Kindesmord im Dorf: Ein Kriminalfall des 18. Jahrhunderts
Von Thea Koss
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Über dieses E-Book
Doch ihr Vater entdeckt die Tat, der Pfarrer meldet sie den Behörden, es kommt zur Gerichtsverhandlung. Aufgrund der Prozessakten, die bis heute erhalten sind, rekonstruiert die Tübinger Kulturwissenschaftlerin Thea Koss den Fall.
Die soziale Kontrolle funktioniert zur damaligen Zeit unbarmherzig. Kehrseite der dörflichen Geborgenheit ist ein ungeheures Überwachsungssystem. Koss beleuchtet die seltsame Verschränkung von dörflichem Wissen und Unwissen über die Schwangerschaft der Bürgermeisterstochter und sie macht deutlich, wie sehr die männlichen Hauptfiguren von Ehre und Unschuld eingeschnürt sind. Am eindrücklichsten ins Blickfeld gerückt werden Verhalten und Verhaltenserklärungen der Kindsmutter selbst.
Die Rechte der Männer, die den weiblichen Körper nicht nur begehren, sondern schon im Verdachtsfall ungeniert inspizieren und mit Fragen und Blicken penetrieren, wird ohne Beschönigung entwickelt und präsentiert. "Natürlich" sind auch die juristische Untersuchung und das Urteil reine Männersache.
Allerdings gibt es zum Schluss eine überraschende Wende.
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Buchvorschau
Kindesmord im Dorf - Thea Koss
Von der Suche nach Bedeutung
Im Sommer 1784 verbreitet sich in dem kleinen schwäbischen Dorf Uhlbach ein sensationelles Gerücht: Anna Maria Ohnmaiß, die ledige Tochter des Schultheißen, soll schwanger sein. Die Betroffene weist alle Verdächtigungen entschieden von sich, beteuert immer wieder ihre Unschuld. Und eine Zeitlang sind die Erklärungen, die sie für ihren Zustand bietet, plausibel und überzeugend. Doch die Monate vergehen, und mit dem Leibesumfang der Schwangeren wachsen die Spekulationen. Dennoch wird es Oktober, bis sich der Pfarrer des Ortes schließlich gezwungen sieht, seinen Verdacht der Obrigkeit anzuzeigen. Aber seine Initiative greift zu spät. Anna Maria Ohnmaiß tötet ihre neugeborene Tochter. Das Verbrechen wird entdeckt, die Täterin wegen Kindesmord zum Tode verurteilt. Der Schwängerer, ihr Vetter Jonathan Silberberger, kommt ungeschoren davon.
Anna Maria Ohnmaiß ist eine der Frauen, die während des 18. Jahrhunderts ihre ungewollten Kinder ermordeten. In der Statistik ist sie eine von Hunderten. Als Mensch war sie, wie jede und jeder von uns, einzigartig. Sie hat - wie all die anderen, die viel zu oft nur als Ziffer registriert werden - verdient, als historisches Subjekt wahrgenommen zu werden, als eine Frau, die gelebt, gedacht, gefühlt und gehandelt hat. Erst die Rekonstruktion ihrer Lebenswirklichkeit, ihrer Sozialbeziehungen, ihrer Verhaltensspielräume im Regelwerk des dörflichen Lebens vor zweihundert Jahren eröffnet den Einblick in ihre Beweggründe und Denkweise.
Das 18. Jahrhundert, definiert als Zeitalter der Aufklärung, zeichnet sich aus durch die Neuinterpretierung der Welt, durch einen grundlegenden Wandel des Denkens, durch Kritik am Bestehenden. Die Entwicklung eines politisch-sozialen Bewußtseins, die den Beginn der »modernen« Welt charakterisierte, läßt sich ablesen an der Literaturlandschaft. Hier werden populärwissenschaftlich, moralisch-politisch, belletristisch und philosophisch die Reformen eingefordert: Pressefreiheit, Erziehung, humanitäre Gesetzgebung und Entwicklung der öffentlichen Meinung. »Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen«, hatte Kant formuliert.
Bürgerliche Vernunft, ergänzt durch kontrollierte Gefühlskultur und Anerkennung der Obrigkeit, hatten bislang das Handeln der Menschen bestimmt. Um 1770 trat jedoch plötzlich eine Gruppe junger Autoren ans Licht der Öffentlichkeit, die die gesetzten Grenzen durchbrach, die »Stürmer und Dränger«. Das Zerbrechen des Individuums an den Normen der Gesellschaft und der bürgerlichen Moral war Thema ihrer sozialkritischen Stücke. Dabei erfuhr ein zeitgenössisches Problem ihr besonderes Interesse: das Verbrechen des Kindesmordes (1). Die literarische Bearbeitung stand im Dialog mit den strafrechtsreformerischen Bestrebungen, die die Abschaffung der Todesstrafe postulierten. Gemeinsam war ihnen die Ausbildung aufgeklärter Meinungen und eigenständiger Urteile, und gemeinsam war ihnen die Zugehörigkeit zu der Schicht der Lesenden und Schreibenden, die Adel und Bürgertum umfaßte. Ausgeschlossen von der Diskussion waren jedoch die Ungebildeten, die sozialen Unterschichten.
