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Schattendorf
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eBook688 Seiten9 Stunden

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Über dieses E-Book

Hallenheim – ein kleines Dorf an der Nahe, idyllisch zwischen Weinbergen und Wäldern gelegen. Plötzlich verdunkelt ein Schatten den friedlichen Ort. Auslöser ist der Mord an dem prominentesten Einwohner und dem vergifteten Erbe, das er hinterlässt. Anschläge, Anfeindungen, radikale Gruppen – die Dorfgemein­schaft droht auseinanderzubrechen. Mit unbeirrbarer Zuversicht versucht Matilda, das Schlimmste zu verhindern. Dadurch gerät sie nicht nur einmal in Lebensgefahr. Hallenheim ist ein fiktiver Ort. Doch diese Geschichte kann sich überall dort abspielen, wo der Schatten nicht rechtzeitig erkannt wird.

SpracheDeutsch
HerausgeberPandion Verlag
Erscheinungsdatum23. Okt. 2020
ISBN9783869115535
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    Buchvorschau

    Schattendorf - Ulrike Piechota

    57

    1

    „Das alles hat mit den Kartoffeln aus Hessen angefangen", sagte Matilda nicht nur einmal zu sich selbst, nachdem das normalerweise friedliche Leben in Hollenheim schlagartig vorbei war.

    Selbstverständlich hatten die Kartoffeln nichts, aber auch gar nichts, mit den Turbulenzen zu tun, die das kleine Dorf erschüttern sollten.

    Heute, Anfang September lagen sie jedenfalls noch ganz harmlos im Supermarkt. Und in Hollenheim war das Hauptthema die unmäßige Hitze der letzten Tage, die als unnatürlich eingestuft wurde. Immerhin war der Sommer fast vorüber.

    Matilda hatte lange geschlafen. Hatte die Kühle der Nacht für ihre Arbeit genutzt. Sie illustrierte Bilderbücher, zeichnete ab und zu Karikaturen für verschiedene Zeitungen, bissig oder lustig, je nachdem, was von ihr verlangt wurde. Reichtümer häufte sie mit dieser ihrer künstlerischen Begabung nicht an. Was auch nie ihr Lebensziel gewesen war. Immerhin konnte sie sich die Arbeit einteilen. Konnte morgens lange schlafen, wenn sie Lust dazu hatte. Konnte nachts arbeiten, wenn es am Tag zu heiß war. Konnte ab und zu verreisen. Musste keine Rücksicht auf einen Partner oder Kinder nehmen. Mit ungefähr dreißig Jahren hatte sie sich entschieden, allein zu bleiben. Ein paar kurze Liebschaften, danach eine längere Beziehung, hatten sie nicht davon überzeugen können, dass der Mensch nur für ein Leben zu zweit geschaffen war.

    Jetzt nahm sie das Fahrrad und fuhr in den knapp vier Kilometer entfernten Supermarkt. Kaufte ein, was für ein paar Tage so gebraucht wurde: Milch, Gemüse, Obst, Käse, Brot, und eben jene Kartoffeln, die laut dem Schild auf der Tüte aus Hessen kamen. Sie transportierte den Einkauf in zwei schwarzen, schon ziemlich verschlissenen Fahrradtaschen nach Hause. Dachte während der kurzen Fahrt an ihre Cousine Ingelore, die in Darmstadt wohnte. Also in Hessen, wo die Kartoffeln gewachsen waren.

    Sie trafen sich manchmal, die Cousinen, wanderten entweder durch Darmstadt oder durch die Wälder und Weinberge rings um Hollenheim. Ingelore, etwas älter als Matilda, war Altenpflegerin und lebte nach ihrer Scheidung vor zehn Jahren allein in einer hübschen Wohnung in Darmstadt.

    Am Wochenende könnten sie sich eigentlich wieder einmal verabreden, dachte Matilda. Sie nahm sich vor, die Cousine heute noch anzurufen.

    Als sie zu Hause angekommen war, trug sie den Einkauf ins Haus, das eher ein Häuschen genannt werden sollte. Winziger Flur, links die Küche, in der auf einer Eckbank mehrere Personen sitzen und essen konnten. Gegenüber der Küche Matildas Arbeitszimmer, in dem der mächtige Schreibtisch den meisten Platz einnahm. Ein kleines Sofa, zwei Sessel, dazwischen ein runder Minitisch, ein vollgestopfter Schrank, der vom Boden bis zur Decke reichte. Eine schmale Treppe führte nach oben. Schlafzimmer. Bad. Ein Gästezimmer, in das gerade ein Bett und eine Kommode passten. Dieses Häuschen hatte Matilda von Tante Lore geerbt, die kinderlos gewesen war. Das Einzige, was Matilda je geerbt hatte. Immerhin. Sie musste keine Miete zahlen und wohnte nun schon fünfzehn Jahre hier. Ein weiteres Erbe erwartete sie nicht mehr im Leben. Ein Haus zu erben, und sei es noch so klein, reichte ja auch und war nicht jedem vergönnt.

    Träge überlegte Matilda, wem sie das Haus vererben könnte und packte den Einkauf aus. Sie lachte. Mit fünfundfünfzig Jahren und einer bisher guten Gesundheit musste sie sich darüber noch keine Gedanken machen.

    Wichtiger war jetzt, ein paar der hessischen Kartoffeln zu schälen und in Öl zu braten. Eine gestern in dem kleinen Garten hinter dem Haus geerntete Zucchini in Stücke schneiden, den Kartoffeln beifügen, das Ganze mit Trockenbrühe und viel Curry würzen.

    Gleich die erste Kartoffel, die Matilda schälen wollte, war mit schwarzen Flecken übersät, die sich bis ins Innere fortsetzten. Bevor sie die ungenießbare Kartoffel in den Bio-Müll warf, fotografierte Matilda sie mit dem Smartphone. Schrieb dazu: „Kartoffel aus Hessen". Das Foto schickte sie an Ingelore.

    Prompt schickte die das Foto eines wurmstichigen Apfels zurück. Text: „Apfel aus Rheinland-Pfalz".

    Die Cousinen neckten sich häufig mit den Bundesländern, in denen sie lebten: Matilda in Rheinland-Pfalz, Ingelore in Hessen. Ein kleiner Spaß zwischen ihnen. Sie mochten beide den Wohnort der jeweils anderen.

    Matilda aß den Kartoffel-Zucchini-Brät. Danach bekam sie Lust, trotz der Hitze die paar Schritte hinunter zur Nahe zu gehen und ins Wasser zu gucken. Eine halb verfallene Bank, von Gestrüpp umgeben, war ihr Lieblingsplatz. Ob sich jemals ein anderer Mensch auf diese Bank setzte, war zweifelhaft. Und eigentlich auch ganz gleichgültig. Matilda jedenfalls saß oft dort, schaute den Wellen des kleinen Flusses nach und spürte, wie Ideen für neue Arbeiten in ihr aufstiegen.

    Vielleicht war es heute zu heiß für Ideen. Oder die Kartoffeln lagen ihr zu schwer im Magen. Jedenfalls schlief Matilda ein und war gezwungen, sich einem Traum zu überlassen, der sie nach dem Aufwachen seltsam irritierte:

    Aus der Ferne waren Geräusche zu hören. Johlen und Schreien. Stiefelschritte, die näher kamen. Unheimlich, auch wenn sich das Ganze am anderen Ufer der Nahe abspielte. Eine Frau tauchte auf, die sichtbar um ihr Leben rannte, dabei verzweifelte Laute von sich gab. Hilferufe? Worte waren nicht zu verstehen. Die Frau war eher noch ein Mädchen. Vielleicht siebzehn, achtzehn Jahre alt. Das Gesicht war braun. Ihre Haare waren mit einem rosa Tuch verhüllt.

