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Unverhofft tot: Kriminalroman
Unverhofft tot: Kriminalroman
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eBook317 Seiten4 Stunden

Unverhofft tot: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Hauptkommissarin Barbara Allenstein steckt noch mitten im Umzug, als ihre neue Dortmunder Dienststelle sie zu einem Leichenfund ruft. Lucas von der Forst, Inhaber einer Gebäudereinigung, hat im Teich einer Gemeinschaftswohnlage eine getötete Altenpflegerin entdeckt. Da er ein paarTage zuvor einen heftigen Streit mit der Frau hatte, gerät er schnell ins Visier der Polizei.
War die demente Hilde Körner Zeugin der Tat? Die Ermittlungen erweisen sich als zäh, doch die Lage ändert sich, als man ganz in der Nähe eine weitere Frauenleiche findet. Zwischen den Opfern besteht eine kriminelle Verbindung. Erleichtert streicht Barbara Allenstein den sympathischen Gebäudereiniger von der Liste der Verdächtigen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum27. Feb. 2020
ISBN9783750225763
Unverhofft tot: Kriminalroman

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    Buchvorschau

    Unverhofft tot - Ortrud Battenberg

    Prolog

    Hilde, 26. September

    Ekelhaft, dieser süßlich-saure Geruch der Graupensuppe. Hilde spürte ein flaues Gefühl im Magen. Verstohlen schaute sie zum Teller ihrer Tischnachbarin. Grauer Schleim mit weißen Klümpchen. Die arme Ruth. Warum nur hatte sie sich ausgerechnet Graupensuppe bestellt? Das war bestimmt nicht ihre Absicht gewesen. Immer wieder spielte ihr die blöde Sprachstörung solche Streiche. Geistig noch halbwegs fit, aber es fehlten die Worte.

    Hilde wählte mittwochs meist Kartoffelsuppe. Doch heute mischten sich unter den Duft von Majoran und Brühwurst die Geruchsschwaden von Ruths Graupenschleim. Sie überlagerten die Aromen des Kartoffeleintopfs derart, dass Hilde schon gar keinen Appetit mehr hatte.

    Meist kochten die Bewohner der Senioren WG ihr Mittagessen selbst. Das organisierte immer Annika, die nette Auszubildende. Aber mittwochs und sonntags hatte Annika frei. Dann bestellte die Leiterin Frau Sommerfeld das Essen bei der AWO.

    Ruth hielt den Kopf gesenkt und blickte traurig auf den grauen Brei in ihrem Teller. Wahrscheinlich kriegte sie heute keinen einzigen Löffel herunter.

    Als Kind hatte Hilde bei Graupensuppe immer würgen müssen. Dafür gab es von der Mutter regelmäßig eine Kopfnuss. Die Hexe stand immer schon in Bereitschaft neben Hildes Stuhl und lauerte auf den Brechreiz der Tochter.

    „Die gute Suppe! So eine Verschwendung!, sagte sie dann nach der Züchtigung. „Nimm dir ein Beispiel an deiner Schwester. Die isst alles, was auf den Tisch kommt. Und in Afrika würden sie Schlange stehen dafür!

    Bei dem Gedanken an diese Worte zwickte Hildes Magen. Nach Mutters Tirade hatte Hilde oft noch stundenlang vor dieser Mischung aus Graupen und Erbrochenem sitzen müssen. Der einzige Trost war gewesen, dass die kleine Reni den Zorn nicht abbekam. Sie musste stattdessen zum Mittagsschlaf. Manchmal löste der Gestank dieses speziellen Eintopfs bei Hilde erneute Brechanfälle aus. Saure Bröckchen landeten zwischen den Zähnen und in der Nase, brannten auf der Schleimhaut. Im Mund ein ekliges Gefühl von halb verdauten Nahrungsmitteln. Aber keine Erlaubnis ins Bad zu gehen. Den Mund auszuspülen. Zum Schluss immer dieser erniedrigende Gang zum Schweinekoben. Die Nachbarskinder kamen herbei, guckten über den Zaun und verfolgten Hildes Büßergang mit Interesse. Denn Mutter wetterte von der Terrasse laut genug hinter der armen Unglückshilde her, um alle Neugierigen herbeizulocken.

