußen. Auf einer tragbaren Kochplatte hatte ich Kartoffeln, die am Wochenende übrig geblieben waren, mit Speck und Zwiebeln in die Pfanne geschnippelt und wartete nun, bis sie knusprig waren.

    Ich ließ meinen Blick über das Grundstück wandern, als ich ihn plötzlich entdeckte: Ein dunkelhaariger Teenager kam mit einer Angel in der einen Hand und einer BONA-Tüte in der anderen den Weg zum Haus herunter. Er sah mich nicht und blieb kurz stehen, um die alte Villa zu betrachten. Dabei entdeckte er mein Prachtstück.

    „Guck mal, Vincent!, rief er. „Da steht ja ein alter Buckelvolvo!

    „Buckelvolvo!, schnaubte ich. „Das wüsst’ ich aber!

    Ich hielt vergeblich Ausschau nach dem zweiten Jungen, konnte ihn aber nicht entdecken. Für mich sah es so aus, als wäre dieser Junge allein. Er bog ab und ging zum See hinunter. Von dem anderen, der Vincent hieß, fehlte jede Spur.

    Ich wendete die Bratkartoffeln, schaltete die Temperatur der Kochplatte runter und ging los. Im Schutz der Büsche und der Dämmerung schlich ich am See herum, um die Jungen zu finden und verscheuchungstechnisch meines Amtes zu walten. Als ich ihn entdeckte, holte er gerade seine Angel ein. Der Haken war leer. Neben ihm saß eine kleine Ratte, die ihn aufmerksam beobachtete.

    „So, Vincent. Einen Wurm haben wir noch. Wenn wir damit keinen Fisch fangen …"

    Er warf die Angel wieder aus. Beide beobachteten den Schwimmer. Das wäre der ideale Zeitpunkt gewesen, um sie aufzuschrecken. Und alles wäre anders gekommen, wäre ich von dem Anblick dieses sonderbaren Paares nicht so berührt gewesen. Ich blieb in meinem Versteck und beobachtete sie weiter. Dann ging ein Rucken durch die Rute.

    „Vincent! Wir haben was zu essen!", rief er und rollte langsam die Schnur ein.

    Der Fisch war groß, kämpfte im flacher werdenden Wasser gegen den Zug der Angelschnur und wehrte sich verbissen. Aber der Junge riss mit einem Schwung die Angel nach hinten, und der Fisch landete unsanft im Gras.

    „Mensch, ist der groß!", sagte er, und auch die Ratte kam neugierig näher. Dann fing er an, vorsichtig den Haken aus dem Maul des Fisches zu ziehen. Der wehrte sich.

    „Nun hör doch auf zu zappeln!"

    Das tat der Fisch nicht.

    „Wenn du so zappelst, tut es nur noch mehr weh!"

    Trotzdem schaffte er es. Mit dem Haken in der Hand sah er auf den großen Fisch und schüttelte den Kopf.

    „Ich muss dir was sagen, Vincent. Früher hat mein Vater immer die Fische totgemacht. Mir taten die immer leid. Ich meine, das ist auch

    ein Leben, nur dass so ein Fisch eben nicht niedlich ist wie ein Felltier oder so …"

    Der Fisch lag zappelnd im Gras. Er schlug heftig mit der Schwanzflosse, als wollte er sich auf eigene Faust und mit reiner Muskelkraft ins Wasser zurückbewegen. Beide sahen ihn hungrig an.

    „Tut mir leid, ich kann das nicht", sagte der Junge und warf ihn zurück ins Wasser, wo er sofort verschwand.

    „Wir trinken noch Wasser vom See, und morgen sehen wir weiter. Wir werden was zu essen bekommen. Das verspreche ich dir."

    Dann packte er zusammen. Es war dunkel geworden, und es geschah das, was mir jedes Mal auffällt, wenn ich nichts sehen kann:

    Die anderen Sinne laufen zu ihrer Hochform auf. Jetzt konnte ich die Bratkartoffeln bis hier riechen. Dem Jungen schien es genauso zu gehen.

    „Riechst du das auch, Vincent?", fragte er und tappte durch die Dunkelheit. Dann stolperte er über irgendetwas.

    „So duster, wie das ist, brechen wir uns noch alle Gräten!, murmelte er und schaltete seine Taschenlampe an. Der Lichtkegel fiel direkt auf mich und er schrie entsetzt: „Äh! Nein! Hilfe!

    Dabei taumelte er zurück.