    „Negerhure!, schrien die Verfolger. „Negerschlampe! Gleich haben wir dich! Rechtsradikale? Rassisten? Jetzt stolperte das Mädchen, fiel ins Gras. Zwei Männer mit Glatze griffen nach ihr, rissen ihr das rosa Tuch vom Kopf. Schwarzes, krauses Haar kam zum Vorschein. Eine Horde Männer stürzte sich auf sie. Matilda war klar, dass sie nicht mehr nur Zuschauerin sein durfte. Sie musste dem Mädchen helfen. Aber wie? Gegen diese Männer hatte sie keine Chance. Außerdem gab es hier keine Brücke, um das andere Ufer zu erreichen. Trotzdem musste sie eingreifen. Musste das Leben des Mädchens retten. Ihr Pulsschlag beschleunigte sich.

    „Ins Wasser mit ihr!", brüllte einer der Männer.

    „Aber vorher will ich noch meinen Spaß haben", schrie ein anderer Mann und begann, den Reißverschluss seiner Hose zu öffnen. Die Anderen lachten, klatschten und feuerten ihn an. Matilda stieß einen warnenden Schrei aus, griff in ihre Hosentasche, zog eine Pistole heraus und richtete sie auf die Männer. Mit einer Stimme, die sie noch nie an sich wahrgenommen hatte, schrie sie:

    „Lasst das Mädchen los oder ich schieße!"

    Da die Männer nicht reagierten, schoss sie tatsächlich. Vier oder fünf Schüsse gab sie ab. Das Wunder geschah: die Männer ließen das Mädchen los, rannten fluchend und schreiend davon. Plötzlich stand das Mädchen neben Matilda, ließ sich in den Arm nehmen und trösten. Wie ist sie über das Wasser gekommen?, dachte Matilda erstaunt. Und woher habe ich eine Pistole? Ohne auf ihre Frage zu antworten machte sich der Traum davon.

    Matilda öffnete die Augen. In ihrer Hosentasche war nur das Handy, keine Pistole. Und ein afrikanisches Mädchen war auch nirgends zu sehen.

    Noch ganz von dem Traum gefangen stand Matilda auf, ging nahe ans Wasser, bückte sich und tauchte die Hände in das kühle Nass. Fuhr sich durchs Gesicht, um den Traum abzuschütteln. Was nicht gelang. Das dunkle, vor Angst verzerrte Gesicht des Mädchens ließ sich nicht so schnell vertreiben. Es ähnelte den Gesichtern der Menschen, die gestern Abend in den Fernsehnachrichten gezeigt wurden. Nur kurz, vielleicht eine Minute, wie das in Fernsehnachrichten so ist. Ein Schlauchboot, in dem Menschen dicht aneinander gedrängt saßen, ihre Arme flehentlich nach dem sich nähernden Rettungsschiff ausstreckten. Gleich danach wurden Fußballergebnisse verkündet. Die Gesichter waren schnell vergessen. Durch das Traummädchen wurde Matilda wieder daran erinnert.

    „Und nichts, sagte Matilda zu der Ente, die durch das Gras auf sie zu watschelte, „nichts kann ich dagegen tun.

    Im Traum war es leicht gewesen, mit ein paar Schüssen das Mädchen zu retten. In der Realität hätte sie dem Mädchen kaum helfen könnten, wusste Matilda. Auch die Rettungsmannschaften im Mittelmeer hatten nicht nur Erfolge aufzuweisen. Trotzdem beneidete Matilda sie in diesem Augenblick um ihren wichtigen Auftrag. Sie selbst hatte noch niemandem das Leben gerettet. Und das würde wohl auch bis an ihr Lebensende so bleiben. An die zahlreichen Menschen, die nach Europa flüchteten, hatte sie zwar immer mit Bedauern gedacht, doch das war auch schon alles.

    „Ich hatte ja auch nie Gelegenheit zur tatkräftigen Hilfe", erklärte sie der Ente. In Hollenheim gab es keine Flüchtlinge.

    Ist diese Tatsache nun eine Entschuldigung oder nur eine Ausrede?, fragte Matilda sich selbst. Außer einer Geldspende für die Flüchtlingsarbeit fiel ihr keine reale Hilfe ein. Was ihr in diesem Augenblick fast ein schlechtes Gewissen bescherte.

    Ehe sie sich auf den Rückweg machte, warf sie noch einen letzten Blick auf das andere Ufer der Nahe. Vermutlich, dachte sie ein wenig resigniert, vermutlich vergesse ich den Traum und mein schlechtes Gewissen bald wieder. Sie machte sich nichts vor, kannte sich selbst allzu gut. Sobald sie zu Hause am Schreibtisch saß, war nichts wichtiger als die Arbeit. Der Ente, die sich bisher kaum bewegt hatte, waren Matildas Gedankengänge gleichgültig. Sie glitt ins Wasser und schwamm davon.

    Nachdenklich ging Matilda nach Hause. Noch wusste sie nicht, dass der Traum nicht so schnell von ihr vergessen würde wie die meisten anderen Träume. Dass Hollenheim ohne den Traum vermutlich der kleine, verschlafene Ort geblieben wäre, in dem Hitze und Kälte, Sonne und Regen oft die Hauptgesprächsthemen waren.

    Zu Hause kochte sich Matilda einen starken Kaffee, um den ungewohnten Schlaf auf der Bank endgültig zu vertreiben. Sie öffnete die Hintertür der Küche, die in den kleinen Garten führte. Der Tisch mit den von ihr blau und rot bemalten Holzstühlen stand unter einer Linde, die etwas Schatten spendete. Matilda setzte sich, trank den Kaffee, dachte noch immer an den Traum, bis sich ihr Smartphone meldete. Ingelore aus Darmstadt. Die nichts Besonderes wollte. Nur ein bisschen mit der Cousine plaudern. Matilda erzählte von ihrem Traum, den sie ohne die Kartoffeln aus Hessen sicher niemals geträumt hätte. Bei der Hitze lagen Kartoffeln einfach zu schwer im Magen und mussten Albträume hervorbringen. Ingelore lachte ein wenig. Bis sie wieder ernst wurde und von einem Flüchtling erzählte, der mitten auf dem Luisenplatz in Darmstadt von einem Mann angepöbelt worden war.

    „Ich habe gehört, wie der Mann, ein Deutscher, dem Afrikaner mit der Faust drohte, ihm dabei Schimpfworte an den Kopf warf, die ich jetzt nicht wiederholen möchte. Und stell dir vor, Matilda, ich bin einfach weitergegangen. So mies habe ich mich lange nicht gefühlt. Du hast wenigstens das Mädchen …"

    „Im Traum", unterbrach Matilda die Cousine. Eine Heldentat im Traum zählte nun wirklich nichts. Im Traum konnte das schrecklichste Ungeheuer besiegt werden. Das war richtig. Ingelore nickte, was Matilda nicht sehen konnte. Matilda offenbarte der Cousine, dass der Traum ihr ein schlechtes Gewissenhinterlassen hatte. Nichts, aber auch gar nichts, hatte sie bisher für die Menschen getan, die aus ihrer Heimat fliehen mussten.

    „Und für Menschen, denen es auch in unserem Land schlecht geht, tue ich auch nichts. Nein, unterbrich mich nicht. Du als Altenpflegerin bist für die Menschheit wesentlich nützlicher als ich."

    Ingelore fasste sich an den Kopf. In ihren Augen war es unsinnig, Berufe gegeneinander aufzuwiegen. Jeder machte das, was er gut konnte. Punkt.

    Matildas Selbstanklage war wohl tatsächlich auf die Kartoffeln zurückzuführen, die ihr zu schwer im Magen lagen. Also wechselte sie das Thema und bestellte Matilda Grüße von Elias von Gatzenstein. Matilda fand es merkwürdig, dass der alte Mann sie über Ingelore grüßen ließ. Sie hatte ihn kaum gekannt, als er noch in Hollenheim gewohnt hatte. Vor drei Jahren war er nach Darmstadt gezogen. In das Altenheim, in dem Ingelore arbeitete. Altenzentrum an der Rosenhöhe. Das heißt, er wohnte nicht direkt im Altenheim, sondern selbstständig im Außenbezirk, der dem Altenheim angeschlossen war. Bei Bedarf konnte er sich Hilfe holen.