    „Schweine gehören in den Stall!"

    Mitleid und Häme der Kameraden taten gleich weh. Die stinkende Masse im Suppenteller schwappte beim Gehen über Hildes Daumen, kleckerte manchmal gegen die Brust. Hinterließ eklige Flecken auf dem Kleid.

    „Geh grade und stolpere nicht!"

    Suse, die große Sau im Stall, kam angerannt, grunzte und quiekte wie wild und schlabberte Hildes Vergehen ratzfatz aus der Futterrinne. Wenigstens eine, die sich freute.

    Ein Klaps gegen Hildes Schulter beendete ihre Erinnerung an die Kindertage. „Na, auch die falsche Suppe erwischt?", schrie Doris Wurzbach ihr ins Ohr. Sie war die dritte Pflegekraft in der WG. Hilde rieb sich das Ohr. Empört sah sie Frau Wurzbach an.

    „Bin doch nicht schwerhörig!"

    Doris Wurzbach lachte. „Na, wenn Sie das sagen, Frau Körner!"

    Die Ironie in Frau Wurzbachs Stimme ärgerte Hilde. „Blöde Kuh!"

    „Aber Hilde! Almut, die links neben Hilde saß, stieß ihr mit dem Ellenbogen in die Seite. „Was ist denn los mit dir?

    Frau Wurzbach kicherte. „Ach, lassen Sie nur, Frau Borchers. Wir kennen ja unsere Pappenheimer. Heute so, morgen so." Abwägend drehte sie die rechte Hand in der Luft. Während sie den Tisch weiter umrundete, wackelte sie mit dem Hintern. Hilde fand das provokant. Die Olle hielt sich wahrscheinlich für attraktiv in ihren pinkfarbenen Leggings. Dabei betonten diese Strickdinger jedes Fettpolster einzeln. Sah direkt nuttig aus.

    „Na, Herr Diedrich, Ihnen schmecken die Graupen wenigstens. Man sieht's deutlich am Malheur." Mit Schwung platzierte Frau Wurzbach eine Serviette über Herberts bekleckerte Brust und verknotete die Zipfel in seinem Nacken. Herbert Diedrich hatte Parkinson. Seine Hand zitterte beim Essen. Da schlabberte er natürlich. Die Wurzbach hätte ihm die Serviette wirklich früher umbinden sollen. Aber mit vorheriger Bitte um Erlaubnis. Entwürdigend, ihn wie ein Kleinkind zu behandeln. Ihn coram publico zu blamieren. Nun sah er gekränkt aus. Herbert war zwar ein intriganter Giftzwerg, aber öffentliche Demütigungen machten Hilde immer wütend. Egal, wen sie trafen.

    Dabei war die Wurzbach selbst ein Schwein. Aber ein richtiges. Nämlich ein Umweltschwein. Hilde hatte oft beobachtet, wie die Pflegerin ihre Zigarettenpause am Gartenteich hielt. Zum Schluss warf sie die Kippen einfach zu Boden. Noch während sie die letzten Qualmwolken aus ihren Nasenlöchern stieß wie ein Drache im Fantasyfilm, trat sie die Stummel in die Ufererde. Widerlich. Die arme Trauerweide daneben kriegte täglich eine Teer- und Nikotindüngung ab. Und für die Teichenten war das ja auch nicht gerade gut. Oder noch schlimmer, wenn eines der Kinder aus dem Generationenhaus so ein Ding verschluckte. Hilde hatte die Kippen bisher nach dem Mittagsschläfchen immer sorgfältig aufgeklaubt. Heute aber nahm sie sich vor, Doris Wurzbach gleich nach dem Essen zu folgen. Sie quasi am Teich in flagranti zu ertappen und dann zur Rede zu stellen.

    Jetzt blickte die Umweltschlampe mit gerunzelter Stirn auf Ruths gefüllten Suppenteller. „Aber Ruth, Sie haben ja noch überhaupt nichts gegessen!"

    Falsche Schlange, dachte Hilde. Mit ihrer fortschreitenden Aphasie konnte die arme Ruth sich kaum noch verbal äußern. Sich also auch nicht wehren. Im Kopf war sie trotzdem noch helle. Jetzt spielte die Pflegeschlampe die Besorgte. In Wirklichkeit wollte sie Ruth einschüchtern. Das gelang ihr auch. Ruth zog die Schultern ein. Dann schüttelte sie beschämt den Kopf. Scheu wie ein Kleinkind.