Dies hatte Konsequenzen für beide Seiten. An den einen ging die »Aufklärung«, wie das Bürgertum sie sich aneignen konnte, noch jahrzehntelang vorbei:
Aufklärung im Alltag der kleinen Leute war weniger die Sache von Philosophen als die von Schulmeistern und Predigern, die durch ihre praktische Tätigkeit in der Lage waren, sich und anderen ein Licht aufzustecken und alternative Erfahrungen zu sammeln (2).
Ob und wie sich die geistigen Errungenschaften der Aufklärung bei den »kleinen Leuten« durchsetzten, ist ein Erkenntnisinteresse der vorliegenden Untersuchung. Es stellt sich die Frage, inwieweit etwa einem Pfarrer überhaupt daran gelegen war, seinen Schafen ein Licht aufzustecken, und ob der Dorfschulmeister tatsächlich in der Lage war, über den geistigen Tellerrand tradierten Wissens hinauszusehen. Vermittelt wurden Neuerungen in der Landwirtschaft. An einer Änderung der Moralvorstellung, an einem Aufbegehren gegen die Obrigkeit war niemandem gelegen, dem Pfarrer schon gar nicht.
Währenddessen schrieben und diskutierten die anderen »abgehoben« an den Realitäten der Unterschicht vorbei, prägten das Gesicht des Jahrhunderts und gaben nachfolgenden Wissenschaftlern den Rahmen ihrer Studien, die - selbst wiederum Gebildete - ausschließlich nur die Geschichte der Gebildeten untersuchten, ja sie als die Geschichte begriffen und interpretierten. Diese Geschichtsschreibung (und ihre Vermittler) war männlich, historiographisch allenfalls geschmückt durch die Privilegierung weniger, »bedeutender« Frauen. Der »Paradigmawechsel« vollzog sich erst ab den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts, als die Unterschichten für geschichtswürdig befunden wurden. Doch die Entdeckung der »Alltagswirklichkeit«, der »Volkskultur« schloß Frauen noch immer weitgehend aus. Erst die Diskussionen um Frauenforschung seit der Mitte der siebziger Jahre haben klargemacht, daß Geschichte »auch als Geschichte der Geschlechter« verstanden werden muß, »die Geschichte von Frauen und Männern aufeinander bezogen werden« (3) kann.
Dabei verlangt die Erforschung dieser Lebenswelten besondere Fragestellungen und Methoden, weil die hinterlassenen Zeugnisse meist nur indirekt sind. In mehrfacher Weise gilt deshalb auch für die vorliegende Arbeit:
Die Untersuchung von Kultur ist ihrem Wesen nach unvollständig. Und mehr noch, je tiefer sie geht, desto unvollständiger wird sie (4).
Der Versuch, den »Fall« der Kindesmörderin Anna Maria Ohnmaiß zu ihrer Lebenswirklichkeit zu verdichten, daraus Sozialbeziehungen und Handlungsweisen zu rekonstruieren, stößt zwangsweise an Grenzen. Einer Mikrostudie, die sich die Erforschung dörflicher Kultur zum Ziel macht und sich dabei maßgeblich auf eine Kriminalakte des ausgehenden 18. Jahrhunderts stützt, sind zahlreiche Probleme immanent. Sie beruhen zum großen Teil auf der Quellenlage: Zum ersten beschreibt die Akte nur den Prozeß, sagt nichts aus über das Leben der beteiligten Personen vor oder nach dem Geschehen. Das Bild muß ergänzt werden durch Kirchenbücher, Gerichtsprotokolle, Güterbücher: mühsame Spurensuche nach kargen Beschreibungen, die manchmal im Sande verläuft, weil Inventuren nicht mehr existieren oder Register unvollständig sind. Zum zweiten sind die Vernehmungsprotokolle vom »Stattschreiber« Hellwag erstellt und somit Zeugnisse, deren Authentizität gefärbt ist durch den »Blick von oben«, was an der indirekten Rede überdeutlich wird. Sie zeichnen die »Geschichte von Objekten« (5) der Disziplinierung und Bestrafung und eröffnen den »›Binnenraum‹ schichtspezifischer und historischer Lebenswirklichkeiten«, die »materiellen Probleme und sozialen Situationen, die den täglichen Lebensrhythmus ›der vielen‹ [...] prägen« und die »sich darin konstituierenden kulturellen Formen der Erfahrung und Bewältigung« (6) nur zwischen und hinter den Zeilen. Notwendig ist deshalb die Suche nach Bedeutungen (7), die erschwert wird durch die Funktion der schon gefilterten Aussagen: denn selbst das »Authentische« ist intentiös, vorsichtig, hintergründig. Doch die sich daraus ergebende Gefahr intuitiver Erläuterungen läßt sich vermeiden, denn allein dadurch, daß eine Quelle nicht »objektiv« ist, ist sie nicht unbrauchbar (8). Die Möglichkeit der Interpretation ergibt sich, wenn die Mikroebene in Beziehung zur Makroebene gesetzt wird. Zwischen beiden gibt es Homologien und Distanz. Das »Makro«
bemüht sich [...], das ›Mikro‹ in sich einzuschließen, es zu absorbieren und aufzulösen. Dabei hat es Erfolg, aber niemals ganz. Dabei scheitert es, doch nie völlig (9).