    Sein Umzug ausgerechnet nach Darmstadt war eine Weile Dorfgespräch gewesen. Warum Darmstadt? Und was passierte jetzt mit seinem Schloss, das etwas abseits ganz für sich allein auf einer kleinen Anhöhe stand? Die große Villa der von Gatzensteins war selbstverständlich kein Schloss, wurde von den Hollenheimern aber seit jeher Schloss genannt. Ein breiter Schotterweg führte mäßig bergauf, endete an einer hohen Mauer, die Haus und Garten wie eine Festung umschloss.

    Als Elias von Gatzenstein auszog, hatten sich die Hollenheimer den Kopf zerbrochen, was nun mit dem Schloss passieren würde. Hatte der alte Mann einen Erben, der sich um den Verkauf kümmern sollte? Er war nie verheiratet gewesen, hatte also auch keine Kinder. Irgendwo sollte es noch einen Neffen geben. Ganz sicher war man sich da aber nicht.

    Obwohl der alte Mann da oben in dem Schloss geboren und aufgewachsen war, wusste man einfach zu wenig über ihn. Seit seine Eltern gestorben waren, lebte er alleine in dem riesigen Kasten. Und das war jetzt mindestens vierzig Jahre her. Was trieb er da oben auf dem Schloss, seit er pensioniert war? Seine Haushälterin mochte man nicht fragen. Eine großgewachsene alterslose Frau, die eine gewisse Kühle und Strenge ausstrahlte. Sie kam jeden Morgen, fuhr am frühen Abend wieder nach Hause. Im Dorf ließ sie sich kaum blicken. Ebenso der Gärtner. Der fuhr den Schotterweg hoch, stieg aus seinem Auto, ging an die Arbeit und fuhr wieder weg. Unbefriedigend in einem kleinen Ort, wo sich alle gut kannten und jeder vom anderen am liebsten alles wissen wollte.

    Irgendwann nahmen die Fragen ein Ende, weil niemand sie beantwortete. Ab und zu registrierte man, dass Autos mit Kennzeichen aus anderen Gegenden in den Schotterweg einbogen. Besucher von auswärts. Vielleicht Kollegen aus der Zeit, als Gatzenstein noch berufstätig gewesen war.

    Und dann der plötzliche Umzug nach Darmstadt. Wieso Darmstadt? Im Dorf wurde ein wenig herumgerätselt. Matilda erfuhr von Ingelore, dass Gatzenstein tatsächlich einen Neffen in Darmstadt hatte. Der ihn ab und zu besuchte. Mehr wusste Ingelore auch nicht. Also hatte er vermutlich wegen dem Neffen Darmstadt gewählt.

    „Wie alt ist der Gatzenstein jetzt eigentlich?, fragte Matilda. Einundneunzig? Aha. Und offenbar noch immer ganz rüstig.„Es sei ihm gegönnt, sagte sie. Sehr interessiert war sie nicht an dem Thema Elias von Gatzenstein. Was sich, wie sie heute noch nicht wissen konnte, bald ändern sollte.

    Sie überlegte zusammen mit Ingelore, wann sie sich treffen konnten. Am Wochenende hatte Ingelore Dienst. Am Dienstag war ihr freier Tag. Matilda, die mit ihrer Arbeit an keinen festen Tag gebunden war, nickte. Beschloss, nach Darmstadt zu kommen. Sie hatte Lust auf Stadtluft. Durch Geschäfte bummeln, irgendwo einen Kaffee trinken, dabei die Leute beobachten. Und vielleicht wieder einmal Friedenreich Hundertwassers Architektur bewundern, die sogenannte Waldspirale. Dieser Gebäudekomplex inspirierte sie immer wieder aufs Neue bei der Gestaltung von Bilderbüchern. Wenn man davorstand, hatte man den Eindruck, ein von Kindern gezeichnetes Märchenschloss sei Wirklichkeit geworden. Ingelore war einverstanden. Die Cousinen verabschiedeten sich voneinander. Matilda trug die leere Kaffeetasse in die Küche. Ging in ihr Arbeitszimmer und setzte sich an den Schreibtisch. Dort lag der Text eines Bilderbuches, das sie illustrieren wollte. Die Kartoffeln, der Traum, das schlechte Gewissen, Elias von Gatzenstein, nichts war mehr wichtig. Rückte zur Seite, machte der Konzentration Platz, die Matilda für ein neues Projekt brauchte.

    2

    Edeltraud Pütz schloss die Wohnungstür auf, rief wie immer, wenn sie kam:

    „Hier kommt die Pützfrau."

    Dieses Wortspiel bot sich bei ihrem Namen geradezu an. Pützfrau klang auf jeden Fall netter als Putzfrau. Sie hängte ihre Jacke an die Garderobe, zog den mit Blumen bedruckten Kittel über, steckte ihren Kopf durch die offene Wohnzimmertür.

    „Die Pützfrau ist da", wiederholte sie etwas lauter. Der alte Gatzenstein hatte offenbar ihren ersten Ruf nicht gehört. Nun ja, dachte Edeltraud Pütz, mit einundneunzig Jahren darf man schon etwas schwerhörig sein. Und ebenso durfte man in dem Alter am helllichten Tag im Sessel ein Nickerchen machen. Man durfte aber trotz des Alters den Kopf nicht zur Seite hängen lassen und die Putzfrau mit nur einem Auge anschauen. Es war das linke Auge, das weit aufgerissen war. Das rechte Auge existierte nicht mehr.

    Edeltraud Pütz stieß den obligatorischen Schrei aus, den fast jeder ausstößt, der einen eindeutig ermordeten Menschen entdeckt. Sie spürte, wie ihr Gesicht sich rötete und ihr Blutdruck in die Höhe stieg. Sie griff sich ans Herz. Das vor Schreck hoffentlich nicht stehenblieb. Und ohnmächtig durfte sie jetzt auch nicht werden! Polizei, sie musste die Polizei anrufen. Und ganz wichtig: nichts anfassen! Das wusste sie aus Krimis, die sie sehr gerne las oder sich im Fernsehen anschaute. Wenn man ihre Fingerabdrücke zu dicht an der Leiche finden würde, wäre sie ganz schnell im Kreis der Verdächtigen gelandet. Sie musste ja auch nicht näher an den Toten herantreten, um ihm beispielsweise den Puls zu fühlen. Es gab keinen Zweifel am Tod des alten Mannes. Helfen konnte sie ihm ohnehin nicht mehr. Sie ging zurück in den Hausflur, nahm ihr Handy und wählte die Eins Eins Null. Mit zitternder Stimme sagte sie ihren Namen, berichtete von dem grausigen Fund.

    „Wo? Im Altenzentrum an der Rosenhöhe. Ja, im Außenbezirk. Nummer ... Ich wollte gerade putzen, da … Wie? Nein, natürlich habe ich nichts angefasst. Ja, ich warte, bis jemand kommt."

    Edeltraud Pütz fühlte sich plötzlich ziemlich schwach, obwohl sie an sich eine robuste Frau Mitte fünfzig war. Sie rief im Haupthaus an, wo die Pflegebedürftigen betreut wurden. Schwester Ingelore nahm das Gespräch entgegen. Wie bitte? Herr von Gatzenstein war ermordet worden? Ein Witz, oder? Kein Witz. Edeltraud Pütz erwiderte gekränkt, dass sie jedenfalls solche Art Witze nicht machen würde. Wie? Ob es ein Raubmord war? Woher sollte sie das denn wissen. Vor Schreck fielihr ein, dass sie überhaupt nicht auf Spuren der Verwüstungim Wohnzimmer des Ermordeten geachtet hatte. Jemand, der nach Geld, Schmuck oder wertvollen Gegenständen suchte, hinterließ doch immer ein gewisses Durcheinander. Jedenfalls im Krimi.

    Schwester Ingelore versprach, sofort der Heimleitung Bescheid zu geben. Nach ein paar Minuten war sie zusammen mit Gudrun Nienhage, der Heimleiterin, bei Edeltraud Pütz. Gleich darauf waren Polizeisirenen zu hören. Die ersten Polizisten tauchten auf.

    Am Abend rief Ingelore Matilda an. Die die Nachricht zunächst auch für einen Witz hielt. Selbstverständlich für einen schlechten Witz. Weil man mit dem Tod ernsthaft umgehen sollte, wie sie fand.