    „Aber Sie müssen essen! Schau'n Sie doch mal Ihre mageren Ärmchen an. Denken Sie an früher! Ein Löffelchen für den Papa, ein Löffelchen für die Mama."

    Alle neun Bewohner der Senioren WG hoben den Kopf.

    „Mehr Respekt, Frau Wurzbach. So redet man nicht mit einer erwachsenen Frau. Bei Almut hörte man immer noch die Lehrerin heraus. Meistens störte das Hilde. Aber in diesem Fall gefiel es ihr. Deshalb unterstützte sie die Freundin: „Ja, merken Sie sich das gefälligst, Sie Biest von Pflegerin!

    Frau Wurzbach lachte erneut. „War doch nur Spaß, meine Damen."

    „Trotzdem sollten Sie Frau Scheuer mit ihrem Nachnamen anreden."

    Doris Wurzbach zuckte die Schultern. „Hab's nicht bös gemeint." Sie wollte Ruth über den Kopf streichen. Aber die duckte sich weg. Gut so, fand Hilde.

    Frau Wurzbach schaute in die Runde. „Super, meine Herrschaften, fast überall leere Teller. Aber Sie wissen ja, Nachtisch gibt es erst, wenn alle aufgegessen haben."

    Almut verzog das Gesicht. „Finden Sie das lustig, Frau Wurzbach?"

    „Sie nicht?" Wieder erscholl ihr Lachen. Da bemerkte Hilde, dass Ruth zitterte. Tröstend legte sie ihr einen Arm um die Schultern.

    „Du musst nicht aufessen, Liebes. Alles nur Quatsch und Schikane."

    Almut beugte sich vor. „Wenn du willst, Ruth, geh'n wir gleich in die Küche und machen dir ein schönes Rührei."

    Prima Idee! Patente Frau, diese Almut.

    Ruth begann zu weinen. Vor Erleichterung, das merkte man. Trotzdem machte es Hilde wütend. „Seh'n Sie, was Sie da angerichtet haben, Sie blöde Kuh!, schrie sie in Frau Wurzbachs Richtung. Die Tischrunde schaute erschrocken auf. Almut versetzte Hilde unter dem Tisch einen Tritt gegen das Bein. Aber Hilde schimpfte weiter. „Ist doch wahr! Eine Kuh ist sie. Dazu noch sadistisch. Wird man doch wohl sagen dürfen.

    Das Gemenge aus Gehässigkeit, Aufregung und Graupengeruch machte Hilde zu schaffen. Der Magen schickte erste Wellenbewegungen durch den Körper. Die Unterarme kribbelten wie tausend Ameisenbeine. Ihr Herz schlug bis unter die Hirnschale. Die Lunge nahm keine Atemluft mehr an. Speichelbildung unter der Zunge. Schleier über den Augen. Kalte Füße. Hitze im Hals.

    Almut fasste Hilde an der Hand. „Komm, Hilde, wir gehen jetzt besser. Ruth, dich nehmen wir auch mit."

    Hilde wollte aufstehen, aber ihr gelang nur eine leichte Beugung über den Tisch. Die Beine machten nicht mit. Verweigerten ihren Auftrag. Um nicht zu fallen, stützte Hilde ihre Arme auf. Da war ihr, als geriete das Tischtuch in Bewegung. Als rutschte es zur Seite mit allem Geschirr darauf. Auch die Wände schwankten. Glitten von rechts nach links, drehten eine Runde und erschienen wieder im Blickfeld. Hilde fiel in ihren Stuhl zurück. Die Wurstreste auf ihrem Teller verschwammen zu braunen Wolkengebilden. Der Geruch von Ruths Graupenschleim überlagerte alle anderen Düfte im Raum, drang in Hildes Nase und löste in ihrem Mund übermäßigen Speichelfluss aus. Hildes Magen krampfte. Und die Speiseröhre auch. Nur jetzt nicht auf den Teller kotzen, dachte sie. Aber da war es schon passiert.