    „Komisch!, sagte ich. „Vorhin war ich noch hübsch.

    Er starrte mich an. Seine Ratte war nicht zu sehen.

    „Wolltest du angeln?", fragte ich ihn.

    „J … ja."

    „Die Fische beißen heute nicht. Kann sein, dass das an dem Seminar liegt, das am Wochenende hier abgehalten wurde."

    „Seminar?"

    „Ja."

    Ohne weiter darüber nachzudenken, tat ich genau das Gegenteil von dem, was Graf von mir erwartete. Ich fragte: „Hast du Lust auf Bratkartoffeln?"

    „Oh! Und wie. Aber haben Sie denn welche übrig?"

    „Klar! Übrigens: Ich bin Kira. Und wie heißt du?"

    „Äh – ich?"

    Er sah ratlos auf die Plastiktüte, auf der er gesessen hatte. BONA stand da drauf. Er sagte:

    „BONA. Ich heiße BONA."

    Glatte Lüge! Aber wenn er Björn oder Karl gesagt hätte, wäre es vielleicht genauso gelogen gewesen.

    „Hm. BONA? Das ist wirklich ein ungewöhnlicher Name. Aber mir gefällt er."

    „Kira gefällt mir auch", sagte er.

    „Danke."

    Ich wandte mich zum Gehen. Er ging mit.

    „Wohnst du hier?"

    „Ja. Im Sommer jedenfalls. Ich halte das hier für Graf in Schuss, bis er sich überlegt hat, wie das hier mit seinem Haus weitergehen soll."

    „Hier gibt es einen richtigen Grafen?"

    „Nein! Das ist nur sein Nachname."

    BONA ließ seinen Blick über das kaputte Haus und das verwilderte Grundstück schweifen.

    „Das klappt nicht so gut mit dem In-Schuss-Halten, oder?"

    „Ach, weißt du, das ist alles nicht so einfach. Wenn ich Lust habe, habe ich keine Zeit. Und wenn ich Zeit habe, habe ich keine Lust. Ganz schön verflixt ist das …"

    „Und was sagt Graf dazu?"

    „Er sagt, er könnte es selbst nicht besser machen."

    Wir gingen lachend auf die Veranda.

    „Ich hol kurz einen Stuhl raus", sagte ich.

    „Ich kann dir helfen."

    „Ach, lass mal. Setz dich schon mal hin."

    Als ich einen Stuhl herausbrachte, stand er immer noch herum. Ich öffnete das Sideboard und nahm zwei Teller und zwei Gabeln heraus.

    „BONA, setz dich bitte endlich hin! Das Rumstehen macht mich ganz wuschig!"

    „Auf den Friseurstuhl oder auf den anderen?"

    „Nimm ruhig den Friseurstuhl. Der ist bequem."

    „Wofür benutzt du den?"

    „Äh – zum Sitzen?"

    BONA setzte sich endlich, und ich reichte ihm seinen Teller mit Bratkartoffeln. Er beugte sich vor, um ihn entgegenzunehmen. Das war der Moment, in dem seine Ratte aus seinen Klamotten herausschlüpfte. Sie sprang auf seinen Schoß und schnupperte gierig.

    „Oh! Wen haben wir denn da noch Nettes?", fragte ich, obwohl ich die Antwort schon kannte.

    „Das ist Vincent."

    „Einen schönen Guten Abend, Vincent. Auch ein paar Bratkartoffeln?", fragte ich.

    Vincent stürzte sich auf BONAs Teller.

    „Vincent, warte, du kriegst einen eigenen."

    Es war zu spät. Vincent war schneller, und BONA bekam einen neuen Teller. Meine Gäste verschlangen die Bratkartoffeln so, als hätten sie seit Ewigkeiten nichts mehr gegessen. Vincents Kopf sah irgendwie merkwürdig aus. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass ihm ein Ohr fehlte.

    „Was ist mit Vincents Ohr passiert?", fragte ich.

    „Das hat ihm der Rattenkönig abgebissen."

    „WAS? Das glaub ich nicht."

    „Doch, Kira. Es war ein Rattenkönig. Ich hab’s mit eigenen Augen gesehen." Er kratzte den Rest der Bratkartoffeln zusammen und schob sie sich in den Mund. Ich griff zur Pfanne und füllte nach.