    „Kein Witz", sagte Ingelore und beschrieb, wie die Polizei alles abgesperrt hatte. Die Spurensicherung war gekommen, ein Fotograf, der Gerichtsmediziner, irgendein Hauptkommissar, der Erhard Nebel hieß und sich zuerst mit Frau Pütz, dann mit der Heimleiterin und dem gesamten Pflegepersonal unterhalten hatte.

    „Ob der alte Gatzenstein Geld oder andere wertvolle Dinge in der Wohnung aufbewahrt hätte, wollte er zum Beispiel wissen. Was wir ihm natürlich nicht beantworten konnten. In die Wohnungen des Außenbezirks unseres Heims kommen wir nur, wenn wir gerufen werden. Der alte Gatzenstein hat uns so gut wie nie gebraucht. Du weißt ja, dass er noch sehr selbstständig war. Wie ein Raubmord sah das Ganze wohl auch nicht aus. Kein Zeichen, dass jemand irgendwo herumgewühlt hat. Der Täter hat dem alten Mann das Auge mit einem spitzen Gegenstand ausgestochen, der bis ins Gehirn gedrungen ist. Er muss sofort tot gewesen sein."

    „Klingt ja schaurig", sagte Matilda. Und die Polizei hatte noch keine Spur von dem möglichen Täter entdeckt? Ein Motiv auch nicht? Ingelore zuckte mit den Achseln. Das Motiv konnte ihrer Meinung nach nur Habgier sein. Vielleicht der Neffe? Wegen ihm war der Onkel doch wohl nach Darmstadt gezogen. Jedenfalls vermutete sie, dass der Neffe der Grund für Gatzensteins Umzug gewesen war. Im Alter hat man gern Verwandte in der Nähe. Ein- oder zweimal hatte Ingelore den Neffen gesehen. Sie fasste sich an die Stirn. Nein. Der war mit Sicherheit nicht der Mörder. Berthold von Gatzenstein war selbst schon fast siebzig Jahre alt und ziemlich vermögend, wie Ingelore von ihrer Freundin Henny wusste. Henny wohnte ebenso wie der Neffe im Komponistenviertel. Und wer dort wohnte war mit Sicherheit nicht arm. Wozu sollte er also den Onkel ermorden?Um noch reicher zu werden? Absurd. Die Gefahr, als Täter entlarvt zu werden, war viel zu groß. Im Gefängnis waren Geld und Besitz nichts mehr wert. Möglicherweise gab es außer dem Neffen noch andere Erben. Nach einem Todesfall tauchten oft genug die seltsamsten Gestalten auf, die behaupteten, mit dem Toten verwandt zu sein. Und so einer hatte vielleicht den Todesfall mit Absicht herbeigeführt, um sich danach als trauernder Hinterbliebener präsentieren zu können, weil er – Überraschung! – erbberechtigt war.

    „Ich habe mich nie für ihn interessiert, gab Matilda zu. „Als ich das Haus hier geerbt habe und nach Hollenheim gezogen bin, lebte er schon wie ein Einsiedler in seinem sogenannten Schloss. Da war er auch schon fast achtzig. Manchmal erschien es mir so, als würde da oben ein Gespenst wohnen, das mit dem Rest der Welt nichts zu tun haben wollte.

    „Ein schräger Vogel eben, der Gatzenstein", erwiderte Ingelore. In seiner Wohnung an der Rosenhöhe hatte er mit niemandem Kontakt gehabt. Die Polizei würde es bei der Aufklärung des Mordes nicht gerade leicht haben.

    Natürlich war so ein gewaltsamer Tod tragisch. Aber auch ein bisschen spannend, da es niemanden getroffen hatte, der ihr oder Matilda nahegestanden hatte.

    Matilda stimmte ihr zu. Überlegte, ob sie Fritz besuchen und ihm von dem Mord erzählen sollte. Schließlich war Elias von Gatzenstein noch immer ein Hollenheimer Bürger, auch wenn er seit drei Jahren in Darmstadt lebte. Immerhin hatte er fast sein ganzes Leben in Hollenheim gelebt. Und Fritz, der selbst in Hollenheim geboren und aufgewachsen war, hatte den alten Mann ein bisschen besser gekannt als Matilda, die Zugezogene.

    „Ja, geh zu Fritz", sagte Ingelore und lachte. Sie wusste, dass Fritz Hammer seit vielen Jahren in Matilda verliebt war. Er wohnte schräg gegenüber von ihr. War zehn Jahre älter als sie. Geschieden. In der nahe gelegenen Kreisstadt Bad Kreuznach war er viele Jahre als Studienrat am Gymnasium tätig gewesen. Seit seiner Pensionierung vor einem Jahr war er Bürgermeister von Hollenheim. Neben den Amtsgeschäften widmete er sich seinem Hobby, der Holzschnitzerei.

    Er und Matilda machten häufig lange Wanderungen oder Radtouren zusammen.

    Matilda ging über die Straße, drückte auf die Haustürklingel. Fritz freute sich über ihren späten Besuch. Weil es noch immer ziemlich warm war, setzten sie sich auf die Terrasse. Fritz holte zwei Gläser und eine Flasche Wein. Er hob sein Glas.

    „Auf diesen schönen Spätsommerabend!"

    „Der für den alten Gatzenstein nicht mehr …", begann Matilda.

    Fritz winkte ab. Er hatte schon von dem Mord gehört. Sein Freund Ludwig war bei der Darmstädter Polizei und hatte ihn angerufen. Ab morgen, nein sicher schon heute Abend, würde es im Internet zu lesen sein: „Feiger Mord im Altenheim." Oder so ähnlich. Heutzutage blieb kaum etwas bis zum nächsten Morgen geheim. Die Menschen waren eben sensationslüstern.

    „Wusste dein Freund schon etwas über das Motiv?", erkundigte Matilda sich. Ohne Motiv war es unsinnig, einen alten Mann auf eine so grausige Art zu töten. Mit einem spitzen Gegenstand ins Auge stechen, widerlich. Wahrscheinlich war es doch ein Raubmord gewesen. Ein anderes Motiv war kaum vorstellbar.

    „Es sei denn, überlegte sie laut, „der Täter hat einen Hass auf alte Menschen und Gatzenstein war ein beliebiges Opfer. Und wenn das das Mordmotiv war, dann wird er sicher bald wieder zuschlagen. Alte Menschen, das heißt potentielle Opfer für so einen Perversen, gibt es ja genug.

    „Du solltest Kriminalromane schreiben", lachte Fritz, amüsierte sich ein wenig über Matildas Fantasie, die offenbar gerade mit ihr durchging. Doch sie wehrte seinen Spott ab. Immerwieder wurden alte Menschen umgebracht. Vor allem in Altenheimen. Meist mit Hilfe eines Medikaments. Was sich etwas zivilisierter anhörte als Tod durch einen Stich ins Auge. Obwohl das Ergebnis, gleich welcher Art des Mordens, immer der Tod des Opfers war.

    Matilda überlegte, was nun aus dem sogenannten Schlossdes alten Gatzensteins wurde. Das ja wohl der Neffe erbte.

    „Der ist auch schon fast siebzig und nicht verheiratet, wusste Fritz. „Was soll er allein in dem alten Kasten machen? Er wird verkaufen.

    Matilda nickte. Sie selbst hatte das sogenannte Schloss nie betreten. Wusste Fritz, wie viel Räume es dort gab? Er hatte den alten Mann doch ab und zu besucht.

    „Selten", sagte Fritz und überlegte. Neun oder zehn Zimmer waren es mit Sicherheit. Drei Bäder. Unten im Parterre eine geräumige Küche. Im oberen Stockwerk noch eine kleine Kochküche. In der mittleren Etage gab es neben dem Bad noch einen Duschraum mit Toilette. Matilda staunte. Gatzensteins Putzfrau musste alle Hände voll zu tun gehabt haben. Bestimmt keine befriedigende Arbeit, unbewohnte Räume zu putzen. Aber falls die Bezahlung gut gewesen war, konnte ihr die Nutzung der Räume gleichgültig sein.