    Kapitel 1

    Lucas, 26. September

    Mit Schwung bog Lucas von der Forst in Höhe des Parkplatzes vom Café Christgen in die lange Auffahrt zur Gemeinschaftswohnanlage. Er war spät dran, der Verkehr auf der B 236 war mal wieder das Letzte gewesen. Heute war die turnusmäßige Fensterreinigung der Senioren-WG, der Pflegeabteilung, des Gemeinschaftssaals und des Treppenhauses im Haus Unverhofft dran. Das würde ganz schön knapp werden, wenn er noch ohne zu hetzen ins Stadion kommen wollte. Vielleicht konnte er ja das Treppenhaus auch nächste Woche mitmachen, wenn er die Fenster in den Einzelwohnungen im Haus Freie Vogel zu putzen hatte. Frau Sommerfeld, die Leiterin der Pflegeabteilung und „Hüterin" der Bewohner der Senioren-WG war da nicht so. Lucas grinste. Die war selber BVB-Fan und würde schon verstehen, dass er heute Abend zum Champions League Spiel gegen Real musste.

    Während er die Einfahrt hochfuhr, drosselte er die Geschwindigkeit auf Schritttempo. Wie immer warf er sicherheitshalber einen Blick in die Parkanlage, die sich zwischen Café und Wohnanlage erstreckte. Auch wenn um diese Uhrzeit meistens nichts los war, konnte man sich doch nie sicher sein, dass nicht plötzlich ein alter Mensch oder ein Kind auf den Weg lief.

    Da lag doch jemand im Teich! Lucas bremste so abrupt, dass er den Motor abwürgte. War das etwa die Wurzbach? Er sprang aus seinem Lieferwagen und war in wenigen Sätzen an dem kleinen Weiher. Tatsächlich, die Wurzbach! Ohne groß nachzudenken, umfasste er ihre Fußgelenke und zog sie soweit auf den frisch gepflasterten Weg, dass ihr Kopf nicht mehr unter Wasser lag. Dann packte er sie an Hüfte und Achsel und wuchtete den schlaffen schweren Körper auf den Rücken. Ein Arm schwang dabei herum und streifte seine Brust. Die Frau war unverkennbar tot. Aus und vorbei. Nichts mehr zu machen.

    Lucas rief den Polizeinotruf, nannte seinen Namen, beschrieb die Sachlage und den Ort. Als er mit zittrigen Fingern sein Handy in der Brusttasche seiner Latzhose verstaute, entdeckte er durch die Büsche hindurch die alte Frau Körner. Sie stand mitten auf der Wiese zwischen Teich und Wohnanlage. Für das kalte Wetter war sie viel zu dünn angezogen.

    „Frau Körner, was machen Sie denn hier? Haben Sie was gesehen? Wissen Sie, was da passiert ist?" Lucas wies mit der Hand in Richtung der Leiche, aber er bekam keine Antwort. Als er zu ihr hinüberging, schien die alte Dame durch ihn hindurchzusehen. Sie war wohl in Gedanken woanders, wie öfter in letzter Zeit. Lucas gab es auf, sie weiter zu befragen. Kurz entschlossen legte er einen Arm um sie und lenkte sie am Teich vorbei zum Café Christgen, das direkt an den Park grenzte. Der Anblick der Toten rührte sie nicht. Wie in Trance schaute sie über die Leiche hinweg.

    In der Notrufzentrale hatten sie ihm gesagt, dass er im Park auf das Eintreffen der Polizei warten sollte, aber Frau Körner musste schnellstens ins Warme. Vom Christgen aus würde er den Streifenwagen genauso gut kommen sehen. Das Café war mollig geheizt. Lucas brachte die noch immer schweigende Frau an einen Fenstertisch. Er erklärte der Inhaberin, was geschehen war, und bat sie, der Frau Körner einen heißen Kakao zu bringen. Für sich bestellte er einen Espresso. Erst jetzt fiel ihm auf, dass seine Hosenbeine und die Arbeitsjacke feucht geworden waren, vielleicht trockneten die Sachen schnell in der Wärme.