    „Als ich den Rattenkönig sah, habe ich mich geekelt. Sechs Ratten, deren Schwänze zusammengewachsen sind! Die sind zu meinem Lager gerannt und haben versucht, hinaufzuspringen. Ein Anblick – zum Kotzen. Er schüttelte sich bei der Erinnerung. „Die Ratten, die mit dem Kopf zum Lager standen, konnten hochspringen. Das war kein Problem. Aber die Ratten, die mit dem Rücken zum Lager standen, haben es nicht hinbekommen. Die springenden Ratten sind immer wieder von den anderen zurückgerissen worden und fielen fiepend auf sie drauf. Ekelhaft … einfach ekelhaft. Ich habe mit einer dicken Kerze nach ihnen geworfen und sie direkt an der Stelle getroffen, wo die Schwänze zusammengewachsen sind.

    „Und dann?"

    „Dann hab ich die Kerze weggeschmissen …"

    „Ich meine, was war mit dem Rattenkönig?"

    „Der ist abgehauen! Vor ein paar Tagen habe ich ihn dann wieder-gesehen. Da ist er durch das Rohr zum Rückhaltebecken gerannt. Plötzlich blieb er stehen, einer von ihnen bäumte sich auf und fuhr dann auf etwas hinunter, was ich nicht erkennen konnte. Es gab einen Tumult, aber dann rannte er weiter. An der Stelle, wo er gehalten hatte, fand ich Vincent. Er war schwer verletzt, hat geblutet und gezittert. Ich habe ihn mitgenommen und gesund gepflegt."

    „Das war nett von dir. Dann fragte ich vorsichtig: „Sag mal, hast du denn keine Eltern?

    „Klar hab ich Eltern! Mein Vater ist auch nett. Aber meine Mutter ist der blanke Horror. Ihretwegen bin ich abgehauen. Zwar habe ich zu Hause durch ihr ewiges Gekeife ein dickes Fell bekommen, aber ich hatte keine Lust, mich obendrein auch noch verprügeln zu lassen."

    „Und kommst du klar allein?"

    „Theoretisch ja," antwortete er zögernd.

    Ich sah ihn lange an und sagte dann das, wofür mich Graf definitiv hassen würde: „Du könntest mir hier und da helfen, wenn du willst. Und im Gegenzug könnte ich für dich und Vincent kochen."

    „Mann. Das wäre toll! Geht das denn?"

    „Klar! Wer soll denn was dagegen haben?, fragte ich locker, kannte aber schon die Antwort: Graf. Um den Gedanken gleich wieder zu verscheuchen, sagte ich: „Du musst dir auch keine Sorgen machen. Die Leute im Ort lästern zwar über mich, aber glaub’ denen kein Wort.

    „Was sagen die denn?"

    „Na ja, dass ich bekloppt bin und so."

    „Ach, das!", sagte er und winkte lässig ab.

    Er kam schon am nächsten Vormittag zurück, als ich dabei war, das Unkraut rings um das Auto rauszureißen.

    „Guten Morgen, Kira. Da sind wir wieder!"

    „Oh! Guten Morgen! Heute machen wir die Terrasse flott, und das Auto wird freigelegt, denn es ist etwas ganz Besonderes", erklärte ich und riss weiter büschelweise Unkraut aus, das ich achtlos über die Schulter auf einen Haufen warf, der stetig anwuchs.

    „Ein alter Buckelvolvo!", sagte BONA, hockte sich neben mich und machte mit, während Vincent auf das Autodach sprang.

    „Ein Wie-bitte-was?", fragte ich.

    „Ein Buckelvolvo!", wiederholte BONA und riss an einer Brennnessel herum.

    „Woher willst du das denn wissen?"

    „Erstens sieht man das, erklärte BONA, während er weiter an der Brennnessel herumzerrte, „und außerdem haben das ein paar Jungs erzählt, die hier am See waren.

    „Was? Ich war entsetzt. „Was haben die gemacht?

    „Draufrumgeturnt, sich reingesetzt und so …"

    „Waren das etwa Freunde von dir?"

    „Nee, keine Freunde. Einfach größere Jungs."

    Ich schüttelte entschlossen den Kopf, packte seine Oberarme, zog ihn ganz dicht an mich heran und sagte: „Das will ich nicht."

    Er sah mich ratlos an. „Was?"

    „Ich will nicht, dass irgendwelche Bengel hier auf dem Auto rumhopsen. Auf diesem Auto!", betonte ich und strich liebevoll über den hellblauen Kotflügel. „Das ist das Auto von Adolf

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