    „Wusstest du, fragte Fritz, „dass seine Putzfrau noch immer wöchentlich kommt? Obwohl er nicht mehr dort wohnte. Übrigens legte sie immer sehr viel Wert darauf, seine Haushälterin zu sein. Nicht seine Putzfrau.

    Matilda erinnerte sich dunkel, dass Martina Hage neulich beim Bäcker irgendetwas von der Haushälterin erzählt hatte.

    „Die Krause, hatte Martina gesagt, „du weißt doch, die Haushälterin von dem alten Gatzenstein, die kommt noch immer jede Woche einen ganzen Tag auf das Schloss. Möchte wissen, was die da macht. Kaffee trinken und ein bisschen Staub wischen wahrscheinlich. Leicht verdientes Geld. Schon auf dem Heimweg hatte Matilda das kurze Gespräch vergessen.

    Fritz ermahnte sie neckend, sich etwas mehr für Dorfklatsch zu interessieren. Immerhin war sie, Matilda Fuge, auch lange Zeit Objekt dieses Dorfklatschs gewesen. Eine alleinstehende Frau, dazu noch Künstlerin, kommt in ein winziges Dorf. Warum war sie nicht in Berlin geblieben, wo sie vorher gelebt hatte? Kein Mensch zog ohne Grund aus der Hauptstadt in ein verschlafenes Dorf an der Nahe. Das von der Tante geerbte Haus hätte sie verkaufen und ihr Großstadtleben weiterleben können wie bisher. Das wäre logisch gewesen. Das hätten die Hollenheimer verstanden. Gab es einen Hintergrund für Matildas unverständliches Verhalten? Eine unglückliche Liebe vielleicht, die sie zwischen den Wäldern und Weinbergen vergessen wollte? Unglücklich wirkte sie eigentlich nicht, die Frau, die da in Lores kleines Häuschen einzog. Im Gegenteil. Sie wirkte sehr zufrieden. Verhielt sich kein bisschen eingebildet, wie es von einer Großstädterin erwartet wurde.

    Sie sah gut aus, die dreihundertundfünfte Einwohnerin Hollenheims. Schlank, kinnlange braune Haare. Oft trug sie wadenlange bunte Röcke oder Jeans, im Sommer kurze Hosen, kombiniert mit flotten T-Shirts. Am Anfang hatten die Hollenheimer Frauen argwöhnisch beobachtet, ob diese nicht verheiratete Künstlerin ihren Ehemännern den Kopf verdrehen wollte. Doch es gab keine Anhaltspunkte für solche Ängste und Matilda wurde als Zugezogene akzeptiert. Dass Matilda mit ihrer künstlerischen Arbeit offenbar genug Geld verdiente, war verwunderlich, aber nicht weiter aufregend. Man gewöhnte sich auch an ihren Lebensstil, der dem Lebensstil der anderen Hollenheimer Frauen wenig bis gar nicht ähnelte. Sie machte anscheinend immer das, wozu sie gerade Lust hatte. War an keine festen Arbeitszeiten gebunden. Hatte Zeit, durch die Gegend zu wandern oder mit dem Fahrrad umherzufahren. Bald kannte sie die Umgebung beinahe besser als die Einheimischen.

    Jetzt, nach fünfzehn Jahren, war Matilda schon lange nicht mehr das Thema des Dorfklatschs. Man hatte sogar akzeptiert, dass sie sich mit dem Bürgermeister gut verstand. Vielleicht hatten die beiden sogar etwas miteinander? Ganz genau wusste man das nicht. Und wenn schon. Stand es nicht sogar in der Bibel, dass es nicht gut war, wenn der Mensch allein blieb? Oder so ähnlich. Fritz war so eine Beziehung durchaus gegönnt. Als seine Frau Beate ihn verlassen hatte – das war jetzt auch schon wieder eine Ewigkeit her – hatten sie alle zu ihm gehalten. So einen netten Mann verließ man nicht.

    Er hatte Beate während des Studiums kennengelernt. Sie wohnten beide im gleichen Studentenwohnheim. Fritz studierte Biologie und Geschichte, Beate Chemie. Fritz war der jüngste Sohn eines Hollenheimer Winzers. Also ein Alteingesessener. Beates Eltern hatten eine gut gehende Kanzlei in Hannover. Sie drängten Fritz, sich eine Anstellung in ihrer Nähe zu suchen, versprachen, ihre Beziehungen spielen lassen. Doch Fritz lehnte ab. Er wollte zurück nach Hollenheim gehen, wo er in Bad Kreuznach eine Stelle als Studienrat im Gymnasium bekam. Beates Eltern warnten ihre Tochter vor einem Leben auf dem Dorf. Doch Beate hörte nicht auf sie, zog mit Fritz nach Hollenheim in das Haus, in dem er immer noch wohnte.

    Nach zehn Ehejahren verließ sie ihn, zusammen mit den Zwillingen. Bevor die Kinder kamen, war sie jeden Tag nach Ingelheim gefahren. Mit ihrem guten Studienabschluss hatte sie ohne Probleme eine Stelle bei Böhringer bekommen. Dann wurden die Zwillinge Bert und Ingrid geboren. Beate blieb zu Hause, wurde von Tag zu Tag unglücklicher. Mit den Hollenheimern konnte sie nichts anfangen, verstand deren Dialekt auch nach Jahren noch immer nicht. Fühlte sich vom Leben abgeschnitten und ging eines Tages mit den Zwillingen zurück nach Hannover.

    Ihr Auszug kam für Fritz überraschend. Als er von einer Tagung nach Hause kam, waren sie und die Kinder weg. Ein kurzer Brief an ihn, das war alles. Er hatte weder um sie noch um die Kinder gekämpft. Eine Resignation hatte ihn monatelang überfallen, die beinahe in eine Depression übergegangen wäre. Doch bevor das geschah, raffte er sich auf, fuhr in den Sommerferien nach Südtirol, wo er vier Wochen in einem Kurs die Grundkenntnisse des Holzschnitzens lernte. Figuren aus Holz zu schnitzen hatte ihn schon immer fasziniert. Der Holzschnitzer, der den Kurs leitete, bescheinigte ihm eine gewisse Begabung.

    Schon damals hatte Fritz sich vorgenommen, nach der Pensionierung ganz dieser Begabung zu leben. Und mit der Zeit hatte er sich mit seinem Singledasein abgefunden. Zu seinem Bedauern sah er die Kinder nur selten. In den Sommerferien fuhr er mit ihnen ans Meer oder in die Berge, im Winter zum Skifahren nach Österreich. Jetzt waren die beiden längst erwachsen. Ab und zu besuchten sie ihn in Hollenheim.

    Doch das alles war lange her. Die Dorfgespräche drehten sich schon eine Ewigkeit nicht mehr um Fritz‘ gescheiterte Ehe. In der nächsten Zeit würde der Mord an dem alten Gatzenstein Gesprächsthema Nummer eins werden. Verständlich. Auch wenn er wie ein Einsiedler in Hollenheim gelebt hatte, war er doch immerhin ein Einheimischer gewesen. Und das war er für die Hollenheimer auch trotz des Umzugs nach Darmstadt geblieben. Seine Eltern, sein Bruder und seine Schwägerin lagen in dem protzigen Familiengrab auf dem Friedhof. Wo er vermutlich auch begraben würde. Sobald der Leichnam freigegeben war. Was nach so einem Mord dauern konnte.

    Matilda dachte noch immer über das mögliche Motiv des Mörders nach. War es die späte Rache eines Patienten, den er einmal falsch behandelt hatte? Vielleicht hatte es wegen einer Fehlbehandlung einen Prozess gegeben, der erstens geheim gehalten wurde und den zweitens natürlich der berühmte Chirurg Elias von Gatzenstein gewonnen hatte?

    „Nach so vielen Jahren?" Fritz schüttelte den Kopf. Das schien ihm doch etwas weit hergeholt. Selbstverständlich war es möglich, dass sogar einem hochbegabten Medizinprofessor einmal ein Fehler unterlief. In der Mainzer Uni-KlinikwarProfessor Doktor von Gatzenstein viele Jahre sozusagen der Papst der Chirurgie gewesen. Dessen mögliche Fehldiagnose oder Fehlbehandlung sicher unter den Tisch gekehrt worden wäre. Wenn sich jedoch jemand hätte rächen wollen, dann sofort. Nicht erst sechsundzwanzig Jahren nach Gatzensteins Pensionierung.