    Durch die breite Fensterfront hatte Lucas den Park mit seinem alten Baumbestand und den Teich mit der Toten gut im Blick. Die alten Leute hielten Mittagsruhe, die Grundschul- und Kindergartenkinder ebenfalls, die älteren Schulkinder waren noch nicht auf dem Heimweg und die Angestellten aus dem nahen Gewerbegebiet, die regelmäßig im Café zu Mittag aßen, waren längst wieder an ihren Arbeitsplätzen. Die ruhigste Zeit war wirklich zwischen halb zwei und halb drei.

    Lucas spürte Frau Körners kalte Hand auf seiner Rechten. Sie sah ihn liebevoll an. „Was für ein Glück, dass wir uns wiederhaben." Ihre ersten Worte nach dem Zusammentreffen am Teich freuten ihn. Endlich ging es der alten Dame besser. Doch dann verschwand das Lächeln aus ihrem Gesicht und sie wirkte ängstlich.

    „Kurt, du musst mir was versprechen. Das musst du unbedingt. Wenn wir mal Kinder haben, sperren wir sie nie in den Keller. Hörst du? Niemals! Versprichst Du das? Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: „Sonst kann ich dich nämlich nicht heiraten.

    Er begriff sofort, dass sie von alten Zeiten sprach. Nicht zum ersten Mal hielt sie ihn für ihren verstorbenen Mann. Manchmal verwechselte sie ihn auch mit ihrem Sohn Michael, der in Düsseldorf lebte. Beruhigend tätschelte er ihre Hand.

    ,,Hoch und heilig verspreche ich das. Nie und nimmer sperren wir irgendjemanden in den Keller!‘‘

    Sie entspannte sich etwas, trank ein Schlückchen von ihrem heißen Kakao und verfiel wieder in Schweigen. Lucas löste vorsichtig seine Hand aus ihrer Linken, wobei sich der Ärmel ihrer Strickjacke verschob. Ihm schien, als hätte sie einen blauen Fleck am Handgelenk. Doch bevor er genauer hinsehen konnte, hatte sie schon beide Ärmel bis zum Daumenansatz heruntergezogen und hielt sie mit den zur Faust gekrümmten Fingern fest. Sie kreuzte beide Fäuste vor der Brust und zog die Schultern hoch. Einen Augenblick später ließ sie die Arme sinken, strahlte ihn an und erklärte, als ob sie lange und gründlich darüber nachgedacht hätte: „Das ist gut, Kurt. Dann heiraten wir auch bald."

    Ein paar Minuten später fuhr ein Streifenwagen die Zufahrt hoch. Lucas bat Ellen, ein Auge auf die alte Frau zu haben, und lief dem Auto hinterher.

    „Haben Sie uns angerufen?, fragte der Fahrer, der als Erster ausstieg. Er hatte direkt hinter Lucas’ Firmenwagen geparkt. Seine junge Kollegin schwang sich ebenfalls aus dem Wagen und beäugte ihn misstrauisch. „Sie haben also eine tote Frau gefunden? Wo denn?

    Lucas zeigte hinüber zum Teich, der keine zwanzig Meter vom Weg entfernt lag. Die Polizistin trottete gemächlich dorthin. „Und woher wussten Sie, dass die Frau tot ist?", rief sie herüber.

    „Weil ich sie rausgezogen und umgedreht habe."

    „Was, Sie haben die Leiche bewegt? Sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen? Inzwischen weiß doch jedes Kind, dass man sowas bleiben lässt!" Ihr Ton wurde scharf.

    „Sie hätte ja noch leben können, rief er aufgebracht zurück. „Ich dachte, vielleicht kann ich noch helfen. Ich dachte, vielleicht ist sie unglücklich gestürzt ...

    „Schon gut, hätte ja auch sein können, sagte der ältere Beamte, offensichtlich bemüht, ihn zu beschwichtigen. „Kommen Sie mal mit rüber an den Teich. Was haben Sie denn nun gemacht, als Sie die Frau entdeckt haben? Kennen Sie sie übrigens?

    „Ja, die kenne ich. Das ist Frau Wurzbach, eine Altenpflegerin aus dem Unverhofft. Da hinten, die Alten-WG mit Pflegestation. Ich hab’ sie schon vom Wagen aus an ihrer Kleidung erkannt. Sie hat immer diese knalligen Hosen an und trägt ständig solche Glitzersneaker. Außerdem macht sie oft ’ne Pause am Teich und pafft sich eine."