Hier zeigt sich das Verhältnis von »Normenaneignung und Normendruck« (10), von Fremd- und Selbstbestimmung, Außensteuerung und »Eigen-Sinn« (11). Nur so läßt der Alltag sich deuten
als eine dichte Folge von Entscheidungs- und Orientierungsfragen, von Interaktions- und Kommunikationsakten, in denen sich soziales Verhalten zugleich Regeln schafft und von Regeln geprägt wird (12).
Ziel dieser Arbeit ist also nicht, mit einer weiteren Fallstudie die Strafgeschichte des Kindesmordes zu illustrieren. Vielmehr soll versucht werden, die Welt der Anna Maria Ohnmaiß und der zu ihr in Beziehung stehenden Menschen zu erklären und daraus die Interaktionen, Vorstellungen und Motivationen aller Beteiligten zu verstehen.
Uhlbach im 18. Jahrhundert: Topographie und Sozialstruktur
Das evangelische Pfarrdorf Uhlbach, zwei Wegstunden von Cannstatt gelegen, »hat eine stille und romantische Lage am Fuße von Rotenberg, in einem abgeschiedenen Bergkessel, der nur gegen Ober-Türkheim offen, und theils mit Weinbergen, theils mit Baumgütern besetzt ist, die bis Rotenberg hinaufreichen« (13). Im Jahr 1822 hat das Dorf 986 Bewohner. Uhlbach besitzt eine spätgotische Kirche, ein 1612 erbautes Rathaus, eine Kelter, die schon 1366 urkundlich erwähnt wird; schon seit 1615 hat Uhlbach eine eigene Schule (14). Lebensgrundlage des Ortes ist der Wein- und Obstanbau, auch besitzt Uhlbach ein »nicht unbedeutendes Waldeigenthum« (15). Die Bewohner schildert der Verfasser der Cannstatter Oberamtsbeschreibung, J. D. G. Memminger, als »fleißig« und »zum Theil sehr wohlhabend« (16), »aber von etwas reizbarer Natur« (17). Anhand der Güterbücher und der Unterpfandsbücher (18) läßt sich feststellen, daß dieser wohlhabende Teil der Bevölkerung von acht bis zehn Familien des Dorfes gestellt wurde, die über zwei Jahrhunderte die Geschicke Uhlbachs als Schultheißen, Bürgermeister und Magistratspersonen lenkten und ihren Besitz durch Heiraten innerhalb ihrer Schicht wie auch durch Pfandleihen an die ärmeren und armen Leute des Dorfes zu vermehren wußten.
Anna Maria Ohnmaiß wird am 17. Februar 1749 in eine dieser wohlhabenden Familien hineingeboren. Ihr Vater, Johann Michael Ohnmaiß, heiratete als Sohn des Wangener Bürgermeisters am 19. November 1743 standesgemäß Agnes Catharina Silberberger, die Tochter des Uhlbacher Bürgermeisters Jacob Silberberger. Die beiden haben vermutlich acht Kinder, von denen eines nach einem halben Jahr stirbt. Von ihrem ältesten Bruder, Johann Michael, trennen Anna Maria 14 Jahre, das jüngste Kind, Christine Catharina, ist elf Jahre jünger. Sowohl die Eintragungen in den Kirchenbüchern Uhlbachs als auch die Vermerke in den Ehebüchern sind unvollständig, Tot- und Fehlgeburten sind nicht verzeichnet. Durch die Gerichtsakten ist bekannt, daß es neben den aufgeführten Kindern ein weiteres gab, die »älteste« Tochter, wie Pfarrer Ludwig anmerkte. Sie war 1784 mit dem Schuhmacher Kinzelbach in Stuttgart verheiratet. Von den acht bekannten Kindern der Ohnmaißschen Familie wohnen 1784 außer Anna Maria vermutlich noch Christina Catharina und Christian Fridrich zu Hause. Die anderen Geschwister haben inzwischen geheiratet und einen eigenen Hausstand gegründet.
Mit 50 Jahren hat Agnes Catharina ihr letztes Kind geboren. Anna Maria hat ihre Mutter am 17. April 1782 verloren. Anna Maria war zu diesem Zeitpunkt