    Matilda überlegte, was sie vor sechsundzwanzig Jahren gemacht hatte. Da war sie neunundzwanzig Jahre alt gewesen. Hatte in einer kleinen Wohnung in Berlin gelebt und versucht, sich als freiberufliche Künstlerin einen Namen bei Zeitungen und Verlagen zu machen. Was anfangs ziemlich schwierig gewesen war. Keine allzu glückliche Zeit. Das hatte auch an Sven gelegen, ihrem damaligen Partner. Heute wusste sie nicht mehr, warum sie sich je auf ihn eingelassen hatte. Er war Banker. Seine Erwartungen an das Leben hatte sie nie geteilt. Ein schickes Auto, eine Nobelwohnung, Urlaub an Palmenstränden. Ihre freiberufliche Tätigkeit als Künstlerin hatte er ironisch lächelnd als nettes Hobby bezeichnet. Irgendwann hatte sie das Verhältnis beendet.

    Sie verscheuchte die Gedanken an Sven und nickte Fritz zu, der ihr Glas noch einmal füllen wollte. Der ermordete Gatzenstein, beschloss sie, hatte nun genug Aufmerksamkeit bekommen. Sie erzählte Fritz von dem Traum auf der Bank an der Nahe, der sie noch immer beschäftigte.

    „Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich mich bisher wenig um die ganze Flüchtlingsproblematik gekümmert habe. Manchmal – denke ich – muss man in so einem kleinen Dorf aufpassen, dass man nicht in der Idylle versinkt."

    „Idylle ist gut. Fritz lachte kurz auf. „Gerade ist ein Hollenheimer brutal ermordet worden. Was kein bisschen idyllisch ist.

    Er wurde wieder ernst. Matilda hatte ja recht. Auch in einem Ort wie Hollenheim konnte man nicht am Schicksal der zahlreichen Flüchtlinge vorbeisehen. Die Meldungen der Medien drangen heutzutage bis in das kleinste Dorf, bis in den winzigsten Weiler vor.

    „Hier in Hollenheim sieht man natürlich nur selten einen Ausländer, fuhr er fort. „Wir haben keine Turnhalle, kein still gelegtes Hotel, in dem Flüchtlinge untergebracht werden könnten. Also werden wir nicht täglich mit dem Flüchtlingsdrama konfrontiert.

    Matilda erinnerte sich an ihren letzten Besuch bei Ingelore. Sobald man in Darmstadt aus dem Zug stieg, wimmelte es von farbigen Menschen, von Frauen mit Kopftüchern, jungen Männern mit tiefschwarzem Haar und dunklen Augen. Hollenheim war von solchen rein äußeren Eindrücken abgeschirmt. Was keine Entschuldigung dafür war, dass sie sich bisher nicht näher mit dem Flüchtlingsdrama befasst hatte. Alle Menschen, ob sie wollten oder nicht, wurden heutzutage ausgiebig informiert, was und wo in der Welt Schreckliches geschah. Manche Menschen reagierten mit Hilfsbereitschaft, manche mit einem Achselzucken. Und Matilda wusste genau, zu welchen Menschen sie gehörte. Zu den Egoisten, die sich nur um sich selbst drehten. Gleichgültig, wie viel Schreckliches in der Welt geschah.

    Ihr Gesicht rötete sich. Ein Zeichen, dass sie unzufrieden mit sich selbst war. Fritz schüttelte den Kopf. In seinen Augen war es ganz natürlich, das eigene Leben in den Vordergrund zu stellen. Gegen Kriege und Flüchtlingsströme war man machtlos. Beruhigend legte er Matilda die Hand auf den rechten Arm, wechselte das Thema. Erzählte ihr vom Winzer Ottokar Ballendorf, der schon in den nächsten Tagen mit der Weinlese beginnen wollte. Bald, dachte er, wird sie den Traum und ihre unnützen Schuldgefühle wieder vergessen haben.

    Womit er nicht recht behalten sollte.

    3

    Der Donnerstag war bewölkt. Doch die Hitze der letzten Tage verschwand trotzdem nicht. Im Gegenteil. Es war, als hätte sich eine undurchdringliche Dunstglocke über das Land gelegt. Was in den Städten noch schwerer zu ertragen war, wo die Autos ungeniert ihre Abgase ausstießen.

    Edeltraud Pütz wischte sich mit einem Papiertaschentuch das Gesicht ab. Sah sich suchend um und schüttelte den Kopf. Sie konnte nicht erkennen, dass irgendetwas aus der Wohnung verschwunden war. Kein Möbelstück war verrückt worden. Die Bücher standen wie immer wohlgeordnet im Regal. Die bauchige blaue Vase thronte auf der altmodischen Kredenz. Akkurat auf dem Platz, wo sie zu thronen pflegte. Kein Bild an der Wand hing schief.

    Hauptkommissar Erhard Nebel klopfte ungeduldig mit dem Fuß einen kleinen Rhythmus auf den Perserteppich. Irgendetwas musste der Frau doch auffallen. Verdammt, wenigstens irgendeine Kleinigkeit. Die für eine Putzfrau möglicherweise unwichtig war. Für Polizisten dagegen konnte gerade diese Kleinigkeit besonders wichtig sein.

    „Bei Herrn von Gatzenstein, sagte Edeltraud Pütz, „musste immer alles so sein wie …, ja, eben wie immer. Er merkte es sofort, wenn ich dieses Monstrum zum Beispiel, sie zeigte auf die bauchige, blaue, thronende Vase, „wenn ich die nur einen Zentimeter nach rechts oder links gerückt hatte. Als hätte er ein Zentimetermaß im Kopf, so kam es mir oft vor. Nein, tut mir leid, hier ist nichts angerührt worden."

    Erhard Nebel nickte resigniert. Die Spurensicherung hatte keine fremden Fingerabdrücke gefunden. Nur die von dem Gatzenstein und von der Pütz. Was an sich noch nichts bewies. Misstrauisch runzelte er die Stirn. Was, wenn diese Pütz sie alle mit ihren Behauptungen zum Narren hielt und selbst …? Sie hätte Gelegenheit gehabt, ein Geheimversteck zu entdecken, wo der alte Mann sein Bargeld versteckt hatte. Putzfrauen entdeckten doch so manches, was sie nicht entdecken sollten.

    Diese Wahrheit hatte er selbst am eigenen Leibe erlebt. Beziehungsweise sein siebzehnjähriger Sohn. Die Putzfrau hatte dessen Pornohefte unter dem Schrank gefunden und sie ihm, dem Vater, empört gezeigt. Ob sie sich darüber so aufregte, weil sie gut katholisch war, wusste Erhard Nebel nicht.

    Doch hier und jetzt ging es nicht um alberne Pornohefte, sondern um die Aufklärung eines Mordes. Ein alter Mann, angeblich gut versorgt im Dunstkreis eines Altenheims wohnend, war ermordet worden. Das ging gar nicht. In einer Zeitung wurde heute gefragt, ob alte Menschen in unserer Gesellschaft so allein gelassen würden, dass jemand sie sogar in einem Altenheim ungehindert ermorden konnte. Ausgerechnet in einem Altenheim, wo die schutzbedürftigen alten Menschen Ruhe und Frieden suchten. Dass Elias von Gatzenstein nicht direkt im Altenheim gewohnt hatte, hatte der Schreiberling verschwiegen.

    Eine andere Zeitung griff den Pflegenotstand auf. Behauptete, dass dieser Mord nicht möglich gewesen wäre, wenn es genug Pflegepersonal geben würde. Beide Artikel waren in Nebels Augen unsinniges Zeitungsgewäsch. Mord war überall möglich, wo es Menschen gab. Das jedenfalls hatte er ganz schnell gelernt, nachdem er Ermittler der Mordkommission geworden war.