    Der erste Tote, den Lucas in seinem Leben gesehen hatte, war sein Freund und Mentor Hubert Kowalski gewesen. Vor sechs Jahren war das. Das war wenigstens ein natürlicher Tod in einem Krankenhausbett gewesen. Traurig und kein Erlebnis, an das er gerne dachte. Aber solch ein Tod, hier im Teich? Obwohl er am liebsten gar nicht hinsehen wollte, konnte er den Blick nicht von der Leiche wenden. Sie war schrecklich anzusehen. An der linken Schläfe hatte sie eine gezackte blutige Wunde, Gesicht und Haare waren voller Schlamm, Augen und Mund standen weit offen. Auch auf den Zähnen und der Zunge schimmerte der eklige grünlich-schwarze Modder. Diese scheißverdammten Enten, dachte Lucas. Jeden Tag fütterten die alten Leute die Viecher. Das Entenpaar hatte es mit seinen Küken geschafft, den kleinen Teich völlig zuzukacken. In so einem Dreck zu sterben! Frau Wurzbach und ihn konnte man beim besten Willen nicht als Freunde bezeichnen, aber so etwas gönnte man nicht seinem ärgsten Feind. Jetzt setzte auch noch Starkregen ein und schlug ihr mitten ins ungeschützte Gesicht. Die junge Polizistin rannte zum Einsatzwagen und holte eine Plane, um die Leiche abzudecken.

    „Hallo, der Herr, haben Sie nicht gehört?", fragte der Polizist.

    „Mmh?"

    „Ich habe Sie nach Ihrem Namen gefragt."

    „Lucas von der Forst. Mit C und F, erklärte er automatisch. Dauernd schrieben die Leute seinen Namen falsch. Adresse und Telefonnummer können Sie vom Wagen abschreiben. Er zeigte auf den roten Lieferwagen mit der verschnörkelten Aufschrift Gebäudereinigung Kowalski – damit’s blitzt und blinkt. Gleichzeitig drehten beide Beamten ihre Köpfe in Richtung Auto. Er konnte sehen, wie die Polizistin die Aufschrift lautlos vor sich hinsprach und – anscheinend angesichts des 50er-Jahre-Werbespruchs – mühsam ein Grinsen unterdrückte. Lucas fand den Spruch schön. Er hatte etwas altmodisch Ehrliches, genau wie Hubert Kowalski selber, der die Firma schon von seinen Eltern übernommen hatte. Und jetzt gehörte die Gebäudereinigung Kowalski Lucas.

    Der Polizist machte sich Notizen. „Sie haben sie also rausgeholt?"

    „Ja, sie lag auf dem Bauch im Wasser, so etwa bis zur Taille. Sie hat sich nicht mehr gerührt, aber hätte doch sein können, dass sie noch lebt. Dass man noch was machen könnte."

    „Sonst haben sie nichts verändert?"

    „Nein, ich hab’ sofort gemerkt, dass sie tot ist. Da habe ich direkt die 110 angerufen."

    „Die haben Ihnen doch bestimmt gesagt, dass Sie an Ort und Stelle warten sollen, oder?"

    „Ja, haben sie. Aber dann habe ich die alte Frau Körner hinter den Büschen stehen sehen, die war völlig daneben. Deswegen habe ich sie schnell ins Café gebracht. In der Zwischenzeit ist aber niemand in den Park gekommen. Darauf habe ich geachtet."

    „Also gibt es vielleicht noch eine Zeugin. Nun gut. Wir sichern erstmal das Gelände. Gehen Sie einstweilen wieder ins Café und warten Sie dort. Später kommt eine Kommissarin von der Mordkommission und befragt Sie."

    Lucas war erleichtert. Nach einem letzten Blick auf Frau Wurzbach lief er zurück ins Christgen. Inzwischen goss es nicht nur in Strömen, sondern es hatte sich auch ein heftiger Wind aufgetan. Viel zu kalt für Ende September, fand er. Er war froh, als er wieder mit Hilde Körner im Warmen saß. Dass sie ihn für ihren Mann hielt, war nicht weiter schlimm. Besser falsch orientiert als überhaupt keine Orientierung, fand Lucas. Er mochte die alte Dame.

    Der Reinigungsauftrag im Haus Unverhofft stammte noch von Hubert Kowalski. Lucas hatte nach seinem Tod das Geschäft mitsamt den Aufträgen übernommen. Die Arbeit in der Alten-WG machte ihm Spaß, auch wenn so ein Stinkstiefel wie der Herr Diedrich dabei war, der es nicht lassen konnte, überall seine Nase reinzustecken und die Leute zu belehren. Aber Frau Körner, die mochte er besonders gern. Schade, dass ihre Demenz langsam, aber stetig fortschritt. Noch vor zwei Jahren hatte er sich richtig gut mit ihr unterhalten können. Sie gesellte sich immer gerne zu ihm, besonders wenn er im Garten zu arbeiten hatte. Mit Pflanzen kannte Frau Körner sich gut aus. Einmal hatte sie ihn sogar vor einem Riesenfehler bewahrt, als er Blauen Eisenhut in die Rabatte direkt neben dem Kinderspielplatz pflanzen wollte.

    ,,Aber Herr von der Forst, das können Sie doch nicht machen! Wissen Sie denn gar nicht, dass die Pflanze ein tödliches Gift enthält?!‘‘

    Lucas hatte noch vor Augen, wie sie damals eine große Papierserviette vom Café Christgen und eine rote Stofftragetasche mit Equal-Payday-Aufdruck aus ihrer Umhängetasche hervorkramte. „Geben Sie mal her, die Pflanze, hatte sie verlangt, „und waschen Sie sich gleich die Hände! Mit der Serviette entfernte sie die lose Erde und zeigte ihm die dicklichen Wurzeln. „Stellen Sie sich mal vor, Sie Gartentalent, mit den paar Wurzeln könnten Sie die ganze Altenstation vergiften, ganz zu schweigen von den spielenden Dötzchen hier. Ich nehme die Pflanze jetzt mit und entsorge sie so, dass niemand in Gefahr gerät."

    Sie hatte ihm echt den Arsch gerettet! Nicht auszudenken, wenn einem Kind was passiert wäre! Und jetzt? Jetzt saß sie hier und dachte, er wäre ihr Kurt. Traurig.

    Im Park trafen immer mehr Polizeileute ein. Einige liefen in weißen Schutzanzügen herum, andere in zivil. Die beiden Streifenpolizisten von vorhin sprachen mit einer Frau in einem groß gemusterten Mantel und zeigten auf das Café. Das war wohl die angekündigte Kommissarin. Sie warf einen Blick in die Runde, schüttelte ihren Kopf und schaute auf ihre Armbanduhr. Dann ging sie hinüber zum Teich. Wahrscheinlich wollte sie sich erst einmal die Leiche ansehen. Das war die beste Gelegenheit, Frau Körner schnell in die Wohnanlage zu bringen. Die hielt nicht mehr lange durch.

    „Ellen, hast du irgendeine Jacke, die Du Frau Körner leihen könntest?"

    „Ich hab’ heute Morgen meinen Steppanorak angezogen, den geb’ ich euch, der ist wind- und wasserdicht. Er dürfte nur ein bisschen groß sein."

    Lucas half Hilde Körner auf die Füße, Ellen streifte ihr die Jacke über und schloss den Reißverschluss. „Kommen Sie, ziehen Sie auch mal die Mütze über. Das ist ja scheußlich draußen, nicht Frau Körner? Mit der Mütze haben Sie’s aber schön warm. Der Lucas bringt Sie jetzt nach Hause. Da ruhen Sie sich erst mal ein bisschen aus."

    „Was soll denn das? Ich kann mich immer noch alleine anziehen!" Hilde Körner riss Ellen die Mütze aus der Hand und stülpte sie sich über. Sie straffte die Schultern, rückte den Anorak zurecht und wendete sich Lucas zu: „Sagen Sie mal, Herr von der Forst, was machen wir denn im Café? Bin ich etwa hier eingeschlafen?" Sie sah Lucas streng an. „Müssten Sie nicht heute Fenster putzen?‘‘ Bevor er etwas erklären konnte, fügte sie hinzu: „Ich

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