    „Kann ich dann gehen?", fragte Edeltraud Pütz. Sie sah keinen Sinn mehr darin, stundenlang das Gleiche festzustellen. Nämlich: hier war alles wie immer. Also war nichts geklaut oder gesucht worden. Punkt.

    Kommissarin Elvira Rabitz, eine mittelgroße Frau mit schwarzen Haaren, die zu einem Zopf geflochten waren, sah sie prüfend an. Hatte Frau Pütz auch wirklich nichts übersehen? Wo hatte Herr von Gatzenstein zum Beispiel sein Bargeld aufbewahrt? Edeltraud Pütz verdrehte die Augen. Das hätte der alte Gatzenstein ihr mit Sicherheit nie anvertraut. Und wo, bitte, sollte er Geld aufbewahren außer in seiner Brieftasche? Ein versteckter Safe? Sie lächelte spöttisch. Das war dann wohl Sache der Polizei, so ein Ding zu entdecken. Falls es das überhaupt gegeben hatte. Grinsend zeigte sie auf das Bücherregal: „Vielleicht ist eins der Bücher gar kein Buch, sondern eine Attrappe, in der seine Millionen …"

    „Werden Sie nicht komisch!", fuhr Nebel sie an. So etwas kam in schlechten Krimis vor, nicht aber in der Wirklichkeit. Obwohl, er kratzte sich am Kopf, alte Menschen waren sonderbar.

    „Die Bücher nehmen wir uns auch ohne Ihre Ratschläge noch vor", fügte er patzig hinzu.

    „Dann ist es ja gut", erwiderte Edeltraud Pütz, diabolisch lächelnd. Dass die Polizisten sich beim Durchsehen der Bücher wundern würden, war ihr sonnenklar. Jedoch erwähnte sie die Buchtitel nicht, die sie beim Abstauben stutzig gemacht hatten. Die so einiges über den Besitzer der Bücher aussagten. Selbstverständlich hatte sie den alten Mann nie danach gefragt. Die Gefahr, auf der Stelle von ihm entlassen zu werden, war zu groß. Und weil er mehr Stundenlohn bezahlte als andere, hatte sie stets so getan, als wäre sie zu dumm, um sich Gedanken um Buchtitel zu machen.

    „Sie können vorerst gehen", sagte Hauptkommissar Nebel zu ihr. Er zeigte auf die Tür. Sein Misstrauen gegen ihre strikte Aussage, nichts Besonderes in Gatzensteins Wohnung entdeckt zu haben, stand spürbar im Raum.

    Edeltraud Pütz warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. Sie konnte nichts dafür, dass bisher kein Schimmer eines Motivs oder gar Täters aufgetaucht war. Vielleicht sollte sie ihm etwas Geduld empfehlen. Manche Ermittlungen dauerten Wochen, Monate. Das musste er als erfahrener Kommissar doch wissen. Er war kein Anfänger. Sie schätzte ihn auf Mitte, Ende fünfzig. Ein wenig in die Breite gegangen, schütteres Haar, das lange keinen Friseur gesehen hatte. Ein ins Auge fallender Gegensatz zu der Rabitz mit ihrem Zopf, der sie jung und dynamisch erscheinen ließ. Doch das konnte ihr gleichgültig sein. Edeltraud Pütz verabschiedete sich.

    Draußen nahm ihr die Dunstglocke, die über den Straßen lagerte, den Atem. Jetzt müsste man Geld haben, dachte sie und stieg in den Bus. Geld, um irgendwohin zu fahren, wo man mit Freude ein- und ausatmen konnte. An die Nordsee beispielsweise. Dort wehte jetzt bestimmt ein frischer Wind und blies einem alle kränkenden Verdächtigungen aus dem Kopf. Geld von einem alten Mann klauen? Sie? Unverschämtheit!

    Obwohl es schön wäre, jetzt in den Zug zu steigen und an die Nordsee zu fahren. Doch niemals mit gestohlenem Geld. Nicht sie, Edeltraud Pütz. Der alte Gatzenstein hätte das Geld gehabt. Aber er war nie an die Nordsee oder sonst wohin gefahren. Er hätte nach Teneriffa fliegen können, nach Mallorca. Eine Weltreise hätte er unternehmen können. Rüstig genug für so eine Unternehmung war er gewesen. Schlank, groß, aufrechter Gang, kein Stock, kein Rollator. Warum war er eigentlich in das Altenheim an der Rosenhöhe gezogen? Sie hatte ihn nie gefragt. Er hatte keine privaten Gespräche geschätzt.

    „Ist ja auch egal", sagte Edeltraud Pütz zu sich selbst und stieg am Schloss in den Bus um, der sie zu ihrer Wohnung in der Heinrichstraße brachte. Den Rest des Tages hatte sie frei, während Hauptkommissar Nebel und Kommissarin Rabitz weiter nach dem Täter suchen mussten. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Altenheims an der Rosenhöhe waren alle intensiv befragt worden. Niemand hatte eine Ahnung, warum jemand ausgerechnet den alten Gatzenstein ermordet hatte. Feinde? Man wusste ja noch nicht einmal, ob er Freunde gehabt hatte. Nur den Neffen hatte man gekannt. Der aber kam als Täter nicht infrage. Den hatte die Nachricht vom Mord an seinem Onkel in Thailand erreicht, wo er drei Wochen Urlaub machen wollte. Den Urlaub musste er natürlich sofort beenden und nach Hause fliegen. Was ihn nicht besonders freute.

    Konnte der Mörder nicht warten, dachte er während des Flugs, bis mein Urlaub zu Ende gewesen wäre?

    Ihm graute vor der Arbeit, die vor ihm lag. Die Wohnung des Onkels ausräumen, die Beerdigung in die Wege leiten. Siedend heiß fiel ihm das sogenannte Schloss in Hollenheim ein. Den alten Kasten hatte Onkel Elias doch sicher ihm, Berthold von Gatzenstein, vererbt. Außer ihm gab es keinen Erben. Es sei denn, Berthold lachte in sich hinein und trank einen Schluck von dem Kaffee, den die Stewardess ihm reichte, es sei denn, der alte Knacker hatte irgendwelche unehelichen Kinder verheimlicht, die er nun im Testament der Welt präsentierte. Ihm als Toten konnte es gleichgültig sein, was die Nachwelt von ihm dachte. Beinahe hoffte Berthold, dass diese seine Vision sich als Wahrheit entpuppen würde. Er war nicht auf das Geld angewiesen, das der Hollenheimer Kasten einbrachte. Und Lust, sich als Erbe um den Verkauf zu kümmern, hatte er schon gar nicht.

    Unruhig bewegte er sich in dem engen Flugzeugsitz hin und her. Onkel Elias, ermordet, nicht zu glauben. Vielleicht ein Verrückter, der sich seine Opfer wahllos suchte und an irgendeiner Tür läutete. Arglos öffnete Onkel Elias die Tür. Und dann? Was war dann passiert? Nähere Einzelheiten hatte ihm die Polizei nicht mitgeteilt. Doch die würde er früh genug erfahren, diese Einzelheiten. Auf die er eigentlich keinen besonderen Wert legte. Er war kein Fan von Krimis, die zu seinem Ärger viel zu oft im Fernsehen liefen. Und auf einen Krimi in der Wirklichkeit konnte er ganz gut verzichten.

    Er seufzte, trank den Kaffee aus und schloss die Augen. Bin ich herzlos?, fragte er sich selbst beim Einschlafen. Weil ich noch keine Träne um Onkel Elias vergossen habe? Statt einer Antwort spürte er nur so etwas wie Erleichterung, den Onkel nie mehr besuchen zu müssen. Einmal in der Woche, häufig am Sonntag, hatte er sich zu so einem Besuch aufgerafft. Meist war er eine Stunde geblieben, hatte mit dem Onkel Kognak oder Whisky getrunken, mühsam irgendein Gesprächsthema gesucht. Ob Onkel Elias sich über seine Besuche gefreut hatte, war unklar geblieben. Und jetzt, wo er tot war, spielte das auch keine Rolle mehr. Die Reise nach Thailand, beschloss Berthold, bevor er im Schlaf versank, wollte er auf jeden Fall nachholen, sobald alle Formalitäten erfüllt waren. Was hoffentlich nicht allzu lange dauern würde.

    4

    Am Freitag hatte sich die Dunstglocke aufgelöst. Der Himmel war wieder wolkenlos und tiefblau, die Temperatur kletterte schon am Morgen auf über zwanzig Grad. Die Winzer in Hollenheim und Umgebung überlegten, ob sie die Weinlese früher als normal beginnen sollten. Ein wenig Regen, am besten nachts, würde den Trauben noch guttun. Doch nach Regen sah es ganz und gar nicht aus. Weder nachts noch tags.

    Matilda füllte die Gießkanne mit Wasser, ging durch die hintere Küchentür in den Garten. Sie wusste nicht, ob es besser war, früh oder abends die Pflanzen zu wässern. Paula von nebenan goss ihren Garten grundsätzlich am frühen Morgen. Während Lydia, die schräg gegenüber gleich neben Fritz wohnte, auf den Abend schwor.

    Matilda richtete den Strahl der Gießkanne auf die Ringelblumen, die sich in diesem Jahr ziemlich ausgebreitet hatten. Manche waren buttergelb, manche eher orangefarben. Mit der nächsten Kanne kamen die Herbstanemonen an die Reihe. Die lila und weißen Winterastern, dann die leuchtend roten Geranien, die sie im Frühjahr in Kästen gepflanzt und am hinteren Zaun aufgehängt hatte. Links in der Ecke breitete der Stechapfel seine kuglig stachligen Früchte aus, die aus den weißen trompetenförmigen Blüten hervorgegangen waren. Hochgiftig, wusste Matilda und lachte ein bisschen. Sie wollte ihn ja auch nicht essen, den Stechapfel, der zur Familie der Nachtschattengewächse gehörte. Das kleine Gemüsebeet kam zuletzt an die Reihe. Eine Zucchini, von der sie schon die vierte Frucht geerntet hatte, eine Paprika, eine Aubergine, eine Tomate, ebenfalls Nachtschattengewächse, nicht giftig, und als Krönung ein Kürbis, dessen Frucht bestimmt einige Kilogramm schwer war. In einigen Wochen wollte Matilda ihn ernten und auf die Waage legen.

    Sieben Kannen, dann war sie fertig. Zufrieden sah sie sich um. Sie liebte den kleinen Garten. Ein Blick auf die Linde, unter der sie häufig saß. Wenn sie blühte, war das ganze Haus mindestens vier Wochen von dem typischen verführerischen Lindenduft erfüllt.

    „Ich hätte die Linde längst abgehauen, hatte Paula neulich gesagt. „Den Dreck, den die macht. Damit meinte sie die Zeit, wenn die Blüten wie kleine Hubschrauber zur Erde fielen. Was Matilda nichts ausmachte. Im Herbst fegte sie Blätter und verrottete Blüten weg. Bald war es wieder soweit. Dann würde die Linde ihre kahlen Zweige der Winterkälte entgegenstrecken. Es schien dann immer, als wäre der Baum gestorben. Das Wissen um das frische Grün im Frühjahr hält uns Menschen am Leben, dachte Matilda und setzte sich unter die Linde. Oder wir sterben, so wie der alte Gatzenstein gestorben ist.

    Noch hatte die Polizei keine heiße Spur, wie man in der Zeitung lesen konnte. Eine halbe Seite war seiner Tätigkeit als Professor in der Mainzer Uni-Klinik gewidmet. Er musste wirklich eine Koryphäe als Chirurg gewesen sein. Ob Tante Lore ihn näher gekannt hatte? Immerhin war er zu Lores Zeiten noch kein Pensionär gewesen, sondern der berühmte Professor Doktor Elias von Gatzenstein. Matilda runzelte die Stirn. Warum verschwendete sie ihre Gedanken an den Mann, den sie kaum gekannt hatte? Sensationslüstern. Sie lachte, ja, auch sie war sensationslüstern. Plötzlich fiel ihr eine Situation aus der Kindheit ein, an die sie bisher nie wieder gedacht hatte. Sie war sechs Jahre alt gewesen. Tante Lore war nach Frankfurt gekommen, wo Matilda mit ihrer Mutter in einer kleinen Wohnung lebte. Die Mutter hatte sich das Bein gebrochen, musste ins Krankenhaus. Tante Lore hatte angeboten, Matilda in der Zeit zu sich nach Hollenheim zu holen.

    „Pass auf, dass sie dem Schloss nicht zu nahe kommt", hatte die Mutter der Tante ans Herz gelegt.

    Schloss? Matildas Neugier war geweckt. In Hollenheim gab es ein Schloss? So richtig mit König und Prinzessin? Und warum sollte sie nicht …

    „Weil dort ein schreckliches Ungeheuer haust." So Tante Lores Antwort. Die Mutter hatte genickt. Ja, so konnte man das wohl nennen. Die kleine Matilda hatte das Schloss daraufhin stets mit einem gewissen Bauchkribbeln von Weitem angeschaut. Die Versuchung war groß gewesen, dem Ungeheuer wenigstens ein bisschen näher zu kommen. Doch das hatte Tante Lore mit Erfolg verhindert.

    Später, nach dem Tod der Mutter, hatte Matilda die Tante einmal gefragt, warum sie ihr die Geschichte von dem Ungeheuer aufgetischt hatte. Doch Tante Lore hatte abgewinkt. Ein Märchen eben, wie man es Kindern erzählt. Jeder wusste, dass Gatzensteins nichts mit den Dorfbewohnern zu tun haben wollten. Vor allem wollten sie nicht von neugierigen Dorfkindern gestört werden. Damals, als Matilda kurze Zeit bei Tante Lore wohnte, hatte das Ehepaar Gatzenstein noch mit ihren zwei Söhnen in der Villa gelebt. Elias‘ älterer Bruder und dessen Ehefrau waren später bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ihr Sohn Berthold, Elias‘ Neffe,würde das Schloss erben und verkaufen, mutmaßten die Dorfbewohner. Vielleicht zogen dann Leute dort ein, die am Dorfleben teilnahmen?

    Matilda stellte die Gießkanne auf die Terrasse. Ihre Gedanken wanderten weiter. Blieben in der Zeit hängen, als sie ihr Studium an der Kunsthochschule in Berlin begonnen hatte. Gerade hatte sie ein bezahlbares Zimmer in einer WG gefunden, da war die Mutter am Frankfurter Kreuz mit dem Auto in ein Stauende gerast und noch am Unfallort gestorben. Keine schönen Erinnerungen. Das Geheimnis um Matildas Vater hatte die Mutter mit ins Grab genommen.

    „Eine Zufallsbekanntschaft, war ihre stereotype Antwortauf Matildas drängende Fragen nach dem Vater gewesen. „Eine unbedeutende Zufallsbekanntschaft. Die mir immerhin dich geschenkt hat. Also lass uns beide damit zufrieden sein.

    Den Namen des Mannes hatte die Mutter angeblich vergessen. An der Wahrheit dieser Aussage zweifelte Matilda bis heute. Nach dem Tod der Mutter hatte sie überlegt, auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen. Doch wie sollte sie einen Mann ohne Namen ausfindig machen? Vielleicht war die Mutter von einem Fremden vergewaltigt worden? Dann gab es ohnehin keinen Namen. Irgendwann war das Thema für sie dann uninteressant geworden. Das Studium, Freunde, schließlich die Beziehung zu Sven waren wichtiger gewesen als einem Phantom nachzujagen.

    Sie ging in die Küche und trank ein Glas Wasser. Seufzte erleichtert auf, dass sie Sven rechtzeitig verlassen hatte, ohne von ihm schwanger zu werden. Dem Kind, das es nicht gab, hätte sie erklären müssen, warum es ohne Vater aufwuchs.

    „Weil er, dein Vater, nur sich und seine Karriere im Kopf hatte. Deshalb leben wir beide jetzt allein und …"

    „Warum warst du überhaupt mit ihm zusammen?" So die Frage des imaginären Kindes.

    „Keine Ahnung." Matildas Antwort, die für ein Kind unbefriedigend war.

    Mit einer energischen Handbewegung wischte sie Erinnerungen und Vorstellungen weg.

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